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SWR2 Feature am Sonntag Irtijal heißt Improvisation Die Erfindung des Free Jazz im Libanon Von Tobias Lehmkuhl Sendung: Sonntag, 25. November 2018, 14.05 Uhr Redaktion: Walter Filz Regie: Andrea Leclerque Produktion: SWR 2016 SWR2 Feature am Sonntag können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/feature.xml Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Die neue SWR2 App für Android und iOS Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen … Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app

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SWR2 Feature am Sonntag

Irtijal heißt Improvisation

Die Erfindung des Free Jazz im Libanon

Von Tobias Lehmkuhl

Sendung: Sonntag, 25. November 2018, 14.05 Uhr

Redaktion: Walter Filz

Regie: Andrea Leclerque

Produktion: SWR 2016

SWR2 Feature am Sonntag können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören – oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/feature.xml

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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SWR2 Feature am Sonntag

Irtijal heißt Improvisation

Die Erfindung des Free Jazz im Libanon

von

Tobias Lehmkuhl Besetzung

Spr1 Autorentext (nicht vom Autor gesprochen)

Spr2 Übersetzung Mazen

Spr3 Übersetzung Sharif

Sprecherin Übersetzung Leila (nur ein Take)

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ATMO Hundegebell

O-Ton MAZEN 4’53

I have always asked myself if I was an adult in the civil war: Would I be able to continue my job or to be an artist in a war, because you always ask yourself how you would have reacted?

Spr2 Mazen: Ich habe mich immer gefragt: Was hätte ich als Erwachsener im Bürgerkrieg gemacht? Hätte ich meine Arbeit fortsetzen können, hätte ich Künstler bleiben können? Wie hätte ich reagiert?

ATMO Verkehr 1

Spr1 Autorentext

Hupen, Hupen, Hupen. Scharfer armenischer Kebab, libanesischer Couscous, der aussieht wie ein Haufen dicker weißer Erbsen, Schafskäse in neongrünem Olivenöl, Sesampaste.

ATMO Trompete

O-Ton MAZEN

Of course the war for me and my generation is totally natural. We were born in it and the sound of a bomb is something what you name from very young, something like a table like an animal or whatever, so it is just something you live with it.

Spr2 Mazen

Für mich und meine ganze Generation ist der Krieg völlig normal. Wir wurden da hineingeboren. Den Klang einer Bombenexplosion kannten wir von klein auf. Das war uns so vertraut wie ein Tisch oder ein Tier oder was auch immer. Es war einfach etwas, womit man gelebt hat.

ATMO Autoradio

Spr1 Autorentext

Hupen. Der wahnwitzige Verkehr. Rostige Peugeots, Renaults, Citroëns, ein wenig wie Griechenland in den achtziger Jahren. Keine Plätze oder Parks, kein Ort für Kinder, eigentlich kein Ort zum Leben.

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ATMO Trompete 2

O-Ton MAZEN 5’30

So the question for my generation has always been, what if we had kids? We always asked our fathers and mothers: How did you live through this civil war? For me specifically being an artist: Is it possible continue working? Because both my parents are artists and continued somehow to work during civil war.

Spr2 Mazen

So war die Frage für meine Generation auch immer: Was wäre, wenn WIR Kinder hätten? Immer wieder fragten wir unsere Mütter und Väter: Wie habt ihr es geschafft, während des Bürgerkriegs zu überleben? Gerade für mich als Künstler: Ist es

möglich, weiterzumachen? Meine beiden Eltern nämlich waren Künstler und haben es während des Bürgerkriegs irgendwie geschafft, ihre Arbeit fortzusetzen.

ATMO Vögel

Spr1 Autorentext

Ein paar Katzen. Vögel in Käfigen. Viel Hundekacke, nur Pepsi, keine Cola. Beton, Beton, Beton.

ATMO Bomben

O-Ton MAZEN 5’53

So somehow here it was the answer for me. So the war was happening and of course you not only can continue working, it is difficult to admit, but you work even better. You are really working under pressure and under the sense of emergency, that ideas really come in a flow, that you don’t have enough time to draw everything. At no point I will sit and think: What will I draw, or look for inspiration. The war itself was inspiration.

Spr2 Mazen

Und da war dann plötzlich die Antwort für mich. Der Krieg fand statt und, es ist schwierig das einzugestehen, man arbeitet nicht nur weiter, man arbeitet sogar

besser. Man arbeitet unter besonderem Druck, dem Gefühl der absoluten Dringlichkeit, die Ideen fließen und man hat gar nicht genügend Zeit, all das aufzuzeichnen. Keinen Moment lang saß ich da und dachte: Was mache ich jetzt? Ich musste nicht nach Inspiration suchen. Der Krieg war die Inspiration.

ATMO Taxifunk

ANSAGE

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Irtijal heißt Improvisation

Die Erfindung des Free Jazz im Libanon

Ein Feature von Tobias Lehmkuhl

ATMO Frauenstimmen

Spr1 Autorentext

Der erste Tag in Beirut. Bald beginnt das Festival: Irtijal, das einzige Festival für improvisierte Musik im Nahen Osten, in der arabischen Welt. Zur fünfzehnten Ausgabe sind neben libanesischen Musikern vor allem Musiker aus Deutschland geladen.

MUSIK BeinsKerbajVorfeld 1

O-Ton Vorfeld 0’26

Ich bin ja bisher nur über die Grenzlinie auf die andere Seite gegangen und da geht man von hier über extrem zerstörtes Gelände, auch Niemandsland, hat mich fast so ein bisschen an Berlin, ehemaliger Mauerstreifen erinnert. Spr1 Autorentext

Michael Vorfeld, Percussionist.

ATMO Feuerwehr

O-Ton Vorfeld:

Und dann kommt man nach Hamra, und das wirkt alles sehr aufgeräumt, sehr agil, so lebendig, sehr business-mäßig. Der erste Eindruck ist eine Stadt der starken Gegensätze. Einerseits sehr locker, europäisch, es könnte fast Griechenland sein, aber dann doch wieder diese krassen Spuren, die dieser ganzen Krieg, die Konflikte hinterlassen haben.

ATMO Polizei

O-Ton Paed Conca 0’30

Es hat hier etwas, was dich anmacht, einen vibe irgendwie. Es hat was mit der Art zu tun.

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Spr1 Autorentext

Paed Conca, Klarinettist, lebt seit fünf Jahre in Beirut.

ATMO Würfelspieler

O-Ton CONCA:

Ich war schon an vielen Orten, der Libanon hat diese komische Diskrepanz zwischen dieser Solidarität und dieses Helfen und Unterstützen und dem Hass, dem ganze Bürgerkriegsmüll, den ganzen religiösen Clans, Verstrickungen, die auch politisch sind. Diese Mischung ist extrem komisch, weil es ist nicht aufgesetzt, die Unterstützung ist nicht aufgesetzt, die ist einfach normal, man hilft eben, und so was

habe ich noch nie irgendwo gesehen. Hier kann das extrem kippen, aber grundsätzlich ist man immer füreinander da. Und trotzdem war der Bürgerkrieg zum Beispiel möglich, so viel Grausamkeit, so viel Hass, das ist sehr speziell.

ATMO Rue Arax

Spr1 Autorentext

Der Bürgerkrieg dauerte von 1975 bis 1990 und hat eine ganze Generation geprägt. Auch die beiden Gründer der Festivals, Mazen Kerbaj und Sharif Sehnaoui.

MUSIK Nashaz 1

O-Ton MAZEN 18’40

For me it was the most natural thing. I was born in 75 and until my 15th year there was the war. Until my mid-teen-age it was very natural. And even later, for 2,3 years we could’t believe because they told us so many times when we were young: Oh, the war is over, but it was not over. It was abstract, what they told us.

