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Research Collection Journal Article Informations und Kommunikationstechnologien in Unternehmen. IT als Produktivitätsfaktor Magazin der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Author(s): Arvanitis, Spyros; Hollenstein, Heinz Publication Date: 2003-11 Permanent Link: https://doi.org/10.3929/ethz-a-000916359 Rights / License: In Copyright - Non-Commercial Use Permitted This page was generated automatically upon download from the ETH Zurich Research Collection . For more information please consult the Terms of use . ETH Library

Umschlag ETH Magazin Dr. Heini Ringger (Leitung unicommunication, E-Mail [email protected]), Roger Nickl (unimagazin, E-Mail [email protected]) und Martina Märki

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Research Collection

Journal Article

Informations und Kommunikationstechnologien in Unternehmen.IT als ProduktivitätsfaktorMagazin der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich

Author(s): Arvanitis, Spyros; Hollenstein, Heinz

Publication Date: 2003-11

Permanent Link: https://doi.org/10.3929/ethz-a-000916359

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Zürichs Zukunft.Nachhaltige Perspektiven

MAGAZIN DER UNIVERSITÄT ZÜRICH NR. 1 ⁄ 01 ■ BULLETIN DER ETH ZÜRICH NR. 281 ⁄ APRIL 2001

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MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

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Partytime in Zürich

EDITOR IAL

Z ürich feiert den Aufschwung. Die Stadt boomt,das Kulturleben blüht. Die Internationale der

Lifestyle-Bewussten entdeckt die Metropole an derLimmat als neues Party-Paradies. In einer kürzlichveröffentlichten Rangliste der Städte mit der höchs-ten Lebensqualität nimmt Zürich zusammen mit demkanadischen Vancouver die Spitzenposition ein.Selbst die kritischen Medien stimmten in letzter Zeit

immer wieder in den elektri-sierten Aufschwungsbeat ein.Zürich geht es gut. Nachhal-tig gut? Haben Vertreterinnenund Vertreter des Nachhaltig-keitsgedankens an der Mega-party in Boomtown über-haupt einen Platz? Und waskönnen Wissenschaft und

Hochschulen dazu beitragen, dass auf das hitzigePartyfieber kein kalter Kater folgt?

Denn dass es auch Wermutstropfen im Party-drink gibt, beweisen zum Beispiel die Auseinander-setzungen um den Ausbau des Flughafens Zürich-Kloten. Ein Projekt des Nachdiplomstudiums Raum-planung der ETH Zürich zeigt neue Möglichkeitenzur Lösung des Konflikts. Wirtschaftliches Wachs-tum bedeutet meist automatisch auch mehr Verkehr.Wie öffentlicher Verkehr und Verkehrspolitik zueiner nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen kön-nen, analysieren Autoren von Universität und ETHim vorliegenden Magazin. Wissenschaftlich begleitetwird auch der Aufschwung in Zürich-West. Es gehtganz konkret darum, überhaupt erst einmal zu ent-wickeln, was nachhaltige Stadtentwicklung in der ge-gebenen Boomsituation bedeuten kann und wie ent-sprechenden Anliegen Gehör verschafft werdenkann.

Der Begriff der «nachhaltigen Entwicklung» liegtzwar ebenfalls im Trend. (Spätestens seit der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 ist erin aller Munde.) Doch machte das Schicksal vielerModebegriffe auch vor der «Nachhaltigkeit» nichthalt. Sie wurde zum Label und zur Spielmarke derunterschiedlichsten Anliegen und Interessen. Dasdiente nicht immer der inhaltlichen Schärfe des Be-griffs. Gerade aber diese Unschärfe kann vielleichtauch als Symptom für den komplexen Anspruchgelesen werden, der sich dahinter verbirgt: Denn letzt-lich meint nachhaltige Entwicklung nichts wenigerals die künftige Verknüpfung einer solidarischen Ge-sellschaft mit einem langfristig schonenden Umgangmit der Natur und einer prosperierenden Wirtschaft.

Die Weltkommission für Umwelt und Entwick-lung, nach deren Präsidentin Brundtland-Kommissi-on genannt, definierte nachhaltige Entwicklung 1987

als eine Form der Entwicklung, die es allen heutelebenden Menschen erlaubt, ihre Bedürfnisse zubefriedigen, ohne die Möglichkeiten künftiger Gene-rationen zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnissezu beeinträchtigen. An der Rio-Konferenz wurde aufdiesem Hintergrund die so genannte Agenda 21verabschiedet, eine Art Leitkompendium für dienachhaltige Entwicklung. Die Schweiz hat die darinformulierten Anliegen unterstützt und sich zurUmsetzung entsprechender Projekte auf lokalerEbene verpflichtet.

Unterdessen laufen in der gesamten Schweiz über50 Projekte der so genannten Lokalen Agenda 21.Die Sozialforschungsstelle der Universität Zürichevaluiert derzeit ein Projekt in Zürich-Schwamen-dingen, welches das Leben in diesem belastetetenQuartier lebenswerter gestalten will. Eine Studie indiesem Magazin belegt zudem, wie das Konsumver-halten der Einzelnen die nachhaltige Entwicklungnicht nur lokal, sondern auch global beeinflussenkann. Ein neues, von ETH und Eawag entwickeltesAbwasserkonzept wiederum könnte den Umgang mitSchmutzwasser grundlegend verändern. Seine Um-setzung beginnt mit fünf No-Mix-Toiletten in einerWohnüberbauung im Trendquartier Zürich West.

Doch das Leben und Handeln als trendbewussteÖkos, wie ein weiterer Magazinbeitrag das Umwelt-verhalten der Stadtzürcher liebevoll ironisch zusam-menfasst, setzt nicht nur guten Willen, sondern auchviel Wissen voraus. Besonders die Schulen stehen inder Bereitstellung dieses Wissens vor einer an-spruchsvollen Herausforderung, wie zwei Artikel ausder universitären Bildungsforschung zeigen. Gefor-dert sind natürlich auch die beiden Hochschulenselbst: Gerade aber Universität und ETH sind mitihrem breiten thematischen Spektrum prädestiniertdazu, das grosse Bedürfnis nach Wissen gesellschaft-licher, ökologischer und wirtschaftlicher Art frucht-bringend zusammenzubringen. Und dies nicht nur inForm von globalen Theorien, sondern, wie in diesemMagazin gezeigt wird, indem ihr Know-how auchganz konkret in lokale Projekte einfliesst.

An der grossen Party in Zürich mischen so auchdie Hochschulen mit – und das nicht nur metapho-risch: Das Zürcher Festival des Wissens, das denAnstoss zum Thema dieses Magazins lieferte, beginntam 4. Mai im Hauptbahnhof, zieht über verschiedeneStationen durch Universität und ETH und endetoffiziell acht Tage später auf dem Hönggerberg. EineGelegenheit für aufregende Entdeckungen, anre-gende Diskussionen und nachhaltige Begegnungenzwischen Wissenschaft und der Zürcher Bevölke-rung.

Martina Märki, Roger Nickl

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66 Das Buch Konfliktstoff Erdöl

67 Porträt «Ich bin ein Klassiker in der Moderne»

68 Bau und Kunst Naturpark Irchel: ein Missverständnis

71 Glosse Feng Shui im Kreis 4

3D O S S I E R

N A C H H A L T I G E S Z Ü R I C H

R U B R I K E N

I M P R E S S U M

6 Leben im TrendquartierZürich boomt. Als trendigstesGebiet gilt Zürich-West. AufIndustriebrachen entsteht einneuer Stadtteil. Doch fürLeute, die hier wohnen undarbeiten, hat die grosse Partyauch Schattenseiten.PAULA LANFRANCONI

10Standort mit PotenzialQualitative Entwicklungzeichnet die Jahrtausend-wende in Zürich aus.Dennoch liegen in SachenNachhaltigkeit noch Potenziale brach.STEPHAN KUX

14Nachhaltigkeit in Boomtown?Aufbruch in Zürich-West –pulsierendes Leben statt In-dustriebrache: wie kann dieseEntwicklung nachhaltig ge-staltet werden?ALAIN THIERSTEIN UND

BETTINA TSCHANDER

18Zukunftsfähiges SchwamendingenZürich hat Massnahmen zurnachhaltigen Stadtentwick-lung in Angriff genommen.Die Sozialforschungsstelle derUniversität evaluiert ein Teil-projekt in Zürich-Schwamen-dingen.HEINZ GUTSCHER UND

JÜRG ARTHO

51Schule herausgefordertNachhaltige Entwicklung alsUnterrichtsthema fordert so-wohl die Lehrkräfte als auchdie Schüler heraus. Dies zeigtdie Fallstudie zu einer Pro-jektwoche am Zürcher Gym-nasium Rämibühl. REGULA KYBURZ-GRABER

54Bildung für die ZukunftBildung unterliegt heute demZwang und der Chance,Lernprozesse neu zu organi-sieren. Die Etablierunglernfähiger Systeme stehtauch auf dem Programm derZürcher Schulreformen. JÜRGEN OELKERS

58Der Sucht vorbeugenAnfang der 1990er-Jahrewurde angesichts der offenenDrogenszene in Zürich eineverstärkte Suchtpräventionverlangt. Wie hat der Kantonauf diese Herausforderungreagiert?ROLAND STÄHLI UND

FELIX GUTZWILLER

62Stadt als LebensraumDie Stadt eine Betonwüste?Weit gefehlt: Die überbauteStadt ist pflanzenreicher alsdas umliegende Grünland.ELIAS LANDOLT

23Flughafen im ClinchDie Lärmbelastung durch denFlughafen Zürich wird grös-ser. Fachleute der Raumpla-nung mit neuen Vorschlägen.GEORG THOMANN UND

REMO STEINMETZ

28Immobilienmarkt im WandelWachsende Anonymität odergrosse Freiheit: Neue Eigen-tums- und Nutzungsverhält-nisse im Bauwesen veränderndas Gesicht der Stadt.HANS-RUDOLF SCHALCHER

32Verkehrszukunft in ZürichDer öffentliche Verkehr inZürich braucht weitere An-strengungen, um zukunfts-fähig zu bleiben.HEINRICH BRÄNDLI

36Nachhaltige VerkehrspolitikDie Diskussion über die Ver-vollständigung der Umfah-rung der Stadt Zürich stockt.Was tun?WALTER SCHENKEL UND

THOMAS WIDMER

40Trendbewusste Ökos und andereUmweltfreundlich Handeln,aber wie? Stadt- und Landbe-wohner entwickeln je eigeneStrategien der Bequemlich-keit.JACQUELINE FRICK UND

HANNAH SCHEUTHLE

44Konsequenzen des KonsumsÜber das Netz der Globalisie-rung, in das wir als Konsu-menten eingebunden sind,kann Nicht-Nachhaltigkeitimportiert werden. Oft aufKosten von Entwicklungslän-dern.NORMAN BACKHAUS UND

MARCO HOFFMANN

47Abwasser: Testlauf im KraftWerk1Die NoMix-Toilette im Pro-beeinsatz: das neue Sanitär-konzept könnte die Abwas-serreinigung revolutionieren.TOVE LARSEN ET. AL.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

unimagazinDie Zeitschrift der Universität ZürichNr. 1, April 2001

Magazin der ETH ZürichNr. 281, April 2001

Die gemeinsame Ausgabe wird herausgegeben vom Rektorat der Universität Zürich durch unicommunication (Schönberggasse 15a, CH-8001 Zürich, Telefon 01/634 44 30, Fax 01/634 23 46, Internet http://www.unicom.unizh.ch/magazin/) und von der Schulleitung der ETHZürich durch die Corporate Communications der ETH (ETH-Zentrum, CH-8092 Zürich, Telefon 01/632 42 52, Fax 01/632 35 25, Internethttp://www.aoa.ethz.ch/bulletin). Redaktion: Dr. Heini Ringger (Leitung unicommunication, E-Mail [email protected]), Roger Nickl(unimagazin, E-Mail [email protected]) und Martina Märki (Corporate Communications der ETH, E-Mail [email protected]). Gestaltungund DTP-Produktion: Atelier Peter Schuppisser, Zürich. Sekretariat: Romana Semadeni. Druck: NZZ Fretz AG. Erscheint einmal jährlich. Auflage:50000 Exemplare. Bildthema: Peter Fischli/David Weiss, Courtesy Galerie Hauser & Wirth & Presenhuber. Illustrationen: Wo nicht vermerkt, zurVerfügung gestellt. Die Redaktion behält sich die sinnwahrende Kürzung von Artikeln, das Einsetzen von Titeln und Hervorhebungen vor. Beiträ-ge von Dritten müssen nicht unbedingt die Meinung des Rektorats der Universität Zürich und der Schulleitung der ETH wiedergeben. Alle nichtentsprechend gekennzeichneten Artikel wurden exklusiv für dieses Magazin geschrieben. Artikel und Fakten können auch ohne ausdrücklicheGenehmigung der Redaktion abgedruckt werden, sind aber mit dem Hinweis «unimagazin. Die Zeitschrift der Universität und Bulletin, Magazin der ETH Zürich, April 2001» zu kennzeichnen. Davon ausgenommen sind Beiträge und Illustrationen, die mit einem Hinweis auf ein bestehendesCopyright versehen sind. Belegexemplare sind erwünscht. Die nächste Ausgabe des unimagazins erscheint im Juni 2001. Thema: «Ursprung, Schöpfung, Evolution». Die nächste Ausgabe des ETH-Bulletins erscheint im September 2001. Thema: «Chemie».

