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Michael Mittelhaus www.mittelhaus.com Gelesen im Mai ´18 Die Riege der im Mai 2018 gelesenen Bücher, es waren wieder elf, darunter vier englischsprachige:„How green was my valley“ und „Up to the singing mountains“, beide vom Waliser Richard Llewellyn. Dann das epochale „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf, und -sehr leichtfüssig- „Cider with Rosie“, Erinnerungen aus den Cotswolds. Dazu die Bilder „aus dem alten Berlin“, also „Die Eisrieke“ von Erdmann Gräser und „Die Bräutigame der Babette Bom- berling“ von Alice Berend. Leichte Kost die Fantasy Romane „Teufelsgold“ von Andreas Eschbach sowie Bd. 2 + 3 der „Bartimäus“ Trilogie. Schließlich Bd. 2+3 der biografischen Reihe von Ulla Hahn, über die Befreiung des „Kenk von nem Prolete“, der Hilla Palm, aus der rheinisch-provinziellen Enge.

Gelesen im Mai ´18 - Mittelhaus · und die kleine Farm. Laurie Lee gelingen iko-nenhafte Miniaturen in denen Mitschüler, Mädchenhaare, Geschwister, Schulszenen und geheime Formeln

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Gelesen im Mai ´18

Die Riege der im Mai 2018 gelesenen Bücher, es waren wieder elf, darunter vier englischsprachige:„How green was my valley“ und „Up to the singingmountains“, beide vom Waliser Richard Llewellyn. Dann das epochale „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf, und -sehr leichtfüssig- „Cider with Rosie“,Erinnerungen aus den Cotswolds. Dazu die Bilder „aus dem alten Berlin“, also „Die Eisrieke“ von Erdmann Gräser und „Die Bräutigame der Babette Bom-berling“ von Alice Berend. Leichte Kost die Fantasy Romane „Teufelsgold“ von Andreas Eschbach sowie Bd. 2 + 3 der „Bartimäus“ Trilogie. SchließlichBd. 2+3 der biografischen Reihe von Ulla Hahn, über die Befreiung des „Kenk von nem Prolete“, der Hilla Palm, aus der rheinisch-provinziellen Enge.

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Gelesen im Mai ´18

Jonathan Stroud (GB 2004) Bartimäus

cbj 2007 Das Auge des Golems

Der zweite Band der Bartimäus Reihe hält kei-nem Vergleich mit dem originellen ersten Band(vgl. „Gelesen im April 18“) stand; hier zeigensich doch etliche Längen, Witz und Originalitätdes Bartimäus-Starts scheinen erschöpft.

Nathanael ist nun im Innenministerium gelan-det, wo er ausgerechnet den „Widerstand“ be-

kämpfen soll, der die Welt so wieder herstellenmöchte, wie sie vor der Machtüberbahme der Zauberer war. Diesesind faktisch Ausbeuter und behandeln „Gewöhnliche“ wie Ab-schaum, eine Klassenjustiz ist üblich. Einige der Widerständlerhaben magische Fähigkeiten entwickelt, so Nathanaels Wider-sacherin Cathy.England ist im Kampf mit den Tschechen, von denen viele nach GBmigriert sind. Ausgerechnet aus Tschechien stammt nun das titel-gebende „Auge des Golems“, was London in Angst und Schreckenversetzt, eine Anleihe bei der klassischen Sagenfigur des Golems(vgl. Rezension zur Erzählung von G. Meyerinck). Aus der SucheNathanaels nach diesem Golem-Auge in Prag und den gleichzeiti-gen Aktivitäten des Londoner Widerstands, um Gladstones Stab ausdessen Grab als große Waffe gegen die Zauberer rauben zu können,sowie einem Informanten des Erzschurken Mandrake in den Reihendes Widerstands resultiert eine gewisse Spannung der Erzählung. -Leicht und nett zu lesen, aber ohne den Witz des 1. Bands.

Noch empfehlenswert

Jonathan Stroud (GB 2005) Bartimäus

cbj 2007 Die Pforte des Magiers

Der dritte und abschliessende Band der Barti-mäus Reihe, in der der Autor annähernd zurStärke des 1. Bandes zurückfindet. Und mitneuen Elementen eine gehörige Spannung auf-baut: Einige Widerständler haben gelernt zuzaubern, können Dämonen beschwören, soauch Bartimäus. Auf der anderen Seite steigertman Zauberkraft, in dem man „Dämonen undMenschen verschmilzt“ - enorme Zauberkräfte,aber furchtbare Konsequenzen für den Menschen sind die Folge.Kitty schafft es (wie seinerzeit Ptolemäus mit seiner „Pforte“) sichan den „anderen Ort“, also die Welt der Dämonen zu versetzen.Aber mit welchen Folgen?Sonst zeigt der dritte Band der Ptolemäus Reihe den „ewigen Zy-klus“: Zaubererherrschaft, mehr magische Immunität bei den Be-herrschten, Unruhen und Aufstände. Der Krieg Englands gegen dieUSA (auf dem nordamerikanischen Kontinent) trägt seinen Teil zurNot und Unterdrückung der Bevölkerung bei.Wird nun der Stab Gladstones als furchtbarste Waffe eingesetzt ?Wie verändert sich das Verhältnis zwischen den zum Minister be-förderten Nathanael und der Widerständlerin Kitty, die er zu seinerÜberraschung lebend wiederfindet? - Fast wie im ersten Band teil-weise äusserst spannend und fantasievoll erzählte (Jugend-)Fan-tasie mit grossem Showdown zwischen Dämonen, Afriten undMenschdämonen; beide Bücher aus dem Fundus unserer Kinder.