Spr2 Mazen

Der Krieg war für mich vollkommen natürlich. Ich wurde 1975 geboren, und bis ich 15 Jahre alt war, herrschte Krieg. Und sogar noch zwei, drei Jahren später konnten wir nicht wirklich glauben, dass der Krieg tatsächlich vorbei sein sollte. Man hatte uns

während unserer Kindheit so oft erzählt: Der Krieg ist vorbei. Aber er war nie vorbei. Was man uns da erzählte, war völlig abstrakt. O-Ton SHARIF 1’30

There were moments, especially connected to the political situation and the civil war in the country where we could’t live in that house, and we cannot take the piano with us. At points we would go to the mountains and there was no piano or would go to

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cyprus, where we were waiting for things to get better and be able to come back, and of course it was not possible to move the piano to cyprus and it was hard to get one there.

Spr3 Sharif

Es gab Zeiten, je nach politischer und militärischer Lage, in denen wir nicht zuhause wohnen konnten, und natürlich konnten wir das Klavier nicht mit uns nehmen. Manchmal gingen wir in die Berge, dann wieder nach Zypern, wo wir auf bessere Zeiten warteten. Und an ein Klavier war dort nicht zu kommen.

O-Ton MAZEN:

I don’t consider that the war influenced me badly. Of course maybe when I make an analysis, maybe there is a trauma, probably, but I do not feel, that I got something more or less then someone who lived outside. It was really… like we would sometimes pray to Jesus or Mohamed or whatever you pray to: for having some bombs tomorrow, but not to kill anybody but to miss the math-exam you have, because when there is bombing there ist no school.

Spr2 Mazen

Ich glaube nicht, dass der Krieg einen schlechten Einfluss auf mich gehabt hat. Klar, wenn ich eine Psychoanalyse machen würde, würde sich da bestimmt irgendein Trauma finden, aber ich glaube nicht, dass es ein schlimmeres Trauma wäre als bei jemandem, der irgendwo anders aufgewachsen ist. Es war, nun ja, manchmal beteten wir zu Jesus oder Mohammed oder zu wem auch immer: Lass es morgen ein paar Bomben regnen, nicht um jemanden zu töten, sondern damit die Matheprüfung nicht stattfindet. Wenn Bomben fielen, war nämlich keine Schule.

ATMO Baustelle

Spr1 Autorentext

Kerbaj und Sehnaoui kommen beide aus christlichen, frankophonen Familien. Anders als die Eltern von Sehnaoui waren Kerbajs Eltern Künstler und konnten es sich nicht leisten, während der schlimmsten Zeit ins Ausland zu gehen.

MUSIK BeinsKerbajVorfeld 2

O-Ton MAZEN 16’14

I had a kid very early, and when you have a kid you don’t do military service. But when I was younger, really young, I was very attracted to weapons of course and I had some weapons at very early age. I remember when we were between 11 and 13 we were able to break down a Kalashnikov and who could do it faster and my cousin

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could to it with his eyes closed. And we would laugh at kids which were 9 years and playing with plastic Kalashnikov. We knew how to make it safe, we knew how to remove the bullets, we knew all this, that is the worst part of it, that we knew how to make it safe. Spr2 Mazen

Ich bin sehr früh Vater geworden, und wenn man ein Kind hat, muss man im Libanon keinen Wehrdienst leisten. Aber als ich jünger war, wirklich jung, war ich von Waffen magisch angezogen, und ich besaß auch einige Waffen. Als wir elf, zwölf, dreizehn Jahre alt waren, konnten wir eine Kalaschnikow auseinandernehmen, und wer am schnellsten war, hatte gewonnen. Mein Cousin konnte das sogar mit verbundenen Augen. Neunjährige, die bloß mit Plastik-Kalaschnikows spielten, lachten wir aus. Wir wussten, wie man sie sichert oder wie man die Kugel herausnahm. Wir wussten alles. Aber das war das schlimmste daran: Wir wussten, wie man sie sichert.

Spr1 Autorentext

Dennoch gab es auch eine Zeit, als die Sehnaouis sich in ihrem Haus im Beiruter Stadtteil Achrafie verschanzen mussten. Das Haus hat einen großen Garten, einer der ganz wenigen Gärten in der Stadt, und seine Bäume sind eine stadtbekannte Attraktion. Eigentlich ist es nur ein Baum, eine Art Gummibaum, dessen Äste sich zu Boden neigen und dort immer neue Wurzeln schlagen und aus dem Garten ein rätselhaftes Labyrinth machen. Sharif Sehnaouis Mutter Leila zeigt den Garten.

MUSIK aus

O-Ton LEILA Sehnaoui 0’35

Look, ah, you cannot see. There was a huge building behind this one, were the syrian had heavy artillery. And they were bombing all this area, because it was a christian area. And we often had bombs and shells, small, medium and big ones, falling on the house and on the whole surrounding here and in the garden. Someway the trees protected the house, because the bombs would collapse, when they hit the trees. We had a few bombs on the house, but like more than 30 on the garden. For three months we were in the basement of the house, we could’t go out because of the (shelling?). Three months later we come out and the garden was like a savage jungle. You see those strings, I don’t know how could call them, in french it is „liane“. We used to cut them before. During those three months the liane went down on the ground and rooted and got thicker. The main tree is a small one, it is there in the middle, it is just three meters high and 50 centimeters diameter and those liane coming down made new trees, and the trees cover half of the garden. Since then, when we need to grow the tree in one side, we leave the liane down, it makes a solid tree, a heavy branch and it spreads. Look at this one: it was cut from its main branch by a bomb and it rooted again.

SPRECHERIN:

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Hier, das ist jetzt nicht zu sehen. Da war ein großes Gebäude hinter diesem Haus, darin befand sich schwere syrische Artillerie. Sie haben hier die ganze Gegend bombardiert, weil es ein christliches Wohnviertel ist. Sie schossen mit Bomben und Granaten, großen, kleinen und mittleren, und die flogen auf das Haus und in den Garten hier. Auf eine Weise schützten die Bäume das Haus, denn sie explodierten, wenn sie mit den Bäumen in Berührung kamen. Ein paar Bomben trafen das Haus, aber mehr als dreißig den Garten. Einmal saßen wir drei Monate im Keller fest und konnten wegen der Bombardierung nicht raus. Danach kamen wir in den Garten und sahen, dass aus ihm ein wilder Dschungel geworden war. Hier diese Lianen. Früher wurden sie immer abgeschnitten. Aber während dieser drei Monate waren die Lianen bis auf den Boden gewachsenen, hatten dort Wurzeln geschlagen und waren immer dicker geworden. der Hauptstamm ist da in der Mitte zu sehen, er ist bloß drei Meter hoch und fünfzig Zentimeter im Durchmesser. Die Lianen aber bildeten neue Bäume und diese Bäume bedecken jetzt die Hälfte der Gartenfläche. Seitdem lassen wir

dort, wo wir einen neuen Baum haben möchten, eine Liane bis auf den Boden wachsen, dann wird daraus ein neuer Stamm, der wiederum neue Äste treibt. Hier der: der wurde von seinem Hauptast durch eine Bombe aufgetrennt und hat wieder Wurzeln geschlagen.

ATMO Vögel

MUSIK BeinsKerbajVorfeld 3

O-Ton MAZEN 17’30

I had also handgranats, just the explosive inside was removed and I took it to school and threw it, just to make a joke. Today, when you think of it, it is kind of outrageous. But then again today when you talk about it in retrospect and realize as an adult how trash it was the situation. But back then I would never exchange my youth against any other youth in New York or whatever. It was a super, very happy youth. I am fortunate, nobody of my family died in the war. And for the rest it was a big, big game for us. Maybe not my older brother who was ten years when the war started.