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4 B I LDTHEMA

weisen durchgehalten wird. «Das Ironische mussneben dem Nichtironischen Platz haben, sonst sinddie Bilder nicht interessant», sagt David Weiss. Daserklärt den eigentümlichen Schwebezustand, derihnen eigen ist. Ein Schwebezustand, den Peter Fisch-li «zwischen Himmel und Hölle» ansiedelt. Die Bilderhaben für ihn den Reiz eines Tabubruchs: «Eigentlichsind die Siedlungen ja schön, sauber und geordnet;gleichzeitig bleibt aber auch immer ein Moment desUnbehagens beim Betrachten zurück.» Diese Ambi-valenz wird durch den Schönwetterblick nochzusätzlich unterstützt.

Auf den «Agglomerationsidyllen» der beidenKünstler sind kaum Menschen zu sehen. Das verstärktihre Wirkung und regt die Phantasie an. Der Blick desinneren Auges wird auf das gerichtet, was hinter denMauern der Wohnwaben stattfinden könnte. DerLebensraum wird zum Projektionsraum. Peter Fisch-li und David Weiss ordnen die Fotografien denn auchin eine Reihe von «kollektiven Sehnsuchtsbildern»ein. «Die leicht idealisierte Darstellung widerspiegeltauch eine Sehnsucht nach Normalität, wie wir sie wohlalle kennen», meint Peter Fischli. Ähnlich menschen-leere Projektionsräume für die Sehnsucht haben Fisch-li/Weiss bereits in ihrer Fotoserie «Bilder, Ansichten»(1991) gezeigt. Damals waren es Postkartenklischees– etwa die Cheopspyramiden oder das Matterhorn.

Das Staunen bewahren

Das Gewöhnliche, Banale, Alltägliche hat es PeterFischli und David Weiss angetan. Seit nunmehr überzwanzig Jahren lässt sich das Zürcher Künstlerteamin verschiedenen Arbeiten vom vermeintlich Vertrau-ten irritieren und inspirieren. Von Alltagsgegenstän-den etwa, die sie im mittlerweile legendären Video-film «Der Lauf der Dinge» 1987 zweckentfremdenund in einer irrwitzigen Bewegungsfolge verknüpfen.Oder in der bis vor kurzem in Basel wieder gezeigtenArbeit «Plötzlich diese Übersicht» von 1981. Einerkauzig-humorvollen Ansammlung von Lehmskulptu-ren, die «wichtige, vergessene, entscheidende odernebensächliche Szenen aus der Geschichte und derGegenwart der Erde und des Menschen» darstellen –von der Erfindung von «I can’t get no satisfaction»durch die Rolling Stones über den Bancomaten biszum Christus am Kreuz.

Das Staunen und Schmunzeln über das Vertrauteverbindet diese Arbeiten mit den Bildern aus derZürcher Agglomeration. Wendet sich unser gewohn-ter Blick von dieser gemeinhin ab, so zeigen sie unsPeter Fischli und David Weiss wieder neu – sie machendamit auf vieldeutige Weise ein wenig beachtetesKapitel des helvetischen Alltags sichtbar.

VON ROGER NICKL

Am Anfang stand eine Fotografie der Zürcher Hohl-strasse: Ein VBZ-Bus rollt durch die Vorstadt, die

Bäume blühen, der Himmel ist blau. Alltag – eine fastschon idyllische Normalität. Ein Bild, das an eine un-spektakuläre, etwas langweilige Postkarte erinnert,wie es sie an Kiosken zu Tausenden zu kaufen gibt.Im Schlieremer Atelier von Peter Fischli und DavidWeiss schlummerte dieses Bild vor sich hin, reifte,wurde zur Idee – und schliesslich zu einem künstleri-schen Projekt. Das Resultat dieses Projekts war erst-mals 1993 unter dem Titel «Siedlungen, Agglomera-tion» in der Zürcher Kunsthalle zu sehen. Ausgestelltwurden in ihrer Banalität irritierende Fotografien, dietypische Siedlungen aus der Agglomeration Zürichsim Zyklus eines Jahres zeigten. Einige Bilder aus dieser Fotoserie sind auch im vorliegenden Heft zusehen.

Idealisierte Exotik

Oft blau ist der Himmel auch über den unspekta-kulären Wohnblocks, die die heute wohl renommier-testen Schweizer Gegenwartskünstler in der RegionZürich aufgespürt und abgelichtet haben. Die Behau-sungen am Stadtrand, denen der zweifelhafte Ruf der«Agglo» anhaftet, zeigen sich nicht selten von ihrerSonnenseite. «Idealisierte Darstellungen ähnlicherSiedlungen haben wir bis dahin nur aus Bildbändender ehemaligen DDR gekannt», erzählt Peter Fischli(*1952). Für die Arbeit an «Siedlungen, Agglomera-tion» gingen die beiden Künstler nun auf die Suchenach dem spezifisch Schweizerischen dieser un-scheinbaren baulichen Ästhetik der 1950er- bis 90er-Jahre. Nach den alltäglichen Zeichen auch, die dieSchweiz bedeuten.

Die Fotografien von Fischli/Weiss zeigen einenwohl geordneten und gestalteten Lebensraum.«Obwohl die Siedlungen ortlos erscheinen, wirkt diespezifische Ordentlichkeit dieser Gartenarchitekturauf Betrachter eines anderen kulturellen Kontextsdurchaus exotisch», ist David Weiss (*1946) über-zeugt. Sie repräsentieren eine Form von Vororten, wiesie in Paris etwa oder in Berlin nicht denkbar sind. Fürdie Künstler bedeutete die Auseinandersetzung mitdieser typisch helvetischen Siedlungsgestaltung aucheine Reise in die Vergangenheit, «in die Moderneunserer Jugendzeit», wie David Weiss sagt.

Himmel und Hölle

Der Blick durch die Kameralinse von Fischli/Weiss istbewusst nicht von einem künstlerischen Gestaltungs-willen geprägt. Er ist nüchtern, ironisch zuweilen undmanchmal auch kritisch. Wichtig war den Künstlern,dass in der Bildserie keine dieser drei Betrachtungs-

Irritierender Blick auf das Gewohnte

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

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6 AM PULS

wohnern nachgedoppelt, seien ungelöst.Besonders stossend finden sie, dass künftigim Rahmen des Projektes Westast der A1der ganze Verkehr zwischen City und Lim-mattal über die Hardbrücke – statt unterir-disch – zur Pfingstweidstrasse donnern soll.Das, prophezeien sie, werde vor dem Na-delöhr Hardbrücke zu riesigen Rückstausführen.

Brigit Wehrli-Schindlers Rolle ist dieeiner Moderatorin. Stadtpräsident JosefEstermann hatte die Soziologin 1996 in dasvon ihm initiierte Stadtforum geholt. Sie

sollte mithelfen, das blockierte Ge-spräch mit der Wirtschaft wieder inGang zu bringen. Mit Erfolg: Nacheinem mühsamen Startjahr fasstendie Grundeigentümer genug Ver-trauen, um sich auf die so genanntekooperative Entwicklungsplanungfür Zürich-West einzulassen. Dasklingt etwas abgehoben und ist esauch. «Die Stadt», sagt Wehrli-Schindler, «hat wenig planungs-rechtliche Handhabe, um die Ei-gentümer auf eine wirklich nach-haltige Gebietsentwicklung zu ver-pflichten. Sie müssen sich lediglich andie baurechtlichen Bestimmungenhalten.» Was darüber hinausgehe,basiere auf Gesprächen. Beim Ver-kehr allerdings prallen die Interessen

hart aufeinander – besonders, seitdem Bau-vorstand Elmar Ledergeber das neue Hard-turm-Stadion mit Mantelnutzungen wieKasino und Einkaufszentrum zum Publi-kumsmagneten machen will.

Technopark statt Hochöfen

Wir biegen von der Hardstrasse ab undkommen an der alten Schiffbauhalle vorbei,der gediegenen, aber finanziell aus dem Ru-der gelaufenen neuen Spielstätte des Schau-spielhauses. Dahinter dehnt sich unvermit-telt eine grosse, gekieste Fläche aus: Der Tur-binenplatz, das künftige Zentrum vonZürich-West. Umrahmt wird er von denglänzend dunkelgrauen Quadern des Tech-noparks und eines Businesshotels. ZurRechten steht, wie ein Fossil, die alte Gies-sereihalle von Escher Wyss. Sie wird unterGlas kommen, und in der riesigen Halle solles Beizen und Läden geben.

Einer, der die Halle noch von innenkennt, ist Arthur Rauch-Frech. Nachdenk-

Die Hardstrasse wirkt an diesem Nach-mittag wie ein Windkanal. Oben auf der

Hardbrücke braust der Verkehr. Überallstechen Baukräne in den grauen Himmel.

Leben im Trendquartier

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Paula Lanfranconi ist freie Journalistin.

Zürich boomt. Als trendigstes Gebiet giltZürich-West. Auf Industriebrachen entstehtein neuer Stadtteil. Doch für Leute, die hierwohnen und arbeiten, hat die grosse Partyauch Schattenseiten.

VON PAULA LANFRANCONI

Das hochgejubelte Trendquartier empfängtseine Besucher ziemlich kühl. Brigit Wehr-li-Schindler stemmt sich gegen den Wind.Die steife Brise will sie aber nicht als Sym-bol für ihren Alltag als Direktorin der Fach-stelle für Stadtentwicklung verstanden wis-sen. «Das Verhältnis der Stadt mit denGrundeigentümern ist gut», betont sie. Viel-leicht zu gut. Denn die Stadt, kritisierenlinke Politikerinnen und Politiker mitdeutlicher Spitze gegen die Genossen, seidrauf und dran, die versprochenen quali-tätvollen Aussenräume auf dem Altar derRentabilität zu opfern. Und auch die Ver-kehrsprobleme in Zürich-West, hat kürzlicheine bunte Allianz von Politikern und Ein-

Brigit Wehrli-Schindler auf dem Turbinenplatz: DieDirektorin der Fachstelle für Stadtentwicklungmoderiert in Zürich-West das Gespräch zwischenGrundeigentümern und der Stadt.

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7AM PULS

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

chen ungesund, dieser Boom. Wir müssenschauen, dass wir nicht plötzlich out sind»,sagt Gysi und lacht. Mit der Verkehrspla-nung ist er unzufrieden, denn die Stadtmöchte vor seinem Geschäft eine der ver-hassten Rampen bauen, welche den Verkehrauf die Hardbrücke hinaufbringen sollen.«Zig Millionen auszugeben, und nachherstehen sie einfach gleich wie vorher, dasbringt nichts.»

Gysi engagiert sich deshalb im Arbeits-kreis Aufwertung Hardstrasse. Die Websitewww.kulturmeile.ch steht bereits, und im Quartier werden Orientierungsplänepostiert, damit sich die Besucherinnen undBesucher besser zurechtfinden. In Zürich-West leben, «in diesen verdichteten Boxen»,

lich blickt der 90-Jährige von seiner Alters-heimwohnung hinüber ins boomendeZürich-West. Dass die Hochöfen 1987 end-gültig heruntergefahren wurden, schmerztden ehemaligen Modellschreiner. Aber er istnicht verbittert wie viele seiner Arbeitskol-legen, die nicht mehr reden wollen, weil essowieso niemanden interessiere, «was wiralten Löli denken». Arthur Rauch findet,dank «dem Fortschritt» gehe es dem Volkheute bedeutend besser. So gut seien die al-ten Zeiten nämlich nicht gewesen. Gerademal 1.40 Franken Stundenlohn habe er lan-ge Jahre verdient, und das mit einer vier-jährigen Lehre.

Damit es für die fünfköpfige Familiereichte, musste Hilde Rauch oft das letzteFlaschenpfand zusammenkratzen.Zornig gemacht hat den alten Ge-werkschafter auch, dass die Arbeiternicht den gleichen Eingang benutzendurften wie die «mehrbesseren» An-gestellten. Aber mit der Arbeiterbeiz,die das Paar zuvor an der Heinrich-strasse geführt hatte, kam man auchnirgends hin. «Für 2.20 Frankenwollten die Leute einen vollen Tel-ler», erzählt die 82-jährige HildeRauch. «Aber noch wichtiger war,dass man sich Zeit nahm für ihre Sor-gen.» Würden Sie heute in Zürich-West wohnen wollen? Die beidenalten Leute schütteln die Köpfe: «Vielzu viel Verkehr!»

Ein Hauch von Wildem Westen

Christoph Gysi hingegen liebt den Geruchvon Diesel und jenen Hauch von WildemWesten, den Zürich-West für ihn attraktivmacht. Gysi ist Ingenieur, Agronom, Bio-Engroshändler, Werber, Oldtimerfan undVelofreak. Sein Lokal «les halles» an derPfingstweidstrasse ist ein schwer zu be-schreibender Mix aus all diesen Aktivitäten.Gysi selber bezeichnet ihn etwas kryptischals «Peugeot». Der Raum verströmt denrelaxten Charme einer Brockenstube, hataber auch etwas von einer Lounge. An dieBeiz, welche für ihre Moules bekannt ist,schliesst sich der Bioladen an. Allerdings istdas Frischgemüseangebot beschränkt, denndie IT-Freaks aus dem Technoparkumfeldsind nicht sonderlich scharf aufs Gemüse-schnipseln.

