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„Salz, Merkur und Sulfur“ bei Rudolf Steiner Welche fundamentalen Prozesse lassen sich beschreiben? Michael Kalisch 1 Summary The triad of „salt, mercury, sulphur“ (the so-called „Three Principles“) is of great importance in Rudolf Steiners lectures given for physicians and students of theology, so as in lectures for members of the Anthro- posophical Society, for instance in the „Jahreszeitenimaginationen“ of 1923. Starting with some seemingly contradictory statements on the nature of „salt“-, „mercury“- und „sulphur“-processes it will be shown that the principles of „salt“ und „sulphur“ both include two processes at a time, which are contrary to each other. These four processes are named as crystallization, solution, binding of imponderables and combustion and will be described in detail. Proceeding from the „law of polarity“ between the processes, it will be tried to find the form of every process in nature, which is the „ideal“ one. The following part is concerned with the relation of the four processes with the four kingdoms of nature, because every kingdom shows a close rela- tion to one of the processes. Furthermore the two processes solution and „binding of imponderables“ can be shown as related to the principle of „mercury“. This essay is to give a foundation for a clear insight in nature processes from point of view of the „Three Principles“. Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................................................................................ 2 Welche grundlegenden Prozesse liegen im „Salz“- und „Sulfur“-Prinzip? ......................................................... 4 Unter welchen Aspekten müssen wir die vier Prozesse vergleichen? ............................................................... 6 Die Vier Prozesse in der Gegenüberstellung A. zwei Prozesse der Formbildung ............................................. 7 Kristallisation .................................................................................................................................................. 7 Imponderabilienverinnerlichung ..................................................................................................................... 8 Gegenüberstellung von Kristallisation und Imponderabilienverinnerlichung ................................................. 9 B. Zwei Prozesse der Formvernichtung ...........................................................................................................11 Verbrennung .................................................................................................................................................11 Auflösung des Salzartigen............................................................................................................................12 Kurzer Rückblick auf die Vierheit .................................................................................................................12 Gegenüberstellung von Verbrennung und Salzlösen ein Rätsel taucht auf .............................................13 Versuch, das Rätsel der „richtigen Verbrennung“ zu lösen – Die vier Prozesse als eine Stufenleiter ............13 Ausblick das Merkurprinzip ............................................................................................................................19 Literatur: ............................................................................................................................................................22 Anmerkungen: ..................................................................................................................................................23 1 Erschienen in: Elemente der Naturwissenschaft Nr. 67, 1997/2, S. 24-54

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„Salz, Merkur und Sulfur“ bei Rudolf Steiner —

Welche fundamentalen Prozesse lassen sich beschreiben?

Michael Kalisch1

Summary

The triad of „salt, mercury, sulphur“ (the so-called „Three Principles“) is of great importance in Rudolf

Steiners lectures given for physicians and students of theology, so as in lectures for members of the Anthro-

posophical Society, for instance in the „Jahreszeitenimaginationen“ of 1923. Starting with some seemingly

contradictory statements on the nature of „salt“-, „mercury“- und „sulphur“-processes it will be shown that

the principles of „salt“ und „sulphur“ both include two processes at a time, which are contrary to each other.

These four processes are named as crystallization, solution, binding of imponderables and combustion and

will be described in detail. Proceeding from the „law of polarity“ between the processes, it will be tried to

find the form of every process in nature, which is the „ideal“ one. The following part is concerned with the

relation of the four processes with the four kingdoms of nature, because every kingdom shows a close rela-

tion to one of the processes. Furthermore the two processes solution and „binding of imponderables“ can be

shown as related to the principle of „mercury“. This essay is to give a foundation for a clear insight in nature

processes from point of view of the „Three Principles“.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ............................................................................................................................................................ 2 Welche grundlegenden Prozesse liegen im „Salz“- und „Sulfur“-Prinzip? ......................................................... 4 Unter welchen Aspekten müssen wir die vier Prozesse vergleichen? ............................................................... 6 Die Vier Prozesse in der Gegenüberstellung A. zwei Prozesse der Formbildung ............................................. 7

Kristallisation .................................................................................................................................................. 7 Imponderabilienverinnerlichung ..................................................................................................................... 8 Gegenüberstellung von Kristallisation und Imponderabilienverinnerlichung ................................................. 9

B. Zwei Prozesse der Formvernichtung ........................................................................................................... 11 Verbrennung ................................................................................................................................................. 11 Auflösung des Salzartigen ............................................................................................................................ 12 Kurzer Rückblick auf die Vierheit ................................................................................................................. 12 Gegenüberstellung von Verbrennung und Salzlösen – ein Rätsel taucht auf ............................................. 13

Versuch, das Rätsel der „richtigen Verbrennung“ zu lösen – Die vier Prozesse als eine Stufenleiter ............ 13 Ausblick – das Merkurprinzip ............................................................................................................................ 19 Literatur: ............................................................................................................................................................ 22 Anmerkungen: .................................................................................................................................................. 23

1 Erschienen in: Elemente der Naturwissenschaft Nr. 67, 1997/2, S. 24-54

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Michael Kalisch: Salz, Merkur und Sulfur – fundamentale Prozesse Seite | 2

Einleitung

Bei eingehender Beschäftigung mit den Begriffen von „Salz, Merkur, Sulfur“ im Werk Rudolf Stei-

ners erweist es sich, daß sie eine zentrale Stellung in der anthroposophischen Menschenkunde und

Naturauffassung einnehmen. Zunächst könnte man nämlich meinen, daß es sich eher um eine peri-

phere Thematik handelt, zum Beispiel eine von jenen, die Rudolf Steiner in historischen Darstellun-

gen wiederholt behandelt – knüpft er doch des öfteren an die alten Anschauungen von Böhme, Pa-

racelsus, Saint-Martin usw. an. Man stellt jedoch fest, daß „Salz, Merkur, Sulfur“ an gar nicht so

wenigen Stellen im Vortragswerk sowie in Aufsätzen und Büchern erwähnt werden (siehe Litera-

turverzeichnis). Aber nicht deshalb bilden sie etwas Zentrales, sondern weil es sich hier um eine

Begrifflichkeit handelt, die den trinitarischen Charakter aller Erscheinungen berührt. Und dies führt

sie sozusagen in das Zentrum der Anthroposophie.

Man bekommt bei der Lektüre der entsprechenden Aussagen Rudolf Steiners zum Thema sehr rasch

den Eindruck, daß er nicht in erster Linie die chemischen Substanzen Schwefel (= „Sulfur“) und

Quecksilber (= „Merkur“) meint, oder Salz im nur herkömmlichen Sinne, sondern daß er damit

primär allgemeine Prinzipien beschreibt, die in Salz, Schwefel und Quecksilber zu einem charakte-

ristischen Ausdruck kommen. Es kann sich das Prinzipielle dabei auf Prozesse beziehen, die auf

viel umfassenderer oder höherer Stufe stehen als einfache Vorgänge in der stofflichen Welt, wie

zum Beispiel eine Salzbildung; es kann sich zum Beispiel um Vorgänge der Evolution handeln, an-

dererseits aber auch um ganz verinnerlichte Vorgänge, die vom Menschen geistig-seelisch vollzo-

gen werden. Diese höheren Aspekte sollen eingangs noch nicht behandelt werden. Zunächst sollen

die am leichtesten zugänglichen Prozesse in der Natur beschrieben werden.

„Salz, Merkur und Sulfur“ bilden eine zusammengehörige Dreiheit. Ganz vage aufgefaßt bezeichnet

das „Salzprinzip“ etwas Unteres und Schweres, das „Sulfurprinzip“ etwas Oberes und Leichtes. Das

„Merkurprinzip“ vermittelt zwischen beiden. Bleibt man bei dieser Auffassung stehen, so kann man

zu der Meinung gelangen, daß unter dem Salzprinzip etwas wie Konsolidierung und Verfestigung,

oder auch Zusammenziehung, unter dem Sulfurprinzip im Gegensatz dazu dann etwas Verflüchti-

gendes und Auflösendes, oder Ausdehnung, zu verstehen sei.

Will man aber über diesen ersten Eindruck hinausgelangen, so sind zunächst Schwierigkeiten zu

überwinden. Man stößt auf Widersprüche bei Rudolf Steiner, die auf den ersten Blick nicht zu lösen

sind. So äußert er zum Beispiel in einem Vortrag von 1917 grundsätzliche Bedenken dagegen, die

alten Begriffe „Merkur, Schwefel, Salz“ überhaupt zu verwenden. Man könne in dieser Weise gar

nicht mehr zur heutigen Zeit sprechen: „... spricht man zu der heutigen Bildung, muß man vom

Stoffwechselleib sprechen, vom Atmungsleib, vom Nervensystemleib; man kann nicht sprechen

vom Merkurialleib, vom schwefligen Leib, vom Salzleib. (..) Es wäre sogar unklug, solche alten

Begriffe wie Merkur, Schwefel, Salz heute in das heutige Denken hineinzuwerfen. Ich finde es un-

klug; es ist gar nicht gut. (..) Und dennoch, es ist von ungeheuer großer Bedeutung, sich jene Spra-

che anzueignen, die eigentlich heute nicht mehr gesprochen wird ...“(Steiner 1917)1

Hätte man nur diese Stelle zur Verfügung – sie ist ja sogar in sich widersprüchlich –, so würde man

von einer Beschäftigung mit dem Thema wohl Abstand nehmen. Dem steht jedoch die Tatsache ge-

genüber, daß Rudolf Steiner in den folgenden Jahren selber häufig die Begriffe verwendet hat, und

auch früher fanden sie schon Erwähnung. So bilden sie im ersten Zyklus für Mediziner eine wichti-

ge Grundlage, auf der der Zusammenhang zwischen dem Menschen und den Naturreichen gezeigt

wird (Steiner 1920a). Insbesondere in für Mediziner sowie für (angehende) Priester der „Christen-

gemeinschaft“ gehaltenen Vorträgen, und dann an besonders markanter Stelle in den vier Imagina-

tionen zum „Miterleben des Jahreslaufes“ (Steiner 1923b) wird in den auf die oben zitierte Aussage

folgenden sieben Jahren die Trias von „Salz, Merkur, Sulfur“ immer wieder erwähnt.

Aber auch im Detail steht man häufig vor Widersprüchen. So ist einmal „... das Lösliche (Flüssige)

quecksilberartig ...“ (Steiner 1901)2, also merkuriell

3, und der Lösungsprozeß steht als Mittleres

zwischen dem Kristallisationsprozeß von Salz und dem Verbrennungsprozeß (Steiner 1911c)4. An-

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dererseits wird gesagt: „Alles, was sich auflöst, ist Salz.“ (Steiner 1908c) Ebenso ist aber Salz – im

Sinne der alten Rosenkreuzer – das folgende: „Alles, was in der Natur aus einer Auflösung als fes-

ter Stoff sich niederschlägt, sich setzen, herausfallen kann, nannte der mittelalterliche Rosenkreu-

zer: Salz.“ (Steiner 1911c) Und nun werden die widersprüchlichen Aussagen sogar noch zusam-

mengefaßt: „Während der Erdenperiode erscheint das vierte Element, Erde, in Verbindung mit der

dritten alchemistischen Substanz `Salz´, welches das Symbol der Kristallisation und der Auflösung

ist“. (Steiner 1908c) Es folgt das Rosenkreuzersymbol für das Salzprinzip (Kreis mit waagerechtem

Durchmesser ), dessen Sinn uns später noch aufgehen wird. Die gleiche Aussage macht auch die

nächste Stelle, wo Rudolf Steiner die Auffassung Jakob Böhmes wiedergibt. Dieser brachte nämlich

den Begriff des Salzprozesses „... mit dem Auflösungsprozesse und dem Wiedergestaltungsprozesse

des Aufgelösten zusammen.“ (Steiner 1923a)

Ein weiteres Beispiel eines eklatanten Widerspruchs: In der „Okkulten Physiologie“ wird das fol-

gende dargestellt: „Jedesmal, wenn das geschieht, daß wir denken, findet in unserem Organismus

ein Prozeß statt, den wir vergleichen können – ... es ist keine Analogie, sondern eine Tatsache ... –

mit einem anderen Prozeß: Wenn wir in einem Glase Wasser, das bis zu einem gewissen Grade er-

wärmt ist, irgendein Salz, Steinsalz z.B., aufgelöst haben und durch Abkühlung des Wassers dieses

aufgelöste Salz zur Kristallisation bringen, so daß es den zur Auflösung entgegengesetzten Prozeß

vollzieht.“(Steiner 1911a, S.144) In anderem Zusammenhang, drei Jahre davor, wurde jedoch mehr-

fach der entgegengesetzte Gedanke ausgeführt: „Das Denken kommt zustande durch einen Ver-

brennungsprozeß.“ (Steiner 1908b)5 Und auch folgender Widerspruch sei noch angeführt: „In einer

gewissen Weise sind phosphorisch die Blüten und Samen und alles dasjenige, was zur Mistelbil-

dung und dergleichen hinneigt“ (Steiner 1920a-5), doch dem steht folgende Äußerung scheinbar

unvereinbar gegenüber: „... dasjenige, was mit dem Wurzelhaften, mit dem Stamm-, mit dem Sa-

menhaften zusammenhängt, ist für die ältere Medizin das Salzartige gewesen. Diese Dinge sage ich

nur zur Verdeutlichung.“ (Steiner 1922) „Salzartiges“ und „Phosphorisches“6 stellen aber die größ-

ten Gegensätze dar!

Die Reihe solcher Widersprüche ließe sich fortsetzen. Wo kann die Lösung liegen? Man muß sich

zu allererst über Rudolf Steiners Methode klarwerden, und zwar ist zweierlei zu beachten. Zum ei-

nen gibt er nicht Definitionen, sondern Charakterisierungen geistiger Vorgänge und Wesenheiten,

indem verschiedene Vorstellungen aus der sinnlichen Welt als Bilder verwendet werden, um auf

dieses Geistige hinzuweisen. Indem wir die Bilder meditieren, nähern wir uns dem Wesen des ge-

meinten Geistigen. So kann „Verbrennungsprozeß“ als Bild genommen werden, das mich auf das

Wesen des Denkens hinweist. Das Bild des „Phosphor“ (des „Lichtträgers“, der im Lateinischen

„Luzifer“ hieße) weist ebenfalls auf eine bestimmte Wesenheit hin. Nun ist Geistiges, das in dieser

Weise charakterisiert wird, eigentlich immer auch Aspekt eines sinnlichen Wesens oder Vorgangs –

wenn zum Beispiel Blüten und Samen als „phosphorisch“ bezeichnet werden, ist natürlich ihr be-

sonderer Charakter im Vergleich zu anderen Organen der Pflanze gemeint, und nicht primär ein

hervorstechender Gehalt an Phosphor (sekundär könnte dieser durchaus auch vorhanden sein, wenn

das „Phosphor“ genannte Wesenhafte über den „phosphorischen Prozeß“ schließlich in einem Stoff-

lichen zu einem Niederschlag kommt). Auch das Denken könnte letztlich mit einem physischen

Verbrennungsvorgang in Beziehung stehen.