Spr2 Mazen

Ich besaß auch Handgranaten. Nur der Sprengstoff darin war entfernt worden. Ich nahm die mit in die Schule und warf sie dort, einfach aus Spaß. Wenn man heute drüber nachdenkt ist das natürlich fürchterlich. Aber wenn du als Erwachsener darauf zurückschaust, siehst du natürlich auch, wie beschissen die ganze Situation war. Aber ich würde meine Jugend niemals gegen eine Jugend in New York oder sonstwo eintauschen. Meine Jugend war toll, eine wirklich glückliche Zeit. Ich hatte auch Glück, niemand aus meiner Familie starb im Krieg. Für uns Kinder war es einfach ein großes Spiel. Vielleicht nicht für meinen älteren Bruder. Der war zehn Jahre alt, als der Krieg begann.

ATMO Taxi

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Spr1 Autorentext

Keine zwei Häuser, die nebeneinander stehen und die gleiche Höhe haben. Keine Metro, keine Tram, keine Fahrräder. Im Taxi muss der Preis verhandelt werden. Und wenn sonst auch jeder Englisch und Französisch spricht, geht es darum, ob man 10 Dollar oder 10 000 libanesische Pfund bezahlt, spricht mancher plötzlich nur noch arabisch.

MUSIK Nashaz 2

O-Ton Vorfeld 2’15

Bei so Konzerten, wie ich sie hier auf dem Festival spiele, spielt das keine Rolle, ob ich sie hier in Beirut oder in Berlin oder in New York oder Moskau, es hat da nicht

wirklich einen Einfluss drauf. Es kann natürlich einen Einfluss haben, wenn man mit Leuten auf dem jeweiligen Land spielt, weil die jeweilige Ästhetiken haben, eigene durch die mit dem Land verbundene Lebensweise beeinflusste Spielweise, aber der Ort an sich nicht.

ATMO Fisherman

Spr1 Autorentext

An einer Ecke im armenischen Viertel sitzt ein Mann und verkauft Fisch. Die Wand hinter ihm ist vollgeklebt mit Zeitungsausschnitten und Fotos, die ihn in jüngeren Jahren zeigen, mit größeren Fischen, als denen, die jetzt vor ihm liegen. Aber auch im Kostüm und auf der Bühne. Ein Komödiant, den sie Kalaschnikoff nannten.

ATMO Fisherman: Bumm, Bumm, Bumm!

ATMO Begrüßung

MUSIK Schalmei

Spr1 Autorentext

Und dann beginnt das Festival. Schlagzeug-Legende Günther Baby Sommer aus Dresden gibt zusammen mit dem Beiruter Elektromusiker Rabih Beaini das erste

Konzert, aber so richtig finden die beiden nicht zueinander, und am Ende bläst Sommer sich und Beiani mit einer Schalmei den Marsch.

MUSIK Hummus

Spr1 Autorentext

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Die Neuen Vocalsolisten aus Stuttgart treten auf und singen eine Hymne auf den Hummus. Der libanesischer Komponist Zad Moultaka hat sie komponiert. O-Ton NEUMANN 3’40

Natürlich, eine andere Stadt und andere Vibes machen schon was aus, aber wir haben auch jetzt schon eine Geschichte mit der Band, mit dem Quartett,und ich weiß jetzt nicht wie weit das so fragil ist, dass das mit reinspielt.

Spr1 Autorentext

Gemeinsam mit Sharif Sehnaoui, Michael Vorfeld und dem Klarinettisten Michael Thieke bildet Andrea Neumann das Quartett Nashaz. Sie selbst spielt „Innenklavier“ und ist mit ihrem eigens für sie angefertigten Klavierrahmen angereist. Keine Tasten,

kein Korpus. Dafür die Möglichkeit elektronischer Verstärkung.

MUSIK Nashaz 3

O-Ton NEUMANN 0’10

Also diese Klangforschung ist sehr verknüpft mit meinem Instrument, was ja ein Instrument ist, was es nicht gibt, das kannst du nicht kaufen, das wurde mir gebaut, dieses Innenklavier. Seitenbespannter Rahmen mit Pick-ups, und allein die Wege, das zu verstärken hat schon was zu tun mit Klangforschung, weil es macht ja einen Riesenunterschied, ob du das verstärkst mit einem selbstgebauten Piezo-pick-up, was ich am Anfang gemacht hat und noch so einen Gitarrenverstärker dazu nimmst, der Klang ist ganz anders als wenn du Schertler-Kontaktmikrophone hast und die mit Genelecs verstärkst. Die Verstärkung ermöglicht so eine mikroskopische Untersuchung von Klängen, weil du ja feine Details, die du eigentlich nicht hörst, ganz in den Vordergrund bringen kannst, zum Beispiel wenn du mit Stahlwolle auf so einem Gitarren-Pick-up reibst und dann ist da nur so ein Fädchen von der Stahlwolle, der da rübergleitet, den gäbe es ohne Verstärkung gar nicht, da steckt dann aber viel drin in diesem Klang, viel Verschiedenes.

ATMO: Vor dem Konzert

ATMO aus

O-Ton Thieke 0’46

Ich fand es erstaunlich ähnlich gegenüber vielen anderen Festivals…

Spr1 Autorentext

Michael Thieke nimmt bereits zum dritten Mal am Irtijal-Festival teil.

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O-Ton Thieke weiter

… sehr schön zu entdecken an Musikern und auch an Publikum, die auch nicht wahnsinnig anders daherkommt als in irgendwelchen europäischen oder amerikanischen Großstädten, von daher würde ich jetzt nicht sagen, dass der Ort einen besonderen Einfluss gehabt hätte.

O-Ton MAZEN 20’24

Of course saying this today I realize how provocative it may sound, but it is not, unfortunately it is what kids live without noticing it. It is what kids are living today in Syria, kids who are born in the last 6,7 years. It is the constant state you cannot escape. And when you are kid, you are not afraid. Until my 9th or 10th year I wasn’t even afraid of this thing. It was a big game you wouldn’t even realize that you could

die or that someone could die, it is really abstract. And being afraid of a bomb you would pass as a sissy in front of your friends. It was really a big game.

Spr2 Mazen

Sicher weiß ich, wie provozierend das heute klingen mag, aber das soll es nicht. Es ist genau das, was Kinder heute in Syrien erleben, Kinder, die in den letzten sechs, sieben Jahren geboren worden sind. Es ist einfach ein Zustand, dem man nicht entkommen kann. Und wenn man ein Kind ist, hat man keine Angst. Es war ein großes Spiel, und uns war gar nicht klar, dass wir, dass irgendwer sterben könnte, das war wirklich abstrakt. Und wenn man Angst vor den Bomben hatte, war man für seine Freunde ein Schwächling. Es war wirklich ein großes Spiel.

MUSIK Neumann solo

O-Ton NEUMANN:

Wir kennen uns, wir kennen das Vokabular voneinander, die Gruppe hat schon einen bestimmten Sound, den sie auch kennt, glaube ich, obwohl man dann auch innerhalb von diesem Vokabular, was man dann so verwendet wie eine Präkonzeption, das Vokabular, was alle mitbringen und was sie in der Gruppe verwenden ist wie eine Präkonzeption oder Präkomposition. Zum Beispiel würde Michael Thieke niemals einen Jazz-Lick spielen, was er in anderen Besetzungen sehr gut kann und tut, aber in der Gruppe macht er das eben nicht. O-Ton MAZEN 22’15

We are a lost generation as they say, but I don’t see that. I tend to thing I am a pretty normal person. Today I have no real trauma, but then again I am talking about myself, so I don’t know.

