Wilhelm Meister als Archivfiktion

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Essay from Euphorion

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  • EUPHORION ZEITSCHRIFT FUR LITERATURGESCHICHTE BEGRUNDET VON AUGUST SAUER ERNEUERT VON HANS PYRITZ

    PirrAgrair

    "111- 111, JUL3 19*

    HERMAN MEYER FREDERICK NORMAN HORST RUDIGER

    PETER WAPNEWSKI

    HERAUSGEGEBEN

    VON

    RAINER GRUENTER and ARTHUR HENKEL

    62. BAND 1. HEFT

    HEIDELBERG 1968

    CARL WINTER UNIVERSITATSVERLAG

    IN VERBINDUNG

    MIT

    ROGER BAUER - WOLF-HARTMUT FRIEDRICH HANS-EGON HASS

    1 M 20550 F

    fagsort Heidelberg April 1968

  • IN HALT DES ERSTEN HEFTES Abhandlungen

    Rudolf Berlinger (Wiirzburg), HOlderlins philosophische Denkart . . . Volker Neuhaus (Bonn), Die Ardsivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren .

    .

    13 Dorrit Cohn (Bloomington, Indiana), K. enters The Castle. On the Change of Person

    in Kafka's Manuscript

    Mitteilungen

    ans-Gert R o I o f f (Berlin), Melandithoniana. Drei Briefe, eine Praefatio und Gut- aditen Melanchthons aus den Jahren 1550-1553 46

    Kleine Beitriige

    J.-U. Fe chn er (Cambridge), Von Petrarca zum Antipetrarkistnus. Bemerkungen zu Opitz' An eine Jungfraw 54

    Vo Iker Meid (Frankfurt), Barodcnovellen? Zu Harsdorffers moralisdien Gesdiiditen 72

    Hans-Wilhelm Dechert (GieBen), Indern er ens Fenster trat Zur Funktion einer Gebiirde in Kleists Midzael Kohlhaas 77

    Leif Ludwig Al bertsen (Aarhus), Sphingen (Sphinxe) in neuerer deutscher Literatur 85

    Fritz Schl a w e (Cincinnati). Sthmerz oder Selimutz? 93

    Besprechungen

    Entgegnung auf Hanno-Walter Krufts Besprechung von M a x L. Baeumer 96

    REDAKTIONELLE BEMERKUNGEN Schriftleitung: Dr. Gerhard Bauer, 68 Mannheim, Seminar fiir Deutsche Philologie, SchloB

    Verlagsort: 69 Heidelberg 1, LutherstraBe 59. Postfach 3039

    Der EUPHORION erscheint viermal jahrlich im Gesamtumfang von mindestens 28 Bogen. Preis des Einzel-hellos DM 11,, des Jahrgangs DM40,. Sonderpreis fiir Studenten DM 32,. In diesen Preisen sind 5'4 Mehr-wertsteuer enthalten. Preise und Lieferbarkeit iilterer Jahrgiinge oder Hello auf Anfrage. Abbestellungen nur mit einmonatiger Kiindigungsfrist zum JahresschluB.

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    Die Mitarbeiter erhalten von ihren Beitragen 20 unberechnete Sonderabziige, bis zu 30 weitere, die spatestens bei Rildcsendung der Fahnenkorrektur in Auftrag zu geben sind, gegen Erstattung der Selbstkosten.

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    Alle Rechte, auch das der Ubersetzung in frernde Sprachen, vorbehalten. Printed in Germany.

    Gesamtherstellung: Buchdrudcerei Sommer, Feuchtwangen

  • Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren von

    Volker Neuhaus (Bonn)

    Seit dem Erscheinen der Wanderjahre wurde immer wieder bemerkt, wie sehr sich dieses Werk von Romanen im herkommlichen Sinne unterscheidetl. Goethe selbst sagte am 18. 2. 1830 zum Kanzler von Muller, das Buch gebe sich nur fur ein Aggregat aus. Wie eine Arbeit wie diese, die sich selbst als kollektiv ankiindigt2, zu beurteilen ist, ist bis heute umstritten. Hans Reiss3 hat vor nicht allzulanger Zeit die Linien von den extremen Positionen der Hallischen Allge-meinen Literaturzeitung und Varnhagen von Enses Briefen und Gespriichen aus dem Rahelschen Kreise bis zur heutigen Forschung gezogen. Mehr und mehr ist man bemiiht, auch die W ander jahre vom Spiegelungsverfahren des spaten Goethe her zu verstehen, wie er es selbst z. B. in der vielzitierten Stelle aus dem Brief an Iken vom 27. 9. 1827 beschreibt: Da sich gar manches unserer Er fahrun-gen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen liiBt, so habe ich seit langem das Mittel gewahlt, durch einander gegeniiber gestellte und sich gleichsam in-einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren4. Trunz' groBer Kommentar geht von dieser Voraussetzung aus, und auch die in jiingster Zeit erschienenen Arbeiten von Reiss5

    und Haas betonen diesen Aspekt. Bei solchem Verstandnis des Romans erscheint die eigentiimliehe Form der Wanderjahre nicht als Ergebnis der versagenden dichterischen Krafte Goethes, sondern eher als Ausdruek eines bewuBten Verzichts auf formale Ge-schlossenheit. Das vernichtende Urteil, das Spranger7

    seinerzeit iiber Goethes Erzahltedmik in den Wanderjahren gefallt hat, ist aber bis heute nicht grund-satzlich revidiert worden, nur daB man Goethes Lassigkeit mittlerweile wohl-

    Vgl. dazu Arthur Henkel, Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman, Tubingen 21964 (= Hermaea, Neue Folge 3), S. 13: Da8 es sich bei den Wanderjahren um keinen Roman im herkiimmlichen Sinne handelt, ist eine Trivialitiit."

    2 Goethe am 28. 7. 1829 an J. F. Rochlitz. 3 Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der Weg von der 1. zur 2. Fassung, in: DVjs 39, 1965,

    S. 34-57, dort S. 34-36. Vgl. H. J. Schrimpf, Das Weltbild des spiiten Goethe, Stuttgart 1955, vor allem S. 7-16.

    5 AaO., S. 56: Eine Perspektive reicht nicht aus; mehrere miissen dargestellt werden." Gerhard Haas, Studien zur Form des Essays und zu seinen Vor/ormen im Roman, Tubingen 1966; iiber die Wanderjahre darin S. 89-99: Die Wahrheit Iiegt nicht fixierhar fest, sondern sie ergibt side erst aus dem Zusammenspiel der je fur sich stehenden Einzelaussagen auf der Ehene eines hinzukommenden aktiven Verstiindnisses des Lesers" (aaO., S. 94).

    7 Eduard Spranger, Der psychologische Perspektivismus im Roman, in: Jahrbuda des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt a. M. 1930, S. 70-90 (daraus die Zitate). Jetzt auch in: Zur Poetik des Romans, Hrsg. v. Volker Klotz, Darmstadt 1965 (= Wege der Forschung 35), S. 217-238. Friedrich Beissners Kritik (in: Der Erziihler Franz Kafka, Stuttgart 1952) wendet sich gegen Sprangers tIberschatzung der perspektivischen Strenge Goethes, etwa in den Wahl-verwandtschal ten.