Da Wesen und Vorgänge der Sinneswelt immer unterschiedliche geistige Aspekte in sich vereinen,

hängt es von der geistigen Perspektive ab, welcher Aspekt erfaßt wird. Die Perspektive ergibt sich

nicht durch einen festen Standpunkt, wie in der physischen Welt, sondern indem die Tatsache in das

Licht verschiedener geisteswissenschaftlicher Begriffe gestellt wird. Diese Begriffe sind von solcher

Art, daß sie immer einen bestimmten Zusammenhang von Kräften und Prozessen, Entwicklungs-

vorgängen und Weltbeziehungen umfassen (so ist der „Ätherleib“ nicht ein Gegenständliches, son-

dern eine bestimmte Art von Kräfte- und Prozeßgeflecht, Entwicklungsergebnis und Aspekt der

Weltbeziehung seines Trägers).

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Durch diese lebendige Perspektivität der geisteswissenschaftlichen Charakterisierung entstehen die

„Widersprüche“, die uns beim Bemühen, Rudolf Steiners Begriff von „Salz, Merkur, Sulfur“ zu er-

fassen, zunächst Schwierigkeiten bereiten.

Rudolf Steiner hatte ganz offensichtlich nicht die Absicht, mit der erneuten Verwendung dieser his-

torischen Begrifflichkeit einen terminologischen Schematismus einzuführen, in dem alle möglichen

Prozesse und Substanzen eingeordnet werden könnten, sondern er wollte durch bildliche Begriffe

auf Geistiges hinweisen. Außerdem aber wollte er dazu anregen, anstelle der alten Bezeichnungen

neue, zeitgemäße zu finden (Steiner 1918).7 Denn die Begriffe sind inhaltlich weiterhin gültig; nur

die Namen sind überholt. Um aber neue Bezeichnungen finden zu können, müssen zunächst die Be-

deutungen der alten verstanden werden.

Welche grundlegenden Prozesse liegen im „Salz“- und „Sulfur“-Prinzip?

Nachdem diese Schwierigkeiten benannt wurden, wollen wir im folgenden, indem wir uns auf be-

stimmte Kernsätze zu „Salz“ und „Sulfur“ konzentrieren, zeigen, wie die dabei auftretenden Wider-

sprüche auf höherer Stufe aufgehoben werden können. Dabei wird zunächst in logischen Schritten

versucht, Prozesse zu vergleichen, ihre Ähnlichkeiten und Polaritäten zu finden, gedankliche Kon-

sequenzen daraus zu ziehen usw. Dies wird ganz von selbst dazu führen, daß der Blick über den

sinnlichen Bereich hinaus erweitert werden muß und die Prozesse Bildhaftigkeit bekommen, durch

die sie auf geistige Wirklichkeiten hindeuten. Es ist das auch ganz im Sinne von Rudolf Steiners

Umgang mit den bildhaften Begriffen von „Salz, Merkur, Sulfur“.

An den Anfang stellen wir die Tatsache, daß es offenbar zweierlei Salzprozesse geben muß: Dazu

seien noch einmal einige der oben zitierten Stellen wiederholt: „Alles, was in der Natur aus einer

Auflösung als fester Stoff sich niederschlägt, sich setzen, herausfallen kann, nannte der mittelalter-

liche Rosenkreuzer: Salz.“ (Steiner 1911c) „Alles, was sich auflöst, ist Salz.“ (Steiner 1908c) Das

alchemistische Prinzip „...`Salz´, welches das Symbol der Kristallisation und der Auflösung ist.“

(Steiner 1908c)

Damit ist klar: Zum alchemistischen Prinzip „Salz“ gehört einerseits der Prozeß der Kristallisation,

oder – im weiteren Sinne – der Niederschlagsbildung aus einer Lösung, und andererseits der Prozeß

des Auflösens solcher Substanzen, die dazu überhaupt in der Lage sind – oft, aber nicht ausschließ-

lich, sind es auch salzartige Substanzen im Sinne heutiger Chemie.8 Und daß diese zwei Prozesse

zusammengefaßt werden, erscheint einleuchtend, denn sie bedingen sich in der Natur gegenseitig.

Gäbe es nur Kristallisation, wäre kein Leben möglich. Aber in alleiniger Auflösung gäbe es über-

haupt keine Bildung abgegrenzter Körper. In der Natur wechseln immer beide Prozesse miteinander

ab.

Es ist völlig konsequent, nun für den „Sulfur“ eine ebensolche Zweiheit von Prozessen zu suchen.

Denn die drei Prinzipien „Salz, Merkur, Sulfur“ bilden eine Einheit. Wenn daher „Salz“ in zwei ge-

gensätzliche Prozesse aufgeteilt werden kann, muß dies mit dem „Sulfur“ auch möglich sein. Man

kann die zwei zum „Sulfur“ gehörenden Prozesse auch tatsächlich entdecken. Sie sind bei Rudolf

Steiner – und überhaupt in der alchemistischen Sprache – nur nicht mit zwei abgrenzenden Be-

zeichnungen belegt worden, wie Kristallisation und Auflösung; die beiden Prozesse werden aber in

ihrem Wesen beschrieben. Da wird zur Charakterisierung des „Sulfurs“ oder „Schwefels“ zum ei-

nen sehr häufig von der Verbrennung gesprochen: „Und dadurch [durch die Atmung] geschieht

wirklich ein Prozeß, wie er äußerlich in der Natur sich darstellt auf einer anderen Stufe, wenn das

Gestaltete verbrannt wird. Diesen Prozeß aber faßte man in alten Zeiten als den Sulfurprozeß auf.“

(Steiner 1923a)

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Die Verbrennung eines Gestalteten stellt also äußerlich, „auf einer anderen Stufe“, das dar, was mit

„Sulfurprozeß“ gemeint war. (Offenbar sollen wir darauf aufmerksam gemacht werden, daß die

Atmung der Sulfurprozeß im Sinne der alten Auffassung war. Das sollte man im Bewußtsein behal-

ten.) Substanzen, die den Verbrennungsprozeß mitmachen können, sind dann in dieser Hinsicht

„schwefelig“ – es kommt bei dieser Bezeichnung also nicht auf einen etwaigen Gehalt an Schwefel

im chemischem Sinne an: „... das Verbrennliche nennt er [Paracelsus] schwefelig.“ (Steiner 1901)

„Der dritte wichtige Naturprozeß war für den mittelalterlichen Theosophen die Verbrennung, das,

was eintritt, wenn ein äußerer Stoff in Flammen sich verzehrt.“ (Steiner 1911c)

In abgemilderter Form findet man ein „Phosphoriges, Sulphuriges“ aber auch „in verdunstenden

Körpern, die nach oben streben“ (Steiner 1923b-3). Im Pflanzenreich stellen solche Substanzen die

duftenden ätherischen Öle dar (Steiner 1924a).

Wenn etwas verbrennt, gibt es Licht und Wärme ab. Wir stoßen nun aber auch auf Charakterisie-

rungen, mit denen etwas geschildert wird, bei dem Licht und Wärme nicht als „Feuer“ in Erschei-

nung treten. Ganz im Gegenteil bleibt es da als Kraft im Verborgenen. Dennoch fällt auch dies unter

den Begriff des „Schwefeligen“; es wird hier sogar der Schwefel im gewöhnlichen Sinne erwähnt.

Im Grunde ist dies nur die Fortsetzung des Gedankens, daß alles Brennbare „schwefelig“ ist. Denn

in dem, was der Möglichkeit nach Feuer offenbaren kann, liegt es gewissermaßen als verborgene

Kraft. Diese Kraft muß nur durch die entsprechenden Voraussetzungen befreit werden: „Das dritte

[neben „Salzigem“ und „Merkurialischem“] ist das Schwefelige, dasjenige, was wie eine verborge-

ne Kraft in sich die Gewalt des Feuers enthält. (..) Der Schwefel enthält in sich das Feuer verbor-

gen, wie der Körper die tierische Leidenschaft enthält.“ (Steiner 1906b)9

Um nun zu einem Prozeß zu kommen, der der Verbrennung genauso entgegengesetzt ist wie das

Lösen von Salz der Kristallisation, müßte man auf solche Vorgänge schauen, in denen „Schwefeli-

ges“ im Sinne des eben Zitierten entsteht. Es muß ein Prozeß sein, bei dem Wärme und Licht nicht

freigesetzt werden im Feuer, sondern in die Latenz übergehen, in einen Formbildungsprozeß hinein

verschwinden. Auf dem Gebiet der Wärmeerscheinungen könnte sich das auch als Abkühlung in der

Umgebung auswirken.- Für Wärme und Licht verwendet Rudolf Steiner in unserem Zusammenhang

oft den Begriff der „Imponderabilien“, also des Nichtwägbaren; von einer Substanz, wie sie hier

gemeint ist, müssen also Imponderabilien verinnerlicht werden. Zugleich sind das Substanzen, die

dem „Salz“ in ihrem Wesen polar gegenüberstehen. Der Phosphor wird als ein Repräsentant dersel-

ben genannt: „Die also dem Salze polarisch entgegengesetzten Substanzen sind diejenigen, die ge-

wissermaßen das Imponderable, namentlich das Licht, aber auch anderes Imponderable, die Wärme

und dergleichen, verinnerlichen, es zu ihrem innerlichen Eigentum machen. Und alte atavistische

Erkenntnisse haben deshalb wirklich nicht ganz unberechtigt diesen Phosphor als Lichtträger be-

zeichnet, weil ... er das Imponderable, das Licht, wirklich trägt. Dasjenige, was das Salz von sich

weghält, das trägt dieser Phosphor in sich.“ (Steiner 1920a-5)

Substanzen mit solchen Eigenschaften werden als „Phosphoriges“ oder „phosphorisch Wirkendes“

bezeichnet (Steiner 1920a-5, S.107). Die Polarität, auf die es hier ankommt, liegt in dem Verhältnis

der Substanz zu den Imponderabilien: „von sich weghalten“ gegenüber „in sich tragen“, „verinner-

lichen“. In bezug auf die Mineralwelt ist an dieser Stelle dann von „Imponderabilien verinnerlichen-

den Mineralien“ (a.a.O., S.114) in Gegenüberstellung zu solchen die Rede, die die Imponderabilien

von sich fernhalten. Nun kann in der Mineralwelt der Entstehungsprozeß des Phosphors als Element

heute gar nicht mehr angeschaut werden. Seine Entstehung, bei der Imponderabilien zu innerem Ei-

gentum wurden, hat in urferner Vergangenheit stattgefunden. Aber es kann ja sein, daß in anderen

Naturbereichen dieser Prozeß heute noch stattfindet. Darauf wird einzugehen sein. Zur Klärung sei

noch gesagt, daß mit dem „Phosphorigen“ im Grunde dieselbe Substanzqualität bezeichnet wird wie

mit dem „Schwefeligen“, das das Feuer in sich verborgen hält.

Mit dem Verhältnis zu den Imponderabilien hängen andere polare Eigenschaften von „Salz“ und

„Phosphorigem“ zusammen: „Wenn ... sich alles Salzartige gewissermaßen so verhält, daß es sich

hingibt an die Umgebung, so liegt der Grund darinnen, daß alles Salzartige dadurch entsteht, daß

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die entsprechenden Substanzen entblößt sind, befreit sind von der inneren Wirkung der Impondera-

bilien, des Lichtes und anderer Imponderabilien. ... was salzartig ist, hat durch seinen Entstehungs-

prozeß das Imponderable so von sich abgestoßen, daß das ihm nicht innerlich eignet. (..) Dasjenige,

was das Salz von sich weghält, das trägt dieser Phosphor in sich. (..) damit haben Sie in der äußeren

Natur zwei entgegengesetzte Zustände statuiert, das salzartig Wirkende und das phosphorisch Wir-

kende. [Es besteht also der Gegensatz zwischen] dem Zerfließen des Salzigen und dem Insichge-

drungensein in dem Zusammenhalten der Imponderabilien.“ (Steiner 1920a-5, S.105-07)

Auch im Hinblick auf die Brennbarkeit des „Schwefeligen“ usw. ist das „Salzartige“ polar entge-

gengesetzt. Steiner spricht über die „Salze [als] dasjenige, was also nicht verbrennlich ist, sondern

... was sich im Wasser auflöst und bei der Erkaltung des Wassers wiederum abscheidet.“ (Steiner

1920e)

Salze im chemischen Sinne sind tatsächlich gewöhnlich nicht brennbar (es wäre aber noch zu unter-

suchen, ob sie bereits alles das im Mineralreich umfassen, was mit „Salz“ insgesamt gemeint ist).

Man kann die Polarität von „Salz“ und „Phosphorigem“ noch vervollständigen, indem man zur Lös-

lichkeit des Salzes den Gegensatz der Unlöslichkeit auf der anderen Seite sucht. Ein Beispiel sei ge-

nannt: das Holz. Es ist brennbar, also „schwefelig“, aber es kann im Wasser nicht aufgelöst werden.

Es findet sich hier also in dem Begriff des „Phosphorigen“ bzw. „Schwefeligen“ ein zur Verbren-

nung entgegengesetzter Prozeß angedeutet, den man sich selber konsequent ergänzen kann: der

Prozeß des „Imponderabilienverinnerlichens“, des „Imponderabilienbindens“.- Warum war Rudolf

Steiner nicht daran gelegen, diesen Prozeß ebenfalls mit einem Namen zu belegen, so wie die Auf-

lösung als Gegensatz der Kristallisation? Das Geheimnis liegt vielleicht darin, daß sich hier das

Entstehen einer geformten Substanz in den Vordergrund drängt. Bei der Verbrennung ist es nämlich

entgegengesetzt: Bei ihr wird gerade das Geformte, die gewordene Substanz, zerstört. Daher muß

man von dem Prozeß des Brennens – verbunden mit Leuchten, Hitzebildung usw. – sprechen. Im

dazu polaren Prozeß des Imponderabilienbindens aber entsteht Substanz – während sich uns die

prozessuale Beteiligung der Imponderabilien gerade entzieht. Von dieser Substanzqualität ist dann

in ganz umfassender Bezeichnungsweise die Rede als dem „Phosphorigen“ oder „Schwefeligen“.