Richtig spannende Fantasy

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Erdmann Graeser (D 1931) Eisrieke

Rembrandt 1970 Ein Roman aus Alt-Berlin

Auch dieser „Berlin-Roman“ wurde (1968) inder damaligen Rias-Hörspielreihe „Damalswars“ kongenional vertont (vgl. „Gelesen imApril 2018“); auch Graesers „Kanzleirat Ziepke“schaffte es in diese Reihe.Es ist einer der hinhaltsreicheren Bände, dieeinerseits die Geschichte eines Alt-BerlinerOriginals um die Jahrhundertwende erzählt: Die

der „Eisrieke“, einer alten Dame, die jeden Winter in altertümlicherKleidung zum Eislaufen am Neuen See in Tiergarten kommt. Halbverrückt wirkend, klagt sie voll Trauer um „ihren Walter von Esch-wege“, einen Jugendgeliebten, der als adliger Offizier wegen sei-ner nicht „standesgemässen“ Liebe zur jungen Ulrike Knall auf fallnach Amerika mußte; die Rieke mit gebrochenem Herzen und ver-wirrten Verstand in Berlin zurücklassend. Eine Generation späterwiederholt sich die Geschichte am Großneffen des damaligen Ge-liebten fast, aber hier kann die Eisrieke, als Schwester eines un-verheirateten Millionenbauern wohltätig eingreifen. Der jungeMann bricht aus seinen Standesschranken aus und kann dazu nachschweren inneren Kämpfen auch den Offiziersvater bewegen. DerVater der Geliebten dagegen, ein stumpfer Museumsbeamter, prü-gelt, Anzeigen wegen „Kuppelei“ drohen, aber Rieke und das Geldihres Bruders sorgen für ein Happy End. Wobei es auch ein Romandarüber ist, wer oder was eigentlich verrückt ist. Dazu Berlin derVergangenheit, Wintervergnügen im Tiergarten, ein staubiger Ku-Damm, eine Heirat in der Schöneberger Dorfkirche, erbauliches„Dunnemals“ Berlin.

Schönes Lesevergnügen für Berliner und Berlin-Fans

Alice Berend (D 1915) Die Bräutigame der

Babette Bomberling S.Fischer 1915

Auch diese Autorin war mit „Spreemann&Co“zweimal in der Sendereihe des einstigen RIAS„Damals wars“ vertreten, jedoch eher seicht, imVergleich zur „Eisrieke“. Wie häufig in dieser Serie spielt der Roman inder Berliner Mittelschicht, etwa den 70´er Jah-ren des 19. Jhdts. Die 17-jährige Babette, ver-wöhnte Tochter des Sargfabrikanten (!) Bom-berling, soll heiraten, sonst will die Erbtante ihrGeld aus dem ohnehin gerade schlecht laufenden Geschäft heraus-ziehen. Wo Vater´n doch dank des Rat des mitarbeitenden jungenVetters die simple Fabrik in den ersten „Begräbnisservice“ Berlins(also einen „Grieneisen-Vorläufer“) verwandeln will. Für Babette zieht bald ein leicht irrer Reigen potentieller Bräuti-game auf, auch dank der Heiratsvermittlerin mit dem unaussprech-lichen Namen Pryczsbitzky-Ratzoska. Das Ganze ist ein mokant-despektierliches Sittenbild einer bürgerlichen Familie, gleichzeitigauch eine amüsante Humoreske. Der Berliner Dialekt wurde übri-gens erst im Hörspiel dazu genommen, taucht im Buch selber nichtauf, paßt aber hervorragend. Das gewinnt auch durch nahezu„Kästnersche Lakonie“ und gemahnt an „Vorläufer der „neuenSachlichkeit“, wirkt also keineswegs veraltet. Dazu kommen ver-rückte Diätpläne der weniger repräsentablen Mutter, Hochstapler,der Fabrikant, den das vornehme Getue seiner Frau nur nervt undeine am Ende überraschende Wende zum Guten; sie machen dasGanze zur amüsant-leichten Unterhaltung aus dem alten Berlin.

Leicht, aber nicht zu leicht, für Berliner und Fans der Stadt.

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Laurie Lee Cider with Rosie(GB 1959), Folio Society 2016, v. m. Tochter

This is a magical recollection of early boy-hood in the Cotswolds in England, magical,enchanting, simply wonderful. It includeswonderful description of children plays insummer, warm female attendance, real win-ters, carol singing - memories of a childs lifeand its experience. Tension comes from thefact how the author survived - against allodds - illnesses by the number. You´ll lovethe landscape, it´s people, the Cider and -Rosie !

Lovely and enchanting!