  • 14

    Volker Neuhat Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren 15

    wollender beurteilt. Die Akribie aber, die Goethe gerade auf das erzahltechnische Arrangement der verschiedenen Bestandteile gewandt hat, hat man nt. W. node nicht bemerkt.

    I

    Eine Beschreibung der Form von Wilhelm Meisters Wanderjahren geht meist vom Begriff des Novellenkranzes aus: Eine Rahmenhandlung urn Wilhelm vet. bindet schlecht und recht"8 einzelne Novellen. Bei dieser Betrachtungsweise ist es fiir Spranger durchaus eine Moglichkeit, nur die Novellen fiir sich zu be. handeln und ihre Verbindung als nebensachlich und ungekonnt beiseite zu las. sen9. Geht man jedoch auf diese ein, so ergeben sich griiBte Schwierigkeiten, die fur Spranger Zeichen eines nidit mehr bewaltigten Alterswerkes"" sind.

    Dieses Formmodell liegt auch noch bei Trunz und Staiger zugrunde, da beide von Rahmenerzahlung" und Novellen" sprechen11. Bei der weiteren Arbeit erweisen sich ihnen jedoch diese Begriffe als unbrauchbar, da eine formale Schei dung von Novellen und Rahmen nicht mOglidr. ist. Nur zeigt sich wieder, dal man nicht durchkommt, daB Goethe die Ordnung eller verhiillt als offenbaren, Der formale Unterschied zwischen Rahmen und Novellen fallt nicht stark int Gewidrt, weil die Rahmengeschichte selbst viele novellenartige Partien ent hait"13. AuBerdem treten noch andere Elemente auf als Rahmen" und No. vellen": Die Rahmengeschichte wird ferner nicht selten zum sachlichen Be. richt ...; gelegentlich wird sie auch zur Rede."14

    Sieht man sich nach einer anderen Scheidung urn, so bietet es sich an, einmal ganz genau den Angaben nachzugehen, die der Dichter selbst macht. Eine jibes. geordnete Vermittlung liegt nicht in einer Rahmenerzahlung, sondern nur it der Gestalt des Herausgebers, der seine Tatigkeit in zahlreichen editorisches Berichten" selbst schildert. Trunz stellt einen Teil clerselben zusammen15, ohne dann jedoch naher darauf einzugehen. Ja, er vermengt unbedenklich den Samm. ler und Ordner16 mit den Autoren des Gesammelten und Geordneten, wenn et etwa AuBerungen aus Wer ist der Verriiter? und Makariens Archiv auf den

    8 Spranger, aa0., S. 85. Von dieser Auffassung geht audi aus: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Ein Novellenkrant

    nach dem urspriinglichen Plan hrsg. v. Eugen Wolff, Frankfurt a. M. 1916. Wolff versudit ii dieser Ausgabe, die Novellen von 1807", die gewalttiitig" entwurzelt" wurden, um sit der Haupthandlung aufzupfropfen", zu einem Novellcnkranz nach Art der Unterhaltunget deutscher Ausgewanderten zu flechten (S. 36).

    10 AaO., S. 87. 11 So E. Trunz, Anmerkungen zu Bd. VIII der Hamburger Ausgabe, 3. Auflage Hamburg 1957.

    S. 600f.; E. Staiger, Goethe 1814-1832, Zurich 1959, S. 137. 12 Staiger, aa0., S. 138. " Trunz, aa0., S. 600f. 14 Ebd. S. 601. 15 Ebd. S. 584. 10 Wilhelm Meisters Wanderjahre, Hamburger Ausgabe Bd. VIII, hrsg. v. E. Trunz, 3. AO

    Hamburg 1957, S. 408, (im folgenden zitiert als H.A. 8).

    Herausgeber bezieht17. DaB dies letztlich alles von Goethe ist, ist natiirlich klar,

    genauso klar aber ist, daB Trunz auf Goethes formale Intention nicht eingeht. So wie lange Zeit der Erzahler eines Romans mit dem Verfasser gleichgesetzt wurde, so im Falle der Wanderjahre meist noch immer der Herausgeber. Wie es sich in Wirklidikeit damit verhalt, hat Arthur Henkel's ausgesprochen: Der Dichter gibt sich eine Roll e, in welcher er gelegentlich die Biihne des Romans betritt, die Rolle ties bloBen Redaktors, dem es obliege, ordnend Sinn in vor-liegende Papiere zu bringen. Ubrigens verhielt es sich ja teilweise wirklich so zur Zeit, als Goethe den Roman zu diktieren und zu redigieren begann. Nur: der wirkliche Sachverhalt erscheint im Roman als Fiktion ". Spranger spricht zwar auch von der Fiktion" eines Herausgebers", setzt ihn jedoch unmittelbar darauf mit dem Dichter gleidi2 und versteht seine AuBerungen daher durchaus nicht als Fiktion, wie scion Wundt21

    die Aufzahlungen aus der Zwischenrede von 182122

    als realen Bericht von den einzelnen Papieren nahm, die Goethe vorlagen. Staiger23 zitiert diese Zwischenrede ausfiihrlich und behandelt sie, als handle es sich nicht um den Teil eines Romans, sondern um einen Goethe-brief oder eine AuBerung zu Eckermann. Graf hat dies geradezu als Prinzip aufgestellt. Er sdireibt zu den Wanderjahren, daB er konsequenterweise alle Be-merkungen des Herausgebers als den AuBerungen des Diehters iiber sein Werk angehiirend (was streng genommen der Fall ist)" in sein Werk hatte einordnen miissen. Bei der engen Verwebung mit dem Text des Romans erwies sich dieses Vorgehen als unthunlich". Es ist nur da geschehen, wo die redaktionelle Be-merkung selbstandig hervortritt."24

    Trennt man so den Herausgeber vom Roman ab und sieht in seinen Ausfiihrungen Werkstattberichte Goethes, bleibt tatsach-lich nur ein formloses Konglomerat ubrig.

    Wie jedoch scion Henkel betont hat, ist dieser Herausgeber eine fiktive Ge-stalt, wie sie seit dem Herausgeber der Pamela Richardsons zum festen Bestand-teil des Brief- und Archivromans wurde und wie Goethe selbst sie in den Leiden des jungen Werther verwandt hat25

    . DaB es sich nicht urn wirkliche Werkstatt-notizen Goethes handelt, wenn im Roman der Herausgeber das Wort ergreift, 17

    AaO., S. 584. 18 AaO., S. 14; gesperrt von mir.

    " AaO.. S. 85. 20

    Ebd. S. 86. 21

    M. Wundt, Wilhelm Meister und die Ent:vie/clung des modernen Lebensideals, Berlin und Leipzig 1913, S. 356. 22

    Goethes Poetische Werke, Vollstiindige Ausgabe, 7. Band, Stuttgart (Cotta) 1958, S. 1290f. (im folgenden zitiert als Neue Cotta-Ausgabe 7 = N.C.-A. 7). Nadi den Paralipomena dieser Ausgabe wird im folgenden die Fassung von 1821 zitiert, die in den andern modernen Goethe-Ausgaben fehlt.