Fassen wir das bisherige Ergebnis zusammen: So wie unter dem Begriff des Salzprinzips zwei zu-

sammengehörige Prozesse gefaßt werden, muß dasselbe auch mit dem Begriff des dazu polaren

Prinzips geschehen: zum „Sulfurprinzip“ gehören die zwei zusammengehörigen Prozesse der Ver-

brennung und des Verinnerlichens von Imponderabilien.10

Unter welchen Aspekten müssen wir die vier Prozesse vergleichen?

Das erste Kriterium, unter dem die vier Prozesse zu vergleichen sind, ist der Gegensatz von Bildung

und Zerstörung von Form. Kristallisation ist ein Prozeß der Formbildung, Auflösung jedoch einer,

bei dem Form zerstört bzw. aufgehoben wird (sie kann sich ja wieder neu bilden, wenn die Lösung

zum Auskristallisieren gebracht wird). Verbrennung ist ebenso ein Prozeß der Formzerstörung, al-

lerdings in anderer Art. Und die Imponderabilienverinnerlichung muß nun wieder ein Prozeß der

Substanzbildung und gleichzeitig Formung sein. Das ergibt sich schon allein aus der Polarität zur

Verbrennung.

Als zweites können wir das Kriterium hinzunehmen, daß sich Substanzen bei dem Vorgang vereini-

gen oder voneinander sondern.

Während die ersten beiden Kriterien unmittelbar am Sinnenschein gewonnen werden können, ist

das dritte Kriterium ein Ergebnis der hellseherischen Forschung. Es muß hinzugenommen werden,

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um die Salz- und Sulfurprozesse so anzuschauen, wie sie von Rudolf Steiner gemeint sind; auch in

der alten Alchimie hatten diese Begriffe ja in einem – allerdings atavistischen – Hellsehen ihre

Grundlage. Rudolf Steiner charakterisiert in den oben zitierten Vorträgen den Gegensatz von „Salz“

und „Phosphorigem“ anhand ihres polaren Verhältnisses zu den „Imponderabilien“. In welcher

Weise sie an den Formbildungs- und Zerstörungsprozessen und Substanzvereinigungen und –trenn-

ungen teilnehmen, soll als drittes Kriterium berücksichtigt werden.

Allerdings soll vor der nun folgenden Beschreibung der vier Prozesse vorweg noch der Begriff der

„Imponderabilien“ etwas differenzierter angeschaut werden. Worauf wird denn hingewiesen, wenn

außer dem Licht und der Wärme noch „andere“ zu den Imponderabilien gerechnet werden? Die Im-

ponderabilien umfassen das gesamte Ätherische (Steiner 1920a-4), das Rudolf Steiner nach vier Ar-

ten differenziert: Wärmeäther, Lichtäther, chemischer oder Klangäther, Lebensäther.11

Die Ätherar-

ten stehen aber in Beziehung mit vier verschiedenen Reichen: dem Physischen, dem Astralischen,

dem unteren und dem oberen Devachanischen (das Devachanische ist das Geistige im engeren Sin-

ne).12

Das bedeutet, daß das von einer Substanz verinnerlichte Imponderable – es ist ja allgemein

gesagt das, was sich der Schwere und damit der Wägbarkeit entzieht – auch seelischer oder geisti-

ger Art sein kann. Um unsere vier Prozesse richtig zu verstehen, ist eine solche Blickerweiterung

notwendig; denn dafür genügt es nicht, nur auf in der unbelebten Welt stattfindende Prozesse zu

schauen. Eine oben zitierte Stelle über den Schwefel gab ja bereits einen Fingerzeig in dieser Rich-

tung. Sie sei noch ergänzt durch das, was kurz davor ausgesprochen wurde: „Allen tiefen Volksan-

schauungen liegt zugrunde die Idee der Verwandtschaft des Feuers mit dem, was man beim Men-

schen und Tiere die Triebe und Instinkte nennt. (..) Der Schwefel enthält in sich das Feuer verbor-

gen, wie der Körper die tierische Leidenschaft enthält.“ (Steiner 1906b) Damit wird deutlich, daß

hier nicht eine oberflächliche Analogie gemeint ist.

Die Vier Prozesse in der Gegenüberstellung A. zwei Prozesse der Formbildung

Kristallisation

Nun sollen die vier Prozesse nach den drei genannten Kriterien verglichen werden. Aus den Zitaten

läßt sich zusammenfassen, wie die Kristallisation zu beschreiben ist, um mit diesem Prozeß zu be-

ginnen: Bei der Kristallisation findet aus formloser Vorstufe der Lösung eine Formbildung statt.

Und beim Entstehungsprozeß von kristallin Geformtem werden die Imponderabilien abgestoßen;

offenbar waren sie in der Lösung also anwesend. Das entstandene Salzartige ist dann von Imponde-

rabilien im Idealfall ganz entblößt.13

Salze im chemischen Sinne bilden sich auch tatsächlich in der

Regel so, daß Wärme frei wird, und die Kristallisation kann durch Abkühlung unterstützt werden.14

Andererseits hat sich von dem entstehenden Kristallinen eine unter Umständen jetzt erst klare, auf

jeden Fall nun weniger dichte Flüssigkeit nach oben abgetrennt; das Kristalline dagegen bildet sich

unter Hingabe an die Schwere.15

Wir haben in der Kristallisation also einen Prozeß der Formbildung unter Abgabe der Imponderabi-

lien vor uns. Wir dürfen uns vorstellen, daß die Imponderabilien eine ähnliche Bewegung vollzie-

hen, wie es das Lösungsmittel andeutet: Es erhebt sich über das Schwerwerdende. Die Impondera-

bilien werden zentrifugal in die „Leichte“ entlassen. Wenn man die Wärmeabstrahlung während der

Kristallisation beobachtet, ist dieser Gestus erlebbar. Rudolf Steiner beschreibt es darüberhinaus so,

daß er nicht nur von dem Imponderablen, Ätherischen spricht, sondern auch von dem, wovon das

Ätherische Träger ist, nämlich Weisheit: „... immer wenn sich Salz absetzt, so bedeutet das, daß das

Salz an die Umwelt auch einen geistig-ätherischen Inhalt abgibt. (..) Indem das Salz koaguliert, in-

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dem das Salz sich absetzt, verdunstet gewissermaßen die reale Weisheit in die Umgebung, und das

Salz wird weisheitsleer.“ (Steiner 1921a)

Imponderabilienverinnerlichung

Zur Kristallisation gibt es nun einen polar entgegengesetzten Formbildungsprozeß, der sich unter

der Aufnahme von Imponderabilien vollzieht. Es ist der Prozeß der „Imponderabilienverinnerli-

chung“.

Dieser Prozeß überführt eine noch ungeformte, vielleicht flüssige oder gasförmige Materie in einen

geformteren Zustand. Der neue Zustand muß aber trotz der Ähnlichkeit der Voraussetzung nicht ge-

nerell von derselben Beschaffenheit vorgestellt werden wie kristalline Materie, die hart und unbe-

weglich ist. Eine erste Vorstellung vom Charakter solcher „phosphorigen“, „schwefeligen“ Sub-

stanz erhalten wir, wenn wir alles Brennbare in der Natur aufsuchen (weiter unten wird dieser Pro-

zeß noch von einem anderen Aspekt charakterisiert werden können). Wir beginnen im Mineralreich.

Der elementare Schwefel als mineralischer Repräsentant dieser Substanzart tritt kristallin auf, und

ist in diesem Zustand übrigens die einzige Substanz, die brennbar16

ist. Dieser Schwefel ist wasser-

unlöslich und zeigt als Schmelze und Gas sehr merkwürdige Eigenschaften. Er verinnerlicht die ihm

zugeführte Wärme so, daß er zunächst nicht flüssiger und leichter, sondern dichter, geformter und

undurchsichtiger wird.17

Er zeigt als Gebärde einen Formbildungsprozeß durch Imponderabilien-

verinnerlichung.

Gehen wir in der Natur auf die nächsthöhere Stufe, zum Pflanzenreich, so finden wir dort an Brenn-

barem in erster Linie das geformte Holz.18

Starr geformt ist auch die brennbare Kohle, die aus um-

gewandelten Pflanzenüberresten besteht. Hier ist lebendige Substanz ins Mineralische übergegan-

gen. Aber auch flüssiges Fett, von der Pflanze (und dem Tier) gebildet, ist brennbar, und es er-

scheint nicht geformt, hat allerdings eine gewisse Dichte und Viskosität. In wässriger Umgebung

strebt es zum sich abrundenden Tropfen, der leicht obenauf schwimmt – da zeigt sich doch eine

gewisse eigene Formtendenz. Das Erdöl, ebenfalls aus pflanzlichen und tierischen Lebensresten

und unter Mitwirkung von Bakterien entstanden, ist auch nicht geformt und zeigt ein ähnliches ab-

weisendes Verhältnis zum Wasser wie Fett.19

Es ist interessant, daß die Eigenschaft der Wasserunlöslichkeit – eine Verweigerung, sich der Um-

gebung hinzugeben wie das Salz – uns bei den hier genannten brennbaren Substanzen durchgehend

begegnet. Diese Eigenschaft wurde ja oben für das „Schwefelige“ postuliert.

Bis auf den Schwefel sind diese Substanzen außerdem alle biogenen Ursprungs, wenn auch als Sub-

stanzen schon mehr oder weniger weit vom Lebendigen entfernt; das Fettartige, das ja unter ande-

rem jede lebende Zelle als Membran umgibt, steht in dieser Hinsicht dem Lebendigen noch am

nächsten.20

Indem der Schwefel als mineralischer Repräsentant „sulfurischer“ Substanz über das Gebiet des Mi-

neralischen hinausweist, wird unsere Aufmerksamkeit auf den organischen Prozeß der Substanz-

und gleichzeitigen Formbildung unter Verinnerlichung von Imponderabilien gelenkt. Wenn wir zu-

nächst die Pflanze nehmen, stellen wir fest, daß sie einen solchen Prozeß selber vollziehen kann.

Der zentrale Vorgang dieser Art ist die Photosynthese. Die grüne Pflanze wächst im Licht, das heißt

sie bildet auf diese Weise ihren Leib. Licht wird in einem Substanzbildungsprozeß verinnerlicht

(auf die physikalische Sichtweise des Vorganges, die von Energiequanten und „Reduktionsäquiva-

lenten“ spricht, will ich hier nicht eingehen). Dabei zieht die Pflanze als Grundlagen ihrer Sub-

stanzbildung das Kohlendioxid aus der Luft heran und gewinnt aus dem Wasser des Bodens den

Wasserstoff, denn aus dem stofflichen Nichts – oder anders gesagt: aus reinen Imponderabilien –

kann die Pflanze Substanz nicht bilden; sie braucht eine gewisse ponderable Ausgangsbasis. Daraus

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entstehen als erstes die Kohlenhydrate als eine Art organischen „Lichtträgers“, als ein „Phosphori-

ges“. Ihre erste Form sind die im Flüssigen gelösten Zucker. Sie können weiter verdichtet werden,

so daß sie nurmehr quellbar sind (Stärke, Pektine), schließlich ganz wasserunlöslich und hart: Dann

ist die Stufe der Zellulose und verwandter Zellwandsubstanzen (Hemicellulosen) erreicht, mit denen

die Pflanze jede ihrer Zellen umkleidet und so ihrem ganzen Körper Festigkeit und Beständigkeit

gibt.21

Aber es geht aus den zuckerartigen Primärprodukten der Photosyntese auch das allermeiste

hervor, was die Pflanze sonst an differenzierter Stofflichkeit entwickelt.- Damit erhält man eine

konkrete Vorstellung vom Prozeß der Imponderabilienbindung. Bei ihm geht tatsächlich Stoffliches

von einem ungeformteren und leichten Zustand (gasförmiges Kohlendioxid, Wasserstoff, der aller-

dings nicht frei in Erscheinung tritt) in einen immer mehr geformten und schweren über.22

Am Ende

kann eine ponderable Substanz stehen, die trotz ihrer quasi kristallinischen Härte nicht die typisch

salzartige Geste des „Zerfließens“ zeigt: Das Holz, bestehend aus Zellulose und Lignin, ist nicht

wasserlöslich – aber es liefert uns Heizwärme, damit seinen „phosphorigen“ Charakter offenbarend!

Die Durchdringung ponderabler Substanzen mit Imponderabilien bei der Photosynthese verläuft so,

daß wir im Kohlenhydrat – zum Beispiel dem süßen Zucker – nicht mehr unterscheiden können,

was daran „Wasserstoff“, „Kohlendioxid“ oder „Licht“ ist. Es ist eine neue Qualität entstanden. Ge-

rade dieses qualitativ Neue, das über eine Addition von Komponenten hinausweist, ist der Ausdruck

verinnerlichter Imponderabilität.

Das im umfassenden Sinne Imponderable, das in den Prozessen der pflanzlichen Formgestaltung

und ihren zugrundeliegenden Substanzbildungen wirksam ist, ist das pflanzliche Leben. Das prägt

sich in alle Substanzbildungen ein; erst die Endprodukte dieses Lebensprozesses sind Substanzen

wie Zellulose oder auch Wachs (auf Blattoberflächen und Früchten), die durchaus starr, wasserun-

löslich und tot sind und so gut brennen. Bei jenen Substanzen, die noch in den Lebensprozessen in

„Fluß“ gehalten werden, zum Beispiel die Zucker oder Eiweiße, tritt die Beziehung zum Wasser in

den Vordergrund. Aber auch sie sind durch den Imponderabilienbindungsprozeß entstanden.

Auf noch höheren Naturstufen vollziehen sich solche Prozesse des Imponderabilienverinnerlichens

dann in der tierischen und schließlich menschlichen Leibbildung.

Gegenüberstellung von Kristallisation und Imponderabilienverinnerlichung

Die Kristallisation, der salinische Formbildungsprozeß, vollzieht sich immer so, daß ponderable

Substanz zentripetal zum wachsenden Kristall hingezogen wird und dort aufgelagert, apponiert

wird. Der Lösung wird sie entzogen; in Richtung auf den Kristallisationspunkt vollzieht sich eine

„Zusammenziehung“. Die sulfurische Formbildung vollzieht sich nicht als Appositionswachstum,

sondern als Wachstum von innen heraus, also gewissermaßen zentrifugal. Ein typisches Bild gibt

die aus der Erde hervorsprießende und wachsende Pflanze. Auch der tierische und menschliche

Leib wächst im wesentlichen in dieser Art.