Dies sind so schön magische Kindheits- undJugend Erinnerungen aus der herrlichenLandschaft der englischen Cotswold (naheCheltenham), ihren Tälern mit Apfelplantagen(Anfang 20. Jhdt.), dem herrlichen Cider undwas mit Rosie bei der Ernte geschieht...Die Sommertäler, leben in dortiger Abge-schlossenheit, Spiele des Sommers, ein Spa-ziergang in warmer Sommernacht, die Win-tertäler, wirkliche Winter, der kommunaleWintertee, gemeinsamer Weihnachtsgesang -hochfein beschrieben. Frau Holle wird zu „Old

Mother Hawkins a-plicking her geese!“Als Kind fand man die Gräser so hoch wieBerge, das Haus und die Umwelt sollten er-obert werden. Es gab die Schwestern, das

geborgene Schlafen bei der Mutter, dennochdie Geister der Nacht und das Kriegsende(1918). Dann die Dorf-Originale, nächtlicheWasserfluten abwehren; man lebt von 3 Ein-kommen: Arbeit für den Squire, die Cloth Millund die kleine Farm. Laurie Lee gelingen iko-nenhafte Miniaturen in denen Mitschüler,Mädchenhaare, Geschwister, Schulszenen undgeheime Formeln vorbeihuschen. Aber auchgrausames Mobbing von Außenseitern, aberauch „.. how the Gypsy boy was made one of

us..“

Fast nebenbei erzählt, dass er seine zahllo-sen (Kinder-) Krankheiten gegen alle Wettenüberlebt. - Das Erlebnis des „Aufbrezelns“seiner älteren Schwestern : „airborne visions

of fairy light“! Die Wärme von Frauen, beson-ders empfunden, weil der Vater, trotz achtKindern, alle im Stich läßt, als der Erzähler 3Jahre alt ist.Der bewegende Abschied von „Granny Trill“,ungeklärte Tote/Morde, Selbstmorde undMelancholie im Winter „the village was in fact

a deep-running cave“!

Zur Hälfte des Buchs erfolgt der Sprung ausder feenhaftigkeit des Kindheitszaubers inden „Standard-Erzählmodus“, fast schade.Aber noch die schwere Vergangenheit derMutter listend, mit 13 alle Brüder versorgend,im Pub der Großeltern, Dienstmädchen,Heirat. Eine Mutter „collecting, chaotic, char-

ming“, die ihren Kin-dern die Welt warmverpackt. Aber aucheine Einsame, nachtsam Piano, sich in eineGroßmutter verwan-delnd, als das Nest leerwird und verwelkend,als der treulose Mannstirbt, auf den sie 35Jahre gewartet hat. –Alle Onkel wie Sagengestalten, quer durchdas Commonwealth verstreut. Schließlich derjunge Mann, der als Geiger aufspielt, Dok-torspiele, von denen das ganze Dorf wußte,man hielt es einfach für normal, das regelteman anders als in der Stadt. Und schließlich- tief verborgen im Heu - Cider with Rosie:„smell and taste of the juice of those valleys“.„But soon the valley would brake off.“, Stras-senbau, Motorräder, Pferde scheuen, Autos,die Alten sterben, das Dorf als Altersruhesitz,der Tod des Squire, die Aufgabe seines Guts-hauses, die Töchter heiraten, Busse bringensie Stadt näher, wir schüttelten das Tal ab.Und verlieren das Paradies der Kindheit undJugend, deren ganze Magie der Autor trans-portiert. - Auch wenn es nicht die erzähleri-sche Dichte von „How green was my valley“erreicht, es ist allemal:

zauberhafte Unterhaltung erster Güte.

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Ulla Hahn Aufbruch(D 2009), DVA; 2010 Büchergilde

Der 2. Band des HillaPalm Quintetts (Bd. 1im April 2018), desautobiografischenAufbruchs der Autorinaus rheinisch-katho-lischer Provinzenge.In der die Wortesam-mlerin weitere Sta-tionen ihres Auf-bruchs wiedergibt:Das Aufbaugymnasium

mit lebendiger Lateinstunde, k.O. in Mathe,Literaturdiskussionen z.B. zu Bölls „Ansichteneines Clowns“. Mit Sprachspielen notierte Ge-spräche, Godehard, der Lover und Großkotz,das poetische Petting, G., der nicht versteht,wenn für Hilla im Lesen das Suchen zur Ant-wort geworden war. Die geniale Beschreibungdes Essens für die niederen Stände bei FrauDirektor, der Blick nach Innen - Tanzen! ZurMusik der Beatles, Glück der Generationdamit Aufwachsender. Aber - sie kommt auskeinem guten Stall - ätzende Arroganz derreich Geborenen. Die ganzen Widersprücheder Beziehung zum reichen Lover, der fanta-stisch erlebte 1. Opernbesuch, zu Hausegab´s Radio Luxemburg. Historisches: Alte