    21 AaO., S. 129ff.

    24 H. G. Graf, Goethe fiber seine Dichtungen, I. Theil, 2. Band, Frankfurt 1902, S. 957, Anm. 1.

    25 Dies hat sdion Walzel erkannt, der in der Einleitung zum 12. Bd. der Festausgahe, Leipzig o. J., S. 7-38, auf die Manuskriptfiktion eingeht und auch auf die darin liegende Ahnlidikeit mit dem Werther hinweist (S. 33f.). Da audi er jedoch die Herkunft des Wilhelm-Teils aus den fiktiven Quellen (s. u.) nicht bemerkt, kommt er letztlidi fiber die Scheidung Rah-men" - Einlagen" nicht hinaus (z. B. S. 36). Trotz des Hinweises auf die Manuskriptfiktion vermag er nichts damit anzufangen, wie seine Vermutung zeigt, die Zwisdienreden riihrten vielleidit von Goethes Mitarbeitern her (S. 37).

  • 16 Volker Neuhaus , Die Archivliktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren 17

    sei an einigen Beispielen gezeigt. Die Tagebacher, von denen die oben erwahnte Zwischenrede von 1821 handelt, lagen damals keineswegs vor, sondern Lenardos Tagebuch war erst 1820/21 eigens fiir den Roman geschrieben worden2 und erschien in der ersten Ausgabe noch gar nicht. DaB noch an ein weiteres Tage. buch zu denken ist worauf ja der Plural hinweist wird weiter unten deutlia werden. War Lenardos Tagebuch immerhin geschrieben, so wird sich bei diesem Tagebuch ergeben, daB es zwar dem angeblichen Herausgeber als fiktives Mate. rial fiir seine Redaktion vorgelegen, in Wirklichkeit aber nie existiert hat.

    Bei den Heften, der wirklidten Welt getvidinet, statistischen, technischen und sonst realen Inhalts27 ist etwa an Meyers Darstellung der Schweizer Spinneret; und Weberei zu denken28. Hierbei lag sicher kein Zwang vor, sie einzuschalten, weil es sich sonst in seinen Papieren verloren oder in unerfreuliche Einzel schriften verzettelt hatte"29 es war ja gar kein Werk von Goethe! Deshalb ist ihre Einarbeitung in Lenardos Tagebuch nicht einfach dadurch zu erklaren, daB Goethe bedrangter Redaktor, der Disparates vereinigen muB"3 genannt wird. Vielmehr ist die Benutzung der Meyerschen Schrift Ergebnis kiinstlerischen Wollens, wie die Tagebuchnotiz vom 27. 1. 1821 zeigt und auch der Brief an Gottling vom 17. 1. 1829, in dem Goethe gerade die Sorg felt und Miihe betont, die er an diesen Teil gewandt hat.

    Auch kann dock nicht ernsthaft angenommen werden, Goethe habe seit langem ein Aufsatz iiber Makarie vorgelegen, den er nun im 15. Kapitel des dritten' Buches als bedr'angter Redaktor" einzuschieben gezwungen ware, und daB et in der ausfiihrlithen Vorrede dazu die eigene Werkstatt sehen lot, in der et,

    mit Achzen die Stiicke zum Stiickwerk flickt"31. Liegt in diesen Fallen das Fiktive von Herausgeber und Material schon auf

    der Hand, so wird es iiberdeutlich bei der Angabe, das Archiv enthalte aucb Zeichnungen und Gemalde des Malers und seiner Schiilerin vom Laggo Maggiore, die man leider nicht vorzeigen32 Urine. Die Bilder des Malers werden stattdessen durch eine Bildbeschreibung wiedergegeben, angeblich verfaBt von einem Ken. ner, der sie Jahre spater in dem fiktiven Archiv gesehen hat. Es wird sogar genau angegeben, wie sie dort hingekommen sind. Nach seiner Trennung von Wilhelm hat der Maler sie zu Natalie gebracht, um sie durch die schonen landschaftlichet Bilder in Gegenden zu versetzen, die sie vielleicht so bald nicht betreten sollte Diesen Bildern kommt die gleiche Realitat zu wie dem ganzen Archly dit poetische Realitat der Kompositionen Adrian Leverkiihns.

    Ich hoffe gezeigt zu haben, daB die angeblich vorliegenden Papiere eben nut angeblich vorlagen. DaB manches wirklich vorhanden war, mag Goethe zur Ver.

    25 Siehe Graf, aaO., S. 947, S. 956. 21 N.C.-A. 7, S. 1290. Abgedruckt in Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, I. Abtheilung Bd. 25, II S. 262-271. 29 Staiger, aaO., S. 129. 35 Ebd. S. 138. Audi hier die unbedenkliche Gleichsetzung des Herausgebers mit Goethe. si Spranger, aaO., S. 86. 32 H.A. 8, S. 235, 15. n H.A. 8, S. 241, 1ff.

    wendung dieses Formprinzips angeregt haben" so wie das Archiv in den bei-den Romanfassungen beschrieben ist, ist es jedenfalls erfunden.

    Damit ist auch die Gestalt des Herausgebers fiktiv; denn Goethe geht ja nicht wirklich in ihr auf, wenn sie auch Ziige von ihm tragt. Er ediert ja nidit nur Fremdes, sondern erfindet alles, Herausgeber und Herauszugebendes. Wenn man gesehen hat, daB die samtlichen editorischen Angaben, die so haufig vorkommen, Bestandteile des Werks selbst sind und nicht etwa AuBerungen Goethes u b er sein Werk, mull man zu einer formalen Aufschliisselung des Romans auf dieses Verhaltnis zwischen dem Redaktor und seinem Archiv eingehen, wie Goethe es bewuBt als Formprinzip seines Werkes wahlte.

    II

    Roman wird das Werk gerade in dieser Redaktion, Kunstwerk im Gegensatz zur Wirklichkeit, wie haufiger betont wird. Die Archivblatter geben sich durch-aus als wirklich, als schriftlichen Niederschlag des realen Lebens, sofern sie nicht, wie Die pilgernde Torin, Wer ist der Verrater? und Die neue Melusine, als Dichtungen eingefiihrt werden. Ein solcher Wirklichkeitsanspruch wird mehr-fach in den Dokumenten erhoben, indem sie gerade von der Dichtung abgesetzt werden. So schreibt Hersilie: Allerdings etwas Geheimnisvolles war in der Figur; dergleichen sind jetzt im Roman nicht zu entbehren, sollten sie uns denn auch im Leben begegnen?35. Vorher hatte sie schon das Personal ihrer Familie als das ewig in Romanen und Sdtauspielen wiederholte3 bezeichnet. Der Heraus-geber spricht bei der Bearbeitung eines ihm vorliegenden Berichts davon, daB er sich die Rechte des epischen Dichters angemaBt habe"; denn die Gescheh-nisse in Nicht zu weit sind keine Dichtung, sondern Realitat.

    Wird so bei den Archivblattern der Wirklichkeitscharakter bewuBt im Gegen-satz zu Roman und Dichtung betont, so redet der editorische Bericht nicht weni-ger bewuBt von einem Roman. Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen38, deshalb mull ein Teil des vorliegenden Materials weggelassen wer-den. Das Archiv ist dem Herausgeber augenscheinlich iiberlassen worden, damit er es zum Roman umbilde. Deshalb konnten ihm auch getrost Dinge mitgeteilt werden, die zwar wirklich, aber zugleidi unglaublich sind. Montan und der Astro-nom nahmen sich vor, ihre Erfahrungen allenfalls auch nicht zu verheimlichen, weil derjenige, der sie als einem Roman wohl ziemende Mardten belacheln konnte, sie dolt immer als ein Gleichnis des Wanschenswertesten betrachten darfte33. Beim Versuch, das vorliegende Material zum Roman zu gestalten, geht

    34 So auda A. Henkel an der oben zitierten Stelle, aaO., S. 14. as H.A. 8, S. 267, 11ff. 36

    H.A. 8, S. 67, 38ff.; auch diese Stelle stammt aus einem Dokument, wie noch zu zeigen ist. 37

    H.A. 8, S. 395, 11. 38 H.A. 8, S. 118, 10. ss H.A. 8, S. 445, 7ff.