Beim Verinnerlichungsprozeß der Imponderabilien müssen wir deren „Bewegung“ auch polar ent-

gegengesetzt zur Kristallisation vorstellen. Sie verläuft nun zentripetal in bezug auf die sich bilden-

de Substanz. Die Imponderabilien werden nicht befreit, wie bei der Imponderabilien zentrifugal ab-

strahlenden Kristallisation, sondern gehen in einen innerlichen Besitz über, werden zu verborgenem

Eigentum.

Wir haben also beidemale eine Gegenläufigkeit: Bei der Kristallisation zentripetale Apposition der

Substanz unter zentrifugaler Imponderabilienabstoßung; beim anderen Prozeß zentrifugales Wachs-

tum (im eigentlichen Sinne), verbunden mit zentripetaler Verinnerlichung der Imponderabilien.

Welcher Art sind nun die Körper, die sich daraus ergeben? Die salinische Formbildung führt zur

Entstehung starrer Körper, die unbeweglich einen bestimmten Raum einnehmen – als Kristalle. Ei-

ne sulfurische Substanzbildung hat natürlich stattgefunden bei der Urbildung des Schwefels auf der

Erde – es könnte auch noch auf andere Prozesse im Anorganischen hingewiesen werden –, aber die-

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sen Prozeß können wir heute nicht beobachten. Beobachtbar ist hingegen der Bildungsvorgang von

„Leibern“ durch Lebensprozesse. Diese Leiber bauen sich selbst aus Substanz auf, die sich je nach

den Erfordernissen der Leibesformen und -funktionen differenziert. Die Leibbildung ist eigentlich

das Primäre, auf das zu schauen ist; die Substanzbildung steht in ihrem Dienst. Nur weil oben der

Ausgangspunkt beim Schwefel und dem Brennbaren genommen werden sollte, standen zunächst die

differenzierten Substanzen im Vordergrund.

Die lebendigen Leiber zeigen aber Regsamkeit. Da ist die langsame Wachstumsbewegung der

Pflanze, die sich entgegen der Schwere nach oben richtet – es ist dies der sinnlich faßbare Ausdruck

der in Verinnerlichung übergehenden „Imponderabilien“, die ein der Schwere entgegengesetztes

Prinzip sind. Auch der Tierkörper hat eine Wachstumsbewegung. Und er hat noch zusätzlich die

willentliche Beweglichkeit im Raum – Ausdruck seiner Triebe und Instinkte. Der Kristallkörper ist

verschlossen gegenüber seiner Umgebung und reglos. Die organischen Körper dagegen nehmen

durch Tätigkeit immerfort Substanzen aus der Umgebung auf und geben ihr andere wieder zurück

(Stoffwechsel). So gibt die Pflanze aus dem sulfurischen Prozeß der Photosynthese den Sauerstoff

an die Luft zurück.

Dem steht ein andere Polarität gegenüber: Der Kristall kann völlig durchsichtig sein und Licht und

auch Wärme ungehindert durch sich hindurchlassen – „Hingabe an die Umgebung“. Dagegen hat

der sulfurisch gebildete Körper um so weniger die Neigung, sich hinzugeben, je mehr er Imponde-

rabilien zu seinem Eigentum gemacht hat; er muß sich dem Einfluß von äußerem Licht und Wärme

widersetzen! Beim Körper des höheren Tieres und des Menschen zeigt sich das ganz deutlich. Er ist

undurchsichtig, und er hält Wärme wie Kälte von sich weitgehend ab.

Um die unveränderliche Form des fertigen Kristalls auffassen zu können, genügt es, ihn zu einem

Zeitpunkt anzuschauen. Die Zeit spielt für diese Form gar keine Rolle. Dagegen erhalte ich von der

sulfurisch sich bildenden Form des lebendigen Organismus, wenn ich sie einmal anschaue, nur eine

Momentaufnahme. Sie wächst, „entwickelt“ sich, und wir kennen die Form des Organismus erst

dann, wenn wir sie in allen Stadien überschauen, die gesetzmäßig in der Zeit aufeinanderfolgen. Es

kommt dann eine höhere „Form“ zum Vorschein, die man als Zeitgestalt bezeichnen kann.- Zeitge-

stalt zu haben gehört zum Charakter der sulfurischen Formbildung.23

Die Kristallform ist Abdruck von außen herankommender Kräfte, die deren Bildungsmilieu konsti-

tuieren (Salzgehalt der Lösung, Temperaturänderung, Druck, der zur Verfügung stehende Raum

u.a.). Die geometrische Grundgestalt (Tracht) hängt von der speziellen Substanz ab. Aber je nach

den Bedingungen ist der Kristall anders ausgestaltet. Auch die Kristallbildung verläuft also in Hin-

gabe an die Umgebung. Aber selbst in der geometrischen Grundgestalt zeigen manche Mineralien –

zum Beispiel der Calcit – eine große Abhängigkeit von den äußeren Bedingungen. Heute hat man

die Vorstellung, daß die geometrische Kristallgestalt auf den atomaren Bau zurückgeführt werden

kann – allerdings ist das „Atomgitter“ ein Modell, das erst anhand der sichtbaren Gestalt entwickelt

wurde. Rudolf Steiner beschreibt die Entstehung der Kristallgestalt anders. Er erklärt sie durch ein

„Zusammenschießen“ geistiger Kräfte von allen Seiten: „Wenn Sie ... einen Quarzkristall finden, so

ist er ja gewöhnlich unten aufsitzend; aber da ist er nur gestört durch das Irdische, ... in Wirklichkeit

wird er so gebildet, daß von allen Seiten das geistige Element zusammenschießt, sich ineinander

spiegelt, und frei schwebend im geistigen Weltenall sehen Sie den Quarzkristall. In jedem einzelnen

Kristall, der sich vollkommen nach allen Seiten bildet, kann man eine kleine Welt schauen.“ (Stei-

ner 1924b)

In vollkommener Polarität hierzu muß die Leibbildung durch den Prozeß der Imponderabilienverin-

nerlichung beschrieben werden. Nicht von außen wirken die Kräfte und hinterlassen einen Abdruck,

sondern von innen drücken sich die imponderablen Kräfte, die in den Leib immer tiefer einziehen

wollen, in der wachsenden Gestalt aus. Bei der Pflanze sind sie noch am wenigsten ins Innere ein-

gezogen, mehr schon beim Tier, voll und ganz beim Menschen. Trotz dieser Differenzierung hat

aber auch schon die Pflanzengestalt Ausdruck; es wird später darauf wieder einzugehen sein.

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Es ist die Gemeinsamkeit der beiden formbildenden Prozesse, daß in beiden aus einem Ungeform-

ten ein Geformtes entsteht. Und beide Male ist die „Relativbewegung“ der ponderablen Anteile un-

tereinander sowie des Imponderablen im Verhältnis zum Ponderablen die gleiche: Bei der Kristalli-

sation trennen sich das Feste und restliche Flüssige, und es trennen sich die Imponderabilien von

dem Gesamten. Bei der Imponderabilienverinnerlichung werden die zur Substanzbildung herange-

zogenen unterschiedlichen Stoffe der gleichen durchdringenden Bewegung unterworfen, wie sie

auch die Imponderabilien in bezug auf die Substanz vollziehen.

B. Zwei Prozesse der Formvernichtung

Verbrennung

Im folgenden sind nun die beiden Prozesse zu vergleichen, bei denen Form zum Verschwinden ge-

bracht wird.

Verbrennung ist ein Vorgang, bei der eine geformte Substanz, zum Beispiel Holz oder Wachs, nicht

nur in ihrer Form vernichtet wird, sondern auch zertrennt wird in andere Substanzen, die in ihr

„aufgehoben“ waren – in dem Sinne, daß ihr Eigenwesen als isolierte Substanzen zwar vor der Ent-

stehung des Holzes usw. bestand, und nach seiner Verbrennung wiederum besteht, aber im Holz

nicht.- Wenn man verschiedene Verbrennungsvorgänge zusammennimmt, so kann man sagen: Es

folgt etwas der Leichte als Rauch, und es bleibt etwas Schwereres auf der Erde zurück als Asche24

.

Asche ist völlig formlos, so locker und offensichtlich schwerelos, daß sie von einem Luftzug zer-

stäubt werden kann.- Welche Bewegung vollziehen die Imponderabilien bei diesem Vorgang? Das

ist ganz offensichtlich: Sie werden aus dem vorherigen Zustand, der Substanz als verborgenes „Ei-

gentum“ zu gehören, befreit. Die Flamme ist heiß und leuchtet in unterschiedlicher Farbigkeit,

Wärme und Licht werden also frei. Es ist der zentrifugale Gestus.

Es muß sogar noch hinzugesetzt werden, daß die Gesamtheit der Verbrennungsprodukte schwerer –

wenn auch nicht dichter, sondern aufgelockerter – ist als das Unverbrannte. Denn in der Verbren-

nung findet eine Verbindung mit dem Sauerstoff statt. Dieses Schwererwerden geht mit dem Absto-

ßungsvorgang der Imponderabilien einher. Im Zustand der Imponderabilienverinnerlichung kann

sich die Substanz vom Sauerstoff freihalten – nicht immer vollständig, aber zu einem höheren Gra-

de. Die Imponderabilien werden in dem Maße ausgetrieben, wie eine Verbindung mit dem Sauer-

stoff eingegangen wird; es entstehen dann die „Oxide“.25

Durch den Sauerstoff werden die vormals sulfurischen Substanzen, durch Verbindung mit ihm

schwerer geworden, tatsächlich wieder dem Bereich der Salzbildung zugeführt. Denn sowohl Rauch

als auch Asche enthalten wasserfreundliche Oxide, die über die flüssige Säure- und Laugenbildung

im Neutralisationsprozeß (Salzbildung) wieder zusammenfinden – und damit schließt sich ein

Kreislauf zwischen Verbrennung und salzartiger Substanzbildung in der Schwere!

Im unmittelbaren Erleben des Verbrennungsvorgangs überwiegt allerdings das Leichterwerden:

Rauch strebt von der Erde weg, Asche ist leicht. Die gesamte Feuerbewegung strebt von unten nach

oben, in die Leichte – und man darf wohl den Eindruck aussprechen, daß das Feuer etwas „Leiden-

schaftliches“ hat. Es tritt in ihm bildlich in Erscheinung, was im belebt-beseelten „schwefeligen“

Körper dann als Inneres wirkt.

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Auflösung des Salzartigen

Die Imponderabilienbewegung beim anderen Prozeß der Formaufhebung, dem Lösungsvorgang,

muß nun entgegengesetzt verlaufen, denn sie entzieht sich wieder der Erscheinung. Sie ist darin

vergleichbar dem Prozeß der sulfurischen Imponderabilienverinnerlichung. Was bei der Salzbildung

als Imponderables abgestoßen wird, muß ja im Vorgang des Auflösens von Salzartigem zentripetal

einziehen.

Man beobachtet, wie im Lösungsvorgang die scharfen Formen des Kristallinen verschwimmen und

schrumpfen, indem die kristalline Materie sich an das Lösungsmittel hingibt. Es ist aber nichts da-

von wahrzunehmen, daß sie hierbei in auseinandergehende Teile geschieden werde, etwa eine Art

Asche oder Rauch. Im Gegenteil durchdringt sich vorher Gesondertes – Salzartiges und Lösungs-

mittel – völlig zu einer Einheit.26

Die Lösung ist dadurch etwas anderes als das Lösungsmittel. Sie wird dichter, vielleicht trüber; sie

entwickelt noch eine Reihe anderer interessanter Eigenschaften. Vor allem können sich nun chemi-

sche Vorgänge im gelösten Zustand abspielen, die im festen meistens unmöglich sind. Für die

Wahrnehmung tritt als neue Qualität der Geschmack auf: Kochsalz in Wasser oder auf der Zunge

selbst aufgelöst schmeckt „salzig“, Zucker süß.

Das Lösen der salzartigen Substanzart, die sich einer flüssigen „Umgebung hingibt“,27

ist ein Vor-

gang, bei dem Imponderabilien einziehen; in erster Linie ist es Wärme, die oft hinzukommen muß,

um das Lösen zu ermöglichen. In der Lösung zeigen sich dann Imponderabilien als die neue Quali-

tät des Geschmacks. Übersinnlich beobachtet, zieht Geistiges in die Lösung ein. Das finden wir hier

von Rudolf Steiner angesprochen: „... das Salz, das aufgelöst ist im Flüssigen, im Wasser, das ist,

wie man weiß durch die Imagination, weisheithaltend. Das aufgelöste Salz ist weisheithaltend.“

(Steiner 1921a) Es ist diejenige Weisheit, die in der Natur im Gestaltungsprozeß wirken kann.28

Wie das vorige Zitat zeigt, ist es unzureichend, wenn man den Lösungsvorgang lediglich aus che-

mischem Blickwinkel als Vorgang beschreibt, der Wärme „verbraucht“.

Kurzer Rückblick auf die Vierheit

Bei der Verbrennung trennen sich Substanzen aus einer vorhergehenden Substanz, in der sie aufge-

hoben waren, und es trennen sich außerdem die Imponderabilien ab. Beim Lösungsprozeß vereini-

gen sich die Imponderabilien mit dem Ponderablen, und es durchdringen sich ponderable Substan-

zen. Auch in diesem Prozeßpaar folgen Ponderables und Imponderables derselben Geste, so daß wir

für alle vier Prozesse sagen dürfen, daß an dem Vorgang des stofflichen Trennens oder Durchdrin-

gens zugleich abzulesen ist, in welches Verhältnis die Imponderabilien dazu treten. Von den hier

zugrundegelegten drei Betrachtungskriterien – Form, Bewegungsrichtungen des Ponderablen und

Bewegungsrichtungen des Imponderablen – können das zweite und dritte also zusammengefaßt

werden. Ein substanzielles Trennen geht mit dem Trennen des Ponderablen vom Imponderablen

einher. Substanzielles Verbinden geht einher mit der Durchdringung des Ponderablen durch die Im-

ponderabilien! Der physische Vorgang kann also als Bild für einen auch übersinnlichen angesehen

werden.