Spr2 Mazen

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Es heißt, wir seien eine verlorene Generation, aber so sehe ich das nicht. Ich neige dazu, mich als ziemlich normalen Menschen anzusehen. Ich bin nicht großartig traumatisiert, aber gut, ich selbst spreche hier über mich, was weiß ich da schon.

ATMO TV

Spr1 Autorentext

Lange Gespräche mit Mazen Kerbaj über die Kindheit im Krieg, und wie dann eines Tages der Krieg zurückkam, im Jahr 2006, als Israel 33 Tage lang Beirut bombardierte.

O-Ton MAZEN 6’29

I think every artists put in a dangerous situation works differently at least. Maybe not better or less good but works differently. An artist in jail works differently, an artist in a war zone or in a natural catastrophe works differently.

Spr2 Mazen

Ich glaube, dass jeder Künstler in einer gefährlichen Situation zumindest anders arbeitet als sonst. Vielleicht nicht besser oder schlechter, aber anders. Ein Künstler, der im Gefängnis sitzt arbeitet anders, einer im Kriegsgebiet ebenso wie einer, der mit einer Naturkatastrophe konfrontiert ist.

ATMO Trompete 3

Spr1 Autorentext

Kerbaj setzte sich, sobald die ersten Bomben des Tages fielen, auf seinen Balkon und begann Trompete zu spielen, das heißt: die Trompete als Instrument zu benutzen, mit dem sich Geräusche, Töne und Muster produzieren lassen, die wenig mit dem gemein haben, was man unter klassischem Jazz versteht, nicht Melodie oder Harmonie stehen im Vordergrund, sondern der Klang. Dazu schließt Kerbaj zum Beispiel einen Gartenschlauch und ein Saxophonmundstück an die Trompete an, oder auch einen Gummiballon, den er mit Sushi-Stäbchen zum Jaulen und Knattern bringt. Oder er legt einen Plastikteller auf den Schalltrichter und lässt Metallkügelchen darauf tanzen.

MUSIK BeinsKerbajVorfeld 4

O-Ton MAZEN 7’02

So after beginning to draw in my notebooks after the third day of the war, I said: I am a musician also, why am I only drawing? I should try to record the war also. One project from that time was finding music from the cicil war and playing music with it, just to try: What is the influence of these sounds on my music? Because this are

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really sounds which are most familiar sounds for us, for my generation living in Libanon than any other sound, more than a car sound.

Spr2 Mazen

Nachdem ich bis dahin nur Zeichnungen gemacht hatte, sagte ich mir am dritten Tag des Kriegs: Hey, ich bin auch ein Musiker, warum zeichne ich nur? Ich sollte den Krieg auch aufnehmen. Eins meiner damaligen Projekte war: Aufnahmen aus der Zeit des Bürgerkriegs zu suchen und mit denen dann musikalisch zu arbeiten. Um herauszufinden: Inwiefern gibt es einen Einfluss dieser Klänge auf meine Musik? Weil diese Klänge mir wirklich vertraut waren, für meine ganze Generation waren sie vertrauter als zum Beispiel das Geräusch von Autos.

MUSIK Nashaz 3

O-Ton Vorfeld 6’40

Gleichzeitig bin ich jemand, der gerne rein im Klang arbeitet und dadurch mehr zu rhythmischen oder musikalischen Strukturen kommt die zu so Begriffen wie Maschine oder Maschinerie führen, weil es weniger sich so an rhythmischen Pattern orientiert, die sich so mit afrikanischer Perkussion, mit südamerikanischer, mit indischer, mit europäischer Schlagzeugmusik zusammenbringt oder mit typischen Jazzsachen, sondern mehr sich aus motorischen Bewegungsmustern sich entwickelt.

Vorfeld 3’25

Es ist im Prinzip nichts abgesprochen, aber es gibt doch so ein grundsätzliches Verständnis zum Beispiel zwischen uns dreien gestern bei dem Trio-Konzert gestern mit Burkhard und Mazen, dass wir schon eine gemeinsame Vorstellung haben von Klanggestaltung, grundsätzlich uns einig sind, dass wir klangliche Gebilde bauen wollen, die sehr verzahnt wirken, wo es schwer auseinander zu halten ist, was die Perkussionsinstrumente hervorbringen und was von Mazens Trompete da klanglich passiert, wo das teilweise auch sowas wie merkwürdigere Maschinerien, klingende Maschinen sind, die da immer wieder in neue Bewegungsabläufe reinbringen, in neue Tempi in neue Interaktionen von verschiedenen Teilen dieser Maschine.

ATMO Presslufthammer

ATMO Feuerwerk

O-Ton MAZEN 8’00

Anyway I wanted to confront my music I do now, although I do not claim I do war-inspired music at all. For me it is totally abstract and not related to any representation. But the idea of confronting this other sound was very present for a long time. So when I rethink of this in July 2006 I don’t need to continue bringing sounds of the old war I have a new war, I have the sounds really present. And somehow that is how it started.

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Spr2 Mazen

Ich wollte mich mit diesen Klängen auseinandersetzen, auch wenn ich nicht sagen würde, ich mache vom Krieg inspirierte Musik, ganz im Gegenteil, meine Musik ist völlig abstrakt und steht in keiner eindeutigen Beziehung zu irgendeiner außermusikalischen Wirklichkeit. Aber der Gedanke, mich mit den Klängen der Kriegszeit auseinanderzusetzen war für mich lange Zeit sehr gegenwärtig. Im Juli 2006 brauchte ich dann nicht mehr auf Aufnahmen aus dem Bürgerkrieg zurückzugreifen, es gab ja den neuen Krieg, und seine Geräusche und Klänge waren überall. Und so fing es an.

ATMO TV 2

Spr1 Autorentext

Kerbaj aber nahm während des Libanonkriegs 2006 nicht nur sein von Explosionen interpunktiertes Trompetenspiel auf, sondern auch Telefongespräche und Unterhaltungen mit seiner späteren Frau vor dem Fernseher - und die Vögel am frühen Morgen im Hinterhof.

ATMO Hinterhof

O-Ton MAZEN 9’00

The idea of being in action while the city was bombed was the most interesting one. The fact of hearing the bomb and your brain being shifted not only shitting in your pants, what is normal, but also trying to react as a musician, especially an improvising musician in the moment. So ok you shit in your pants, but then you have to put yourself together and continue the music you are doing or whatever, but you have to react artistically and you are conscious, that your are recording music or whatever.

Spr2 Mazen

Der Gedanke, etwas zu machen, während die Stadt bombardiert wurde, war extrem reizvoll. Die Explosionen zu hören und das Hirn in Bewegung zu setzen, nicht nur in die Hose zu scheißen. Schiss haben ist völlig normal, aber auch als Musiker zu reagieren, vor allem als improvisierender Musiker, der aus dem Moment heraus

arbeitet, das war der Reiz. Also einerseits macht man sich in die Hose, andererseits aber reisst man sich zusammen und macht Musik oder was auch immer, aber man muss künstlerisch reagieren, und sich bewusst sein, dass man Musik aufnimmt.

MUSIK Ignaz Schick

O-Ton NEUMANN 5’19

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Es geht schon auch darum, sich zu überraschen oder Dinge zu spielen, die einen herausfordern. Ich war zum Beispiel jetzt extrem erstaunt, weil Sharif ist in etwas Tonales gegangen, etwas Repetitives, etwas mit Pausen, was ich so noch nie von ihm gehört habe, was ich aber extrem interessant fand und was mich gleich inspiriert hat, das und das dazu zu machen, oder das so fortzuführen.