Gut drei Jahre geschäften Gysi und seinPartner Beat Ledermann jetzt in Zürich-West. Seit der Schiffbau-Eröffnung hat sichihr Umsatz fast verdoppelt; die Boden- undMietpreise ziehen an. «Es ist fast ein biss-

möchte Gysi aber auf keinen Fall; auch nicht im KraftWerk1 mit seinen 12-Zim-mer-Grosswohnungen, Pantoffelbar undMobility-Carsharing.

Urbane Wohnmaschine Limmatwest

Szenenwechsel nach Limmatwest, der erstenbereits bezogenen Neubausiedlung inZürich-West. Unschweizerisch raumgrei-fend wirkt die urbane Wohnmaschine aufdem ehemaligen Schoeller-Areal. Jean-Da-niel Blanc und Iris Gronemeier leben mitihrem fünfjährigen Sohn Philipp im sechstenStock. Sie gehören zu einer Minderheit: Vonden rund 100 Wohnparteien haben blossetwa zehn Kinder. Das liegt auch an denPreisen. Eine 41⁄2-Zimmer-Wohnung kostethier rund 3000 Franken. «Wir wohntenvorher neben der Bäckeranlage», erzählt Iris

Bioladen und Beiz mit Brockenstubencharme:Der vielseitig interessierte Christoph Gysi führtseit gut drei Jahren das «les halles» in der Nähedes Schiffbaus.

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8 AM PULS

«Gründerväter» des heutigen Booms: Ineinem «Magazin»-Artikel hatten offizielleKulturrepräsentanten die Bewegung als«Nährboden für die heutige LebendigkeitZürichs» bezeichnet. Der Anarchist quit-tiert die späte Anerkennung mit einem spöt-tischen «nett». Die Zeiten, als er mitNacktauftritten und Wahlversprechen wie365 Sonnentage und LSD im Leitungswas-ser fürs Zürcher Stadtpräsidium kandidier-te und im Kreis 5 stolze 13 Prozent Stimmenmachte, sind längst vorbei. Seit Mitte der80er-Jahre drückt der ehemalige Bürger-schreck seine Wut und seine Sehnsüchte imTango aus. «El Tigre Tanguero» gibt sichschon fast asketisch: kurz geschorenenaturblonde Haare, weite schwarze Hose

und Strickshirt. Er lebt von seinerMusik und seiner Malerei. Alkoholkonsumiert der 41-Jährige nichtmehr. 1000 Franken im Monat genü-gen ihm zum Leben. An Sommer-nachmittagen findet man ihn am See.Clubs und Bars frequentiert er nur,wenn er selber dort auftritt, im Jazz-lokal Moods zum Beispiel.

Am Vortag ist der Tanguero ausBuenos Aires zurückgekommen, woer seine vierte CD aufgenommen hat,«Vuelvo al Sur». In Zürich, im Kreis4, lebt er immer noch gern. Er schät-ze «die einzigartige kulturelle At-mosphäre der letzten 20 Jahre». Mitdem AJZ habe Zürich sein 68 erlebt.1992/93 sei die Wohlgroth dazu-gekommen, von der nachhaltige,

lange unterschätzte kulturelle Impulseausgegangen seien. «Diese Leute», stellt erfest, «sind jetzt in einem Alter, wo sie ernstgenommen werden, Galerien und Clubsbetreiben.» Doch so wahnsinnig tolerantund hype, wie überall geschrieben wird, magAnarchist von Wartburg die Limmatstadtnicht sehen. «Am See verkehre ich viel mitJugendlichen. Wenn ich mich da soherumhöre, ist immer noch viel Repressionda. Verdächte konzentrieren sich nach wievor zuerst auf die Jugend.»

Auch Achmeds Ziel ist immer nochgleich wie damals, nur die Mittel haben sichverändert: «Interessante Sachen machenund die Leute zum Denken anregen – inSüdamerika genauso wie hier.» Aber wahr-scheinlich immer mehr drüben. Auch wennman in Zürich mehr bekomme für den Auf-tritt und das Leben um einiges einfacher sei,wie er freimütig einräumt.

Gronemeier. «Eingeleuchtet hat uns dieversprochene Kinderkrippe, der Hort undder freie Zugang an die Limmat.» Trotzdemverbrachten die beiden vor dem Zügeltagschlaflose Nächte: Philipp war damals erstdrei und die Fallhöhe von der obersten Eta-ge schwindelerregend. Unsicher war eineZeitlang auch, ob der Chindsgi überhaupteröffnet würde. Und bis der Laden in derSiedlung aufging, dauerte es ebenfalls.«Aber die Vorteile überwiegen», sagt dasPaar: Die helle Wohnung, der schöneFlussraum und die Möglichkeit, direkt in dieLimmat zu steigen. Versprochen, aber nochnicht realisiert ist ein Fussweg bis zumEscher-Wyss-Platz und ein Steg hinüberzum GZ Wipkingen.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Wohnort mit Sonnen- und Schattenseiten: Iris Gronemeier und Jean-Daniel Blanc leben mitihrem Sohn Philipp in der Neubausiedlung Limmatwest.

Doch Limmatwest grenzt auch an dievielbefahrene Hardturmstrasse. Wenn dasneue Stadion mit seinen hochrentablenMantelnutzungen und dem hausgemachtenAutoverkehr komme, sei’s aus mit der vielbeschworenen Nachhaltigkeit, kritisiertAndreas Wirz, Architekt und Projektleiterder Bauherrschaft von KraftWerk1 – eineMeinung, die auch Jean-Daniel Blanc undIris Gronemeier teilen: «So wie es jetzt aus-sieht, entsteht in Zürich-West ein Freizeit-und Unterhaltungszentrum für die halbeSchweiz und den süddeutschen Raum. Dasist einfach zu viel.»

Bewegter «Gründervater»

Wenig im Sinn mit Konsum hat Achmed vonWartburg, einfallsreicher Aktivist der 80er-Jugendbewegung und mithin einer der

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10 WIRTSCHAFTSRAUM ZÜR ICH

zu den Kunden und die zentral-örtlichen Dienstleistungen sind in der «Neuen Wirtschaft» zuneh-mend gefragt. Erforderlich ist einnachhaltiger Ausbau des Wirt-schaftsraums Zürich unter gleich-zeitiger Wahrung der hohen Le-bensqualität.

In einer liberalen Staatsord-nung hat die Wirtschaftsförderungallerdings nur sehr beschränktenEinfluss auf die Entwicklungs-läufe. In dieser Hinsicht greift der Begriff zu hoch. Die Wirt-schaft braucht keine Förderungund lässt sich nicht fördern.Hauptaufgabe der rund achtSachbearbeitenden beim KantonZürich ist es, ausländischen Inves-toren die Ansiedlung zu erleich-tern und ansässige Unternehmun-gen dort zu unterstützen, wo derKontakt mit Behörden erforder-lich ist.

One-stop-Shop – staatlicheDienstleistungen aus einer Hand– lautet das Stichwort. Dabei gehtes um die Koordination komple-xer Bewilligungsverfahren. Kurz:eine gute, unternehmensorientier-te Dienstleistung, die sich aminternationalen Standortwettbe-werb messen muss. Beispiele sindkomplizierte Bauverfahren in Zu-sammenhang mit Neuinvestitio-nen oder die Abwicklung derArbeitsbewilligungsverfahren beiGruppentransfers von Firmen ausdem Ausland. Heute sind Tempound Berechenbarkeit staatlicherDienstleistungen ausschlagge-bend. Der One-stop-Shop ist eineMöglichkeit, auf Qualität undQuantität von Wirtschaftsprojek-ten Einfluss zu nehmen.

Die andere Möglichkeit ist dasStandortmarketing. Die KantoneGlarus, Graubünden, Schaffhau-sen und Zürich haben ihre Aus-senauftritte zusammengelegt undan The Zurich Network aus-gegliedert. Diese public-privatepartnership betreibt professionel-les Marketing, um neue Investo-ren von der Standortqualität der

wurde das politische und sozialeUmfeld, die Freizeitmöglichkei-ten, die Gesundheitsversorgung,die Schulen, der öffentliche Ver-kehr und die Umwelt.

Dass dieses Gleichgewichtzwischen hoher Lebensqualitätund Wirtschaftswachstum nichtselbstverständlich ist, zeigen dieheftigen Diskussionen um denAusbau des Flughafens Zürich-Kloten. Es handelt sich um einenklassischen Zielkonflikt zwi-schen den Mobilitätsbedürfnisseneines europäischen Wirtschafts-zentrums und den Schutzbedürf-nissen der Anwohner.

Gerade die zentrale Lage unddie gute Verkehrsanbindungmachen das urbane Zürich soattraktiv. Gleichzeitig bilden Le-bensqualität und ländliches Um-feld einen Standorttrumpf. In denletzten Monaten haben sich dieKriterien für die Standortevalua-tion um hundertachtzig Gradgekehrt. Früher standen Faktorenzugunsten der Unternehmung imVordergrund. Zentrale Lage,attraktive Steuern, ein guter Ar-beitsmarkt. Heute wird gefragt,was für die Arbeitnehmenden vonVorteil ist. In Zeiten knapperArbeitskräfte treten die Lebens-qualität, die Wohnlage und dieQualität der Schulen in den Vor-dergrund der Standortevaluation.

Beschränkter Einfluss der Wirtschaftsförderung

In Erfüllung der Legislaturziele derRegierung legt die Wirtschafts-förderung des Kantons Zürichgrossen Wert auf eine nachhal-tige, ausgewogene Entwicklung.Im Mittelpunkt der Ansiedlungs-projekte stehen Unternehmungender Dienstleistungsbranche mithoher Wertschöpfung und gerin-gem Ressourcenverbrauch. Zu er-wähnen sind auch internationaleHauptquartiere, IT- und Tele-komanbieter und Unternehmun-gen im Bereich Life Science. DieVorteile der Metropole, die Nähe

Zürich ist in einer beneidens-werten Lage. Es ist einer der

weltweit wenigen Standorte, wel-che dynamische wirtschaftlicheEntwicklung mit dem Erhalt ho-her Lebensqualität zu verknüpfenwussten. Heute gilt Zürich als In-begriff des modernen Lebensstils.Trendmagazine verweisen auf dasoriginelle Kulturleben. Zürich giltals attraktive Wochenenddestina-tion. Und gleichzeitig wächst dieWirtschaft. Von einem eigentli-chen Boom ist die Rede. Multi-nationale Unternehmungen ver-legen ihre Hauptquartiere an dieLimmatstadt. Milliarden werdenin Informatikplattformen undTelekommunikation investiert.Qualifizierte Arbeitskräfte wer-den knapp. Die Plätze an interna-tionalen Schulen sind ausgebucht.Und die Wohnungssuche wird zurGeduldprobe.

Trotz dem Boom vermagZürich seine Eigenart und seineLebensqualität zu bewahren.Nicht wildes quantitatives Wachs-tum, sondern nachhaltige quali-tative Entwicklung zeichnet dieJahrtausendwende aus. In einem«Quality of Life Survey» wurdeZürich soeben neben Vancouverzur attraktivsten Stadt der Weltgekürt (siehe Tabelle Seite 11 un-ten). Besonders hervorgehoben

Standort mit Potenzial

Dr. Stephan Kux ist Privatdozentfür Politikwissenschaft an der Uni-versität Zürich und leitet die kan-tonale Wirtschaftsförderung.

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Der Standort Zürich ist im Auf-schwung. Nicht wildes quantita-tives Wachstum, sondern nach-haltige, qualitative Entwicklungzeichnet die Jahrtausendwendeaus. Dennoch weist ein aktuellerForschungsbericht darauf hin,dass in Sachen Nachhaltigkeitnoch erhebliche Potenziale brach-liegen.

VON STEPHAN KUX

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11WIRTSCHAFTSRAUM ZÜR ICH

in die Schweiz und den Süddeut-schen Raum aus. Eine steigendeAnzahl von ausländischen Ar-beitskräften – Spezialistinnen undSpezialisten vor allem ausDeutschland und den angelsäch-sischen Ländern – lässt sich inZürich nieder. Heute kann mannicht mehr von einem Zürcher Ar-beitsmarkt, sondern von einemschweizerischen und fast schoneuropäischen Arbeitsmarkt spre-chen.

wicklungsaktivitäten zur Verbes-serung der Standortentwicklung,was Lebens-, Wohn- und Arbeits-raum betrifft. So hat die StadtSchlieren einen integrierten Ent-wicklungsplan vorgelegt, Dieti-kon entwickelt sich zur Fiber-City,Opfikon strebt in seinem Leitbildnach einem organischeren Wachs-tum von Wohn- und Arbeitsstadt.Von den rund 170 Gemeinden imKanton ist eine Vielzahl weitererBeispiele zu nennen.

Greater Zurich Area zu überzeu-gen. Hier können Schwerpunktegebildet werden. Derzeit wird imZurich MedNet der Cluster LifeScience intensiv bearbeitet. ErsteAnsiedlungserfolge sind bereits zuverzeichnen. Weitere Cluster imBereich Hightech und Neue Me-dien sind in Vorbereitung. DieseCluster erfüllen die Anforderun-gen von Innovation, hoher Wert-schöpfung und Nachhaltigkeithochgradig und sollen zur inter-nationalen Profilierung vonZürich als ökologisch orientier-tem Dienstleistungszentrum bei-tragen.