Allerdings muß nun noch auf eine Merkwürdigkeit hingewiesen werden: Die beiden sulfurischen

Prozesse sind komplizierter als die salinischen. Beim Kristallisieren geschieht ein Trennen, beim

Lösen ein Durchdringen. Beim Verbrennen dagegen geschieht eine Trennung in Asche und Rauch,

aber bei der Entstehung beider auch eine Vereinigung, nämlich mit dem Sauerstoff. Und woher

stammt er? Aus dem pflanzlichen Photosyntheseprozeß, also einem Prozeß der „Imponderabilien-

verinnerlichung“, der eine Durchdringung von ungeformteren Stoffen bedeutet – aber auch eine

Abtrennung des Sauerstoffs! Der Sachverhalt von Sauerstoffbildung und -verbrauch bildet eine

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Klammer um die beiden sulfurischen Prozesse, sofern sie als Prozesse der belebten Natur aufge-

sucht werden.

Gegenüberstellung von Verbrennung und Salzlösen – ein Rätsel taucht auf

Bei Kristallisation und Imponderabilienverinnerlichung konstatierten wir die gegensätzlichen Modi

des „Wachstums“. Nun sind noch die Bewegungsrichtungen des Ponderablen bei Verbrennung und

Auflösung genau zu vergleichen.- Die salinische Formaufhebung läßt die Form von außen zu einem

Zentrum hin verschwinden, in entgegengesetzter Richtung, wie sie durch Apposition – am Kristalli-

sationskeim ansetzend – gewachsen war. Was sich zu einem ponderablen Festkörper verdichtet hat-

te, wird der Schwere wieder enthoben, indem es vom gesamten Lösungsmittel aufgenommen wird;

es entzieht sich damit der gegenständlichen Greifbarkeit, obgleich es als Geschmack usw. in neuer

Weise qualitativ zugänglich wird.

Die Verbrennung – etwa eines Holzstückes – wandert ebenso von außen nach innen; entzündet wird

ein Körper ja immer außen, und er wird von außen nach innen – also zentripetal – verzehrt. Das ist

aber eine Anomalie in unserer Ordnung, denn eigentlich müßte hier eine zum Salzlösen polare Pro-

zeßgebärde vorliegen, wie auch Kristallisation und Imponderabilienverinnerlichung hinsichtlich ih-

rer Wachstumsgebärden polar sind. Folglich müßte Verbrennung ganz im Innern des Körpers an-

setzen und das Materielle sozusagen zentripetal in sich hineinsaugen, bis die Form – im Nichts ver-

schwindet! Denn dies wäre die Umkehrung des von innen heraus wachsenden Imponderabilienbin-

dens, das Leibbildung verbunden mit Substanzbildung aus der eigenen Lebenstätigkeit bedeutet.

Wer diesen Widerspruch zwischen dem äußeren Prozeß und der sich aus ideeller „Konstruktion“

ergebenden Prozeßgestalt unbefangen aufnimmt, dem muß hier eine Frage auftauchen: Ist die Ver-

brennung der brennbaren Materialien in der Natur, wo die Flamme außen an dem Gegenstand zün-

gelt, gar nicht die „richtige“ Verbrennung? Hier stehen wir vor einem Rätsel. Es kann die Ahnung

auftreten, daß diese äußere Naturform des Verbrennungsprozesses nur ein Abbild ist, das entspre-

chend den Bedingungen der unbelebten Natur modifiziert ist, und daß der eigentliche, „ideale“ Ver-

brennungsprozeß in einem anderen Bereich gesucht werden müßte. Das könnte bedeuten, daß die

vier Prozesse in ihrer idealen Gestalt gar nicht alle auf derselben Daseinsstufe zu finden sind. Wir

müssen uns nur daran erinnern, daß als „Imponderabilien“ unterschiedliche Bereiche über dem

Physischen mitbeteiligt sind an diesen vier Grundprozessen, um für diesen Gedanken offen zu sein

– ebenso wie wir uns darauf besinnen müssen, daß „Salz, Merkur, Sulfur“ Begriffe sind, die nicht

Naturstoffe bezeichnen, sondern bildliche Hinweise geben auf umfassende Prinzipien der Natur, des

Menschen, des Kosmos.

Versuch, das Rätsel der „richtigen Verbrennung“ zu lösen – Die vier Prozesse als eine Stufenleiter

Wenn die vier Grundprozesse eine zusammengehörige Einheit darstellen, könnten sie vielleicht eine

Art Stufenleiter, möglicherweise sogar eine Entwicklung, bilden! Eine solche zu zeigen, soll im fol-

genden versucht werden. Um dem Rätsel näher zu kommen, müssen wir den Blick über das Physi-

sche hinaus erweitern und auf das Lebendige, Seelische und Geistige schauen, das in den Naturrei-

chen liegt. Dazu sollen einige Metamorphosen der vier Prozesse in den Naturreichen betrachtet

werden.

Kristallisation ist Bildung fester, toter Materie aus einer gelösten Vorstufe heraus. Gestein der Erde

ist auf diese Weise entstanden. Insbesondere die Sedimentgesteine (Kalksteine, Sandsteine, Tone

u.a.) sind nach dem Prinzip des Sich-Absetzens aus einer wässrigen Lösung oder aus einer trüben

wässrigen Suspension entstanden. Das entspricht ganz dem „Salz“. Die magmatischen Gesteine

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sind direkt aus einer glutflüssigen Vorstufe auskristallisiert (es wäre zu fragen, ob dies ein reiner

„Salzprozeß“ ist, da hier die Wärme so stark beteiligt ist), in späteren Stadien erfolgte dann die

Auskristallisation aus wässrigen Restlösungen.

Im folgenden Prozeß, dem Lösen des Kristallinen, wird durch das Flüssige die tote Materie ihrer

begrenzten Form und Hingabe an die Schwere enthoben, indem im Lösungsvorgang Imponderabili-

en einziehen. Die Lösung ist nun „weisheithaltend“. Dies kann so verstanden werden, daß in ihr die

Potenz zu neuer Gestaltung liegt. Alle Gestaltung in der Natur ist Ausdruck von Weisheit.

Lösungsvorgänge sind nun grundlegend für Leben auf der toten mineralischen Erde. Ein fundamen-

taler Prozeß ist, daß die Pflanzenwurzel die für das Wachstum notwendigen mineralischen Salze aus

dem Boden aufsaugt, zum Teil auch erst vorher aus dem Gestein herauslöst. Auch im großen gese-

hen, in der Landschaft, hat die Pflanzendecke in bezug auf die harte Konturierung des Minerali-

schen eine auflösende, fließende Übergänge schaffende Wirkung. Aber die Pflanze löst die im Mi-

neralreich noch fest-unbewegliche Form auch in der Weise auf, daß sie mit der Form ihrer (ideell zu

erfassenden) Urorgane Blatt und Sproß „flüssig“ umgeht. Das nachschaffende Erkennen der

Bildetätigkeit der Pflanze vermittelt uns ein Erlebnis vom Prozeß der Auflösung des Festen. Die

Form eines Blattes wird zwar nach Abschluß seines Wachstums fest-gelegt, aber im Übergang zum

nächsten wird diese Form wieder aufgelöst und umgebildet. Eine Form geht so „fließend“ in die an-

dere über (Metamorphose). Es sind immer dieselben Organe, die wiederholt werden – und doch

sind sie immer anders gestaltet, in bestimmten Entwicklungsstadien erscheinen sie sogar so stark

abgewandelt, daß man zunächst schwer ihre Verwandtschaftszugehörigkeit erkennen kann. Das ist

geradezu das Hauptcharakteristikum der Pflanze. All dies zusammengenommen, darf gesagt wer-

den: der Prozeß der Auflösung des Festen, dessen Überführung ins Flüssige tritt in verschiedenen

Formen als ausgeprägte Eigenart des Pflanzenreichs auf.- Auf der nächsten Naturstufe finden wir

die aktive tierische Verdauung; nun wird das von der Pflanze Geformte wiederum zerstört und auf-

gelöst. Den direkten Anschluß an das Mineralreich hat aber die Pflanze mit ihren Wurzelprozessen.

Beim Tier sind die löslichen Salze nur eine Nahrungsbeigabe.

Es ist folgerichtig, als nächste Stufe den Vorgang des Imponderabilienverinnerlichens anzuschlie-

ßen, der die beim Lösen des toten Geformten begonnene zentripetale Imponderabilienbewegung

fortsetzen würde, wobei die Imponderabilien jetzt aber zum inneren Eigentum werden. Zugleich

findet ein Übergang statt vom Formlosen, Flüssigen (oder sogar noch Gasförmigen) zum Geform-

ten, zur Leibbildung. Denn was folgt auf die Aufnahme gelöster Substanzen aus der Umgebung

durch jeden Organismus? Der erneute Aufbau eigener Substanz in eigener Körperform, der organi-

sche Wachstumsprozeß. Jetzt ist allerdings die Frage zu stellen: Haben wir den

Imponderabilienbindeprozeß schon in seiner wichtigsten oder deutlichsten Form erfaßt, wenn wir

Licht und Wärme bindende Stoffbildung und Wachstum eines Organismus anschauen? Als solch

ein Prozeß war ja hier die Photosynthese der Pflanze beschrieben worden, wo mittels einer geheim-

nisvollen Verinnerlichung des Sonnenlichtes die Pflanze ihren Leib stofflich aufbaut – ein Prozeß

reinen Lebens. In ihrer ganzen Gestalt drückt sich dieses pflanzliche Leben aus, das sich im wesent-

lichen zwischen Erde (Schwere) und Sonne (Licht) orientiert. Das ist das Imponderable, das der

ganzen pflanzlichen Substanz eigentlich zugrundeliegt. Das Licht hat sie zu einem Teil ihres We-

sens gemacht.

Es muß nun daran erinnert werden, daß der Prozeß der Imponderabilienverinnerlichung oben – in

Gegenüberstellung zur Kristallisation (siehe S. 10) – damit charakterisiert wurde, daß hier verinner-

lichte Kräfte sich in dem Leib Ausdruck verschaffen. Solch eine Tatsache finden wir bei der Pflanze

noch nicht wirklich, dazu muß man das Tierreich betrachten. Denn in der Pflanze erleben wir noch

kein Innenwesen; von „Ausdruck“ zu sprechen, ist also noch nicht ganz angemessen. Erst beim Tier

tritt das sich in Stoff und Form verkörpernde Imponderable auf als Innenwesen, das den Leib als

sein „Eigentum“ trägt, also als Seelisches. Der tierische Leib wird zum Ausdruck des in ihm inkar-

nierten Seelischen, was in Erscheinung tritt als typisch geformte Gestalt, als Arthabitus.- Beim

Menschen offenbart sich das individualisierte Imponderable dann nicht nur auf Artebene, sondern

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im einzelnen „Exemplar“ als dauerhafte Physiognomie und Körperhaltung (bekannt ist auch die In-

dividualisierung der menschlichen Körpersubstanz).

Um den Prozeß der Imponderabilienverinnerlichung in seiner deutlichsten, am weitesten fortge-

schrittenen Form zu finden, müssen wir also das Tierreich ins Auge fassen. Hier ist ja auch die Reg-

samkeit des „sulfurischen“ Körpers, von der einmal die Rede war, voll ausgebildet. Der Körper

wächst nicht nur von innen, sondern in seinem Innern liegen auch die Impulse zur Eigenbewegung

im Raume (der Salzwürfel kann nur von außen bewegt werden). Interessant ist es, die Frage zu stel-

len, welcher Art denn die „Regsamkeit“ des Wachsens und Entfaltens der Pflanze ist. Was die

Pflanze an „Bewegung“ ausführt, das ist das gesetzmäßige Ausdehnen und Zusammenziehen, das in

der oben beschriebenen „flüssigen“ Gestaltumbildung ihrer Organe stattfindet. Und wenn wir das

nachschaffend-erkennend mitvollziehen, vermittelt uns die Pflanze gewissermassen auf einer höhe-

ren Stufe über dieser flüssigen Gestaltverwandlung dann ein Erlebnis, in dem sie sich nun doch von

der Seite des ausdrucksvollen „sulfurischen“ Leibes zeigt: Indem die Pflanze auf ihre normale Voll-

endung, ihr Entwicklungsziel in der Blüte und Frucht hinstrebt, und nicht nur ewig gleiche Organe

wiederholt, also sich voll ausdifferenziert hat und zu einem Abschluß kommt, wird ihre ganze Ge-

stalt ausdrucksvoll, sie spricht zur Seele des Menschen: sie macht eine Gebärde. Gebärde ist an der

Gestalt erscheinender bildlicher Ausdruck eines inneren Seelischen. Pflanzen können als „Bilder

der Seelenwelt“ erlebt werden.29

Sie können es gerade deshalb, weil es nicht nur eine erdumfassen-

de Pflanzenform gibt, sondern eine Differenzierung in Gattungen und Arten – diese Differenzierung

ist Ergebnis des Hereinwirkens individualisierter „Pflanzenseelen“. Im nach unten geneigten

Schneeglöckchen mit seinen schmalen Blättern drückt sich bildhaft eine andere „Seelenhaltung“ aus

als in der hochaufgeschossenen, strahlenden Königskerze, oder im versteckt im Gebüsch blühenden

Veilchen mit seinem erstaunlichen Duft.

Diese noch über dem allgemein-pflanzlichen Photosynthesegeschehen stehende Form verinnerlich-

ter Imponderabilien in der Pflanze gleicht den Imponderabilien des Tieres darin, daß sie seelischer

Art ist, unterscheidet sich aber darin, daß dieses Seelische von der Pflanze nicht verinnerlicht wird.

Ihr Leben erhebt sich nicht zu der Möglichkeit, Bewußtsein zu entwickeln, und bringt daher nur

stoffgewordene Bilder von Seelischem hervor – in verfeinerter Form ist das bis in ihre Duftbildung

hinein erlebbar.30

Bei Tier und Mensch tritt das Fließende in der äußeren Gestaltbildung zurück (in inneren Prozessen,

wie dem ständigen Substanzaustausch, oder im Bilden und wieder Wegschaffen von Knochensub-

stanz, bleibt es weiterhin konstituierend). Die Gestalt wird nun in bezug auf ihre Organe mehr si-

multan angelegt. Der ganze Leib wächst von innen heraus in den Raum hinein. Er wird im Laufe

seiner Entwicklung immer deutlicher – beim Tier sehr rasch – zum physiognomischen Ausdruck des

in ihm wohnenden Seelischen: Bei Gazelle, Nashorn und Mensch ist der Leib der Gazellen-, Nas-

horn- und Menschenseele gemäß gestaltet.