O-Ton SHARIF 3’20

Mazen and me met before he was playing music, I was already playing music but not him. We met just on the basis, that we were both a bit trapped in this Lebanese society which after the civil war in the late 90’ was very poor in terms of how much culture you had access to or music, there was no internet, you cannot go online. We were trapped in a very close circuit of friends and nightlife and going to the mountains. I think what clicked, that we were both looking for something else than

what was around.

Spr3 Sharif

Mazen und ich haben uns kennengelernt, bevor er überhaupt Musik machte. Ich machte schon Musik, er aber noch nicht. Wir haben uns kennengelernt als zwei Jungs, die sich eingeengt fühlten in dieser libanesischen Gesellschaft der späten neunziger Jahre. Die war künstlerisch ziemlich verarmt, es war schwer überhaupt an Musik zu kommen, es gab kein Internet. Freunde, Nachtleben und Ausflüge in die Berge, das war’s, was man damals machen konnte. Wir hielten beide Ausschau nach mehr, nach etwas anderem.

MUSIK Haidar

O-Ton MAZEN 9’47

So it makes the moment much different. My girlfriend when they bombed would go to the room, because it is safer, there are more walls, and I would run to the balcony, what is totally stupid. But in a sense it makes it easier, being outside shitting in my pants thinking of my music is easier than her just sitting inside shitting in her pants. The whole work, the drawing and recording is keeping my own sanity. It is really very difficult to accept these absurd reality, that bombs are falling, bombs of 20 tons, just to accept this in your brain is not easy.

Spr2 Mazen

Man erlebt den Moment sehr unterschiedlich. Meine Freundin ging, sobald die Bombardierung begann, in die Wohnung, weil es dort sicherer war, ich lief auf den Balkon, was völlig bescheuert ist. Aber auf eine Weise machte es die Dinge einfacher: Draußen zu sitzen, sich vor Angst in die Hosen zu machen und an meine Musik zu denken ist einfacher als bloß drinnen zu sitzen und sich in die Hosen zu machen. Die ganze Arbeit, die Zeichnungen wie die Musik, halfen mir, bei Verstand zu bleiben. Denn es ist wirklich schwierig diese absurde Realität zu akzeptieren, die

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herunterfallenden Bomben von zwanzig Tonnen. Das in deinem Kopf zu akzeptieren ist wirklich schwierig.

O-Ton BEINS:

Der Raum wird zu einem Mitspieler, und zwar auch wenn man zwar weiß in welchen Bereichen man sich bewegt, aber die Detailentscheidungen offen lässt, kann man den Raum auch mit einbeziehen…

Spr1 Autorentext

Am zweiten Abend des Festivals gibt der Percussionist Burkhard Beins, gemeinsam mit Mazen Kerbaj und dem Perkussionskollegen Michael Vorfeld, ein Konzert.

MUSIK BeinsKerbajVorfeld 5

O-Ton BEINS weiter

… dem Also wenn ein bestimmtes Material, was ich einsetze in einem Raum besonders gut klingt oder die Resonanzen interessant sind, kann ich dem mehr Platz geben oder dem mehr nachgehen und andere Dinge, die vielleicht nicht so gut funktionieren dann eher verlassen. Das ist dann auch der Grund, warum ich die Entscheidung über die Dauern, der Verhältnisse der Teile zueinander offen lasse und nicht vorher vorkomponiere.

O-Ton MAZEN 10’49

You have to admit to yourself, that you find a certain nostalgia in these sounds. Beside being very afraid, there is some morbid attraction to this sound, as for you maybe this place where went every year for vacation, let’s say, and then you don’t go for 20 years and then you go there again and a smell or a sound or a vision and you are directly there again. It is that, it is awful to admit, but it is our youth.

Spr2 Mazen

Man muss sich eingestehen, dass man ein bisschen nostalgisch wird bei diesen Klängen, den Explosionen. Neben der Angst geht davon eine gewisse morbide Anziehungskraft aus, wie etwa die von diesem Ort, wo man immer in die Ferien hin

gefahren ist, und dann zwanzig Jahre lang nicht, und dann fährt man wieder da hin und riecht, hört oder sieht eine Kleinigkeit und es ist wieder genau wie damals. Es ist unschön das zuzugeben, aber es ist eben die eigene Jugend.

ATMO Verkehr 2

O-Ton SHARIF 7’03

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Mazen got jealous that he cannot prepare the trumpet like I prepare the guitar, but he found ways, he really thought, and so he found his own strategies and developed his own preparations

Spr3 Sharif

Mazen war eifersüchtig, dass er seine Trompete nicht so manipulieren konnte wie ich meine Gitarre, aber er hat viel nachgedacht und dann hat er tatsächlich Wege und Strategien gefunden, sie auf seine ganz eigene Weise zu präparieren.

O-Ton MAZEN weiter

You are directly in it and you discover in yourself certain reflexes how to live in time of war, where to sit in the building, what to bring in the house, because there won’t be

anymore, what stays in the house what not, what need electricity or fridge, etc. Small reflexes you don’ think about in time of peace, if that ever existed in Libanon, I would always call it in time between two wars, I don’t think there is a proper time of peace. But so you get those reflexes and you realize that nostalgia and you almost are afraid to admit it to yourself, it is a difficult fight you have to fight with yourself.

Spr2 Mazen

Man ist plötzlich mittendrin und entdeckt an sich selbst gewisse Reflexe: Wie verhält man sich im Krieg, wo hält man sich am besten in einem Gebäude auf, was bringt man mit nach Hause, was lässt man besser draußen, was braucht Strom oder Kühlung, etc. Kleine Reflexe, über die man in Friedenszeiten nicht nachdenkt, falls es so etwas im Libanon überhaupt einmal gegeben hat. Ich würde es immer die Zeit zwischen zwei Kriegen nennen, eine eigentliche Friedenszeit gibt es hier nicht. Aber man hat diese Reflexe, man realisiert die eigene Nostalgie und kann sie sich selbst kaum eingestehen. Das ist ein schwieriger Kampf, den man da zu kämpfen hat.

MUSIK Neumann Solo 2

O-Ton NEUMANN 7’50

Die 90er Jahre, was ich so gehört habe, hat bleibenden Einfluss, und dazu gehört eigentlich auch jemand wie Marc Ribot, New York Downtown oder auch John Zorn mit seinen „Cobra“, seinen harschen Brüchen oder auch verschiedenen Ausdrücken…

Spr1 Autorentext

Der dritte Abend. Andrea Neumann spielt ein Solo. O-Ton NEUMANN weiter

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…Ich bin auch geprägt von so einer Art Maschinenästhetik, das ist auch so im Vergleich zum Free Jazz, wo es auch darum geht gestisch oder expressiv auf eine bestimmte Weise zu spielen, da war dann schon eine Weile lang meine Herangehensweise, das möglichst nicht zu tun, möglichst statische Klänge zu haben, die abrupt abbrechen oder reinkommen, Mute-Tasten gehören dazu. Elektronische Musik hat mich auch beeinflusst.

Spr1 Autorentext

Außerdem zupft der junge Libanese Salim Naffah melancholisch an seiner Gitarre.

MUSIK Salim Naffah

O-Ton MAZEN 12’20

Of course I don’t reject it. I have this kind of nostalgia and somehow I embraced it, but I know there is this morbidity inside, your brain tells you it is not normal to be nostalgic on things like that, but of course you cannot force it. After this two nights I started record news an TV… All the discussions …

Spr2 Mazen

Ich weise das natürlich nicht zurück. Ich habe diese Nostalgie und auf eine Weise umarme ich sie auch. Aber da steckt auch diese Morbidität drin, dass Hirn sagt einem, es ist nicht normal, bei solchen Dingen Nostalgie zu empfinden, aber klar, man kommt nicht dagegen an. Und nach zwei Tagen fing ich an, Fernsehdiskussionen aufzunehmen, alle Diskussionen…

O-Ton VORFELD

Es gibt so eine gemeinsame Vorstellung, teilweise fast unausgesprochene Vorstellung von dem, was da passiert, was sich aber nicht in konkreten Absprachen, im Sinne von wir machen erst 10 Sekunden das, dann eine Minute das, etc, all das bliebt natürlich völlig auf, es gibt aber schon eine gemeinsame Idee, eine gemeinsame Vorstellung, die schon wenn man uns drei interviewen würden einzeln, doch schon zu unterschiedlichen Ansichten führen könnte, aber im Prinzip gibt es schon unausgesprochene Übereinstimmung oder unausgesprochene Absprachen.