Selbstbewusstere Gemeinden

In der Standortförderung beginntdie Entwicklungsplanung auf derkommunalen Ebene. Es sind dieGemeinden und Städte, die ent-scheiden, wie viel Raum sie fürWohnen und Arbeit einräumenwollen. Die Einzonung hat auchEinfluss darauf, ob sich Industrie,verarbeitendes Gewerbe oderDienstleister ansiedeln. In derRezession waren viele Kommu-nen überhaupt froh, wenn neueArbeitsplätze geschaffen wurden.Heute sind die Gemeinden undStädte selbstbewusster geworden.Mit grosser Energie und viel Ini-tiative gehen sie daran, Entwick-lungsleitbilder zu erarbeiten undeine eigene Standortförderungaufzubauen.

Hauptziel bildet die Koordi-nation der verschiedenen Ent-

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Lebensqualität von Städten im Vergleich

New York = 1001. Vancouver 106,5

Zürich3. Wien 106,04. Kopenhagen 105,5

GenfSydney

7. Auckland 105,0Helsinki

9. Bern 104,5FrankfurtMünchen

Quelle: Mercers Quality of Life Survey 2001

An der kontroversen Diskussion umden Ausbau des Flughafens Zürichzeigt sich der Zielkonflikt zwischenden Mobilitätsbedürfnissen eineseuropäischen Wirtschaftszentrumsund der Lebensqualität der Anwohner.Fo

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Auf der kantonalen Ebene istprimär das Amt für Raumpla-nung für die Entwicklung desStandortes Zürich zuständig. Ne-ben der Raumnutzung werdenDemographie, Verkehr, Umweltund zahlreiche weitere Faktorenin die Planung einbezogen. Gera-de im Kanton Zürich ist dies vonerstrangiger Bedeutung. In denletzten Jahren haben sich Arbeitund Wirtschaft grundlegend ver-ändert. Die Flucht aus den Städ-ten hat sich gedreht. Arbeit undWohnen im Zentrum sind wiederattraktiv geworden. Als boomen-des Wirtschaftszentrum hatZürich eine Vielzahl attraktiverund gut bezahlter Arbeitsplätzezu bieten. Die Pendlerströme neh-men zu und greifen immer weiter

Raumgreifendes Wachstum

Das Wachstum ansässiger Unter-nehmungen und Neuinvestitio-nen führen zu einer Verknappungan Büro- und Wohnraum. Um dieStadt Zürich herum entsteht einerster und zweiter Gürtel des wirt-schaftlichen Aufschwungs. DenMittelpunkt bildet der so um-strittene Flughafen, der für vieleUnternehmungen als Orientie-rungspunkt dient. Die AchseStadt Zürich–Kloten gehört zueiner der dynamischsten Regio-nen Europas, was die Bautätigkeitund die Anzahl Neuansiedlungen

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neue Umweltdienstleistungsin-dustrie von beachtlichem wirt-schaftlichen Gewicht.

Potenzial zur Ökometropole

In der Schweiz arbeiten heute über50000 Leute in der Ökoindustrie,das heisst in der Produktionumweltbezogener Waren undDienstleistungen. Dies entspricht1,3 Prozent aller Beschäftigten.Rund ein Drittel davon arbeitenim Kanton Zürich. Zürich bildetsomit nicht nur das ökonomischeZentrum der Schweiz, sondernhat jetzt auch die Chance, sich zurÖkometropole zu entwickeln.Dies bringt Innovation und Imageund schafft hochqualitative Ar-beitsplätze. Umweltnaturwissen-schafterinnen und -wissenschaf-ter und Leute mit ähnlicher Qua-lifizierung sind bereits gesuchteSpezialisten auf den Arbeitsmärk-ten.

Gerade in den heutigen gutenZeiten könnte Zürich ein Zeichensetzen als Umweltregion. Wün-schenswert wäre ein ClusterNachhaltigkeit, um gezielt Unter-nehmungen mit umweltbezoge-nen Produkten und Dienstleistun-gen anzusiedeln. Die Vielzahl vonmiteinander verknüpften Akti-vitäten in diesem Bereich führtauch zur Idee einer räumlichenNähe. Bereits reifen verschiedeneProjekte eines Hauses der Nach-haltigkeit oder eines Nachhaltig-keitscampus. Auf der Ranglisteder nachhaltigsten Regionennimmt Zürich noch keine Spit-zenposition ein.

LITERATUR

BAK: Nachhaltiges Wachstum: Wirtschaft, Um-

welt und Gesellschaft schweizerischer Re-

gionen im internationalen Vergleich,

Zürich (Kantonalbank) 2000

BAK: Metropole Zürich. Der Wirtschafts-

standort im internationalen Vergleich,

Zürich (Kantonalbank) 2000 (Kurzfassung

auf www.awa.zh.ch)

Mercer, W. M.: Quality of Life Survey 2001

(www.wmmercer.com)

12 WIRTSCHAFTSRAUM ZÜR ICH

Wirtschaft etwa hat 1999 ein Pro-gramm «Bodensee Agenda 21»mit dem Ziel initiiert, die Vielzahlan Aktivitäten in diesem Bereicham Dreiländereck zu bündeln undvoranzutreiben. Die KommissionVerkehr versucht, den grenzüber-schreitenden öffentlichen Ver-kehr zu verbessern. Gerade be-züglich der Zubringerlinien zumFlughafen ist dies von erstrangi-ger Bedeutung.

Prädikat «relativ nachhaltig»

Grundlage der Standortentwick-lung Zürichs bildet ein professio-nelles Monitoring, welches dieBAK Konjunkturforschung BaselAG im Auftrag von Kanton, Stadtund Zürcher Kantonalbankdurchführt. Im InternationalBenchmark Report werden auchsoziale und ökologische Faktorenbewertet. Im Bericht «Nachhalti-ges Wachstum: Wirtschaft, Um-welt und Gesellschaft schweizeri-scher Regionen im internationalenVergleich» kommt die BAK im ver-gangenen Jahr zum Schluss, dassdie hohe wirtschaftliche Leistungs-fähigkeit der Metropole Zürichweder mit einer überdurchschnitt-lichen Beanspruchung der natürli-chen Ressourcen noch mit einerGefährdung der sozialen Stabilitäterreicht wird. Das Prädikat «rela-tiv nachhaltig» verdeutlicht aber,dass noch viel zu tun ist und er-hebliche Potenziale brachliegen.

Seit letztem Jahr finden des-halb regelmässig Symposien überNachhaltigkeit und Wirtschaftstatt, die von der Wirtschaftsför-derung unterstützt werden. Diesist eine klare Botschaft, dassZürich der Nachhaltigkeit ver-pflichtet ist und innovative An-sätze sucht. Bleibender Eindruckder ersten Veranstaltung warennicht die zahlreichen hochkarä-tigen Referate und Workshops,sondern die Tatsache, dass es inZürich eine Vielzahl von neuenUnternehmungen gibt, die ihrGeld mit Nachhaltigkeit und Um-welt verdienen. Von der Umwelt-beratung über Nachhaltigkeits-fonds bis zum Umweltrisiko-management entwickelt sich eine

betrifft. Im Vordergrund steht dasuntere Glatttal mit Glattbrugg,Opfikon und Wallisellen. Hierentsteht ein neuer Ballungsraum,der in einer neuen Studie als Glatt-talstadt bezeichnet wurde. Aberauch das obere Glatttal, das Lim-mattal und das linke Seeufer ent-wickeln sich zu interessantenWirtschaftszentren.

Sprach man früher davon,dass die Metropole am Milch-buck aufhört, wächst heuteZürich weit über die kommu-nalen und kantonalen Grenzenhinaus. Längst ist eine GreaterZurich Area entstanden. Dies be-dingt auch eine kantonsübergrei-fende Koordination der Raum-und Verkehrsplanung. Der Kan-ton Zürich übernimmt hier eineFührungsrolle. In der PlattformAargau–Zürich (PAZ) treffen sichdie Entscheidungsträgerinnenund -träger aus Bau- und Volks-wirtschaftsdirektionen regelmäs-sig, um Planungsfragen bezüglichdes weiteren Limmattals zu koor-dinieren.

Die Greater Zurich Area mitGlarus, Graubünden, Schaffhau-sen und Zürich tritt zunächst alsStiftung und Trägerin der Stand-ortmarketing-Organisation TheZurich Network auf. Im Stif-tungsrat treffen sich die Volks-wirtschaftsdirektoren der Mit-gliedskantone regelmässig. Dabeistehen auch Themen wie Wirt-schaftsentwicklung und Verkehrs-planung auf der Traktandenliste.Vereinzelt werden gemeinsameStellungnahmen ausgearbeitet.Was den Flughafen betrifft, be-ginnt der Kanton Zürich – miteiniger Verspätung zwar – auchKontakte mit dem benachbartenAusland zu knüpfen, um gemein-same Entwicklungsperspektivenzu erarbeiten.

Neben den Landkreisen Kon-stanz und Waldshut betrifft diesinsbesondere auch die Regie-rungspräsidien Konstanz und Tü-bingen. Schliesslich bietet die In-ternationale Bodensee-Konferenz(IBK) eine Plattform, um gemein-same Entwicklungsfragen zu ko-ordinieren. Die Kommission

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14 ZÜR ICH -WEST

ziert. Ein Quadratmeter Baulandkostete damals schwindelerregen-de 15 000 Franken. Dank moder-ner Kommunikationstechnologiewurde es möglich, jene Bereiche,die nicht in Kundennähe oder anrepräsentativer Lage sein müssen,als sogenannte Backoffices auszu-lagern. Die als Folge des Struk-turwandels nur noch teilweiseindustriell genutzten Industriege-biete boten sich zur Befriedigungder Raumbedürfnisse der Finanz-welt an.

Die kommunale Bau- und Zo-nenordnung (BZO) von 1992 ver-suchte, Standorte für die Industriezu sichern, bei Neuplanungen öf-fentliche Freiflächen auszuschei-den und eine Mischnutzung mitWohnanteil durchzusetzen. Dochdie Spielanlage änderte sichgrundlegend, als Anfang 1989 derImmobilienmarkt und besondersstark der Markt für Dienstleis-tungsflächen in der Agglomerati-on Zürich zusammenbrach, dieBau- und Immobilienbranche unddie Banken Millionenverluste zuverzeichnen hatten und die Kon-junktur ab 1991 zurückging.

Die BZO 92 besass bewah-renden Charakter und arbeitetemit regulativen Planungsmetho-den wie Festlegung der Ausnut-zung (Dichte) und die Nutzungs-art (Schutz der Wohnnutzung).Erst allmählich – und unter demDruck der hartnäckigen Wirt-schaftsrezession – entwickeltesich eine neue Stadtentwicklungs-mentalität. Heute definiert dieStadtverwaltung ihre Rolle neuals Dienstleistungsunternehmen,das auf die Bedürnisse der Unter-nehmen schnell und flexibel rea-gieren kann. Die heute geltendeBZO 99 verwandelte Gebiete, die1992 noch Industriezonen waren,grösstenteils in Industriezonenmit Handels- und Dienstleis-tungszulassung oder in Zent-rumszonen. Dichtebeschränkun-gen sind praktisch aufgehoben;Hochhäuser sind erlaubt; mini-

denden Einschnitt in der Ent-wicklung Zürichs dar. Nach demWeltkrieg brachten die Fünfziger-jahre den nächsten Wachstums-schub für die Industrie im RaumZürich und in den Sechzigerjah-ren wurde der Finanzsektor zumdynamischsten Wirtschaftszweigder Stadt. Ende der Sechzigerjah-re begann ein tiefgreifender Struk-turwandel. Produktionsprozessewurden zunehmend rationalisiertund automatisiert, die Ferti-gungstiefe begann allmählich zusinken. Auslagerung, neue Orga-nisationsformen und sinkendeBeschäftigtenzahlen waren dieFolgen. Mit zunehmender Tech-nologisierung, Just-in-time-Logi-stikkonzepten und schlanken Pro-duktionsorganisationen verringer-te sich der Flächenbedarf für dieProduktion.

Industrieflächen werden frei

Die Liberalisierung des Welthan-dels, tiefe Transportkosten unddie zunehmende Mobilität derProduktionsfaktoren (Arbeits-kräfte, Kapital und Know-how)ermöglichen eine neue räumlicheArbeitsteilung. ArbeitsintensiveProduktionsprozesse wurden insAusland verlagert, Management,Marketing sowie Forschung undEntwicklung verbleiben in Zürichoder in der Schweiz. HochwertigeDienstleistungen verdrängen Dis-tribution oder Fertigung an denRand der Agglomerationen; In-dustriebrachen bleiben zurück.