Fernsehhighlights, der Auschwitzprozess, dieWorte, die im 3. Reich verfolgt wurden wieMenschen. Die Nazisprache, „Wer die Herr-

schaft über die Sprache hat, hat die Herr-

schaft über die Menschen“ - Erkenntnisseihres Lehrers. Nun die neue Zeit: Ein Supermarkt mitSelbstbedienung, das Ende der „Tante EmmaLäden“, „Sale“ statt Kommunikation. Aberder Blick in den Einkaufskorb verrät nun densozialen Status.Die Entsetzlichkeit ihrer Vergewaltigung, siefällt darob ins Wortdesaster: Ich hieß dasOpfer und das Opfer war selber schuld. DasErleben trennt sie von der alten Zeit, „einge-

kapselt in gefrorene Tränen.“ Das Unglück inMathe und der Schulrat, der nach der Wald-lichtung der Notzucht riecht. Auf den Aufbruch mit ihren Wortsteinen folgtder erste der Lokalität, die Uni in der Groß-stadt Köln. Dabei die irrsinnigen Plusterritu-ale der damaligen „Magnifizenzen“ an derUni. Verständnisschwierigkeiten an der Uni,Ängste, wissenschaftliches Lesen: Wissen alsPanzer gegen das Gefühl. Die kontaktloseEinsamkeit, in der Bibliothek hinter Büchernverschanzen, „zum Armsein ohne Angst fehlte

mir das Selbstbewußtsein“. Ihr, die Tochtereines Proleten, ihr Vater, der ihr endlichgestehen konnte, ihm sei die Bücherliebe mitdem Ochsenziemer ausgetrieben worden.

Ihr Heimatdorf verändert sich nun auch,es war Stadt geworden.Und wieder die schönen Erinnerungsstückefür ähnlich alte Leser: Gemeinsames Katalogansehen, Bärenmarke+Glücksklee, Taxi nachTexas. Heute vergessen: Der katholische In-dex der verbotenen Bücher, mehr als 500,bis in die Sechziger. Dann das selbst verdien-te Geld der Ferien-Fabrikarbeit, ihr Panzer dereintausend D-Mark. Ihr Umzug ins katholische Studentinnen-wohnheim, ein neuer großer Schritt aus derProvinz, der Abschied, die Memorabilia imKoffer, das erkämpfte Einzelzimmer, die„Dorfpflanze“ ist gewachsen. Dazu rheinischeHeiterkeitskrämpfe, toll, was sie aus dem Ab-schied im Bahnhof macht. Ihre impressioni-stische Schilderung der Zahnbehandlung, diehilflose Situation und die Verarbeitung derLichtungs-Horrornacht, das Glück des Über-standenen. Das ist auch so typisch für den„Aufbruch“: immer wieder die Zauberei mei-sterhafter kleiner Szenen, so der Abriss derGärtnerei der werdenden Stadt Dondorf. Undwie die Sprache der Hahn deutlich macht,was ihr die Situation bedeutet.

Manchmal gerät man in die Gefahr, in ihrenWortmeeren zu ertrinken und vermißt dasFloß der stringenten Erzählung. Dabei er-scheinen die Wortgewitter nicht immer der

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Inhaltslandschaft angemessen. Vielleichtist da eher der Leser das Problem, auffällig,wie ich, als atheistisch erzogener Berliner,seinerzeit Großstadt + Universität völliganders erlebt habe. Wie schwer es mir fällt,den ohnmächtigen Ängsten der Provinzlerinin der Metropole zu folgen, deren Darstellungeine Leistung der Autorin ist. Wie oft meineFrau – aus dem katholischen OsnabrückerLand – mir Hilla Palms Welt begreiflichmachen mußte. Dabei schildert sie hier nurdie Enge, die Zwänge kommen erst im Folge-band. Ihre TV-Erinnerungen sind mir - eherglücklicherweise - erspart geblieben, unsereFamilie hatte überhaupt keinen Fernseher.Dennoch: Dat Hilla, mit Wortsteinen immerauf der Suche nach ihrer Geschichte undlange unbefreit von der Nacht auf derLichtung - eigentlich großartig.Großen Respekt, wie Ulla Hahn ihren persön-lichen Aufbruch aus dem Dorf und zur Univer-sität wieder mit Bildern unseres Landes vor60 Jahren prägend stempelt, Geschichte pla-stisch, rheinisch speziell, werdend läßt.

Manchmal geschwätzig, nicht immer füreinen unkatholischen Großstädter verständ-lich, weil zu fremd, insgesamt aber wieder:

Großartig!

Ulla Hahn Spiel der Zeit(D 2014), DVA

Im dritten Band desAufbruchs der HillaPalm aus rheinisch-katholischer Provinz-enge spielen derenZwänge eine großeRolle. So bei demDrama der schwangergewordenen Kommil-itonin Grethe, die

sich ausgerechnetihrer „heilen Familie“ nicht anvertrauenkann, ihrer Abtreibung und Flucht ins Kloster.Etwas unvermittelt, aber beeindruckend Hil-las Gedicht zur verstümmelnden Brutalitätder Beschneidung. Wieder die fesselndeDurchdringung persönlicher Entwicklung undquer gebürsteter BRD-Geschichte der Sech-ziger: Wie sie einer echten Liebe, Hugo, aufdem Ball als „Käfer“ und „Raupe“ begegnet.Hugo der sie aus ihrer Notzucht-Erstarrunglöst, ihre Kapsel löst, sie wegstreichelt, siezu Liebe und Begehrern zurückführt. Sie aufeben jener Lichtung des Geschehens das Wortsagen läßt - fantastisch. Eingebettet in Ge-schehen jener Zeit: Der Kuppelei-Paragraphder 60´er, der den Eros in die kirchlicheZwangsjacke pressen will. Der Ostermarsch