    2 Euphorion 62, Heft 1

  • 18 Volker Neuhaus ' Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren 19

    es dem Herausgeber nach seinen eigenen Worten wie dem Historiker mit seinen Quellen: Dann aber wird bemerklich, daB wir im Roman, eben wie es in der Weltgeschichte geht, an ungewisser Zeitredmung leiden, und nicht ganz entschie den zu bestimmen vermogen, was sich friiher oder spdter ereignet".

    Ein wirkliches Archiv wird also durch Weglassen, Umbilden und Ordnen durdi einen Redaktor zur Dichtung, zum Roman und dieser Vorgang zugleich zum .

    Bestandteil des Romans. Wie Goethe in der Ankiindigung von Der deutsche Gil Blas4' darlegt, liegt fur ihn der Unterschied zwischen Kunst- und Naturwerk gerade darin, daB ein Naturwerk wie Der deutsche Gil Blas die Breite der Tage und Jahre wiedergibt ohne Deutung. In Diderots Versuds fiber die Malerei,

    definiert Goethe den Unterschied ahnlich: Die Natur organisiert ein lebendiges gleichgatiges Wesen, der Kunstler ein totes, aber ein bedeutendes, die Natur ein wirkliches, der Kunstler eirt scheinbares42. Das wirkliche und gleichgaltige Archiv wird vom Redaktor bedeutend gemacht; das geschieht aber, wie G. Mal. ler43

    gezeigt hat, unter anderem durch Raffung. Der fiktive Herausgeber hat die ersten beiden der von Muller erarbeiteten Raffungstypen angewandt, Auswahl der einen unter Auslassung anderer Dinge44

    und Zusammenfassung in Haupt. ereignisse45. Unbedeutendes wurde angeblich weggelassen, ebenso den Gesamt charakter Stiirendes, anderes wurde umgeformt, alles neu geordnet. Der sorg. faltige editorische Bericht aber lath es zu, daB wir sowohl die Entstehung des Archivs als auch die Arbeit des Redaktors genau verfolgen konnen und somit den Schliissel zur formalen Organisation der Wanderjahre gewinnen.

    Mit der Einschiebung der Redaktorgestalt zwischen Dichter und Dichtung ist eine bestimmte Erzahlperspektive verbunden. Der Herausgeber kann nur mitteilen, was sein Archiv enthalt oder was er auf genau mitgeteiltem Wege zu satzlida erfahren konnte. Nun scheint aber gerade die Wilhelm-Handlung in ihren umfanglichsten Teilen aus dieser Erzahlhaltung herauszufallen und nicht mit der Archivfiktion zur Deekung gebracht werden zu konnen. So schreibt denn auch Spranger": Die Wanderjahre beginnen als einfacher Bericht fiber Wilhelms weitere Schicksale. Spater aber tritt die Fiktion hervor, daB hier ein Herausgeber aus vielen ihm anvertrauten Papieren eine Auswahl getroffen habe. Der psychologische Beobachter wird also ersetzt durch einen Redaktor". Diese hier von Spranger ausgesprochene Beobachtung hat wohl auch dazu gefiihrt, dais die Herausgeberfiktion nie ganz ernst genommen wurde und man stattdessen die Wilhelm-Handlung stets den Rahmen" fiir die anderen Teile des Romans nannte. Bei genauem Hinsehen ergibt sich jedoch, daB die Wilhelm-Handlung keineswegs aus der Archivfiktion herausfallt. Dem Herausgeber lag angeblich ein Tagebuch Wilhelms vor, das er aus dem Ich-Bericht in eine Er-Erzahlung

    40 N.C.-A. 7, S. 1293. 41 N.C.-A. 15, S. 701. 42 N.C.-A. 14, S. 607.

    u Die Bedeutung der Zeit in der Erzahlkunst, Bonn 1947. 44 So H.A. 8, S. 84, 32ff.; 118, 5ff.; 127, 12ff.; 196, 28; 408, 8ff.; 442, 31ff. 45 So H.A. 8, S. 37, 31; 154, 18; 224, 21; 404, 25ff. 46 AaO., S. 85f.

    umgewandelt hat. Diese Umformung ist ein auf3erst gesdiickter Kunstgriff, da sie einerseits erlaubt, die Archivfiktion streng und liickenlos durchzuhalten, andererseits den Roman aber weitaus lesbarer macht, als es beim blof3en Abdruck von Archivblattern der Fall ware. Gemall dieser Entstehungsfiktion wird nichts mitgeteilt, was Wilhelm nicht erlebt und gewul3t hat und in zweiter Brechung wiederum nichts, was der Herausgeber nicht aus dem Tagebuch Wilhelms er-fahren hat. Je einmal werden Gedanken Fitzens und Lenardos mitgeteilt, die jedoch erraten oder nachtraglich erfahren sein konnen47. Die Geschichte Wil-helms ist also in einwandfreier personaler Perspektive" erzahlt. Nur deren vollige Wahrung macht die Durchfuhrung des ausgezeichneten Einfalls moglich, die Auswanderergesellschaft durch den unwissenden Wilhelm gleichsam von aul3en zu sehen49. Das Tagebuch bewahrt den damaligen Eindruck, ohne daB die spatere Erfahrung des Subjekts oder die Allwissenheit des Autors in die Dar-stellung eingetragen wird.

    Die vorgegebene Existenz eines Tagebuches wird aus den verschiedensten Angaben deutlich, zugleich damit sein Charakter. Im ersten Briefe an Natalie verweist Wilhelm selbst auf ein Tagebuch, das er beigelegt hat: Von hier sende ich dir manches bisher Vernommene, Beobachtete, Gesparte, und dann geht es morgen friih auf der anderen Seite hinab, fiirerst zu einer wunderbaren Familie, zu einer heiligen Familie mochte ich wohl sagen, von der du in meinem Tage-buche mehr finden wirst50. Das Vorstehende Die Flucht nach Agypten war also von Wilhelm fiir Natalie aufgezeichnet worden51. Der Editor fand es in dem ihm anvertrauten Archiv und gestaltete es um zu einer Erzahlung. Da das Tage-buch fiir Natalie bestimmt war, war es von vornherein auf vollstandige Mit-teilung alien Geschehens angelegt. Strukturell unterscheiden sich Brief- und Tagebuchdichtung nicht, wie schon die Pamela von Richardson deutlich macht, in der tagebuchartige Aufzeichnungen Pamelas mit Anrede und GruB versehen an die Eltern geschickt werden, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Inhaltlich aber zwingt der fiktive Mitteilungscharakter zu geordneter, geschlossener Dar-stellung, wie HOlderlins Hyperion im Gegensatz zu Rilkes Malte Laurids Brigge zeigt. So ist denn auch bei Wilhelm Meisters Aufzeichnungen an eine Mischung aus Brief und Tagebuch zu denken, die bei Gelegenheit an Natalie gesandt wird.