ATMO Frauenstimme

O-Ton MAZEN 13’30

We always talk about what is on TV, there is Rasha, my girl friend, and her brother is with us and we comment what is happening and most of the time they didn’t know I was recording. The thing it is funny to realize how much there is nothing else. I mean there is small things like the lack of beer or hot water, but everything revolves around the situation. You are in sort of time and space bubble and nothing exists out of this.

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Life stops, even your work, everybody, 90 percent of my friends were out of work, everything is closed. Sometimes they would go to the office just to feel they are going to…

Spr2 Mazen

Wir reden die ganze Zeit über diese Diskussionen im Fernsehen, meine Freundin Rasha, ihr Bruder und ich, wir kommentieren alles, und meistens wussten sie nicht, dass ich aufnehmen. Schon witzig, dass es um fast nichts anderes geht. Klar, kleine Dinge wie, dass es kein Bier gibt oder kein heißes Wasser, aber alles dreht sich um diese Kriegssituation. Man befindet sich in einer Art Zeit- und Raumblase, nichts anderes existiert daneben. Das Leben wird eingestellt, die Arbeit, neunzig Prozent meiner Freunde waren ohne Arbeit, alles war geschlossen. Manchmal gingen sie ins Büro, nur für dieses Gefühl: Ins Büro zu gehen.

MUSIK Gratkowski

O-Ton SHARIF 11’04

The festival story is: Mazen initially wanted to organize shows or do festivals, I said you are crazy, people are going to kill us, no one will understand this music. Summer of 98 I went through Nickelsdorf, this festival „Konfrontationen“ and during this festival I became obsessed and really determined to make a festival in Libanon, and I went to Mazen and told him, okay I have good news for you. And we started in 2001. It took us a few years to understand how to do it.

Spr3 Sharif

Die Geschichte des Festivals geht so: Ursprünglich wollte Mazen Konzerte oder auch ein Festival veranstalten, und ich sagte ihm: Die spinnst, die Leute werden uns an die Gurgel springen, niemand wird unsere Musik verstehen. Im Sommer 1998 ging ich dann auf das „Konfrontationen“-Festival in Nickelsdorf in Österreich, und von da an war auch ich besessen von der Idee, ein eigenes Festival im Libanon zu machen. Danach sagte ich zu Mazen: Gute Neuigkeiten. 2001 fand dann das erste Festival hier statt. Aber wir brauchten noch ein paar Jahre, um wirklich zu verstehen, wie man ein Festival macht. O-Ton MAZEN 14’40

So somehow I consider myself lucky to be able to continue in this situation, to do it not better but with much more energy than in any other period in my life. It is really an extremely creative period. It is really, there is a sense of emergency that you cannot escape. And I am not talking about myself only, some artists around were also working. I pushed some to work, some other pushed me to work. Some pretty lame artist also did very bad work.

Spr2 Mazen

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Ich schätze mich glücklich, dass ich in dieser Situation weiterarbeiten konnte, nicht besser, aber mit mehr Energie als in irgendeiner anderen Phase meines Lebens. Da war wirklich ein Gefühl der Dringlichkeit, dem man sich nicht entziehen konnte. Und ich rede jetzt nicht nur von mir, da waren auch andere Künstler, die weitergearbeitet haben. Manche trieb ich zur Arbeit an, andere trieben mich an. Ein paar ziemlich lahme Künstler machten auch ziemlich mieses Zeug.

MUSIK Beins solo

O-Ton SHARIF 12’30

Mazen and I were still trying to develop something, that was really not yet at an consistent musical level. So it was hard for us to do a got show which was at least

interesting. It took years for the festival to become, what it is today. On one part for people to start to appreciate this non-mainstream and contemporary ways of doing music, but also for the lebanese scene to be at a consistent level so that we can convince people that this is good music.

Spr3 Sharif

Mazen und ich versuchten damals immer noch etwas zu entwickeln, aber es war noch längst nicht auf einem konsistenten musikalischen Niveau. Es war schwierig für uns, ein Programm zu entwerfen, das zumindest interessant war. Es hat Jahre gedauert, bis das Festival wurde, was es heute ist. Auf der einen Seite musste man ein Publikum gewinnen, dass diese zeitgenössische, alternative Art zu musizieren schätzte, aber auch die Musiker im Libanon mussten erst einmal ein Niveau erreichen, das die Leute überzeugte, hier wirklich gute Musik zu hören.

O-Ton NEUMANN:

Es muss lebendig sein. In improvisierter Musik muss nicht die Form einen vom Hocker hauen, aber die Musik muss so gespielt werden, dass die Klänge einen ranzoomen, dass man immer wieder gespannt ist.

MUSIK Hout 2

O-Ton MAZEN 15’40

Many friends were trying to occupy themselves. We even went to a recording studio to record music as a quintet. We never listened back to this music, but we said: Fuck, we have plenty of free time, let’s do something. That is what I remember from this time.

Spr2 Mazen

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Viele Freunde versuchten sich irgendwie zu beschäftigen. Wir gingen sogar in ein Aufnahmestudio, um eine Quintett-Aufnahme zu machen. Die haben wir uns nie wieder angehört, aber wir sagten uns: Scheiße, wir haben einen Haufen Zeit, lass uns etwas damit anfangen. Dass ist es woran ich mich erinnere.

Spr1 Autorentext

Vormittage in der Stadt: Müllberge, Ferrarihändler, Schuhputzer, die die Schuhcreme mit den Fingern verreiben, einem mehrere Blocks hinterherlaufen: He, ich bin aus Syrien, bitte hilf mir.

ATMO Verkehr 3

Spr1 Autorentext

Fünfjährige Mädchen, die sich an die Djellabas dicker Männer hängen und bettelnd die Hände aufhalten. Werden sie mit Gewalt abgeschüttelt, hüpfen sie davon, als wäre all das nur ein Spiel und irre lustig.

O-Ton SHARIF 20’28

In general I try to get as much arab presence in the festival as possible, because one of the missions we set to ourselves very early on was that we are struggling to be able to accomplish, that we stretch out to the arab world. This is a huge topic.

Spr3 Sharif

Ich versuche so viele arabische Musiker für das Festival zu gewinnen wie möglich, denn eines unserer Ziele war von Anfang an, die ganze arabische Welt einzubeziehen. Das ist ein großes Thema, eine große Aufgabe. O-Ton MAZEN 22’47

This we also asked as kids: How did you manage to live during the war, we lived it as kids, but did you manage with three kids being artists also. Something I also realize when I grew up that whiskey is not something like coffee. It is not normal to drink every night 2,3,4 whiskey in front of the TV, every night. But when I was young, I see my parents, and Oh, it is like cigarettes and coffee, it is for adult.

Spr2 Mazen

Das also war die Frage an unsere Eltern: Wie habt ihr es geschafft, den Krieg zu überleben. Wir waren Kinder, aber wie habt ihr es geschafft, als Künstler mit drei Kindern geschafft? Was ich als Erwachsener erkannte war, dass Whiskey nicht so etwas ist wie Kaffee. Dass es nicht normal ist jeden Abend zwei, drei, vier Whiskey

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vor dem Fernseher zu trinken, jede Nacht. Aber damals sah ich meine Eltern so und dachte: Ach, das ist wie Zigaretten und Kaffee, das ist für Erwachsene.