1967 in Essen, ein vielfältiges Erlebnis,alteingesessene Läden sterben an Penny&Co,die Lügen über den Mord an Benno Ohne-sorge, wie man zu Hause die Demos erklärt -oh ja, nicht vergessen. Werbung: Ra-RaRachengold und der Spruch eines Fritz Teufelzum Gerichtsritual des Aufstehens: „Wenn´sder Wahrheitsfindung dient...“Das (Er-)Leben mit Hugo, wieder aus reichemHause, Hugo, der am Rhein ihre Wurzelnerfühlt, der von seinem Vater verachtet wird.Hugos Familie, Geld in irrealer, in surrealerMenge, die Burg derer von Breidenbachs,deren Gruft flüstert: Was willst Du hier, HillaPalm? Die Tortur des gemeinsamen Abend-essens auf der Burg, ihr „Arme-Leute-Gebiss“,Du kommst aus der Hefe! Aber Hilla steht zuihren Eltern. Und zu ihrer Germanistik, dieBegegnung mit der „Deutschen Ideologie,Marx/Engels statt dem Begriffsgetümmel derLinguisten: „Mit Liebe und Linguistik, Maound Chaos geniessen Hilla und Hugo ihren

ersten Herbst nach dem ersten Sommer..“Wie messerscharf die proletarische Hillasieht, wie sich die Kleinbürger in Facettender Studentenbewegung austoben. Seltenungerecht dagegen ihre Schilderung RudiDutschkes und seines Auftritts - warum soviel Unverständnis dem Beweger der 68´er?Ja, es waren z.T. auch Schaukämpfe dieseTeach-Ins der Zeit, wo mit dem Gehirn-

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kasten geprotzt wurde, aber warum bleibtsie so seltsam distanziert zu dieser Bewe-gung? Warum rückt sie die Kommunistin Kat-ja in die Nähe des Katholizismus?Lukas van Keuken taucht auf, die Gemein-samkeit von Christentum und Kommunismus.Letzterer ist gescheitert, aber wann ist dasChristentum jemals realisiert worden ?Belebend die wilde Patschuli-Tante aus Kali-fornien, die das Lied Scott McKenzies liebt,die Hymne des Flower Power, dann die Klinikdes Onkels in Meran, die wahrhaft „irre“ Ge-schichte des Dichters Ezra Pound, wie wider-sprüchlich darf ein Dichter sein, der „175´er“Richard, etwas viel für das Mädchen ausDondorf?Ihr Ärger über Facetten der Anti-Autoriären,festgemacht an der Sylvesterparty: „Alles,was ist, verdammen, aber selbst nichts

Eigenes zustande zu bringen.“ Fehlt da nichtnur noch „Geht doch rüber?“Schön das Erleben im Onkelgarten, „.. solcheBäume haben ihre eigene Quelle - und wir

Menschen brauchen die auch.“ Dazu passt ihreBegegnung mit dem Einsiedler. Dagegen fin-det man in ihrer Analyse von Pound schoneine Frau Professorin Palm in spe.., erneuteAusflüge in dieser Richtung, denen Nicht-Sprachwissenschaftler kaum folgen können.In der Demo gegen die Notstandsgesetze wirdHilla endlich politisch aktiv - oder doch

nicht ? Wie „unbürgerlich“ die aussahen, dieaus dem Berliner Zug kamen, auch hier wie-der ein merkwürdig distanzierter Bericht,mehr journalistisch, denn echte Demo-Betei-ligung. Für mich waren die damaligen Demon-strationen wichtige Veränderungen des All-tags und Menschwerdung. Und für die Auto-rin nur Objekt ihrer schriftstellerischen Tätig-keit? Worin steckt ihre Seele?Klar, für Hilla Palm war in dieser Zeit dieZweisamkeit mit Hugo das Zentrum ihres Le-bens, nicht die Politik - aber war die keinerkritischen Nachbetrachtung wert, die siedoch in anderem so explizit pflegt?Aber immer wieder ihre Sprachspiele, so voneinem Ferienjob als Restauranttesterin:„Testesser, Textesser, Festesser, Fettesser: Ende

des Semesters passte ich in keine Hose mehr.“Das eklige Familienfest der Breidenbachs, diegiftige Agressionvon HugosSchwester, ihre„Sätze, die sich

wie Hände von

hinten um deinenHals legen.“ –wow!Hugos Ekel obder Familie undseine effektvolleLösung der

Verlobungsanzeige.Der katholische Kirchentag (für mich völligeExotik), eine „Tüte“ für Kardinal Frings (köst-lich), die Randgruppe KHG, die Demo Heilig-abend ´68 in der Gedächtniskirche, Veran-staltung abends mit Sölle und Böll, undselbst dabei kehrt die Autorin das Religiöseheraus, während sie Flower Power nicht ver-stehend karikiert- uff! Was für eine subjekti-ve Chronistin!Es ist Ulla Hahns sprachliche Er- oder Über-höhung des Alltags, was das Buch gleichzei-tig schön und schwer macht, es stellenweiseauch zerfasern läßt - wie Erinnerungen imMenschen eben sind. Mich verstört jedoch,dass sie bei aller Erinnerung nicht einmalversucht, den Herrschaftsmechanismus vonKirchen und eben auch der katholischenbegreifbar zu machen, denn zu analysieren.Hat sie sich von diesem „Glauben“ nie freimachen können? Stellenweise war es mir zuviel Geplaudere statt stringenter Erzählung,zu viel fiese Distanz vom Aufbruch der acht-undsechziger und zuviel Kritik am Popanzvon deren Randerscheinungen, statt Lob derzeitlichen Fernwirkung.Auch wenn es für mich der schwächste Banddes Hilla Palms Quartett war, allemal:

Sehr empfehlens- und lesenswert!