    47 H.A. 8, S. 42, 3ff.; 136, 21ff. 44 Dieser Begriff nadi Franz Stanzel, Die typischen Erzahlsituationen im Roman, Wien Stutt-

    gart 1955, und Typische Formen des Romans, Gottingen 1964. Audi sonst folge ich Stanzels ausgezeichneten Darlegungen zu den Erziihlsituationen".

    42 H.A. 8, S. 310-316. 44 H.A. 8, S. 12, 27ff. 41 H. M. Wolff, Goethe in der Epoche derWahlverwandtschaf ten (1802-1809), Bern 1952, S.119,

    schreibt zum Brief Goethes an den Verlag Cotta vom 27./28. 5. 1798: Goethe dachte also an eine Reihe von Reisebriefen, die vielleicht nicht nur Wilhelms, sondern auch Nataliens Bildung befordern sollten. Soweit wir wissen, blieb dieser Plan unausgefiihrt, wirkte jedoch in dem Plan von 1807 noch nach, denn wie die beiden in die Erzahlung von Sankt Joseph eingeschobenen Briefe zeigen, sollte eine Korrespondenz zwischen Wilhelm und Natalie den Rahmen des Romans bilden." Dab der soweit zuriickreidiende Plan tatsachlich ausgefiihrt wurde, entging auch Wolff.

    2

  • 20 Volker Neuhaus!. Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren 21

    Zu dieser Fiktion kann Goethe durch sein eigenes Brieftagebuch fur Frau vaa Stein gekommen sein, das er etwa parallel mit der Arbeit an den W ander jahren zur I talienischen Reise redigierte.

    Die einzelnen Begleitbriefe ermoglichen sogar eine Sonderung der jewel. ligen Sendung. Der Inhalt der ersten wurde oben schon genannt, die zweite enthielt Wilhelms Aufzeichnungen vom Weggang aus dem Rasthaus his zur Unterhaltung mit Sankt Joseph II, die der Redaktor wiederum zu einer persona. len Erzahlung umgestaltet hat. Ein Teil dieser Sendung wird jedoch wOrtlieb wiedergegeben, wie es im folgenden noch Ofter geschieht ein deutlicher Beweis fur die fiktive Existenz eines Brieftagebuchs. Es ist die Ich-Erzahlung Sankt Josephs II, die jedoch in Wilhelms Wiedergabe leicht gebrochen wird52. Daze kommt der abgedruckte Begleitbrief, der tagebuchartig die Ereignisse beim Ab, schied enthalt".

    DaB auch das Folgende nicht von einem psychologischen Beobachter"" zahlt wird, sondern vom Redaktor aus den Quellen gezogen wird, macht eine Bemerkung dieses fiktiven Herausgebers deutlich. Es heiBt von der Unterhaltung Jarnos mit Wilhelm: Dieses Gespriich, das wir nur skizzenhaft wiederlief ern . .55, Im gleichen Komplex steht eine weitere editorische Anmerkung. Wilhelm ziebt einen Gegenstand aus seiner Tasche. Was es aber gewesen, dur fen wir an dieser Stelle dem Leser noch nicht vertrauen, so viel aber miissen wir sagen,

    hieran sich ein Gespradt ankniipfte 5. Was der Redaktor hier mehr weiB, hat er aus seiner Kenntnis des gesamten Archivs, nicht aus der Stellung eines allwissenden Autors. Denn in einer anderen Quelle der Sammlung teilt Wilhelm selbst mit, weldien Gegenstand er aus der Tasche gezogen hat, und dabei wird iiberdeutlieb, daB audi der Bericht iiber das Gesprach mit Jarno aus einem Brief an Natalie stammt. Diese Quelle ist wiederum ein Teil von Wilhelms Brieftagebuch und wird im elften Kapitel des zweiten Buches" abgedruekt. Sie schlieSt genau dort an, wo Wilhelms Bericht an Natalie eine Lucke gelassen hatte und wo der Heraus. geber deshalb eine Bemerkung einschaltete. Wilhelms letzter Satz lautete in de Umgestaltung durch den Redaktor: Unser Freund leugnete nicht, dal3 er es all eine Art von Fetisch bei sick trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal hange gewissermaf3en von dessen Besitz ab58. Jarnos Erwiderung, die Wilhelm Natalie zunachst verschwieg, steht nun in seinem spateren Brief: Ich habe nichts dage. gen, dal3 man sick einen solchen Fetisch aufstellt .88. Ein spaterer Brief an Natalie setzt genau dort ein, wo der Bericht aufhorte, also ist audi der Bericlit die Umformung eines friiheren Briefes an Natalie.

    52 Siehe dazu Wilhelms eigene Bemerkung, H.A. 8, S. 28, 20ff. ss H.A. 8, S. 28-30. 54 Spranger, aa0., S. 86.

    ss H.A. 8, S. 37, 31. sa H.A. 8, S. 40, 37f. 57 H.A. 8, S. 268-283. 58

    H.A. 8, S. 40, 33ff. Die 1. Person Singular wurde nur durch die 3. ersetzt. ss H.A. 8, S. 281, 3f.

    Sind diese Hinweise ein wenig verhfillt, so lassen die folgenden an Deutlich-keit nichts zu wiinschen ubrig. Wieder teilt der Herausgeber einen Teil seines Materials wortlich mit, an den Bericht genau anschlieBend. Es handelt sids um den Briefwechsel zwischen Makarie und ihrem Neffen and ihren Nichten. Wie aus einem Begleitschreiben an Natalie hervorgeht, hat Wilhelm ihn abgeschrieben, so daB der Herausgeber diese Abschrift im Archiv findet. Der AnschluB an den Be-richt macht deutlich, dal3 auch dieser aus Wilhelms angeblich vorliegendem Brief-tagebuch umgestaltet wurde. In dem Begleitschreiben aber heiBt es: /ch kenne die Personen, deren Bekanntschaft ice machen werde, und weil3 von ihnen beinahe mehr als sie selbst, weil sie denn dock in ihren Zustdnden befangen sind und ice an ihnen vorbeischwebe, immer an deiner Hand, mice mit dir iiber alles besprechend. Auch ist es meine erste Bedingung, ehe ice ein V ertrauen annehme, daB ich di s-cales mitteilen diir f en. Wilhelm bespricht sich mit Natalie iiber alles, er geht kein Vertrauen ein, wenn er Natalie nicht Mitteilung machen kann. So kennt Natalie jedes Erlebnis Wilhelms aus seinen Berichten. Diese nun vermittelt uns der Redaktor, seiner Rolle gemaB teils umformend and raffend, teils auswahlend und wiedergebend.

    Wenn es nun noch weiterer Belege bedarf, um die fiktive Existenz von Wilhelms Brieftagebuch zu verdeutlichen, so finden sie sich in spater fortgefallenen Teilen der Fassung von 1821 in groBer Zahl und noch gr5Berer Deutlichkeit. Sie konnen durchaus als Belege herangezogen werden, da sich die Archivfiktion in beiden Fas-sungen findet. Auch unterliefen Goethe bei den Streichungen Irrtiimer". Wenn man daher bisweilen in die Fassung von 1821 blicken mull, um den Inhalt zu ver-stehen, so sei dies auch zur Erhellung der Erzahltechnik erlaubt.