ATMO Markt

Spr1 Autorentext

Mit Michael Vorfeld und Michael Thieke auf dem Sou El Ahad, einem riesigen Freiluftmarkt: Kleider, Elektronik, Handwerkszeug zu Billigpreisen, dass meiste aus China. Es ist eng und laut und die Ansagen und Anpreisungen kommen in Endlosschleife vom Band. Geschmackvoll liegt eine tote Ratte in einem Louis Vuitton-Schuhkarton. Plötzlich entdeckt einer der Händler das Aufnahmegerät mit dem Mikro, schnappt es sich und wirft es zu einem Kollegen, der wirft es wieder weiter, ein Riesenspaß, während dem Reporter das Herz in die Hose rutscht.

O-Ton MAZEN 23’20

Or the fact that all the neighbors are very friends and they are always visiting the neighbors and the neighbors are coming to their place. Society is limited to neighbors. There is no friends coming, the friends are the neighbors. And it is the building that becomes the core of society. Because you live in the basement together when there is bombing. The first cell is family, the second cell is the building.

Spr2 Mazen

Oder die Tatsache, dass man mit allen Nachbarn eng befreundet war und sie besuchte oder sie ständig zu Besuch kamen. Die Gesellschaft ist im Krieg auf Nachbarschaft begrenzt. Da kommen keine Freunde, da sind die Nachbarn die Freunde. Das Haus, in dem man wohnt, wird zum Kern der Gesellschaft. Man lebt zusammen im Keller, wenn die Bomben fallen. Die erste Zelle ist die Familie, die zweite das Haus mit seinen Nachbarn.

ATMO Markt 2

Spr1 Autorentext

Schließlich landet das Aufnahmegerät wieder in den zitternden Händen des Reporters. Lachende Verkäufer, fröhlicher Lärm, scheppernder Lautsprecher. Die Musiker trinken Fanta, kaufen Schallplatten mit Arab-Pop aus den Siebzigern und

bunte Glühbirnen, die sich direkt in die Steckdose stecken lassen - drüben in Europa längst verboten.

MUSIK Gratkowski 2

O-Ton SHARIF 21’54

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It would be a dream that before I die, that there is a musical network, which stretches from turkey to morocco, all around the mediterranean basin. I am not sure it will happen, but I try to work in that direction. Today the situation is already better than ten years ago.

Spr3 Sharif

Mein Traum ist, dass es, bevor ich sterbe, ein musikalisches Netzwerk gibt, das von der Türkei bis nach Marokko reicht, rundherum ums Mittelmeer. Ich bin mir nicht sicher, ob das klappen wird, aber ich arbeite daran. Heute ist die Situation auf jeden Fall schon besser als vor zehn Jahren.

O-Ton MAZEN 24’30

Yes, somehow this 2006 war brought this kind of question back because I was a father also, my son was 5 years, my first son back then and you can feel it in the recordings when I talk to his mom with whom we are separated, she lives in the mountains, that was more safer so I sent him there and he wouldn’t hear the war, he would hear planes only, not the bombs on Beirut. It was on a remote mountain. But then I would ask if we should go to Paris, because his mom is french, so we had the possibility to escape with the french people, but this was driving me crazy, because I couldn’t escape the situation for many reasons, it is not only stupid stubbornness. Or pure „bravade“, like I am very strong I will stay. But in a sense being there is being close - even in Beirut, I refused even to go to the mountain, because you know, being in the middle of the thing is the only way to know what is happening. Spr2 Mazen

Ja, 2006 tauchten all diese Fragen wieder auf, ich war jetzt selbst Vater, mein Sohn war fünf Jahre alt, mein erstes Kind und das hört man auf den Aufnahmen, wenn ich mit seiner Mutter telefonierte, von der wir getrennt lebten. Sie lebte in den Bergen und ich schickte ihn zu ihr, damit er sicherer war und den Krieg nicht hörte, er hörte höchstens die Flugzeuge, aber nicht die Bomben. Das war auf einem abgelegenen Berg. Aber dann fragte ich mich, ob wir nach Paris gehen sollten, denn seine Mutter ist Französin und wir hätten mit allen anderen Franzosen das Land verlassen können. Aber diese Frage machte mich verrückt, weil ich ich aus vielen Gründen nicht ausreisen wollte, das war nicht bloß Sturköpfigkeit, oder gar Wagemut. Aber ich musste nahe dran bleiben, konnte nicht einmal in die Berge gehen, denn, weißt du, mittendrin zu sein ist der einzige Weg zu sehen, was wirklich passiert.

MUSIK Tony Trio 1

O-Ton MAZEN weiter

Being far and seeing TV, we know from friends, they call you from Canada saying: We saw this on TV, they say All Dead, you say: No, it was two neighborhoods away. For you it is normal, because you are living it and you understand the energy, what is

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happening, everything. When you go out you freak out, you are afraid much more you have nothing to grasp. This is why I wouldn’t leave.

Spr2 Mazen

Weit entfernt zu leben und alles nur im Fernsehen zu sehen, das kannte wir von Freunden, die riefen aus Kanada an und sagten: Wir haben dies und das im Fernsehen gesehen und es heißt, alle seien tot. Man selbst sagt dann: Nein, nein, das war zwei Blocks entfernt. Für einen selbst ist das normal, man lebt damit und man versteht, warum manche Dinge geschehen, warum alles so ist, wie es ist. Wenn man da abhaut, hat man keinen Bezug mehr und dreht vor Angst schließlich völlig durch. Darum wollte ich bleiben.

ATMO Verkehr 4

Spr1 Autorentext

Der letzte Tag. Besuch beim zentralen Busbahnhof. Er liegt unter einer Autobahnbrücke. Es ist dunkel, laut und schmutzig. Von hier aus fahren auch Busse nach Rakka, der Hauptstadt des IS. Rückfahrkarten gibt es nicht.

O-Ton MAZEN 30’45

I always hated the country, the love and hate relationship with Beirut is typical, and I have it and I work a lot on it in my work, and I hate the country and I want to leave it but not under these condition, not when someone is obliging me by doing a war on the country. This is when I become stubborn: No, fuck you, I am not leaving. I want to leave but not today. Stop the war, then I will see if I leave or not. Somehow I become really stupid, it is like when: You can say a lot about your mom in front of your friends, but if one of your friends says something bad about your mom you kill him.

Spr2 Mazen

Ich habe das Land immer gehasst. Diese Hassliebe zu Beirut ist typisch, und ich fühle die auch und sie hat auch Einfluss auf meine Arbeit. Ich hasste dieses Land und wollte es verlassen, aber eben nicht unter dieser Bedingung, nicht wenn mich jemand dazu zwingt, indem er Krieg führt gegen dieses Land. Da wurde ich wirklich sturköpfig: Nein, zum Teufel, ich gehe nicht. Es war wie wenn du deinen Freunden eine Menge unschöner Dinge über deine Mutter sagst, aber wenn dann einer deiner Freunde etwas Unfreundliches über sie sagt, machst du ihn fertig.

MUSIK Ute Cookbook

Spr1 Autorentext

Das erste Konzert des letzten Tages findet schon zur Mittagszeit statt: Ute Wassermann singt von Raed Yassin komponierte Kochrezepte.

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O-Ton MAZEN 31’55

And also we feel as a big betrayal to leave. It is strange thing that your mind has to manage, the fact of leaving. Your friends, your family are there, 2,3 million lebanese are there, that makes it really difficult to do. When we were kids some friends would go to Paris when the bombing would begin. They would make a year in Paris or in Cyprus and come back. And when they come back we would insult them, Yeah, you left the country and we were here, we were fighting, we were under the bombs.