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Die Autorin Ulla Hahn

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Richard Llewellyn (Wales, 1939)

So grün war mein TalEuropäischer Buchclub (Diana Verlag, Baden-Baden)

Eines grauen ländlichen Nachmittags begeg-nete mir in der Landbuchhandlung von Mi-chael Kross im Dorf Bippen etwas Beson-deres: Eine faszinierend-umwerfend-liebevolleKindheits/Jugendgeschichte aus einem Wali-ser Bergarbeiter-Tal zu Beginn des 20. Jahr-hunderts. So intensiv, so schmerzvoll schön,so präzise aus Kinder- und Jugendsichtgeschriebene Erinnerungen sind äußerst sel-ten. Das Aufwachsen in einem Tal vollerGesänge, den Feiern, in die ein ganzes Talsingend einstimmt, das staunende Beob-achten der Lieben seiner älteren Schwestern,der Lebensrhythmus der Kohlengruben,Streiks und Solidarität, die walisische Berg-heimat, ihre unvergessliche Natur, wildeNarzissen, die doch Stück für Stück demAbraum der Kohlehalden weichen muss, diebis zu ihrem Gartenzaun drängen – Llewellynhat das unglaublich intensiv verfasst, wie-wohl er es Jahre nach dem Verlassen derHeimat geschrieben hat.Es ist auch die Geschichte des Aufbegehrensder drei Söhne gegen väterliche Autorität undder Streit zwischen Gewerkschaftsanhängernund denen, die lieber auf Gott vertrauen, wieder Vater, der technischer Grubenleiter ist.

Ein Konflikt, der mittenin die Familie geht, alsdie Mutter meilenweitzu einer konspirativenUnion-Versammlunggeht, um die dort akti-ven älteren Söhne zuerleben, und dabei fastums Leben kommt.Für den jüngsten Sohn,Huw, den Erzähler be-deutet ihre Rettung eingebrochenes Bein und 5

Jahre Bettruhe, was seine erzählende Beob-achterrolle verstärkt. Er entdeckt die Bücher,gewinnt einen Preis für seine Handschriftund entwirft fortan die Union-Flugblätter.Dem Erzähler wichtig sind die (häufig sehrtragischen) Lieben der älteren Brüder, aberauch der Schwestern, oft nicht geradeausverlaufend und in krachende Konflikte mitder noch sehr patriarchalischen Gesellschaftmündend. Huw nennt einen Grubenbesitzer,der ein Mädchen öffentlich der Sünde bezich-tigt einen alten Hypocrite. Und er wider-spricht auch seinem Vater, weil der von denGrubenbesitzern besser behandelt wird.Dabei können die Sitten noch wirklich strengsein: Wieso sprichst Du meine Schwester an,ohne dass Du Ihr schon vorgestellt wordenbist?

Mit das Schönste sind die Feiern, die dasganze Tal einbeziehend, mit den Lichtern derFackeln, den walisischen Gesängen, der Chorseines Bruders Ivor wird zu Queen Victoriageladen. Die Poesie der Harfe, die Chor-sänger, die Stimme für Stimme einfallen, derZauber ihres Gesang. Die Lieder kann manheute jeden Tag auf „Blas Folk Radio Cymru“(Internet-Radio) hören...

So wird Szene für Szene die Geschichte vonHuws Familie und die des Tals erzählt, so at-mosphärisch faszinierend, wie es nur großeLiteratur kann.Naturgemäß kommen Besonderheiten deswalisischen Satzbaus (im Englischen) in derÜbersetzung nicht zum Tragen, dafür brauchtes das Original, z.B. „There is beautiful you

are!“ Die eigene Sprache spielt eine wiederkehren-de Rolle, Laien predigen in Walisisch, beieiner Hochzeit muss – der Braut wegen –Englisch gepredigt werden. In der Nationalschool wird Huw schwer gemobbed, auch vonLehrern und wird strikt Englisch verlangt –über Sprache als Herrschaftsinstrument kön-nen auch Iren und Schotten ihr Lied singen.Huw lernt nun Boxen aber der Geschichts-lehrer „is trying to hide his Welsh blood“. AlsHuw aber von einem anderen Lehrer bösegezüchtigt wird, zeigen ihm zwei Profiboxer

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Die unscheinbaredeutsche Ausgabe