Von der Stadtplanung zurStadtentwicklung

Infolge der grossen Nachfragenach Raum für Dienstleistungenin den Achtzigerjahren erhöhtesich der Druck, die brachfallen-den Industriezonen für die An-siedlung von Dienstleistungsbe-trieben zu öffnen. Es waren dieZeiten der Hochkonjunktur. EineStudie der Bank Bär hatte einenenormen Flächenbedarf für denZürcher Finanzsektor prognosti-

Zürich spielt erfolgreich mit iminternationalen Standortwett-

bewerb. Das regionale Produk-tions- und Dienstleistungssystemhat sich erfolgreich umstruktu-riert. Dabei spielt das Zürcher«Industriequartier», das sich vomHauptbahnhof bis zum Hard-turmstadion erstreckt, eine wich-tige Rolle. Der innere Gebietsteilist gekennzeichnet durch die ehe-maligen Wohnquartiere der Ar-beiter mit Blockrandbebauungund Innenhöfen, im äusseren Teilliegen die alten Industriegebiete.Diese entwickeln sich im Momentrasant zum lebendigen, pulsieren-den Stadtteil Zürich-West. Er giltals trendigstes und dynamischstesWachstumsgebiet Zürichs. DieseEntwicklung und vor allem ihreGeschwindigkeit erstaunen ange-sichts der jüngsten Geschichte.Anfang der Neunzigerjahre färb-te die grösste offene DrogenszeneEuropas hinter dem Hauptbahn-hof auch auf das Image vonZürich-West ab. Die drohendeVerarmung der Kernstädte präg-te das Bild der «A-Stadt»: Derzahlungskräftige Mittelstand zogaufs Land; Arme, Arbeitslose,Auszubildende, Alleinerziehende,Alte, Ausländer blieben zurück.

Im 19. Jahrhundert stellte dieIndustrialisierung einen entschei-

Nachhaltigkeit in Boomtown?

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Dr. Alain Thierstein ist Professor,Bettina Tschander wissenschaftli-che Mitarbeiterin am Institut fürOrts- Regional- und Landespla-nung der ETH Zürich.

Zurzeit herrscht Boom in Zürich-West. Aufbruchstimmung, neueUrbanität, Kultur, Dienstleistung,und Off-Kultur machen Zürich-West zur Trendstadt. PulsierendesLeben statt Industriebrache – wiekann diese Entwicklung nachhal-tig gestaltet werden?

VON ALAIN THIERSTEIN UND

BETTINA TSCHANDER

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15ZÜR ICH -WEST

style, Entertainment und NewEconomy: Löwenbräu, Steinfels,Sulzer-Escher-Wyss, Maag oderSchoeller. Neben Kunst, Kultur,Medien und neuem städtischemWohnen gab es schon früh auchPläne für industrienähere Nut-zungen. Der Technopark Zürichsteht für die technologische Er-neuerung einer Stadt und ist derIdee verpflichtet, Forschung undwirtschaftliche Umsetzung zu-sammenzubringen.

die Nachfrage fehlte. Dies hattezu einem enormen Leerstand beiden Büroflächen und zu einemPreiszerfall auf dem Immobilien-markt geführt. In Zeiten wirt-schaftlicher Unsicherheit spielenertragsschwächere Nischen- undPioniernutzungen eine zentraleRolle. Sie «testen» den Markt, in-dem sie brachliegenden Gebietenzu einem neuen Image verhelfenund damit die Unsicherheit fürnachfolgende Grossinvestitionen

male, teils transportierbare Frei-flächenziffern wurden festgelegt;die Unterscheidung von Dienst-leistung, Industrie und Gewerbewird aufgehoben und nur ein ge-ringer Wohnanteil von 20 bis 30Prozent vorgegeben; Industriezo-nen beschränken sich auf effektivproduktionsbezogene Gebiete.

Stadtforum und kooperativeEntwicklungsplanung

Mit den im Umfeld der BZO 92entbrannten Grabenkämpfenzwischen Wirtschaft und Stadtum Stadtplanung und baurechtli-che Grundsätze war das politischeKlima vergiftet worden. In Zürichwurde ein Defizit an Kommuni-kation festgestellt. Das Stadtfo-rum, 1996 vom Stadtpräsidentenins Leben gerufen, konzentriertesich auf die Kreise 4 und 5. Ausdiesem breit abgestützten Ge-sprächsprozess gingen Leitsätzezur städtebaulichen Aufwertung,Projektideen sowie die Idee für ei-ne kooperative Stadtentwicklunghervor. Auf Initiative einiger gros-ser Grundeigentümer wurde imFrühjahr 1998 eine kooperativeEntwicklungsplanung ins Lebengerufen. Im Laufe eines Jahresentwickelten sowohl die Grund-eigentümer wie die Stadt Vorstel-lungen zur künftigen Entwick-lung von Zürich-West. Eine Phase A aus dem Jahre 1999 be-inhaltet materielle und operativeZiele der Gebietsentwicklung, die anzuwendenden Grundsätzeund Kriterien – insbesondere zurNachhaltigkeit – sowie die Orga-nisation bzw. die Form der Zu-sammenarbeit. Phase B beinhaltetdie konzeptionelle Umsetzung,die Phase C schliesslich die Reali-sierung konkreter Projekte.

Zwischennutzungen bereitenTrendquartier vor

Mit dem Einsetzen der Rezessionzu Beginn der Neunzigerjahrewurde auch der Tertiärsektor vonRationalisierungen betroffen.Gleichzeitig drängten in den Ach-zigerjahren begonnene Grosspro-jekte mit ihrem Flächenangebotauf den Markt, für das zusehends

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Zurzeit herrscht Boom inZürich-West. Die Geschwindig-keit der Veränderungen steht inkrassem Missverhältnis zur Le-bensdauer der Bausubstanz. Wiekann dem Entwicklungsprozessin Zürich-West mehr Nachhaltig-keit verliehen werden?

Kehrseite des Booms

Aufschwung bringt Mehrver-kehr. Zürich-West ist mit sechs S-Bahnlinien, Flughafen und Au-tobahnanschluss regional undnational sehr gut erschlossen. DieVerbindungen mit der übrigenStadt sind jedoch infolge der La-ge zwischen Limmat und Bahn-geleisen auf wenige meist sehrstark befahrene Achsen be-schränkt. Gleichzeitig ist diese Er-

verringern. In leer stehendenIndustrie- und Gewerbegebäudensiedelten sich Zwischennutzun-gen an. Neue Klubs, Galerien undBars entstanden, billiger Wohn-raum wurde zur Verfügung ge-stellt, Ateliers und Lofts wurdeneingerichtet, Kreative und Künst-ler fanden Lebens- und Arbeits-raum, Kleinbetriebe richteten sichihre Werkstätten ein. «Urbanität»entsteht durch dieses Offene, Da-zwischenliegende, Unbestimmteund Unberechenbare.

Heute sind die entstandenenIndustriebrachen jedoch nichtmehr unbestrittenes Territoriumder Off-Kultur. Nur noch die Na-men traditionsreicher Industrie-familien symbolisieren heute dieneue Realität von Kultur, Life-

Soziales

Nach-haltigeWirkung

Ethischer Rahmen

ÖkologieWirtschaft

Politik und

Entscheidungsprozesse

Die UmweltdimensionDie sozial-kulturelleDimensionDie wirtschaftliche Dimension

Diversität als StrukturmerkmalSubsidiaritätals StrukturmerkmalPartnerschaft undNetzwerkeals StrukturmerkmalBeteiligungals Strukturmerkmal

Gerechtigkeit zwischen IndividuenGerechtigkeit zwischen RegionenGerechtigkeit zwischen Generationen

Die Nachhaltigkeitsblume

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16 ZÜR ICH -WEST

ein komplexes Gebilde ist, dasman auch als «Externalitäten-Organismus» bezeichnen kann.Urbanität erzeugt mit anderenWorten eine Reihe von unter-schiedlichen externen Vorteilenund Nachteilen, die also demeigentlichen Verursacher nichtdirekt angelastet werden und häu-fig auch nicht zugerechnet werdenkönnen. Ziel für urbane Räumesollte es sein, Lebens- und Wirt-schaftsräume zu schaffen oder zuerhalten, die von ihren Funkti-onseigenschaften her in der Lagesind, die Nachhaltigkeit zu unter-stützen und zu verstärken. Urba-ne Nachhaltigkeit bedeutet nichtAbkopplung, Isolation oder Ver-inselung gegenüber globalenProzessen. Vielmehr liegt dieHerausforderung darin, global-lokale Beziehungen aufzubauenund die Entwicklung eines Bewusst-seins der «Glokalität» voranzu-bringen, die ihrerseits im Erge-bnis zu nachhaltigerem Verhaltenführen.

Als Bewertungsinstrumentedienen einerseits Indikatoren fürdie nachhaltige Stadtentwick-lung. Anderseits wird mit demweiter vorne abgebildeten Prüf-raster («Nachhaltigkeitsblume»),ein handlungsorientiertes Vorge-hen gewählt, das bewusst dieBedürfnisse der lokalen undregionalen Anspruchsgruppen insZentrum rückt. Die zehn auf-geführten Prüfelemente überneh-men die Rolle einer «Vollständig-keitsprüfung», die erst im Dialogmit den betroffenen Anspruchs-gruppen zu einer handlungslei-tenden Antwort führen können.

Nachhaltigkeit ist im Kerneine politische Aufgabe und weitweniger eine technische odergestalterisch-planerische Aufga-be. Die Wissenschaft kann Ziel-,System- und Umsetzungswissenbereitstellen. Die grössten Hin-dernisse für eine nachhaltigereEntwicklung liegen jedoch imMangel an institutionellen Me-chanismen zur Entwicklung undImplementierung einer Nachhal-tigkeitspolitik in lokalen Kon-texten.

nicht auf die Bedürfnisse des neuentstehenden Quartiers ausge-richtet. Zum Beispiel haben neuepublikumsintensive Einrichtun-gen wie Cinemax und Schauspiel-haus-Schiffbau zu neuen Anfor-derungen an den Raum Hard-strasse/Hardbrücke geführt. Zu-dem verläuft der Entwicklungs-prozess von Zürich-West in un-terschiedlichen Zeitabläufen; dieKoordination zwischen der Aus-gestaltung des öffentlichenRaumes und dem Bezug von neuerstellten Bauten bereitet Proble-me; Friktionen und Sachzwängesind die Folge.

Nachhaltige Entwicklung?

In dieser Situation der turbulen-ten Unübersichtlichkeit hat dieprivate Hamasil-Stiftung, selberGrundeigentümerin in Zürich-West, die Zusammenarbeit mitdem Fachbereich Raumordnungdes ORL-Instituts der ETHZürich gesucht. In einer drei Jah-re dauernden Kooperation soll dieFrage geklärt werden, inwiefernman für ein einzelnes Stadtquar-tier überhaupt spezielle Aussagenzur Nachhaltigkeit machen kann.Oder muss vielmehr ein weitergefasster räumlicher Perimeter ge-wählt werden, der erst eine sinn-volle Abwägung der drei Nachhal-tigkeitsdimensionen Wirtschaft,Ökologie und Sozialwelt erlaubt?

Dabei geht das Projekt davonaus, dass Aussagen zur nachhalti-gen Entwicklung stets relativ zuverstehen sind. Eine bestimmteEntwicklung, eine räumliche Si-tuation ist nicht per se «nachhal-tig» oder «nichtnachhaltig». Pro-duktiv sind vielmehr Aussagen infolgender Art: Ein bestimmtes po-litisches oder privates Vorhaben,ein Programm oder ein Projekt be-sitzt Eigenschaften, die geeignetsind, das Ziel der nachhaltigenEntwicklung eher zu befördernund zu unterstützen, oder aber imanderen Falle eher gegenteiligeund hindernde Wirkung zu ent-falten.

Nachhaltige Entwicklung imurbanen Raummassstab musssich bewusst sein, dass eine Stadt

schliessungssituation aber auchein Pferdefuss, indem die Ansied-lung überregional ausstrahlenderNutzungen ohne flankierendeMassnahmen zum Zusammen-bruch des Verkehrssystemsführen dürfte. Die kantonalenVerbindungsachsen sind zu Spit-zenzeiten bereits heute überlastet,und die Immissionen mit Luft-schadstoffen und Lärm liegenüber den gesetzlichen Grenzwer-ten. Laut einer Potenzialstudie der

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Fachstelle für Stadtentwicklungist in Zürich-West mit 24000 zu-sätzlichen Arbeitsplätzen und mitbis zu 7000 weiteren Einwohnernzu rechnen. Die erwartete Ent-lastung der Pfingstweidstrassedurch die Westumfahrung (Üetli-bergtunnel) wird durch die prog-nostizierte Zunahme des Quell-und Zielverkehrs in Zürich-Westinfolge publikumsintensiver Nut-zungen wieder wettgemacht. DieBelastung durch den motorisier-ten Individualverkehr kommt inKonflikt mit dem Ziel, in Zürich-West auch ein hochwertigesWohnangebot mit intaktem städ-tischem Umfeld zu erreichen. DasWohnangebot aber ist direkt ver-knüpft mit Aspekten der Umfeld-qualität und Sicherheit, die auchfür die neuen kulturellen Nutzun-gen von Bedeutung sind.

Neben der Verkehrsinfra-struktur sind aber auch weitereInfrastrukturen wie Einkaufsge-schäfte, Schulen, das Angebotund die Gestaltung der Freiräumesowie die öffentliche Beleuchtung

Im Trendquartier Zürich-West: Technologische Erneuerung und Kultur und Lifestyle treffen sich.

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18 ZÜR ICH -SCHWAMEND INGEN

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Zukunftswerkstatt unter der LupeBezüge zwischen globaler Aus-gangslage und lokalem Handelnthematisiert werden.