Aber dennoch ist der Bewußtseinsunterschied zur pflanzlichen Ausdruckshaftigkeit nicht so groß.

Denn das seelische Innenleben des Tieres prägt die charakteristische Leibesform nicht direkt zu sei-

nem Ausdruck; es modifiziert sie nur in flüchtiger Gebärde, in Stimmäußerung und Mimik (letztere

wird erst vom Menschen voll entfaltet). Selbst der Bewußtseinsgrad der Instinkthandlung ist ganz

dumpf. Und die den Leib in Zeichnung, Proportionierung usw. ausdrucksvoll formenden Kräfte

sind auch beim Tier unbewußt, schlafend. Das tierische Seelische schläft im Aufbauen seiner Lei-

besgestalt, und so schläft auch das pflanzliche Leben in der seelisch bildhaften Entfaltung der Art-

gestalt.

Jetzt scheint endlich ein Schlüssel zum umfassenden Verständnis des sulfurischen Imponderabilien-

bindens gefunden zu sein: Seelisches prägt sich seiner selbstgeschaffenen physischen Substanz als

Ausdruck ein. Den Grundstein zu solcher „schwefeligen Substanz“ legt die Pflanze durch die Ver-

innerlichung von Licht- und Wärmeimponderabilien in der Photosynthese. Das Tier kann diesen

Prozeß schon nicht selbst leisten, es ist auf das von der Pflanze Gegebene angewiesen, das es auf-

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nimmt, zerstört und zu eigener Leibessubstanz erneut aufbaut. Zwischen dem Seelischem und sei-

nem stofflichen Leib besteht ein wechselweises „Eigentumsverhältnis“: Der Leib ist Eigentum des

Seelischen; aber die Seele ist in ihrem schlafend gebundenen Zustand auch „Eigentum“ dieser Sub-

stanz. Diese Form der Imponderabilienbindung finden wir am idealsten in der Tierwelt ausgeprägt,

weil dort das Seelische auch tatsächlich in dem Leib wohnt. Bei der Pflanze muß es noch irgendwo

„außerhalb“ der einzelnen Gestalt gesucht werden. Es schafft sich von dort ein Abbild in der irdi-

schen Pflanze.

Nun kann der Übergang zum vierten Prozeß, der „Verbrennung“ in ihrer idealen Form, gesucht

werden. Schon dort, wo sich das Seelische im Tierreich unmittelbar äußert – in Gestik, Stimme und

Mimik – geschieht es durch Bewegung, und dabei handelt es sich um Prozesse, die einen Übergang

bilden vom Zustand stofflicher Gebundenheit der Imponderabilien zu dem Prozeß, der jetzt noch zu

behandeln bleibt.- Welche Art von seelischen Kräften liegt denn aller Bewegung des Tieres zugrun-

de? Es sind Instinkte, Triebe, Begierden, Leidenschaften. Es sind die noch nicht vom Bewußtsein

durchdrungenen Kräfte des Willens. Wir sind uns auch als Menschen bewußt, daß wir über das Zu-

standekommen willentlicher Bewegungen – nichts wissen. Trotz der uns gegebenen Möglichkeit,

Bewegung willkürlich zu intendieren, liegt ihre Ausführung noch immer in dem schlafenden Be-

wußtseinsbereich, von dem im vorangegangenen die Rede war.

Ziehen wir noch einmal den Begriff der „schwefeligen Substanz“, wie Rudolf Steiner ihn bei Jakob

Böhme beschreibt, heran: „Der Schwefel enthält in sich das Feuer verborgen, wie der Körper die

tierische Leidenschaft enthält.“ (Steiner 1906b) Wie bereits geäußert, ist dies nicht als bloße Analo-

gie aufzufassen. Es handelt sich beide Male, beim Mineral und beim tierischen Körper, um dasselbe

Prinzip von Wesenheit: Im Schwefelkristall „schläft“ die Möglichkeit, eine Flamme zu erzeugen;

im tierischen Körper schläft eine Kraft, die sich als Leidenschaft in der Bewegung äußern kann.

Wenn nun der tierische und menschliche Körper willentliche Bewegungen ausführt, setzt der Prozeß

ein, das verborgene Feuer wieder zu befreien. Damit schreiten wir über die Stufe des im Stoff ver-

borgenen Imponderablen hinaus. In der Bewegung wird nicht nur in schlafender Wachstumstätig-

keit Seelisches im Bilde offenbart, sondern es kommt zu sich. Allerdings greift es noch „schlafend“

in die Körpermaterie ein, um sie zu bewegen. Es „will“, und der Leib bewegt sich auf das ange-

strebte Ziel hin. Damit verbunden ist die Erzeugung von Körperwärme. Mit der Bewegung sind

physiologische Oxidationsprozesse verbunden, allerdings nicht so vehement verlaufende, wie wenn

ein Schwefelstück angezündet wird und mit dem Sauerstoff in sichtbarer Flamme verbrennt. Es

wird aber, damit Bewegung stattfinden kann, der beim pflanzlichen Imponderabilienbinden wegge-

gebene Sauerstoff in das Innere des Leibes aufgenommen und dort mit dem Kohlenstoff verbunden,

„verbrannt“. Als „Rauch“ wird dann Kohlendioxid ausgestoßen. Aufnahme des Sauerstoffs und

Ausstoßung des verbrauchten „Rauches“ aber geschehen durch die Atmung.

Damit sind wir endlich zu einem Verbrennungsprozeß vorgerückt, wie er eigentlich gedacht werden

muß: ein Vorgang, der ganz im Innern der „schwefeligen“ Materie ansetzt und sie von innen her

verzehrt, indem das der Substanz als Eigentum innewohnende Imponderable sich befreien will und

zu sich selbst kommt. Es wird nun also die echte Umkehrung des Imponderabilienbindens vollzo-

gen.

Dieser eigentliche Verbrennungsprozeß kann wieder in einigen Metamorphosen in der belebten Na-

tur gezeigt werden. Wir schauen auf den Übergang vom leiblichen Gebundenheitszustand der Im-

ponderabilien zu ihrer Befreiung. Verbrennungsprozesse im Sinne physiologischer Oxidationsvor-

gänge finden schon in pflanzlichen Blüten statt. Gerade die Blüte spricht ja am stärksten das Seeli-

sche bildhaft aus; will es hier in der Pflanze zu sich kommen, erwachen? Da das Pflanzenseelische

aber gar nicht inkarniert ist, sondern „außen“ lebt, ist die Blüte ohne innere Triebhaftigkeit, bleibt

leidenschaftslos. Ihre „Verbrennung“, obgleich eine echte physiologische Oxidation, vollzieht sich

daher – ähnlich wie im Mineralreich – in Verbindung mit äußerer Wärmewirkung: in der Sonnen-

wärme und -hitze des Frühlings und Sommers.- Charakteristisch für das Tier ist die Oxidation orga-

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nischer Substanz in der Physiologie der Bewegung. Mit ihr im Zusammenhang steht der Atmungs-

prozeß, bei dem durch rhythmische Bewegung sauerstoffreiche Luft verinnerlicht und mit Kohlen-

dioxid angereicherte ausgestoßen wird. Der Ausatmungsstrom wird zum Träger der Stimme. Die

Leidenschaften des Tieres, das im Innern verborgene „Feuer“, äußern sich noch direkter: im Laut.

Der organische Verbrennungsprozeß steigert sich also immer mehr zur Offenbarung eines inneren

Seelischen. Wir dringen immer tiefer in das Innere.

Mit der anorganischen Verbrennung vervollständigen wir diese Phänomenreihe nach der einen Sei-

te. Hier liegt das Geschehen ganz an der Oberfläche, Licht und Wärme gehen äußerlich von dem

Feuer aus, das das Brennbare an sich reißt. Diesem Feuer steht die „leuchtende“, manchmal „lo-

dernde“ Blüte noch nahe. Im Menschen wird der Verinnerlichung der organischen Verbrennung die

Schlußstufe aufgesetzt – hier findet sich der Gegenpol zur anorganischen Verbrennung. Auch der

Mensch hat die dem Tier eigene Befähigung zur Bewegung und zur vom Ausatmungsstrom getra-

genen Stimmäußerung. Beides wird in der kindlichen Entwicklung vermenschlicht zu aufrechtem

Gang und zu Sprache. Und an die erworbene Sprachfähigkeit schließt sich dann der am meisten

verinnerlichte Verbrennungsprozeß an, der außen überhaupt nicht mehr als Feuer und Rauch wahr-

nehmbar wird, aber im Innern an die organischen Verbrennungsprozesse anschließt. Er ist die inne-

re Blüte des Menschseins. Es ist jener Prozeß, der eingangs unter den „Widersprüchen“ in Rudolf

Steiners Äußerungen über Salz- und Sulfurprozesse aufgeführt wurde: „Das Denken kommt zustan-

de durch einen Verbrennungsprozeß.“(Steiner 1908b)31

In den menschlichen Metamorphosen der Verbrennungsprozesse, die durch die völlige Verinnerli-

chung erreicht werden, also im aufrechten Gang – aber auch in der bewußten Handlung, in der spre-

chenden Gebärde usw. –, im atemgetragenen Sprechen und im Denken, lebt die vierte Wesensart

neben dem Physischen, Lebendigen und Seelischen der vorangegangenen drei Prozesse: das Ich. Es

kommt zum Selbstbewußtsein im geistigen Lichte des Denkens und betätigt sich willentlich in der

erzeugten physiologischen Wärme durch die Initiative, den Entschluß. Durch das Ich wird die

Wärme zu Liebe, Interesse und Mitgefühl. Erst in dieser Form haben wir den Verbrennungsprozeß

als Urbild einer Entwicklungsstufe des irdischen Daseins erkannt: „Was der Organismus produziert

an inneren Wärmeprozessen in unserem Blut, ... die er zuletzt wie eine Blüte aller andern Prozesse

zum Ausdruck bringt, das dringt auch hinauf ... verwandelt sich in das Geistig-Seelische. Und was

ist das Schönste im Geistig-Seelischen? Das ist das Schönste, das Höchste, daß durch die Kräfte der

Menschenseele das Organische umgewandelt werden kann ins Seelische selber! Wenn alles, was

der Mensch durch die Tätigkeit seines Erdenorganismus haben kann, ... umgewandelt wird, dann

wandelt es sich im Seelischen um in dasjenige, was wir inneres Erleben des Mitgefühles, des Inte-

resses für alle andern Wesenheiten nennen können. (..) Wärme wird in Mitgefühl verwandelt in der

Erdenmission! (..) Das ist der Sinn des Erdenprozesses, ...[daß wir allmählich ganz ausnutzen], was

uns von der Erde gegeben werden kann als Erwärmung, als Heizwärme, als Verbrennungswärme

für den Geist ... zur Umwandlung in lebendiges Mitgefühl und Interesse ...“ (Steiner 1911b)

Dem Ich selbst offenbaren sich die aus dieser „Verbrennung“ freiwerdenden Imponderabilien als

„Licht“ und „Wärme“ in ihrer geistigen Wirklichkeit. Das Ich selbst ist es, das sich als Feuer von

innen in der „schwefeligen Substanz“ des beseelten Leibes entzündet und das in den geistigen Ele-

menten von Licht und Wärme als Imponderables selber anwesend ist.

Daher ist die Vernichtung einer brennbaren Materie wie Holz im Feuer nur ein äußeres und unei-

gentliches Bild für den idealen Verbrennungsprozeß, der durch das Ich-Prinzip vollzogen wird.

Damit kann man nun mit der Reihe Kristallisation – Auflösung – Imponderabilienverinnerlichung –

Verbrennung stufenweise die Naturreiche vom Mineral bis zum Menschen aufwärtssteigen. Es zeigt

sich, daß jeweils ein Prozeß in einem Naturreich seine besondere Repräsentanz findet, indem er sei-

ne ausgeprägteste oder typischste Form annimmt, auch wenn in jedem Naturreich Metamorphosen

aller vier Prozesse wiederzufinden sind; der Ausgangspunkt lag ja im rein Mineralischen, Toten, wo

die vier Prozesse zunächst beschrieben werden konnten. Der Zusammenhang zwischen den vier

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Prozessen und Naturreichen ist durch die Vierheit des Physischen, Ätherischen, Astralischen und

Ichhaften gegeben. Kristallisation ist Eigenart des Mineralreiches, zugleich des Toten, das in ru-

henden Formen die Abdrücke geistiger Kräfte festhält. Lösen des Festen und Überführen ins Flüssi-

ge und zugleich in die Leichte ist der Schritt, den das Leben der Pflanzenwelt vollführt, durch das

die Imponderabilien als Ätherisches in die Erde einziehen. In der Vereinigung der Imponderabilien

mit der organisch verdichteten Leiblichkeit und Eigensubstanz ist das Astralische in seiner noch

schlafenden Form anwesend, das „Triebkräfte“ entfaltet. Die Stoff- und Leiblichkeit wird „aus-

drucksvoll“, sie bekommt einen spezifischen Charakter oder eine Physiognomie. Im inneren Ver-

brennen der auf diese Weise bereiteten „schwefeligen“ Leiblichkeit offenbart sich auf höchster Stu-

fe das Ich im Menschen in geistigem Licht und geistiger Wärme selber und überführt das Organi-

sche damit wieder in den Tod. Ein Kreislauf schließt sich. Auch zwischen physischer Verbrennung,

die Asche und Rauch hinterläßt, und der Salzbildung (im engeren Sinne), zu deren Voraussetzungen

Säure- und Laugebildung gehören, schloß sich ein Kreis. Dies sei im folgenden dargestellt:

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Belebung – Auflösung Imponderabilienbinden – Beseelung

Totes – Kristallisation Verbrennung – Tod

neutralisiert Säure Rauchgas

im Salz Base Asche

Die vier Prozesse schließen aneinander an, und doch ist der jeweils nächste zugleich eine Überwin-

dung des vorangegangenen: Das Lösen überwindet die Form des toten Kristallinen, zugleich über-

windet die Belebung den Tod; das Verinnerlichen der Imponderabilien überwindet das Formlose

der Auflösung, zugleich das endlose Fließen der nur belebten Formbildung; es prägt ihr die charak-

teristische, seelenhafte Endform auf. Das Verbrennen wiederum überwindet die Verhaftung des Im-

ponderablen am Stoff, die Leibbindung im „schwefeligen“ Zustand, und es überwindet das Astra-

lisch-Triebhafte durch das Ich.