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aus dem Tal, was eine walisische Harkeist.Die Einschätzung: „God made the coal, but

men made the money!“ zeichnet die Realitätgenauso wie ein 5-monatiger Bergarbeiter-streik, in dem Frauen und Kinder sterben undHuws Vater eine Grenze für Lohnsenkungenaushandelt. In Huws Leben kommt eine fantastisch dar-gestellte Szene der Sexualaufklärung durchden progressiven Pfarrer Mr. Griffyd („gesät

vom Samen des Menschen“). Der mag sich aufkeine gelebte Beziehung zur verheiratetenAngharad einlassen, er ist zu arm dafür.Trotzdem wird er später durch groben Dorf-klatsch vertrieben. Huw dagegen verspürt daserste Mal die Erotik, wird von Ceinwen geküs-st und verführt. Als die beiden nachts in denBergen sind, um die Nachtigall zu hören, löstdas eine Suchaktion aus; ihre erste Nachtsteht in poetischer Beschreibung.Huws erster Tag im Bergwerk wird impressio-nistisch eindrucksvoll beschrieben, literari-sches Glanzlicht wie viele Stationen im Lebendes Jungen. Die Schwägerin Bron, die nachdem frühen Tod ihres Mannes Ivor (Brudervon Huw) klagt „Oh Mama, there is lonely I

am“; Poesie der Sprache und der Namen.Das Dorf verändert sich, die Reihenhäuserstehen dicht am Rand der Schlackeberge, Mr.Griffyd wandert nach Patagonien aus (dort

spielt der weitere Ro-man des Autors, „Upinto the singing moun-tain“), Angharad nachKapstadt. Das Dorf be-ginnt sich vor den Au-gen des Erzählers auf-zulösen. – Als Bron,dem jungen Huw nichtgleichgültig, sich wie-der verheiratet, und erihre Welt respektiert, heißt es zum ThemaMänner/Frauen ((p. 402): „..women have a

gentleness of silence about them, a barrier

built of the things of spirit, of pain, of quiet,

of helplessness, of grace..“Viele gehen, so auch Huws Brüder Ianto undIvor (nach Neuseeland bzw. Deutschland),aufgrund ihres aktiven Streiks haben sie imTal keine Chance mehr. In der Stadt aber,angesichts der Geschäfte gibt es die Magieder Bücher (p. 421:) „Oh, there is lovely to

feel a book, a god book, firm in the hand, for

its fatness holds rich promise and you are hot

inside to think of good hours to come.“

Das Ende ist turbulent, wilde Streiks, Aufruhr,rote Fahnen, Revolutionsparolen und die An-drohung von Premierminister Churchill, briti-sche Soldaten einzusetzen. Beim Versuch vonHuws Vater schwere Schäden an der Grube zu

verhindern, stirbt er vor Huws Augen - dieKonflikte, die quer durch die Familie verlau-fen, können tödlich sein. Der Erzähler resü-miert (p. 447:) „But you have gone now, all

of you, that were so beautiful when you were

quick with life“. – Ich kannte bis dahin keineschönere Erzählung voller Poesie überKindheit und Jugend und den Charme einesvergangenen, fremden WaliserBergarbeitertals.

Herausragend

PS: Nicht lange, nachdem ich in der Familievon diesem Wunderwerk vorgeschwärmthatte, fand das englischsprachige Original –via Tochter – seinen Weg zu mir. Danke,eines der Bücher, die man gerne zweimalliest.Und die englische Ausgabe zeigt die wahreSatzmelodie Wales und bietet eine Aus-spracheliste für die herrlichen Namen dieserwalisischen Zauberwelt; schön!

A magical imaginery of a childhood andyouth in a Welsh mining valley, a bit similarto „Cider with Rosie“, more sustainful andeven more touching, And using the Welshtwist of phrases and the magic of Welshnames, the boys father is named Gwilym. Abook full of sheer magic but also lots ofhuman truths.

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Michael Mittelhaus www.mittelhaus.com

Gelesen im Mai ´18

Andreas Eschbach

Teufelsgold(D 2016), Bastei-Lübbe 2016 Tip meines Sohnes

Ein recht schräges Werk über einen Mann, dervon Seminaren „Wie man reich wird“ lebt undder ein recht antikes Buch über den Stein derWeisen findet. Danach scheint das eine frühekernphysikalische Materie-Umwandlung gewe-sen zu sein, mit entsprechenden energeti-schen und radioaktiven Folgen. Letzteres wirdgerne mystisch verbrämt - kein grosser

Unterschied zu heutigen Fans der Atomenergie.Unser Held macht sich auf die Suche nach den Quellen des Buchs -zusammen mit seinem Bruder, einem spinnerten Kernphysiker vomCERN, der gerade nichts besseres zu tun hat...Goldsucher, Antikfans, eine polarkalte US-amerikanischeMilliardärin und andere Gestalten säumen den Weg unseres Helden,dazu werden Pseudo-Zitate antiker Bücher eingeklinkt, nicht unge-schickt gemacht. Nebenher geht noch die Ehe des Helden zumTeufel, denn sein Karriere-Erfolg führt ihm reichlich weiblicheWesen zu - die Klischees kichern leise aus den Zeilen.

Schließlich gibt es noch einen geheimnisvollen Schloßherren, derder Alchimie verpflichtet ist - und die Unsterblichkeit sucht.Das Ganze ist einerseits streckenweise wirklich spannende Fantasy,andererseits z.T. oberflächlich und voller Irrtümer und wird gegenSchluß so überdreht, dass man wünscht, der Autor hätte dem Lesermitgeteilt, was er geraucht hat - ums besser zu ertragen.

In Grenzen gute Fantasy, ein Tick zu überdreht.