Globale Hintergründe

Wie kommt es also dazu, dass alsFolge einer UN-Konferenz 1992in Brasilien Jahre später inZürich-Schwamendingen inten-siv über nachhaltigen Konsumund über ein regionales Frisch-warenangebot diskutiert wird?Grundlegend für die weltweiteDiskussion war der 1987 veröf-fentlichte Bericht der UN-Welt-kommission für Umwelt und Ent-wicklung, der, nach der damali-gen Präsidentin der KommissionBrundtland-Bericht genannt, be-rühmt wurde. Dieser Berichtdefiniert nachhaltige Entwick-lung als Entwicklung, die ge-

lung lancierte in diesem Quartierzudem ein Projekt mit verschie-denen Massnahmen zur Gebiets-aufwertung. So nahmen im No-vember 1999 112 Personen an dendrei Foren «Arbeiten und Einkau-fen», «Wohnen» und «Zusam-menleben» aktiv teil. In diesenForen wurden realisierbare Pro-jekte entwickelt wie zum Beispielein Frischwarenmarkt, eine Last-Minute-Stellenbörse oder eine Kulturbeiz.

Umsetzung verbessern

Die Sozialforschungsstelle derUniversität Zürich bearbeitet zurzeit einen Evaluationsauftrag,der sich darauf bezieht, Wahrneh-mungen und Erwartungen derverschiedenen Projektbeteiligtenund der Bevölkerung hinsichtlichder abgelaufenen Prozesse zu ana-lysieren. Aus der Gegenüber-stellung der in Dokumenten festgehaltenen und von Projekt-verantwortlichen geäusserten Pro-jekterwartungen mit den wahr-genommenen «Projektwirklich-keiten» verschiedenster Beteiligterwerden Hinweise für die Verbes-serung der Umsetzung der Prozes-se nachhaltiger Entwicklung er-wartet. Ergebnisse werden im Fol-genden jedoch keine vorgestellt:Die Untersuchung, um die es geht,befindet sich noch in der Phase derDatenerhebung. Ziel ist vielmehr,den inhaltlichen Bezugsrahmenund die Vorgehensweise im Rah-men einer kleinen sozialwissen-schaftlichen Evaluationsstudie imUmweltbereich zu zeigen.

Der von der Zürcher Fachstel-le für Stadtentwicklung gestarte-te Prozess der Gebietsaufwertungin Zürich-Nord und die dortdurchgeführten konkreten Pro-jekte sind auf dem Hintergrundweltweiter Bemühungen vonStädten zu sehen, an der Zu-kunftsfähigkeit urbaner Lebens-räume im Sinne nachhaltigerEntwicklung zu arbeiten. ImFolgenden sollen deshalb auch die

S chwamendingen ist ein Stadt-quartier, das sich in einem

intensiven gesellschaftlichen undbaulichen Umbruch befindet. Esleidet unter der Verkehrsbelas-tung; der Anteil von Kindern undJugendlichen sowie von älterenMenschen ist deutlich über demstädtischen Durchschnitt, und dieZunahme der ausländischenWohnbevölkerung birgt Kon-fliktstoff. Dennoch ist es auch einQuartier, dessen Bewohnerinnenund Bewohner sich zunehmenddagegen wehren, abgetan zuwerden als «dumpftrübtassige,nichthochschulabschlussbesit-zende Spiesser und Alte-Auslän-der-Ausgesteuerte-Arbeitslose-Alleinerziehende-verachtendeHarry Haslers» (Euses Schwame-dinge Nr. 7, 14. September 1999).

Es gibt in Schwamendingenbeispielsweise einen sehr aktivenQuartierverein, der ein Quartier-leitbild erarbeitet hat. Die Zür-cher Fachstelle für Stadtentwick-

Dr. Heinz Gutscher ist Ordentli-cher Professor für Sozialpsycholo-gie an der Universität Zürich,lic. phil. Jürg Artho ist Projektmit-arbeiter an der dortigen AbteilungSozialpsychologie l.

Mit dem Projekt «ZukunftsfähigesZürich» hat die Stadt Massnah-men zur nachhaltigen Entwicklungin Angriff genommen, wie sie ander Konferenz für Umwelt und Ent-wicklung 1992 in Rio formuliertwurden. Die Sozialforschungsstel-le der Universität Zürich evaluiertmomentan ein Teilprojekt inZürich-Schwamendingen. Ein Un-terfangen nicht ohne Schwierig-keiten, da ein allgemein aner-kanntes Indikatorensystem zurBeurteilung von Nachhaltigkeitimmer noch fehlt.

VON HEINZ GUTSCHER

UND JÜRG ARTHO

Sozialforschungsstelle

Die Sozialforschungsstelle der Uni-versität Zürich (SFS) ist eine Einheitder Abteilung Sozialpsychologie, diesich aus Forschungsaufträgenselbst finanziert. Die Forschungs-stelle akquiriert sozialwissenschaft-liche Projekte aus sehr unterschied-lichen Themenfeldern und arbeitetmit dem gesamten Spektrum sozial-wissenschaftlicher Erhebungs- undAnalysemethoden. Sie unterhältKontakte zu einem internationalenForschungsnetzwerk zur Evaluationvon Interventionen im Bereich Um-welt und Nachhaltigkeit. Die For-schungsstelle ist eine Ausbildungs-und Qualifizierungsplattform für Mit-arbeitende und Studierende. Dasvorliegende Projekt wird bearbeitetvon Jürg Artho (Leiter), Carlo Fabian(methodische Beratung) und Doro-thea Schaffner (studentische Mitar-beiterin). Es wird diesen Mai abge-schlossen.

Adresse: Sozialforschungsstelle der Universität Zürich Plattenstrasse 14 8032 Zürich Telefon 01 634 21 23 / 634 21 10 / 634 21 13, Fax 01 634 49 31

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19ZÜR ICH -SCHWAMEND INGEN

bar gemacht werden. In der Agen-da 21 wird in diesem Zusammen-hang sowohl die Führungsrolleder kommunalen Verwaltungenals auch die Mitbeteiligung derBürger betont; der Schwerpunktder «Policy»-Instrumente liegt beikommunikativen Vorgehenswei-sen, die auf Konsultation, Dialog,Konsens und Freiwilligkeit bau-en. Ziel dabei ist es, das Selbst-hilfe- und Entwicklungspotenzialder Bevölkerung dazu zu nutzen,

halt. Nachhaltigkeit erreichte da-mit den Rang einer Verfassungs-bestimmung. Auch der Bundesratkonkretisierte 1997 seine diesbe-züglichen Bestrebungen in einemDokument zur Strategie zurFörderung der nachhaltigenEntwicklung. Die 1999 in einerVolksabstimmung angenomme-ne Bundesverfassung sieht vor,dass der Bund die nachhaltigeEntwicklung fördert.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Die hohe Verkehrsbelastung ist einesder Probleme der Bevölkerung inZürich-Schwamendingen. Im Wohnge-biet entlang der Autobahn RichtungSt.Gallen und Kloten übersteigt derLärm die gesetzlichen Emissions-grenzwerte bei weitem.

Ein Schlüsselthema der Agen-da 21 sind die Städte. Auf ihreRolle wird insbesondere im Kapi-tel 28 ausführlich eingegangen.Die Städte und Ballungsagglome-rationen sind die Orte, in denendie Probleme der ökologischen,sozialen und wirtschaftlichen Kri-sen der Gegenwart und Zukunftgelöst werden müssen. HeutigeStädte sind mit einer bis dato nichtgekannten und ökologisch nichtverkraftbaren Zunahme an Ener-gie-, Material-, Wasser-, Boden-und Landschaftsverbrauch belas-tet; in ihnen verschärfen sich dieWidersprüche ökologischer, so-zialer und ökonomischer Ent-wicklungen.

Zur Überwindung der Proble-me soll die Innovationskraft derStadtbewohnerinnen und Stadt-bewohner mobilisiert und nutz-

lokale Lebensqualität zu erhaltenund weiterzuentwickeln. Das Ent-scheiden und Handeln auf der lo-kalen Ebene soll in dem Sinnenachhaltig werden, als es mög-lichst gleichzeitig zu einer funk-tionierenden Wirtschaft, einer so-lidarischen Gesellschaft und einerintakten natürlichen Umweltbeiträgt.

Schwieriger Nachweis

Bei konkreten Massnahmen dieBalance zwischen diesen teilweiseauseinanderstrebenden Zielvek-toren zu finden, ist allerdings ein

währleistet, dass die Bedürfnisseder heutigen Generation befrie-digt werden, ohne die Möglich-keiten künftiger Generationen zurBefriedigung ihrer eigenen Be-dürfnisse zu beeinträchtigen.

Der Gang der Entwicklungwird damit einerseits klar auf dieBedürfnisse von Menschen ausge-richtet, andererseits durch dieForderung, auch Bedürfnissekünftiger Generationen zuberücksichtigen, begrenzt. DiesesPrinzip der intergenerationellenGerechtigkeit wurde weithin ak-zeptiert. Die sich daraus ergeben-de Schwierigkeit, ökologische,ökonomische und soziale Ziele in-tegrieren zu müssen, führte aller-dings zu einer bis heute nicht ab-geschlossenen, vielschichtigenwissenschaftlichen Debatte. Ander Konferenz für Umwelt undEntwicklung (UNCED) 1992wurden verschiedene umset-zungsorientierte Dokumente ver-abschiedet, unter anderem die sogenannte Agenda 21. Sie wurdevon 178 Ländern unterzeichnet,auch von der Schweiz.

Nachhaltige Massnahmen

Die Agenda 21 enthält in vierzigKapiteln Vorschläge für Mass-nahmen in den Bereichen wirt-schaftliche und soziale Entwick-lung, Bewirtschaftung und Erhal-tung der natürlichen Ressourcen,Stärkung der Solidarität und an-deres mehr. Die unterzeichnendenStaaten verpflichteten sich, bis1996 mit allen Gruppierungen ih-rer Bürgerschaft in einen Konsul-tationsprozess einzutreten. Diesmit der Absicht einer Konsensfin-dung zur lokalen Umsetzung derZiele der Agenda. 1997, im Bi-lanzjahr «Rio + 5», musste trotzbreiter Bemühungen ein dras-tisches Umsetzungsdefizit kon-statiert werden.

Immerhin fand im selben Jahrim Rahmen des so genannten Ams-terdamer Vertrags der Grundsatzder Nachhaltigkeit innerhalb derEU Aufnahme in die Präambel undZiele desEU-Vertrags – gleichran-gig mit wirtschaftlichem Wachs-tum und sozialem Zusammen-

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20 ZÜR ICH -SCHWAMEND INGEN

der Fachstelle für Stadtentwick-lung und des Gesundheits- undUmweltdepartements. Begleitetwird es von einer Gruppe vonPersönlichkeiten aus Wirtschaft,Politik, Wissenschaft sowie vonVertreterinnen und Vertretern derBevölkerung, sozialer Institutio-nen und der Umweltverbände, diezusammen den Rat für nachhal-tige Entwicklung bilden.

«Zukunftsfähiges Zürich» be-steht aus drei konkreten Umset-zungsprojekten in den BereichenVerkehr, Gebietsaufwertung undVerwaltung. Das Teilprojekt,welches Gegenstand unserer Eva-luation ist, hat zum Ziel, dasQuartier Schwamendingen unteraktiver Beteiligung lokaler Bevöl-kerungsgruppen im Sinne einernachhaltigen Entwicklung aufzu-werten. Zentrale Partizipations-gefässe sind die erwähntenSchwamendinger Foren.

Wissenschaftliche Bestandesaufnahme

Der Evaluationsauftrag wurdeeingeschränkt auf eine Bestandes-aufnahme der wahrgenommenenProzesse, Strukturen, Mittel undErgebnisse der «Gebietsaufwer-tung Schwamendingen», und aufeinen Vergleich dieser Bestandes-aufnahme mit den vor Projekt-beginn schriftlich formuliertenErwartungen der Projektleitung«Zukunftsfähiges Zürich», derLeitung von «GebietsaufwertungSchwamendingen» und der Pro-jektkoordinatorinnen. Zudem isteine Gegenüberstellung dieserBestandesaufnahmen mit Exper-tenerwartungen an einen LA21-Prozess geplant. Für die Evaluati-on der Arbeit des Rates für nach-haltige Entwicklung wird einVergleich von in den Projekt-dokumentationen definierten Er-wartungen mit den Erwartungenund Wahrnehmungen der Pro-zessbeteiligten angestrebt.

Damit erfüllt diese Evaluationim Wesentlichen die Funktioneneiner Konsistenzprüfung. EineZielerreichungsmessung ist imRahmen dieses Projektes nur soweit vorgesehen, als in den

sehr schwierig zu lösendes Pro-blem. Zur Beurteilung konkreterMassnahmen fehlt nämlich einallgemein anerkanntes, wissen-schaftlich begründbares und in-ternational vergleichbares Indi-katorensystem, welches es erlau-ben würde zu entscheiden, wieviel eine Massnahme etwa zurökologischen oder sozialen oderökonomischen Nachhaltigkeitbeiträgt.