    Die Umformung der Ich-Erzahlung Wilhelms in eine personale Erzahlung durch den Herausgeber, die bisher nur ersdilossen werden konnte, wird dort explizit erwahnt. Anstelle der Gesprache beim Bergfest fiber die Erdentstehung heil3t es dort: Auf diesem Punkte verlassen uns nun unsere Manuskripte; von der Unter-haltung der Freunde finden wir nichts aufgezeichnet, ebenso wenig vermochten wir den Zusammenhang mit dem Niichstfolgenden genau anzugeben, wovon wir in demselben Faszikel, auf demselben Papiere kurze Erwiihnung finden, daB niimlidt eine Zusammenkunf t unseres Wanderers mit Lothario und dem Abbe stattgehabt. Leider ist auch hier wie bei so vielen andern Bliittern das Datum vernadtliissigt. Einige Stellen, mehr ausrufungsweise als nachridttlich angebracht, deuten auf den hohen Sinn des Entsagens, durch welchen der eigentliche Eintritt ins Leben erst denkbar ist. Sodann treff en wir auf eine mit mehrern auf einander weisenden P fei-len bezeidtnete Landkarte, neben welcher wir in gewisser Folge mehrere Monats-tage angeschrieben finden, so dal3 wir uns also iiberreden durften, wieder in der wirklichen Welt zu wandeln und iiber die niichste Marschroute unseres Freundes ziemlich im klaren zu sein, wenn uns nicht auch hier verschiedentlich hinzugefilgte 60

    H.A. 8, S. 78, 26ff.; gesperrt von mir. 81 Siehe Trunz, aa0., S. 672, Anm. zu 231, lf.

  • 22 Volker Neuhaus ;'

    Zeichen und Chiff ern befarchten lief3en, eine geheimere Bedeutung werde uns immer verborgen bleiben. Was uns aber ganz aus aller historisdten Fassung brings, ist der wunderliche Urnstand, daB unmittelbar an alles dieses die unwahrschein. lichste Erzahlung sich ansdtliat, von der Art wie jene Marcher, durch, welche man die Neugier des Horers lange mit Wundern hinhalt und zuletzt erklart, es sei von einem Traum die Rede gewesen. Jedoch teilen wir, was uns vorliegt, buchstablid: mit62. Es sdiliel3t sich eine Aufzeichnung Wilhelms an, die nicht umgeformt wurde. Von einem Berggipfel aus gewahrt er Natalie durch ein Fernrohr auf einem Nadi. bargipfel. Gestattete Wilhelms Tagebuch bisher dem Herausgeber die Gestaltung eines liickenlosen Berichtes, so sind die Aufzeidinungen nun unvollstandig oder so unwahrscheinlicher Natur, daB er sie lieber wartlich wiedergibt. Schon bei dm Wanderung Wilhelms in Mignons Heimat hatte der Redaktor sich beklagt, dal wir von jener Fahrt weniger, als wir wartschten, auf gezeichnet finden3. Die Ge. nauigkeit in der Fiktion wird hier von Goethe so weit getrieben, daB Wilhelm sogar immer die nOtige Zeit haben muB, urn seine ausfahrlichen Berichte zu schrei. ben. Da er jetzt einen jungen, lebhaf ten ReisegefCihr ten hat, werden seine Auf. zeichnungen kiirzer. Zudem hat er ja die Maglichkeit, durch dessen Bilder Natalie einen Eindruck von seiner Reise zu vermitteln64.

    Eine andere Stelle spricht von der geradezu philologischen Tatigkeit des Her. ausgebers bei der Umformung des Vorliegenden: DaB ein Jahr inzwisdten ver. gangen, seitdem Wilhelm die padagogische Provinz verlassen, wird dadurch zw GewiBlteit, daB wir ihn beim Feste, wozu er eingeladen worden, gegenwartig antreff en; weil aber unsere Wandernd-Entsagenden bald unvermutet untertau. then und vor unserm Blick verschwinden, dann aber wieder an einer Stelle, wo wir sie nicht erwarteten, hervorschimmern, so la& sick nicht genau nachweisen, welche Richtung sie in der Verborgenheit genommen65.

    Wurde so nachgewiesen, daB Goethe immer wieder mit groBter Deutlichkeit aril die Entstehung der gesamten Wilhelm-Handlung durch Umformung eines far Natalie bestimmten Brieftagebuchs hinweist, so hat dies eine textkritische Konse. quenz. In der Wanderjahre-Fassung der Ausgabe letzter Hand stehen zwei Ab sdinitte, die schon die Fassung von 1821 enthalt: Die scharteWitwe ging indes mid Wilhelm unter Zypressen and Pinien, bald an Trauben-, bald an Orangengelan. dern der T errassen hin und konnte sich zuletzt nicht enthalten, den leise ange deuteten Wunsch des neuen Freundes zu erfiillen. Sie muBte ihm die wundersame V erschrankung off enbaren, wodurch die Freundinnen von ihren fraheren Ver. haltnissen getrennt, unter sich innig verbunden in die Welt hinaus geschickt wor den. Wilhelm, der die Gabe nicht vermiBte, sick alles genau zu merken, schrieb die trauliche Erzahlung spiiter auf, und wir gedenken sie, wie er solche verfal3t and durch Hersilien an Natalien gesendet, kiinftig unsern Lesern mitzuteilen66,

    62 N.C.-A. 7, S. 1295f. 63 N.C.-A. 7, S. 1292. " N.C.-A. 7, S. 1292. 65 N.C.-A. 7, S. 1293f. 88 Ausg. letzter Hand, Bd. 22, S. 142f.

    Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren 23

    Trunz67 bemerkt dazu, daB sie inhaltlich nur in die 1. Fassung passen und bei der Neubearbeitung versehentlich stehenblieben. Man pflegt sie als starend seit der Weim. Ausg. fortzulassen". Nun erklart aber gerade diese Stelle die Entste-hung des zweiten Teiles von Der Mann von funfzig Jahren68. Wahrend der erste Tei166, wie die Fassung von 1821 deutlich macht, von Hersilie an Wilhelm gesandt wird, ist dieser zweite Teil die Umformung der erwahnten Erzahlung Wilhelms. Im Gegensatz zum ersten Teil begegnen wir darin entsprechend dem Redaktor, der das, was er wiedergibt, selbst aus der Lektiire erfahren hat: Wir wollen gern bekennen, in dent Lauf e, wie diese Begebenheit uns bekannt geworden, einiger-maf3en besorgt gewesen zu sein, es ?nage hier einige Gefahr obschweben, ein Stran-den, ein Umschlagen des Kahns, Lebensgefahr der Schonen, kiihne Rettung von seiten des Jiinglings, urn das lose gekniipf to Band noch fester zu ziehen. Aber von diem diesem war nicht die Rede, die Fahrt lief gladclidt ab .76. Die Verschie-denheiten zwischen den beiden Teilen sind so auch von Goethe durch die Fiktion verschiedener Erzahler motiviert. Dem entspricht der urspriingliche Plan des Her-ausgebers, den zweiten Teil erst an spaterer Stelle einzuracken, wie er in der Vorrede zu Der Mann von funfzig Jahren71 sagt, und so die ihm getrennt vorlie-genden Dokumente audi getrennt abzudrucken. Statt der von der Weimarer Aus-gabe vorgenommenen Streichung der oben zitierten Stelle wiirde ein Verweis auf diese Einleitung der Goetheschen Intention weitaus gerechter.