Ausblick – das Merkurprinzip

Von einem gewissen Gesichtspunkt war unsere Betrachtung sehr einseitig, wenn auch in sich ge-

schlossen, indem sich zunächst Paare von einander zugehörigen Salz- und Sulfurprozessen und von

miteinander in polarer Beziehung stehenden Formbildungs- und Formauflösungsprozessen ergaben.

Es stellte sich dann heraus, daß die Vierheit als eine Entwicklungslinie aneinander anschließender,

sich allerdings jeweils überwindender Prozesse gedacht werden kann. Aber es fehlte in der ganzen

Betrachtung doch ein wichtiges Element: das Merkurprinzip. Es gehört ja zur Dreiheit von „Salz,

Merkur, Sulfur“ und stellt schließlich das Prinzip dar, das die verbindende Mitte zwischen „Salz“

und „Sulfur“ bildet! Es muß daher noch auf die Frage eingegangen werden, in welcher Beziehung

das Merkurprinzip zu den hier gefundenen vier Prozessen steht. Dabei sollen zwei Gedanken leitend

sein: Das Merkurprinzip muß hier in derselben Weise wie „Salz“ und „Sulfur“ zwei zueinander po-

lare Prozesse umfassen, da die drei Prinzipien etwas Einheitliches haben, und es muß auf irgendeine

Weise in die Mitte zwischen die beiden bisher behandelten Prinzipien zu stellen sein.

In der Einleitung war auf einiges widersprüchlich Erscheinende hingewiesen worden. Darunter war

die Äußerung, daß „... das Lösliche (Flüssige) quecksilberartig ...“ (Steiner 1901) also merkuriell

ist. Von den Rosenkreuzern wurde der Lösungsprozeß als Mittleres in der Dreiheit von Kristallisa-

tionsprozeß, Auflösen und Verbrennung meditiert (Steiner 1911c). Dies sind allerdings nicht vier,

sondern nur drei Prozesse; jeder repräsentiert offenbar ein Prinzip. In unserer Darstellung war vom

Lösungsprozeß als Teil des Salzprinzips die Rede. Man könnte beide Aspekte verbinden und sagen,

daß die Kristallisation der Salzprozeß im engeren Sinne ist, der Lösungsprozeß ein merkurieller

Salzprozeß. Der Prozeß der Imponderabilienverinnerlichung fehlt bei den Rosenkreuzern; in unserer

Darstellung ist er die andere Seite des Sulfurprinzips, das bei den Rosenkreuzern durch die Ver-

brennung repräsentiert wird. Wiederum ergibt es sich aus dem Gedanken der inneren Einheit der

drei Prinzipien, nun auch innerhalb des Sulfurprinzips einen Sulfurprozeß im engeren Sinne und ei-

nen merkuriellen Sulfurprozeß zu suchen. Dann muß die Imponderabilienverinnerlichung als der

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merkurielle Gegenpart des „Sulfurprozesses im engeren Sinne“, der Verbrennung, bezeichnet wer-

den.

Damit wären die in der Reihe der Vierheit aufeinanderfolgenden Prozesse von Lösen und Imponde-

rabilienbinden merkuriell. Und sie stehen auch in der Mitte, und zwar zwischen zwei Einseitigkei-

ten: einem reinen Salz- und einem reinen Sulfurprozeß. Und sie sind insofern zueinander polar, als

das Lösen mit dem Verschwinden von Form, Imponderabilienbinden aber mit der Bildung von

Form zusammenhängt. Wie nahe sich beide Prozesse stehen, zeigte sich an der Schwierigkeit, ihre

typischsten Ausprägungen gesondert voneinander im Pflanzen- oder Tierreich zu finden. Sie sind,

zumindest in der belebten Natur, eng verschwistert.

Wenn diese beiden Prozesse das „Merkur“-Prinzip repräsentieren, dann müßte nicht nur das Pflanz-

liche, sondern auch das Tierische, und folglich nicht nur das Lebendige (Ätherische), sondern auch

die Seele (oder das Astralische) vom „Merkur“ umfaßt werden. Das finden wir bestätigt durch Ru-

dolf Steiners Äußerungen, die tatsächlich in diese Richtung weisen. In einer Notizbucheintragung

wird zunächst folgendes zur Dreiheit skizziert:

„...Gedächtnis = Salzwirkung. Leben = Merkur – Tod = Feuer = Sulphur...“ (Steiner 1921b)

Hier ist vermutlich von im Menschen stattfindenden Prozessen die Rede. Das Leben steht als Mitt-

leres zwischen zwei Prozessen, die an seine Grenzen führen. Der erste ist formkonservierend, der

andere formzerstörend und substanzverzehrend. „Merkur“ ist also das Prinzip des (menschlichen)

Lebens.

„Merkur“ hat auch mit dem zu tun, was an der Pflanze gerade der „pflanzlichste“ Bereich, nämlich

der Sproß mit dem grünen Laub ist: „Und in der vermittelnden Tätigkeit der Pflanze, ... zwischen

dem nach aufwärts strebenden Blütigen, Fruchtigen und dem nach unten Festwurzelnden, da haben

Sie den Merkurialprozeß drinnen, was den Ausgleich herbeiführt. (..) ... in den Blättern ... im ge-

wöhnlichen Kraut...“ (Steiner 1920a-5) Es ist jener Bereich der Pflanze, wo ihr Leben sich durch

Photosynthese stofflich selbst begründet (ein Imponderabilienbindeprozeß), wo aber auch das Auf-

lösen der festen Form (in der Blattmetamorphose) Bildeprinzip ist. Dies stellt sich vermittelnd zwi-

schen den Wurzelprozeß, der den Ort der Pflanze „fest“ macht und sie mit dem Mineralreich ver-

bindet, und den oben geschilderten „Verbrennungsprozeß“ in der Blütenregion. Das Zitat läßt daher

vermuten, daß der „Merkurialprozeß“ Lösen und Imponderabilienbinden umfaßt.

Nun wirkt aber in den letzteren Prozeß die über dem Ätherischen stehende Astralität hinein. Deut-

lich auf den astralischen Aspekt des „Merkur“ hingewiesen finden wir in folgenden Beispielen:

„Für ihn [Paracelsus] ist auch die Seele herausgeboren aus denselben Kräften der Welt, aus denen

das Merkurialische, das Quecksilber, geboren ist. Der tiefere Zusammenhang ist so, daß man ihn öf-

fentlich gar nicht besprechen kann.“ (Steiner 1906a) Und in einer Notizbucheintragung finden wir:

„Im Tier ist vorzugsweise der Prozeß, der im Merkur objektiviert ist.“ (Steiner 1920c)

Das zweite Zitat ist zunächst rätselhaft. Es kann hier nicht sehr tief darauf eingegangen werden, wie

das Merkurprinzip umfassend zu charakterisieren ist. Fragen wir als Ausgangspunkt beim Prinzip

des Merkuriellen einmal, weshalb man zu seinem Repräsentanten das Quecksilber (das „Merkur“

oder „Merkurius“) wählte, dann finden wir vielleicht einen Schlüssel. (Rudolf Steiner meint in der

Notizbucheintragung, aus der das Zitat lediglich ein Ausschnitt ist, nicht den Planeten Merkur, son-

dern „das“ Merkur = Quecksilber.) Quecksilber zeichnet sich vor allen anderen Metallen dadurch

aus, daß es in der Natur durch seine flüssige Tropfenform beweglich ist.32

Auf Beweglichkeit be-

zieht sich auch die Bezeichnung `quecksilberig´ (für unruhig, äußerst lebhaft), sowie auch das eng-

lische `quick´ (`schnell´, `lebhaft´; als Neutrum hat es sogar die Bedeutung `lebendes Fleisch´).

Dieses merkwürdige Metall ist eben ein „schnell bewegliches Silber“. Solche Art von Beweglich-

keit, die im „Merkur“ objektiviert ist, bildet die charakteristische Eigenschaft des Tierischen. In sei-

ner Bewegung äußert sich die Seele.

Wie nahe beieinander Pflanzliches und Tierisches stehen, indem in der Pflanze sich Seelisches ab-

bildet, und auf der anderen Seite im Tier pflanzenhaft schlafend der Leib aufgebaut wird, haben wir

gesehen. Darum stehen beide Naturreiche mit dem Merkurprinzip, dem Prinzip des Lebens, der

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Beweglichkeit und Seele in Beziehung. Im Metall „Merkur“ aber finden wir ein „objektiviertes“

Bild für dieses Prinzip.

Es kann zum Schluß das Merkurprinzip also doch noch einbezogen werden. Wenn wir die Reihe

Kristallisation – Auflösung – Imponderabilienverinnerlichung – Verbrennung überschauen, so ha-

ben wir am Anfang und Ende einen reinen Salz- und einen reinen Sulfurprozeß. Wenn man nur die-

se beiden ins Auge faßt, ist die Gleichsetzung von „Salz“ mit Formbildung oder auch Verhärtung

und „Sulfur“ mit Formauflösung berechtigt. Aber es gehören eben noch die zwei mittleren Salz-

und Sulfurprozesse dazu, die in der Regel nicht als solche berücksichtigt werden. Sie werden zu-

gleich vom Prinzip des Merkuriellen umfaßt. Lösung und Imponderabilienverinnerlichung erweisen

sich damit als „doppelgesichtige“ Prozesse: Sie können unter zwei „widersprüchlichen“ Aspekten

beschrieben werden. Gemeinsam ist ihnen, daß das Ponderable mit den Imponderabilien zu inniger

Durchdringung gebracht wird. Dies ist auch der wahre Charakter des Lebens und der Beseelung.

In den beiden merkuriellen Prozessen kommen sich Salz- und Sulfurprinzip nahe. In dem anderen

Paar stehen sie in starkem Gegensatz – aber es schließt sich doch ein Kreis zwischen Verbrennung

und Kristallisation, wie gezeigt wurde (siehe S. 18). Diese Beziehung zwischen Verbrennung und

Kristallisation soll uns zum Schluß noch als hilfreicher Hinweis dienen, um einen der eingangs auf-

geführten Widersprüche einer Lösung näherzubringen – auch wenn die genauere Ausführung in

diesem Rahmen nicht geleistet werden kann: Das Denken kommt zustande durch einen Verbren-

nungsprozeß (Steiner 1908b), und gleichzeitig bedarf die Denktätigkeit der Kristallisation von Sal-

zen: „Jedesmal, wenn das geschieht, daß wir denken, findet in unserem Organismus ein Prozeß statt,

den wir vergleichen können – ... es ist keine Analogie, sondern eine Tatsache ... – mit einem ande-

ren Prozeß: [wenn wir durch Abkühlung in einem Gefäß das] aufgelöste Salz zur Kristallisation

bringen...“ (Steiner 1911a)

Es ist offenbar so, daß dieser Zusammenschluß der weit auseinanderliegenden Extreme von Salz-

und Sulfurprozeß im Menschen zustandekommt. Gerade der denkende Mensch stützt sich auf einen

verinnerlichten Kristallisationsprozeß. Auch physiologisch bedarf er hierzu des Mineralischen.

Den Zusammenhang der vier Prozesse mit den Naturreichen, auf die sie hindeuten, mit den drei

Prinzipien fassen wir in folgendem Schema zusammen:

Kristallisation Auflösung Imponderabilien- Verbrennung

verinnerlichung

Mineralisches Pflanzliches / Belebtes Tierisches / Beseeltes Mensch / Ichhaftes

„Salz“ „Merkur“ „Sulfur“

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Dank: Ich danke Herrn Dr. Helmut Kiene (Freiburg) herzlich für die intensiven vorbereitenden Ge-

spräche sowie Korrekturvorschläge, ohne die dieser Aufsatz nicht zustandegekommen wäre. Auch

Frau Ruth Mandera (Eckwälden) sowie Hajo Knijpenga (Dornach) möchte ich herzlich danken für

fruchtbare Anregungen und Korrekturvorschläge.

Literatur:

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Kalisch, M.(1996): Versuch einer Typologie der Substanzbildung. In: Goedings, P.: Wege zur Er-

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menarbeit mit R.Schoppmann. Pädagogische Forschungsstelle, Abt. Kassel.

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Steiner, R.(1920a): Geisteswissenschaft und Medizin. GA 312/19856, 20 Vorträge; insbesondere 5.-

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gen zum „Ersten Ärztekurs“ 1920 (GA 312). Manches wurde auch in anderen Kursen ausgeführt.

In: „Beiträge zur Rudolf Steiner-Gesamtausgabe“, Heft 20 (Weihnachten 1967), S. 19, Archiv-

nummer 1244.

Steiner, R.(1920d): Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwickelung der Physik. GA 321/19823,

Vortrag vom 14. März, S. 202-204.

Steiner, R.(1920e): Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. ... GA

314/19893, Vortrag vom 9. Oktober (abends), S. 61f..

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vom 5. Oktober (vormittags), S. 370-71.

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hebung. GA 220/ 19822, Vortrag vom 13. Januar, S. 80-84.

Steiner, R.(1923b): Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen. GA 229, 5

Vorträge 5.-13. Oktober.

Steiner, R.(1923b-3): GA 229, 3.Vortrag vom 7. Oktober.

Steiner, R.(1924a): Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst. GA

316/19873, Vortrag vom 5. Januar, S. 67.

Steiner, R.(1924b): Das Initiatenbewußtsein, GA 243/19271, Vortrag vom 13. August, S. 55.

Wimmenauer, W.(1992): Zwischen Feuer und Wasser. Gestalten und Prozesse im Mineralreich.

Stuttgart.

Anmerkungen:

1 Rudolf Steiner spricht hier über „die drei Hauptideen“, mit denen J. Böhme, Paracelsus, Oetinger, Saint-

Martin (in seinem Buch „Des erreurs et de la vérité“, 1775) und andere die Natur und den Menschen zu

begreifen versuchten. Heute solle man aber neue Begriffe dafür suchen. 2 Rudolf Steiner schreibt in diesem Kapitel über Paracelsus´ Anschauung von der Zusammensetzung aller

Körper aus drei Grundstoffen: „Salz, Schwefel und Quecksilber“. 3 „Merkur“ und „Quecksilber“, „merkuriell“ oder „merkurial“ und „quecksilberartig“ sind synonym für das

hier gemeinte Prinzip, das auch einmal als „Merkurialprinzip“ bezeichnet wird (Steiner 1908d). 4 Rudolf Steiner berichtet in diesem wichtigen Vortrag über die „drei großen Prozesse der Natur“, mit denen

die Rosenkreuzer experimentierten, um ein gewisses Hellsehen vorzubereiten: „Salzbildung, Auflösung,

Verbrennung“. „Alles dasjenige, was etwas anderes auflösen kann, nannte der mittelalterliche Rosenkreu-

zer: Quecksilber oder Merkur.“ 5 Dieselbe Darstellung des Denkens findet sich auch in anderen esoterischen Stunden aus dieser Zeit (GA

266-1).