Für Variantenentscheidungenergibt sich zusätzlich das Problemder Integration von Daten unter-schiedlicher Masseinheiten. Einsolches international koordinier-tes, aussagekräftiges Indikatoren-system zu entwickeln, ist eine imKapitel vierzig der Agenda 21 er-wähnte Aufgabe der Unterzeich-nerstaaten; eine Lösung ist zur-zeit aber erst in Ansätzen sichtbar.Damit wird die Aufgabe nicht nurfür die lokalen Umsetzungsver-antwortlichen, welche über Mass-nahmen entscheiden müssen,sondern auch für die wissen-schaftliche Evaluation erschwert.Die Planung, Verwirklichung undEvaluation von Schritten in Rich-tung Nachhaltigkeit stellt sich so-mit als ein wenig exploriertes, rie-siges Lern- und Experimentierfelddar. Entsprechend gilt es, auf derGrundlage der besten verfüg-baren Information einerseits dasHandeln zu wagen, andererseitsaber auch stets die Effekte (undNebeneffekte) des Handelns imAuge zu behalten. Das ist – ver-kürzt – die Aufgabe der Evalua-tionsforschung (siehe KastenEvaluation).

«Zukunftsfähiges Zürich»

Doch kehren wir zurück zu denkonkreten Massnahmen: DieStadt Zürich hat mit dem Projekt«Zukunftsfähiges Zürich» dieUmsetzung der Agenda 21 auf lo-kaler Ebene in Angriff genom-men. Ziel der lokalen Agenda 21(LA21) ist es, lokales Handelnnach bestimmten Kriterien zupropagieren, um global ein StückZukunftssicherheit zu schaffen.Das Projekt «ZukunftsfähigesZürich» steht unter der Leitung

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Stichwort «Evaluation»

Angesichts der vielfältigen Unwäg-barkeiten bei den Vorgehensweisenzur Umsetzung von Nachhaltigkeits-prozessen stellt Evaluation ein an-spruchsvolles und wichtiges inter-disziplinäres Forschungsgebiet dar.Damit eröffnet sich auch ein zu-kunftsträchtiges Berufsfeld für insozialwissenschaftlicher Methodikprofessionell ausgebildete Absol-ventinnen und Absolventen der Uni-versität.

Welches sind wichtige Funktionenvon Evaluationen im Umweltbereich?

1. Konsistenzprüfung: Evaluationenkönnen vor, während und nach derImplementierung umweltpolitischerMassnahmen eingesetzt werden,um die Konsistenz der Umsetzungs-aktivitäten mit den vorgegebenenZielen zu überprüfen. Sie dienen da-mit der Koordination der beteiligtenAkteure und bieten ihnen eine Feed-back-Schleife.

2. Schwachstellen-Analyse: Evalua-tionen können Anregungen zur Ver-besserung von Programmkonzeptenund deren Umsetzung liefern,Schwachstellen aufzeigen und die Ef-fektivität und Effizienz der Program-me deutlich erhöhen.

3. Zielerreichungsmessung: Als Teil ei-nes umweltpolitischen Implementie-rungsprozesses bieten Evaluationeneine Erfolgsmessung und -kontrolle.Daraus abgeleitet dienen sie häufigder Legitimation bei der Verwendungöffentlicher Mittel sowie der Kon-trolle der Mittelvergabe.

4. Moderationsfunktion: Aufgrundihrer neutralen Stellung fassen Eva-luationen die Einzelperspektiven derbeteiligten Akteure in einem Ge-samtbild zusammen und tragen zu ei-nem Austausch der Sichtweisen bei.

5. Organisiertes Lernen: Evaluatio-nen können einen organisiertenLernprozess aller an einem Pro-gramm Beteiligten einleiten und zurSteigerung der Motivation beitragen.

6. Verbreitungsfunktion: Durch eineVeröffentlichung der Evaluations-ergebnisse kann eine Weiterverwer-tung der Erfahrungen in der Pro-grammkonzeption und Umsetzungund damit ein überregionaler Er-fahrungsaustausch zur Steigerungder Effektivität und Effizienz umwelt-politischer Interventionen initiiertwerden.(Nach Meyer & Martinuzzi, 2000)

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22 ZÜR ICH -SCHWAMEND INGEN

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

die Lösung der Aufgabe, in die-sem minimal finanzierten Projektdurch pragmatisches Vorgehenund Kompromissbereitschaft einMaximum an brauchbaren Er-gebnissen herauszuholen, nichtnur ein Ausbildungsziel dar, son-dern auch eine lehrreiche Heraus-forderung für alle universitärenund studentischen Projektbetei-ligten.

LITERATUR

Hahn, E., La Fond, M.: Lokale Agenda 21 und

Ökologischer Stadtumbau, Wissenschafts-

zentrum für Sozialforschung, Berlin 1996

Kaufmann-Hayoz, R., Gutscher, H. (Hg.):

Changing things – moving people. Strate-

gies for promoting sustainable develop-

ment at the local level, Basel (im Druck)

Meyer, W., Martinuzzi, A.: Evaluationen im

Umweltbereich – Ein Beitrag zum Nach-

haltigen Wirtschaften, Vierteljahresschrif-

ten des Deutschen Instituts für Wirtschafts-

forschung, November 2000

Rossi, P. H., Freeman, H. E., Lipsey, M. W.:

Evaluation: A systematic approach (6th

edition), CA: Sage Publications 1999

chem Masse und durch unter-schiedliche Medien informiertwurden, sich bezüglich der Wahr-nehmung und der Beurteilung desProjektes unterscheiden. SolcheErgebnisse lassen sich zur Opti-mierung der Kommunikations-und Diffusionsprozesse nutzen.

Da aus finanziellen Gründenauf ein quasi-experimentelles Vor-gehen mit vergleichbaren quanti-tativen Vorher- und Nachher-Messungen und Vergleichsgrup-pen verzichtet werden musste,stellt die schliesslich realisierteVorgehensweise einen (schmerzli-chen) Kompromiss dar, der nichtam State-of-the-Art evaluations-methodischer Vorgehensweisengemessen werden darf. Durch diesorgfältige Erwartungsanalysewird aber für die Konzeption undGewichtung insbesondere vonIndikatoren der sozialen Nach-haltigkeit nötige Grundlagenar-beit geleistet. Die Spannung, wel-che in diesem Projekt zwischenwissenschaftlich Wünschenswer-tem, theoretisch Möglichem undtatsächlich Machbarem besteht,wirkt auch stimulierend: So stellt

Erwartungen auch konkrete Zielefestgehalten sind. Die Messungund Beurteilung von ökologi-schen oder ökonomischen Indi-katoren ist dagegen nicht Gegen-stand des Projektauftrages. Imweiteren deckt diese Evaluationgewisse Aspekte einer Modera-tionsfunktion (siehe Kasten Eva-luation) ab.

Erwartungen analysieren

Die Ergebnisse werden Angabendarüber liefern, welche Erwar-tungen an eine LA21 tendenziellerfüllt beziehungsweise ent-täuscht wurden. Trotz einge-schränkter Repräsentativität sindbrauchbare Hinweise hinsichtlichdes Ausmasses der Partizipationund der Durchdringung der Be-völkerung mit den Anliegen derProjektbetreiber zu erwarten.Durch die differenzierte Befra-gung von einzelnen Personen-gruppen können Hinweise für dieKonzeption von thematisch undmethodisch verwandten Projek-ten gewonnen werden. So ist bei-spielsweise zu erwarten, dass Per-sonen, welche in unterschiedli-

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23FLUGHAFEN ZÜR ICH

Raumplanung im Clinch?befahrene Hochleistungsstras-sennetz der Schweiz. Bei solchhoher Standortgunst arbeiten undwohnen entsprechend viele Leu-te. In der «Glatttalstadt» südlichdes Flughafens und in Zürich-Nord werden nun die grossenEntwicklungsgebiete in einemraschen Tempo überbaut. Diese

nung drückte es in seiner Analysebeispielhaft aus: «Betrachtet mandie Siedlungsentwicklung, wur-den die Dörfer rund um den Flug-hafen regelrecht von diesemwachgeküsst». Täglich aus demSchlaf gerüttelt werden heute dieBewohnerinnen und Bewohnerder Gemeinden im Norden des

In der Projektwoche «Raum-beobachtung» des berufsbeglei-

tenden Nachdiplomstudiums inRaumplanung der ETH unter-suchten «Professionals» aus ver-schiedenen Disziplinen und Tätig-keitsfeldern Perspektiven derFlughafenregion Zürich. Ihr Fa-zit: Der heutige Flugbetrieb be-wegt sich aus raumplanerischerSicht am Lärmoptimum. Doch esgibt Verbesserungsmöglichkei-ten, wenn die Regierung sich eineräumliche Entwicklungsstrategiezu Grunde legt.

Motor und Bremse derSiedlungsentwicklung

Die Siedlungsentwicklung in derFlughafenregion und der Ausbaudes Flughafens Zürich fanden inden letzten 50 Jahren in gegensei-tigem Kräftemessen statt. Manwurde gemeinsam stark. HaraldWoermann, Gesamtverkehrsko-ordinator im Kanton Obwaldenund berufsbegleitend Student imNachdiplomstudium Raumpla-

Georg Thomann absolvierte ander ETH das Studium als Um-weltingenieur. Er ist seit rund6 Jahren Mitarbeiter der AbteilungAkustik/Lärmbekämpfung an derEMPA in Dübendorf und leitet dortdie Projekte im Fluglärmbereich.Remo Steinmetz ist Studienleiterfür die Nachdiplomausbildung inRaumplanung am Institut für Orts-, Regional- und Landespla-nung der ETH Zürich.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Flughafen Zürich – was lange derStolz der Region war, wird für im-mer mehr Menschen zur Belas-tung. Nicht mit dir und nicht ohnedich – ist der Konflikt um denFluglärm unlösbar? Fachleute derRaumplanung über alte Sündenund neue Vorschläge.

VON GEORG THOMANN UND

REMO STEINMETZ

Abb. 1: Siedlungsentwicklung muss nicht Gefangene des Flugbetriebs sein.Flughafens durch die Langstre-

ckenflugzeuge, die vor 6 UhrZürich anfliegen. Der Flughafenist raumplanerisch betrachtetgleichzeitig Motor und Bremseder Siedlungsentwicklung (vgl.Abbildung 2).

Im Süden des Flughafens inves-tierten Kanton und Bund kräftigin die Bahninfrastruktur: Wich-tige Haltepunkte sind der Flug-hafenbahnhof, stark frequentierteHaltestellen der S-Bahn sowie derBahnhof Oerlikon mit den meis-ten Zugdurchfahrten der Nation.Aber auch die Hitparade der Ra-dio-Verkehrsmeldungen mit denTiteln «Brüttisellerkreuz», «Schön-eichtunnel» und «Gubristtunnel»belegt: In der Flughafenregionbefindet sich das am dichtesten

Zentrumsgebiete sollen ab 2005durch eine neue Stadtbahn mit-einander verknüpft werden. DerInvestitionsentscheid von 550Millionen Franken in die «Glatt-talbahn» wird die Attraktivitätder Gebiete im Süden des Flug-hafens weiter erhöhen.

Schaut man aber andere Ge-biete in der Flughafenregion miteiner weit geringeren Standort-gunst an, wie es die Teilnehmen-den im NDS Raumplanung taten,ist man erstaunt. In der Gemein-de Höri beispielsweise, die direktin der Anflugschneise des Flugha-fens liegt, wurden in den vergan-genen Jahren vor allem Wohnun-

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24 FLUGHAFEN ZÜR ICH

Lärmzonen des Luftfahrtgesetzesaufgehoben und durch die Rege-lungen des Umweltschutzgesetzesersetzt. Durch diesen System-wechsel wird die Lärmbekämp-fung damit nicht nur zur Aufgabeder Raumplanung, sondern auchdes Lärmverursachers. Jener mussnämlich vorsorglich den Lärm ander Quelle reduzieren (z.B. inForm von Betriebsbeschränkun-gen, Motorenkapselungen) beiÜberschreiten der Immissions-grenzwerte die Anlage sanierenoder den Schallschutz beim Emp-fänger bezahlen.

Da der Betrieb des Flughafensvon grossem öffentlichem Interes-se ist, müssen die Belastungs-grenzwerte nicht eingehalten wer-den. Dem Anlagebetreiber werden

nicht auf der Basis von LBKs,sondern von Lärmzonenplänenbeurteilt (vgl. Box 1). Jene stamm-ten für Zürich aus dem Jahre1982, traten 1987 in Kraft undberuhten auf einer Flugverkehrs-prognose für das Jahr 1991.

Im Mai des letzten Jahres setz-te der Bundesrat die revidierteLärmschutzverordnung in Kraft,welche neu Belastungsgrenzwertefür den Lärm der Landesflughä-fen enthielt. In seinem Entscheid

gen gebaut. Am Vortag eines dro-henden Bauverbotes erhöhte sichder Wohnungsbestand zwischen1990 und 1999 um 30 Prozentoder 216 Einheiten.

Bauen in Lärmgebieten

Bau- und Einzonungsgesuche inlärmbelasteten Gebieten werdenin der Regel mit Hilfe von Lärm-belastungskatastern (LBK) beur-teilt. Der LBK ist ein Instrumentdes Umweltschutzgesetzes (USG),

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 2: Bevölkerung und Flugpassa-giere in der Flughafenregion.Quelle: Amt für Statistik

Bevölkerung und Flugpassagiere in der FlughafenregionZürich (Glatttal und Unterland)

250000 25 Mio.

20 Mio.

Flug

pass

agie

re

Bev

ölke

rung 15 Mio.