    III

    Mit diesem Tagebuch Wilhelms haben wir einen Hauptbestandteil des Ardiivs kennengelernt. Ihm waren die verschiedensten anderen Dokumente im Original oder in Abschriften beigefugt, wie Wilhelms Begleitbriefen an Natalie oder den editorischen Bemerkungen zu entnehmen ist. Vom Briefwechsel der Makarien-Familie, der Josephsgeschichte und den beiden Teilen des Mannes von funfzig Jahren wissen wir dies bereits. Hinzu kommen noch die Erzahlungen Die pilgernde T5rin und Wer ist der V errater?, sowie eine Rede Makariens, die Erzahlung Lenardos und Wilhelms Exzerpte aus Makariens Archiv, aus denen der Heraus-geber wiederum eine Auswahl getroffen hat72. Hersiliens Briefe an Wilhelm kon-nen im Original dem Archiv eingefilgt sein oder in einer far Natalie bestimmten Abschrift, also schon als Bestandteil des fiktiven Tagebuchs. Im ersten Fall ver-dankten wir die Einordnung dem Redaktor, sonst hatte schon Wilhelm sie ge-leistet; der Unterschied ist aber belanglos.

    AuBer Wilhelms Berichten mit ihren Beilagen stand dem Herausgeber noch das Archiv des Auswandererbundes zur Verfiigung. Friedrich hat von allen wichtigen

    67 AaO., S. 725. 68 2. Buell, 4. und 5. Kapitel, H.A. 8, S. 188-224. " 2. Buell, 3. Kapitel, H.A. 8, S. 167-187. 7 H.A. 8, S. 211, 1ff. 71 H.A. 8, S. 167, 11ff. 72 H.A. 8, S. 125, 7ff.

  • 24 Volker Neuhaus i : Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren 25

    Besprechungen und Begebenheiten Protokolle angefertigt, und da er, wo's not::

    tut, gleich eine ganze Kanzlei" ist, hat sich eine grol3e Menge solcher Dokumente angesammelt. Aus ihr wahlt der Herausgeber zum wortlichen Abdruck aus: die Erzahlung Wilhelms vom Anatomiestudium, das urn die Zeichnungen gekiirzte Tagebuch Lenardos74, Die neue Melusine, Die gefahrliche Wette, die Wanderrede Lenardos, einen Teil der Anordnungen und Regelungen, die den neuen Staat be. treffen, und die Rede Odoardos. AuBerdem diirf ten die Betrachtungen im Sinne der Wanderer Exzerpte aus diesem Archiv sein.

    Die Erzahlung Odoardos, wie Friedrich sie aufgezeichnet hat, wird vom Heraus geber zu einer Art Novelle umgestaltet, wie er selbst sagt, die Rechte des epischen Dichters uns anmaliend". Odoardo hat aus einem Gesprach heraus berichtet, in dem man sichimmer unentwirrbarer in die Labyrinthe menschlicher Gesinnungen. and Schicksale verwickelte76. Dementsprechend war sein nach and nach erfolgen. der Bericht fragmentarischn . So sind auch die daraus geformten Szenen nur An. deutungen78. Allerdings hat der Herausgeber die Hoffnung, durch neue Informa tionen in die Lage gesetzt zu werden, die ganze Geschichte ausfuhrlicher und int Zusammenhang mitzuteilen79.

    Als Grundlage des SchluBteils, der bei Makarie spielt, wobei ja weder Friedrich noch Wilhelm anwesend waren, liegt ein ganzes Paket von Dokumenten vor, Brief e und vielfache Beilagens enthaltend, das von den Auswanderern bei Ma. karie an die Lenardo-Wilhelm-Gruppe gesandt worden ist. Zudem finden sich nosh verschiedene Dokumente der Gestalten aus Der Mann von funfzig Jahren Archiv, wie die Bilder des Malers und Hilariens, die Dichtungen von Fabio und Hilarie, Ubertragungen des Majors, der Briefwechsel zwischen der Baronin und Makarie und ahnliches.

    Diese Papiere nun wurden dem Herausgeber anvertraut81 zur Redaktion52, d. h. zur Bildung eines Romans, wie oben dargelegt wurde. Er selbst spricht davon, er habe das ernste Geschaft eines treuen Ref erenten abernommen53. Diese Ober. nahme wird in der Zeit stattgefunden haben, in der die Schlul3kapitel spielen. Beim Eintreffen des Pakets aus Makariens Umgebung heiBt es namlich: Durch die eben angekommene Depesche wurden wir zwar von manchem unterrichtet, die Brief e jedoch and die vielfachen Beilagen enthielten verschiedene Dinge, gerade nicht von allgemeinem Interesse. Wir sind also gesonnen, dasjenige, was wir da.

    " H.A. 8, S. 335, 13f. 74 Der Schluf3 des 1. Teils (H.A. 8, S. 350-352) ist allerdings zur Erziihlung umgestaltet, worauf

    auch Henkel aufmerksam macht. Der Eingriff ist sicker kein Versehen; denn dieser Abschnitt ist in der Ausg. 1. Hand durch einen Querstrich deutlich abgesetzt (Bd. 23, S. 65). Ein soldter Stride findet skis in Lenardos Tagebuch nur nodi zur Abtrennung von Wilhelms Blatt (Bd. 23, S. 182ff.). Welcher fiktive Bearbeiter hier am Werk war, ist nicht deutlich zu ermitteln (vgl. dazu Henkel, aaO., S. 15).

    " H.A. 8, S. 395, 11. 78 H.A. 8, S. 393, 16f. 97 H.A. 8, S. 393, 18ff. 78 H.A. 8, S. 393, 27. 99 H.A. 8, S. 393, 28f. 8 H.A. 8, S. 436, 18f. 81 H.A. 8, S. 456, 5f. 82 H.A. 8, S. 378, 15. 88 H.A. 8, S. 436, 23f.

    ma ll g ewu 13 t und er f ahr en, ferner auch das, was spater zu unserer Kenntnis ham, zusammenzufassen and in diesem Sinne das abernommene ernste Gesdiaft eines treuen Ref erenten getrost abzuschlieflen54. Der Herausgeber ist also damals angeblich dabeigewesen. Wilhelm- und Friedrich-Quelle waren in etwa abgeschlos-sen und zur Ubergabe fertig. So war Gelegenheit gegeben, Liicken der Quellen auszufallen durch Sammeln verstreuter Papiere z. B. durch das Blatt iiber Makarie im 15. Kapitel des dritten Buches und durch eigene Recherchen. Deren Ergebnisse das, was spater zu unserer Kenntnis kam85 sind in den SchluBteil eingearbeitet, so das Gesprach zwischen Montan und dem Astronomen, von dem es heiBt: Durch nachherige Mitteilung des Astronomen sind wir in dem Fall, wo nidtt Genugsames, dock das Hauptsiichliche ihrer Unterhaltungenaber so wichtige Punkte mitzuteilen5. Der Astronom weiB dabei, daB es urn das Schreiben eines Romans geht, wie oben gezeigt wurde. Ergebnisse persiinlichen Forschens werden midi dem 16. Kapitel des dritten Buches zugrundeliegen, wenn dies auch nicht ausdriicklich gesagt wird. Auch die Mitteilungen fiber die Herkunft des Oheims sind dieser Art. Urn ihm gerecht zu werden, hat der Herausgeber Erkundigungen eingezogen und teilt mit, was wir ausfragen konnten87, anschlieBend an Wilhelms Bericht.