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Michael Kalisch: Salz, Merkur und Sulfur – fundamentale Prozesse Seite | 24

6 „Phosphorisches“ oder „Phosphoriges“ gehört zu den von Rudolf Steiner benutzten Synonymen für „Sul-

fur“ (alte Schreibweise: Sulphur), ebenso wie auch „Schwefel“. 7 „In der Welt gibt es aber Entwicklung, und was für frühere Epochen gut war, ist nicht gut für unsere Zeit.

Frühere Epochen haben sich eben auf ihre Art in den Besitz setzen können dessen, was in diese Worte ge-

kleidet ist: Salz, Merkur, Schwefel. Die Gegenwart muß ein Neues suchen. Weil ihr Geister dieses Neue

entgegentragen zum Heile der Menschheit, darf dieses Neue nicht außer acht gelassen werden. Ganz an-

ders geartet muß dieses Neue sein, als es das Alte war. Es ist ein grundsätzlicher Unterschied zwischen

dem Neuen und dem Alten.“ (Steiner 1918) 8 Wir finden bei Rudolf Steiner noch auf ganz anderen Naturgebieten „Salzprozesse“ beschrieben, zum Bei-

spiel wird der Evolutionsvorgang der Tiergruppenentstehung durch das Bild der Kristallisation charakteri-

siert (Steiner 1908e). Die Betrachtung solcher Prozesse muß in diesem Zusammenhang noch zurückge-

stellt werden. Man behalte aber im Bewußtsein, daß mit dem Begriff des „Salzes“, ebenso wie des „Mer-

kurs“ oder „Sulfurs“, niemals nur das gemeint war, was der Chemiker heute darunter versteht, und auch

nicht etwas, das nur im Reich des Mineralischen aufzusuchen ist. 9 In diesem Vortrag über Jakob Böhme spricht Rudolf Steiner über dessen Begriffe `Tinctura´, `Salziges´,

`Merkurialisches´ und `Schwefel´. 10

Eine möglicherweise in die Richtung dieser Vierheit von Prozessen weisende Äußerung Rudolf Steiners

findet sich in einer Notizbucheintragung: „... Verbrennung und Salzbildung ... [mit dem dazugehörigen]

Gegensatz – der Entsalzung und Abkühlung.–“ (Steiner 1920b) Der Zusammenhang des zweiten Paares

von Prozessen mit Auflösung und Imponderabilienbinden ist folgender: Um etwas zu „entsalzen“, muß das

in ihm enthaltene Salz auf- und herausgelöst werden; um etwas abzukühlen, muß ich ihm Wärme mithilfe

eines anderen Körpers oder Prozesses entziehen, sie also anderswo zur Latenz oder Verinnerlichung brin-

gen. Damit sind die zwei Prozeßpaare bezeichnet, um die es hier geht. 11

Die „chemischen Effekte“ und Tonphänomene werden z.B. auch auf ein Eingreifen von Imponderabilien

in die ponderable Materie – hier das Feste oder Gasförmige – zurückgeführt (Steiner 1920d). 12

Diese Beziehung läßt sich erschließen aus dem bekannten Vortrag „Die Ätherisation des Blutes“ (Steiner

1911d). 13

Beim Prozeß des bloßen Sichabsetzens – zum Beispiel von Lehm aus einer trüben Suspension (gestaltloser

Schlamm) – muß aber etwas Ähnliches geschehen, denn was bei diesem Vorgang entsteht, gehört auch

zum „Salz“. 14

Da für die Auflösung einer Menge eines bestimmten Salzes eine spezifische Mindestmenge Lösungsmittel

nötig ist, kann auch eine Erwärmung der Lösung die Kristallisation fördern, weil dabei die Lösungsmit-

telmenge durch Verdunstung verringert wird. 15

Dieser gesamte Vorgang wird nun in dem alchimistischen Symbol des Kreises mit der Waagerechten, die

den Kreis in eine obere und untere Hälfte scheidet, wiedergegeben (vgl. S. 3). Die Waagerechte verbild-

licht die Scheidung des Festen vom Flüssigen oder, als ein umfassendes Urbild gesehen, die Scheidung des

Ponderablen vom Imponderablen aus einem vorher einheitlichen Ganzen, das durch den Kreis dargestellt

ist.– Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, auch den Sinngehalt von „Merkur“- und „Sulfur“-

Symbol zu erläutern. Dies muß an anderer Stelle geschehen. 16

Andere brennbare Elemente – weißer Phosphor, reines Natrium, das mit Wasser in Berührung gebracht

wird – müssen dagegen erst durch Reduktion in den elementaren Zustand überführt werden. Chemische

Reduktion kann auch als eine Art Hineinarbeiten von Imponderabilien in die Substanz angesehen werden,

nur daß es in der Chemie als das Übertragen von Elektronen (Elementarladungen) auf die zu reduzierende

Substanz angesehen wird. Sie wird dadurch „energiereicher“. Der entgegengesetzte Prozeß wäre die Oxi-

dation, unter welchem Begriff chemisch nicht nur das Verbinden mit Sauerstoff verstanden wird (dies ge-

schieht auch bei der Verbrennung), sondern im erweiterten Sinne auch das „Entziehen von Elektronen“

(durch Sauerstoff oder andere Oxidationsmittel). 17

Elementarer Schwefel schmilzt ab 112° und zeigt dann folgende Eigenschaften: Wenn man die zunächst

entstehende durchsichtig gelbliche Schmelze weiter erwärmt, wird sie immer dichter und zäher und verän-

dert ihre Farbe zum Rötlichen, schließlich undurchsichtig Bräunlichen; dann wird sie harzig zäh und kann

nicht mehr gegossen werden. Allerdings werden sich währenddessen die aufsteigenden Dämpfe schon

selbst entzündet haben (ab 270° C). Noch höher erhitzt, wird die Schmelze dann wieder flüssiger, bis bei

444° C der Siedepunkt erreicht ist. All dies geschieht, während von der Substanz Imponderables, nämlich

Wärme, verinnerlicht wird! Im Dampfzustand – anfangs orangerot – zeigt der Schwefel dann die weitere

Merkwürdigkeit, daß er um vieles schwerer als Luft ist. Das macht den Eindruck, als wollte er auch im

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Gaszustand, wo sonst die Unterschiede zwischen allen Substanzen weitgehend verschwinden, sein Eigen-

wesen in abgegrenzter Form aufrechterhalten! Um aber in den Dampfzustand überzugehen, müssen auch

der Schmelze wiederum Imponderabilien zugeführt werden (vgl. Wimmenauer 1992, S. 225-29, und Ma-

ckensen 1994). 18

Zwar ist alle organische Substanz im Grunde brennbar, zum Teil allerdings erst nach Austreiben des Was-

sers. Hier soll auf solche Substanzen geblickt werden, die dem Verbrennen unmittelbar offen sind. 19

Übrigens ist in Kohle und Erdöl sowie Erdgas – alle aus dem Lebendigen hervorgegangen – der Schwefel

immer als Anteil enthalten.– Wegen ihrer geringen Bekanntheit sei noch von einer biogenen Substanz be-

richtet, die die Eigenschaft hat, unter Imponderabilienaufnahme einen Formungsprozeß durchzumachen.

Es ist das sogenannte Judenpech, eine asphaltartige Substanz, die am Toten Meer natürlich zu Tage tritt.

Lichteinwirkung läßt sie so hart werden, daß sie gegenüber Lösungsmitteln widerstandsfähiger wird

(Wimmenauer 1992, S. 224). Wegen dieser Eigenschaft wurde das Judenpech bei den ersten photographi-

schen Experimenten als lichtempfindliches Medium verwendet.– Auch die in der Photographie verwende-

ten Silberverbindungen (Silberjodid, Silberbromid) verinnerlichen das Licht, und zwar dergestalt, daß sie

schwarz werden, wobei das Silber durch Reduktion in den elementaren Zustand übergeht. 20

Daß der Schwefel in diesem Verein brennbarer organischer Substanzen steht, verweist uns auf seine tiefere

Beziehung zum Lebendigen. Er ist zum Beispiel in jedem Eiweiß enthalten; und zwar ist er es, der nach

Vorstellung der heutigen Chemie wesentlich dazu beiträgt, daß das Eiweiß seine spezifische räumliche

Gestalt (Konformation) annimmt! Wo also das vom Organismus gebildete Eiweiß zur Formbildung

kommt, ist der Schwefel notwendig. 21

Wer über den Widerspruch stolpert, daß die primäre Form der Kohlenhydrate, die „phosphorige“ Substan-

zen sein sollen, dennoch wasserlöslich ist, sei auf meine Ausführungen über die besondere Natur der Koh-

lenhydrate verwiesen (Kalisch 1996). 22

Man vergleiche diesen Prozeß mit den beschriebenen Eigenschaften des Schwefels (Fußn.17). 23

Auch der Schwefel zeigt Andeutungen von „Zeitgestalt“. Man betrachte die ungewöhnlichen Veränderun-

gen des flüssigen Zustands bei Steigerung der Temperatur (Fußn. 17). 24

Es kann die Aschebildung auch unterbleiben: Wenn z.B. Wachs oder Fett gut verbrannt werden, gibt es

keine Asche, ebenso ist es bei Gasen. Allerdings entsteht bei der Fett- und Wachsverbrennung Wasser-

dampf, und er wird sich irgendwann als Flüssigkeit niederschlagen. Andererseits kann auch nach der Ver-

brennung noch etwas von „Form“ zurückbleiben, wie man es an einem verbrannten Holzstück oder Blatt

Papier sehen kann. Diese zurückgebliebene Form haftet aber nur noch wie eine „Erinnerung“ am Stoff: be-

rührt man das Verglühte, zerfällt es ins Formlose. 25

In extremster Form vollzieht sich diese „Oxidation“ im Feuer. In gemilderter Form geschieht sie zum Bei-

spiel als Korrosion der Metalle, bei der allmählich ebenfalls die Form zerstört wird, als Ranzigwerden der

Fettsäuren unter Licht- und Wärmeeinfluß – oder als Atmungsvorgang im Organismus, wo der Kohlen-

stoff „verbrannt“ wird. 26

Daß ein Salz im chemischen Sinne in der Lösung in polare „Ionen“ dissoziiert sei, wie heute die gewohnte

Auffassung lautet, bezieht man nicht aus den unmittelbaren Phänomenen der Salzlösung, sondern aus den

Vorgängen bei Einwirkung von Elektrizität auf eine solche. Die Salzlösung ist elektrisch leitfähig, und es

können dann unterschiedliche Stoffe aus der Lösung abgeschieden werden. 27

Es ist hier darauf hinzuweisen, daß das Lösen nicht nur an das Wasser gebunden ist. Salze im chemischen

Sinne (Ionenkristalle) lösen sich alle in Wasser in einem mehr oder weniger starken Grade. Kristalliner

Schwefel löst sich dagegen nicht in Wasser. Dafür löst er sich aber in flüssigem Schwefelwasserstoff oder

in Jodoform (Atlas der Chemie, S. 177). In bezug auf diese Flüssigkeiten als „Umgebung“ ist der Schwefel

also auch „salzartig“. Das zeigt, daß der Schwefel als Mineral gegensätzliche „Substanzarten“ in sich ver-

eint: Sulfurisches und auch Salzartiges. 28

Wie offenbart sich diese Weisheit? Die geometrisch gesetzmäßig geordnete Gestalt des Kristalls erscheint,

wenn das Geistige sich wieder zurückzieht und das geformte Ponderable als sein „Werk“, seinen Abdruck

zurückläßt. 29

Methodisch sorgfältig eingeleitet und in zahlreichen anschaulichen Beispielen ausgeführt findet man dies

in dem Buch von E.-M. Kranich (1993). 30

Der Duft einer Pflanze gehört zum ganzen Seelenbild, das sie in uns erzeugt. Die pflanzlichen Düfte, von

allerlei „ätherischen Ölen“ getragen, stehen dem Imponderabilienbindungsprozeß besonders nahe. Sie

werden auch durch einen solchen Prozeß aus der Pflanze freigesetzt, nämlich durch das Ansichreißen von

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Wärme, wodurch sie verdunsten können (zu den ätherischen Ölen als sulfurischen Substanzen siehe Ka-

lisch 1996).

Die Pflanze ist nicht nur in ihrer Gestalt Bild des Seelischen; sie kann auch in einer verborgeneren Weise

in ihrer Stofflichkeit Beziehung zum Seelischen aufnehmen. Das zeigt sich insgesamt an den sogenannten

„sekundären“ Pflanzenstoffen, zu denen außer den eben genannten flüchtigen Duftstoffen zum Beispiel

auch die giftigen Alkaloide gehören. Beide wirken in unterschiedlicher Weise auf das Seelische. So können

bestimmte Gifte halluzinogen wirken. In diesem Falle könnte man den Begriff des „stoffgewordenen Bil-

des von Seelischem“ umkehren: Hier handelt es sich um „in der Seele bilderzeugende Stoffe“, die auf dem

Umweg über die innere Wirkung im Leib solche „Sinneswahrnehmungen“ ohne äußeren Gegenstand her-

vorrufen. 31

Derselbe Gedanke findet sich auch in anderen esoterischen Stunden aus dieser Zeit ausgeführt.– Daß die

Geisteswissenschaft als Grundlage des Denkens tatsächlich einen verbrennungsartigen Vorgang be-

schreibt, bei dem Form zerstört wird, zeigt die folgende Stelle: „Das Zerstören von Nervenzellen und Zell-

gewebe erzeugt Wärme und setzt so das vierte Element, das `Feuer´, in Tätigkeit. Wenn es nur drei Ele-

mente gegeben hätte [„Erde“, „Wasser“ und „Luft“], so hätte der menschliche Körper niemals der Träger

des Ich werden können.“ (Steiner 1908a) 32

Außer beim Wasser – das kein Element ist – und beim Brom findet sich die flüssige Zustandsform in der

uns umgebenden Natur sehr selten. Erst unterirdisch trifft man sie in den Magmen des Erdmantels.

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