Richard Llewellyn

Up into the singing mountain(UK 1960), Michael Joseph 1963

Gedacht als Nachfolgeband zu „How green wasmy valley“, spielt dies mit einem Teil der al-ten Protagonisten unter walisischen Aus-wanderern in Patagonien, letztlich von derArmut in Wales vertrieben, hoffend auf dasNeue. In Latein-Amerika bleiben Sie aber un-ter sich und wollen (meist) kein Spanischsprechen. Der Erzähler des „Green Valley“, der junge Huw ist her-angewachsen, macht sich als Tischler erfolgreich selbstständig underfährt – soviel er auch herumwandert – eigentlich ist überall das-selbe: Auch in diesem Land des absoluten Überflusses blühtKlatsch und Tratsch, In-Groups und Eliten entscheiden und bestim-men, Fairness und Offenheit für Neues sind Fremdworte. HuwsNon-Konformismus stößt auf massiven Widerstand.

Außer einigen Namen und der Sprache erinnert wenig an die wali-sische Heimat, bei den „Abenteuern“ des jungen Huw in Pata-gonien denkt man oft eher an eine Reiseerzählung von Karl May,denn eine Fortsetzung des Valleys. Mr. Gruffyd taucht eher amRande auf, ähnlich ist es mit den Geschwistern, fort ist derSchmelz der Erzählung mit Kinderaugen gesehen aus einer gelieb-ten Heimat, Stück für Stück fällt der Zauber des Tals ab. Dass mandas Land hier einst den Indios geraubt hat, erscheint mit keinerSilbe. Und so wandern sie über den Berg und erhoffen nun imnächsten Tal das Paradies...

Banaler Nachfolgeband

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Gelesen im Mai ´18

Virginia Woolf (GB, 1925) Mrs. DallowayPenguin Modern Classics,1992/2000

It´s a masterpiece of20th century literature,but what a fight I had,to get into this book!Only with the patienthelp of Chris Barret andhis English Book Club(EBC) in Osnabrück, Iworked my way into thisliterature diamond; very

helpful was also a BBC panel on author andbook. This is one of the first stories ever writ-ten as „a stream of consciousness“, telling thelife of the people from their insight impressi-ons, rather than their outward appearance. Mrs.Dalloway´s preparing for a reception, where tomeet very different people. An oldtime lover,who did´nt really succeed in life, quite in con-trast to her nowasays husband and the outro-geous doctor, well received in society, but apunishment for his patients. Amongst whomthe forlorn first world war veteran and hishopelessly caring wife. It´s also a story on thechanged society in the twenties last century, astory of class differences and touching imagesof central London in the twenties, the walksaround of those happy to be able to afford aliving there.

World literature !

Selten habe ich solche Mühen gehabt, in einBuch hineinzukommen, wie in dieses. Erst diegeduldige Unterstützung von Chris Barret undseinem Osnabrücker EBC (=English book club)mitsamt dem wertvollen BBC panel über Au-torin und Werk halfen mir in diesen Litera-tur-Smaragd. Dazu gehörte, dass dies einfrühes Werk ist, geschrieben im „Bewusst-seinsstrom“, den ich seinerzeit bei der Lek-türe von „Berlin Alexanderplatz“ von A. Döb-lin so bewundert habe. Diesen Stil zeichnetdie Wiedergabe der persönlichen Eindrückeder Personen statt ihrer äußeren Erscheinung,die wiederum in den Impressionen der ande-ren Menschen ringsherum reflektiert werden.Im Kern spielt der Roman nur im Empfangund deren Vorbereitungen der Oberschichten-Lady Mrs. Dalloway. Hier begegnen sich dieunterschiedlichsten Menschenschicksale, diegroße Liebe ihrer Vergangenheit, der in derGesellschaft nie reüssierte Lover Peter Walsh,im Gegensatz zu ihrem erfolgreichen aberfischkalten Mann. In diesem einen Tag durch-lebt Mrs. Dalloway (und ähnlich viele ihrerGäste) das bisherige Leben, was aus Träumenund Beziehungen von damals hätte werdenkönnen, auch gegenüber der offenbar lesbi-schen Clarissa. Allein deren Auftreten war voreinhundert Jahren ein Skandal. Dazu derhochangesehene Mediziner, der für seinePatienten ein Albtraum sein kann. Wie für

den Veteranen Septimus des ersten Welt-kriegs, dessen Traumata man damals als„shell shock“ verharmloste. Der Bewusst-seinsstrom wird hier besonders evident, dennder Schrecken, seinen Kameraden direkt ineine Granatenexplosion hineingeführt zu ha-ben, erlebt der Ärmste unendlich quälend inseiner Vorstellung wieder und wieder.Es ist auch eine Geschichte über die verän-derte Britische Gesellschaft nach dem erstenWeltkrieg, von Klassengegensätzen (die nichtso benannt werden) und die berührendenBilder beim Flanieren durch das LondonerZentrum der zwanziger Jahre; intensiv aufge-griffen hier:http://mrsdallowaymappingproject.weebly.com/

Und der Menschen, die sich so glücklichschätzen konnten, sich dort ein Leben leistenzu können. – Die Verfilmung 1997 (mitVanessa Redgrave) hält sich erfreulich dichtan V. Woolfs Werk undunterstützt sogar dasVerständnis für dasRomanwerk.

Trotz der Einstiegshürden:

Weltliteratur

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