    IV

    Ich hoffe gezeigt zu haben, mit welcher Genauigkeit und Klarheit Goethe die Archivfiktion bis ins kleinste Detail durchgefiihrt hat88. Die Wanderjahre sind so die gesammelten Erzahlungen, Dichtungen, Berichte, Tagebiicher, Reden und Briefe von ungefahr zwanzig fiktiven Personen, zu denen noch eine unbestimm-bare Anzahl von Autoren tritt, denen die Aphorismen der beiden Sammlungen angehoren88.Ebenfalls unbestimmt bleibt die Zahl der Schreiber, von denenDoku-mente fur Zusammenfassungen durch den Herausgeber verwandt wurden; zu-gleich aber sind Bedeutung und Umfang dieser Papiere gering.

    Alle Teile des Romans werden so in Eigenverantwortung der verschiedensten Personen erzahlt, ohne eine iibergeordnete auktoriale Verantwortung. Die ein-zelnen Perspektiven erganzen sich, verstarken sich oder heben sich auf. Aus alien spricht der Autor, und in keiner seiner Figuren bekommen wir ihn zu fassen, dal3 wir sagen konnen: Das ist die Meinung Goethes. Spriiehe in goldenen Buchstaben gibt es im Buch viele, doch merkt man bald, daB man sie alle umkehren kann und

    81 H.A. 8, S. 436, 17ff. Die Sperrungen stammen von mir. 85 H.A. 8, S. 436, 22. 88 H.A. 8, S. 444, 20ff.

    H.A. 8, S. 81, 20f. se Meine Darlegungen werden indirekt bestatigt durch Trunz' Nachweis, welche Fiille von

    Goethe an die Fertigstellung der Wanderjahre gewandt hat: E. Trunz, Die Wanderjahre" als Hauptgesdaift" im Winterhalbjahr 1828/9, in: Natur und Idee, Festschrift fUr Andreas Bruno Wachsmuth, hrsg. v. H. Holtzhauer, Weimar 1966, S. 242-262.

    es Siehe Trunz, H.A. 8, S. 721-725.

  • 26 Volker Neuhaul e

    dal3 sie alsdann ebenso wahr sind, und vielleidtt nods mehr90, genau wie die; Spriiche des Oheims. Selbst aus dem Hiihenbereich"91 der Dichtung, aus der' padagogischen Provinz und aus der Makarien-Handlung, diirfen wir nichts getront nach Hause tragen. So stoat die Theaterauffassung der Padagogen auf den ent. schiedensten Widerspruch Wilhelms und des Redaktors2, und was Hersiliens Briefe von Felix berichten, setzt hinter die ganze Padagogik der Provinz ein Fragezeichen. Das Kapitel, von dem Trunz sagt, es sei kompositionell der Gipfel des ganzen Werkes"93, nennt der Herausgeber nicht . . . ganz authentisdt", mit. geteilt wird es, um Nadtdenken zu erregen und Aulmerksamkeit zu empfehlen95, Vor keinem Arditivblatt warnt der Herausgeber so deutlich wie vor dem, in dem Goethe den tiefsten Glaubensgrund seiner `kosmischen' Religion" entschlei. ert"96. Da dies Kapitel aber zweifellos von grater Bedeutung ist, sind auch die Worte des Herausgebers nicht einfach Worte Goethes, die kritiklos anzunehmen,

    waren. Wie der Herausgeber den Text, macht der Text den Herausgeber frag. wiirdig".

    Selbst in den Spruchsammlungen findet sich Rede und Gegenrede, auch sie sind nicht Bleibendes in Goldbuchstaben97. Das Entsagen, das so wichtig ist, daB es in den Titel eingegangen ist, wird in der ersten Fassung von Hersilie ironisch in Frage gestellt, wenn sie sagt: Was ist vorhergegangen, was kann daraus folgen? Sie, mein Guter, hell en sich gewil3 dadurch heraus, da8 Sie traurig vor sich his. sprechen: 'Das sind nun audt wieder einmal Entsagende!"

    Wo nicht die Aussage eines Dokuments durch eine Gegenposition in einem anderen oder einen Kommentar des Herausgebers aufgehoben wird, geschieht dies oft so, daB der Stil ironisch distanzierend wirkt und auf diese Weise warnt, das Stuck nicht zu ernst zu nehmen. Auch dies Verfahren wird erst dadurch er maglicht, daB die Dokumente" von Goethe nur mit doppelt beschr'inkter Hal. tung vorgelegt werden, beschrankt durch den Herausgeber und die Einzelautoren,

    Diese so sorgfaltig konstruierte Einheit der vielfaltigen Stiicke erlaubt es, dal wir das Buch in seine Elemente zerlegen und diese neu konfrontieren und zusam. menstellen"9. Durch die Fiktion des Abdrucks gleichberechtigter Archivblatter kann man die Fliden bald so, bald anders ziehen, bald diese, bald jene Punkte verbinden, eines auf ein zweites oder ein drittes und viertes abgestimmt finders und in dem epischen Feld sich der verschiedenartigsten Figuren und Konstella. tionen erfreuen". Die mannigfaltigen gedankenvollen Interpretationen, die his. her vorgelegt worden sind, bestehen nebeneinander zu Recht und sind auch wie der, je nachdem man die Sache betrachtet, gegenstandslos"too.

    " H.A. 8, S. 68, 17f. 91 Trunz, aa0., S. 599. 92 H.A. 8, S. 258, 4ff. 93 AaO., S. 710. 94 H.A. 8, S. 449, 1.3. 95

    H.A. 8, S. 449, 4f. 96 Staiger, aa0., S. 176. 97 Siehe z. B. Aus Makariens Archly die Spriithe 17-25 einerseits und 26-28 andererseits. 98

    N.C.-A. 7, S. 1288f. 99

    Trunz, aa0., S. 630. 100 Beide Zitate Staiger, aa0., S. 137.

    Die Archivfiktion in Wilhelm. Meisters Wanderjahren 27

    Sie nun zu kompilieren oder einzeln zu wiederholen erubrigt sich. Es geht hier nicht urn eine neue Interpretation, da die gehaltliche Multiperspektivik bei die-nem Roman schon lenge erkannt ist. Ich hoffe nur, mit meiner Arbeit gezeigt zu haben, daB die von Trunz und Staiger formulierten Miiglichkeiten nicht Zeichen des Verlustes an Kraft und des Gewinns an innerem Reichtum"101

    sind, nicht auf Formlosigkeit, sondern auf einer Intention beruhen, die sich folgerichtig und streng die einzige dafiir miigliche Form suchte und mit grater Kunst verwirk-lichte. Ich meine, in der strengen Durchfiihrung der Archivfiktion liegt das ver-laBliche Gefiige, welcher Art es auch immer sei"102, das Staiger vom Roman er-wartet und das er den Wanderjahren abspricht. 191 Ebd., S. 136. 102 Ebd., S. 135.

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