Spr2 Mazen

Wir hätten es auch als Betrug empfunden, das Land zu verlassen. diesen Gedanken muss dein Hirn erst einmal hinbekommen. Deine Freunde sind da, deine Familie ist

da, zwei, drei Millionen Libanesen sind da, da ist es wirklich schwierig, zu gehen. Als wir Kinder waren, gingen manche Freunde nach Paris. Sie blieben ein Jahr in Paris oder auf Zypern und kamen dann zurück. Da beschimpften wir sie, hey, ihr seid geflohen und wir sind hiergeblieben, haben gekämpft, haben unter den Bomben gelebt.

MUSIK Tony Trio 2

Spr1 Autorentext

Abends spielt der Beiruter Bassist Tony Elieh ein Solo. Danach setzt ein ebenfalls libanesisches Duo Buzuq und Daholla unter Strom, und ein Italiener schlägt eine halbe Stunde lang nichts als eine große Trommel.

O-Ton MAZEN2

They felt like traitors, and we made them feel like traitors, like Hey you fucking sissy, you left and we were here. And when I grew up I had to admit to that friends that we were very jealous and that I would have loved that my parents had enough money to take me out, to Paris. But this is typical for the lebanese mentality, leaving others behind makes you feel bad and almost as guilty as the one throwing the bombs by fleeing the country.

Spr2 Mazen

Sie fühlten sich wie Verräter und wir sorgten dafür, dass sie sich wie Verräter fühlten. Aber als ich erwachsen wurde, musste ich ihnen gegenüber zugeben, dass wir eifersüchtig waren und gerne so viel Geld gehabt hätten, um nach Paris zu gehen. Das ist typisch für die libanesische Mentalität, dass man sich, wenn man flieht, ebenso schuldig fühlt wie die, die eigentlich die Bomben abwarfen.

MUSIK Senyawa

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Spr1 Autorentext

Schließlich, das Highlight, der Hauptact des Abends: Senyawa, zwei Indonesier, der eine mit einem selbstgebauten, phallusartigen, sicherlich auch als Waffe einsetzbarem Saiteninstrument, der andere mit einer Stimme, die ungeheuer lieblich klingen kann, dann aber auch so brutal, dass selbst Sumatra-Tiger vor Schreck zusammenzucken würden.

O-Ton MAZEN2 2’02: There is something I remember talking with friends with Email or on the phone back then, I remember I with musicians if I am not wrong I have even an email-correspondence with Axel Dörner from Berlin who was a friend already back then, where I tell him what is driving me crazy when I play with this bombs going down, I am asking myself: Is it a good piece of music, what I recorded, did I play well or not.

Spr2 Mazen

Ich erinnere mich an eine Sache. Wenn ich damals mit Freunden sprach, am Telefon oder wenn ich Emails schrieb, ich erinnere mich speziell an eine Mail an den Trompeter Axel Dörner aus Berlin, da schrieb ich ihm, dass mich eine Sache verrückt macht wenn ich spiele, während die Bomben runtergehen: Ich fragte mich da immer: ist das gut, was ich hier spiele, habe ich jetzt gute Musik aufgenommen oder nicht?

MUSIK geht über in ATMO Nighlife 2

Spr1 Autorentext

Das Publikum tanzt ekstatisch. Nach dem Konzert, um zwei Uhr in der Nacht, sind die Straßen im Viertel Mar Mikhael noch voller feiernder Menschen. Im Süden der Stadt, im Reich der Hisbollah, sind schon längst die Lichter aus. In den Flüchtlingslagern an der syrischen Grenze, kaum eine Stunde Autofahrt entfernt, gibt es nicht einmal Licht. Extreme Gegensätze. Extremes Land.

ATMO geht über in ATMO Trompete und Bomben

O-Ton MAZEN weiter

…Just the fact that my brain is asking that question would drive me crazy like fucking people died for real under this bomb and there is all the situation and there is my

brain still trying to understand if it is a good drawing or a good piece of music. And of course fortunately it does, because that is what I have to do. I want to do a good piece of music, I don’t just want to give testimony.

Spr2 Mazen

Allein die Tatsache, dass mein Hirn sich diese Frage stellt, während Leute unter diesen Bomben sterben, machte mich verrückt. Dass es immer noch wissen will, ist

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das eine gute Zeichnung, ist das gute Musik. Aber natürlich ist es gut, dass es das fragt, denn das ist das, was ich tun muss. Denn ich will gute Musik spielen, ich will nicht einfach nur Zeugnis ablegen.

MUSIK Mundharmonika

O-Ton MAZEN2 3’25

You also feel like a traitor, you feel guilty to think about your fucking piece of music while people are dying. An interviewer from BBC called me back then in the middle of this shit and he says: Don’t you think it is of bad taste to play music while people are dying under the bombs? I said: First of all it is bad taste to throw the bombs on people. Second: Maybe you can leave your living room in London and come and we discuss taste in Beirut around a coffee. Because when he asked me that I want to kill

the guy but when I ask myself it is valid. The answer of course is Yes. The bombs are falling anyway.

Spr2 Mazen

Man fühlt sich auch als Verräter, man fühlt sich schuldig, wenn man über seine beschissene Musik nachdenkt, während Leute sterben. Damals, mitten im Krieg, rief mich dieser Mensch von den BBC an und sagte: Meinen Sie nicht, dass das von schlechtem Geschmack zeugt, Musik zu machen, während Menschen durch Bomben getötet werden. Ich sagte: Erst einmal zeugt es von schlechtem Geschmack, Bomben auf Leute zu werden. Und zweitens. Vielleicht verlassen sie mal ihr Londoner Wohnzimmer und kommen hierher und wir diskutieren die Frage hier bei einer guten Tasse Kaffee. Als er mich das fragte, wollte ich ihn natürlich umbringen. Aber ich fragte mich auch: hat das, was ich hier mache, einen Wert. Und die Antwort lautet: ja. Die Bomben fallen so oder so.

MUSIK Salim Naffah 2

MAZEN2 4’36

In a sense I am very happy I did this, and as a conclusion to what I started by saying: Is it possible to work, yes, it is possible, I am happy that this thing exists…but in the same time also, because back then many people and many journalists said: He is resisting in his own way, and it is art against war - all this is bullshit. In the war between art and war I bet all my money on the war, I won’t even bet one cent on the art. I don’t have this idealist towards art. I think art can - maximum - safe the sanity of its creator and it doesn’t go further and I am not even sure of this. I think it can make him also more insane. But, yeah, one has to do it. At least, I had to do it, and I am very happy I had this mini-discs.

Spr2 Mazen

Auf eine Weise bin ich sehr glücklich, dass ich diese Aufnahmen gemacht habe, und als Antwort auf die Frage zu Anfang: Ja, es ist möglich zu arbeiten, und ich bin froh,

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dass es sie gibt … aber gleichzeitig… damals sagte viele Leute und auch viele Journalisten: Er leistet auf seine Art Widerstand, es ist die Kunst gegen den Krieg. All das ist Bullshit. In einem Krieg zwischen Kunst und Krieg würde ich all mein Geld auf dem Krieg setzen, nicht einen Cent auf die Kunst. Ich bin da wenig idealistisch. Ich glaube, das Kunst höchstens die seelische Gesundheit seines Schöpfers retten kann, ehr nicht, und vielleicht nicht einmal das. Sie kann ihn auch noch kaputter machen. Aber trotzdem, man muss es tun, ich wenigstens musste es tun, und ich bin sehr froh, dass ich diese Mini-Disks hatte!

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