10 Mio.

5 Mio.

0

200000

150000

100000

50000

01960

Bevölkerung RegionGlatttal und Unterland

FlugpassagiereZürich Flughafen

1970 1980 1990 1999

Lärmzonen gemäss der Verordnung über die Lärmzonenkonzessionierter Flugplätze(VLkF):

Die Lärmzonen sind ein Instrumentdes Luftfahrtgesetzes (LFG). DasLFG unterscheidet von innen nachaussen die drei Lärmzonen A, B undC mit unterschiedlichen Nutzungs-einschränkungen. Innerhalb derLärmzonen dürfen generell keineneuen Wohngebiete eingezont oderneue lärmempfindliche Bauten (z.B.Spitäler) errichtet werden. Die Lärmzonen stammen aus demJahre 1982, traten 1987 in Kraft undberuhen auf einer zehnjährigenPrognose über den Flugverkehr. Siehätten 1991 angepasst werden müs-sen, was wegen der vermeintlichenAblösung der Regelungen des LFGdurch diejenigen des USG unterlas-sen wurde. Die Grenzen der Lärmzo-nen werden in NNI (Noise and Num-ber Index) angegeben. Der NNI ist einBelastungsmass, welches die An-zahl lauter Ereignisse stärker ge-wichtet als der Beurteilungspegel Lrdes Umweltschutzgesetzes. Im NNIwerden die sogenannten «lärmrele-vanten» Flugbewegungen berück-sichtigt. Als lärmrelevant geltenStarts und Landungen zwischen 6und 22 Uhr mit einem empfundenenMaximalpegel von über 68 dB(A).Somit berücksichtigen der NNI unddamit die Lärmzonen keine Nacht-bewegungen.

genauer der Lärmschutzverord-nung (LSV). In ihm wird die voneiner Anlage (Strasse, Flughafen,Schiessstand usw.) erzeugteLärmbelastung festgehalten. BeiBaubewilligungen oder Neuein-zonungen wird diese mit einemSollwert, dem sogenannten Be-lastungsgrenzwert, verglichen.Wird jener überschritten, so darfnur in Ausnahmefällen gebautoder eingezont werden.

Für den Lärm der Landesflug-häfen fehlten bis vor kurzem sol-che Belastungsgrenzwerte. Bau-und Einzonungsgesuche wurdendeshalb in Basel, Genf und Zürich

stellte der Bundesrat jedoch diewirtschaftlichen Interessen überdiejenigen der lärmgeplagten An-wohner, indem er die von einerExpertenkommission erarbeite-ten Grenzwerte markant anhob.Das Bundesgericht erklärte dage-gen im Dezember des letzten Jah-res die bundesrätlichen Grenz-werte als nicht umweltschutzkon-form und hob sie auf. Bis auf wei-teres gelten nun die Grenzwerteder eidgenössischen Kommissionaus dem Jahre 1997 (vgl. Box 2).

Lärmbekämpfung Sache desVerursachers?

Mit Inkrafttreten von Belastungs-grenzwerten für den Lärm vonLandesflughäfen werden die

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25FLUGHAFEN ZÜR ICH

werken wird nur realisiert, wennsie durch strenge Lärmvorschrif-ten erzwungen wird.

Die Ursache für die massivenEinschränkungen im Bauen und inder Siedlungsentwicklung rundum den Flughafen ist nicht der Sys-temwechsel vom LFG zum USG,sondern die derzeitige Fluglärm-situation. Der Regelmechanismusdes USG stellt nüchtern fest, dassdie Lärmvorschriften nicht einge-halten werden. Missstände wer-

Sie tragen den Preis des Ausbausder nationalen Wirtschaft durchden Flughafen. Dort, wo mangemäss Lärmzonenplanung ein-zonen oder bauen durfte, herrschtheute faktisch ein Einzonungs-oder Bauverbot.

Wie bereits erwähnt, ist derFlughafenhalter aufgrund desübergeordneten öffentlichen In-teresses von der Pflicht der Sanie-rung entbunden. Das Vorsorge-wie auch das Verursacherprinzip

Erleichterungen gewährt. Er mussnicht sanieren. Als Gegenleistungmuss er an Gebäuden mit lärm-empfindlichen Räumen und ex-tremer Lärmbelastung Schall-schutzfenster bezahlen. Der Ein-bau von Schallschutzfenstern istdabei als reine Notlösung zu ver-stehen. Denn sie reduziert ledig-lich den Innenlärm – und dies auchnur bei geschlossenem Fenster.

Trotz Grenzwerten ist somitkeine Verbesserung der Aussen-lärmsituation zu erwarten. ImGegenteil. Die zunehmendenFlugbewegungszahlen führen zuMehrbelastungen, hauptsächlichin den Nachtstunden. Die Leid-tragenden dieser Entwicklungsind die Flughafenanrainerge-meinden und Grundeigentümer.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 3: Flughafen Zürich Kloten,Lärmbelastung Prognose 2010 (nach Abschluss der 5. Ausbauetap-pe, bestehendes Betriebskonzept),Niveaus der Belastungsgrenzwerteder Empfindlichkeitsstufe ES III nachVorschlag der Expertenkommission:

T: Grenzwert Tag, 60 dBN1: Grenzwert 1. Nachtstunde, 50 dBN2: Grenzwert 2. Nachtstunde, 50 dBN3: Grenzwert 3. Nachtstunde, 50 dBDie dargestellten Niveaus der Belastungsgrenzwerte gelten nur fürdie violett unterlegten Gebiete der ES III. Lärmzone (LZ) C gemäss Lärm-zonenplanung.

Quellen:Grenzwerte: BUWAL, Schriftenreihe Umwelt Nr. 296, 1998.Belastungskurven: EMPA, 1998.Empfindlichkeitsstufen: ARV Kt. ZH, Januar 2001.Lärmzone C: gemäss Lärmzonenplanung.

Belastungsgrenzwerte für die Landesflughäfen

Die Belastungsgrenzwerte werdenals Beurteilungspegel Lr in Dezibelangegeben. Sie sind mehrdimensio-nal differenziert: nach Tag- (6 bis 22Uhr) und Nachtperiode und nachEmpfindlichkeit der Nutzung (4 Emp-findlichkeitsstufen [ES].) Die Nachtwird in 3 Einzelstunden unterteilt: 22bis 23, 23 bis 24 und 5 bis 6 Uhr.Auf diese Weise wird versucht, dieSpitzenpegel zu begrenzen. Der Im-missionsgrenzwert (IGW) markiertdie zentrale Grösse bei der Beurtei-lung von Lärmbelastungen. Er legtdie Grenze der gerade noch zumut-baren Lärmstörung fest. Wird er über-schritten, so muss eine bestehendeAnlage saniert werden. Land darfnicht mehr eingezont werden, undBaubewilligungen werden nur noch inAusnahmefällen erteilt. Unter demIGW liegt der Planungswert (PW). Erdient der lärmschutzgerechten Pla-nung und wird damit zum Instrumentder Vorsorge. Es dürfen Bauzonenbezeichnet und neue Anlagen nurdann errichtet werden, wenn die Pla-nungswerte eingehalten sind. Überdem IGW liegt der Alarmwert (AW). Erlegt die Dringlichkeit von Sanierun-gen fest. Lärmbelastungen über demAW gelten als extrem. Sanierungs-und Lärmschutzmassnahmen soll-ten deshalb in Gebieten mit Alarm-wertüberschreitungen so schnell wiemöglich realisiert werden.

FlughafenZürich KlotenLärm-belastungPrognose2010

gelten für ihn dagegen nach wievor. Betriebseinschränkungen inder Nacht würden zu einererheblichen Entlastung der Be-völkerung führen und deutlichgrössere Entwicklungschancenfür Raumplanung erlauben. Effi-zient und nachhaltig lässt sich dieLärmbelastung reduzieren, indemam Ort seiner Entstehung – näm-lich am Triebwerk selbst – direktMassnahmen ergriffen werden.Denn die Lärmreduktion an derQuelle ist aus technischer Sichtsehr wohl möglich. Wirtschaftlichbringt sie jedoch nicht denselbenVorteil, welche die lärmmindern-den Mantelstromtriebwerke ge-bracht haben. Eine Weiterent-wicklung zu noch leiseren Trieb-

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26 FLUGHAFEN ZÜR ICH

Als Idee wurde propagiert, an-stelle von Wohnhäusern in Pis-tennähe ein Casino- und Enter-tainment-Center unter Glas ein-zurichten. Zur Entlastung desSüdens würde auch eine Pisten-verlängerung nach Norden bei-tragen, indem die Flugzeuge diedicht besiedelten Südgemeindenhöher als heute überfliegen oderbereits über dem Flughafenge-lände abdrehen und so dieseGebiete meiden könnten.

Der Norden soll hingegen ineinen Regionalpark umgebautwerden. Ein zusammenhängen-der naturnaher Raum soll entste-hen. Dieser stark lärmbelasteteRaum wird bereits heute für viel-fältige Freizeitaktivitäten genutzt.Teilweise können im Norden be-stehende Wohngebäude auch um-genutzt werden.

Um dies zu erreichen, gilt es,Anreize zu schaffen. Die Verliererdieses Prozesses sollen von denGewinnern entschädigt werden.Es wird vorgeschlagen, durch Er-höhung der Flughafengebühreneinen Fonds zu errichten. Eine zugründende Landesentwicklungs-gesellschaft könnte diesen Fondseinsetzen, um die skizzierteräumliche Strategie zu verwirkli-chen. Sie hilft bei Umsiedlungen,Umnutzungen, Rück- und Um-bauten, Auszonungen und setztdas Regionalparkkonzept um.Dabei kann sie grenzüberschrei-tend handeln und alle Verlierer aneinem Ausgleich teilhaben lassen.

Aus raumplanerischer Sicht istder Landeanflug kritisch, da imGegensatz zu den Starts beim Lan-den der Spielraum bezüglich Flug-verfahren stark eingeschränkt ist.Die bisher praktizierte Nordlan-dung ist kanalisiert und aus Sichtder Siedlungsstruktur weitgehendoptimiert. Eine «Demokratisie-rung» des Fluglärms bringt zwarneuen Räumen zusätzlich Lärm,entlastet die stark belasteten Ge-biete jedoch kaum.

den aufgezeigt, die teilweise seitlangem bestehen und nun korri-giert werden müssen. Damitzwingt das USG die Vollzugs-behörden (Bund und Kanton) so-wie den Anlagebetreiber zu teil-weise schmerzhaften regulieren-den Massnahmen.

Zurzeit sind es die Nordge-meinden, welche aus raumplane-rischer Sicht am härtesten getrof-fen werden. Die Lärmzonenberücksichtigten keine Nachtbe-

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 4: Belastungsgrenzwerte für denLärm von Landesflughäfen.*Die höheren Grenzwerte gelten fürdie erste Nachtstunde.PW: PlanungswertIGW: ImmissionsgrenzwertAW: Alarmwert

ErholungszonenReine WohnzonenWohn- und GewerbezonenIndustriezonen

PW

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Tag Nacht

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wegungen. Das USG beurteilt da-gegen die Lärmbelastungwährend der Nachtstunden sehrstreng. Da der Flugverkehr in den Stunden von 22 bis 6 Uhrhauptsächlich im Norden desFlughafens abgewickelt wird,sind die Auswirkungen dort aucham grössten.

Die Studierenden des Nachdi-plomstudiums in Raumplanungerarbeiteten Strategien, wie indiesem Konfliktfeld zwischenFluglärm und Siedlungsentwick-lung umgegangen werden könn-te. Sie stellten fest, dass der Flug-hafen wirtschaftlich von nationa-ler Bedeutung ist und laufend denBedürfnissen angepasst werdenmuss, um wettbewerbsfähig zubleiben. Eine Verlagerung desFlughafens Zürich an einen ande-ren Standort ist aufgrund der ho-hen öffentlichen Investitions- undprivaten Folgekosten nicht denk-bar. Rund um den Flughafen wirdes immer Gebiete mit starkerLärmbelastung geben, egal ob derFlughafen künftig als europäi-scher Regionalflughafen oder in-terkontinentaler Hub betriebenwird.

Räumliche Strategien zur Flughafenregion Zürich

Bei der strategischen Ausrichtungder Raumentwicklung in der Flug-hafenregion stellte man sich dasBild eines «Lärmsees» vor. Wie einDorf, das wegen eines Stauseesumgesiedelt werden muss, solltendie stark lärmbelasteten Gebietebehandelt werden. Instrumenteder Raumplanung tragen jedochzu einer abgestufteren Umsetzungbei, als dies bei einem Stauseemöglich wäre. Zu nennen wärenUmnutzung von Wohnen in Ge-werbe oder Anpassungen bei den Lärmempfindlichkeitsstufen.Aber auch Bauverbote, Aus-zonungen und sogar Rückbautenmüssen in Betracht gezogenwerden.

Im Süden des Flughafens solldie Zukunftstauglichkeit derSiedlungsstrukturen sicherge-stellt werden. Die Fluglärmbelas-tung ist daher im Süden auf einMinimum zu reduzieren, denndort kann die Siedlungsentwick-lung wie vom Parlament be-schlossen schwerpunktmässig aufden öffentlichen Verkehr ausge-richtet werden. Die Zentrumsge-biete lassen dichte und gemischteNutzungen zu. Stark durch Lärmbelastete Wohngebiete z.B. in Op-fikon müssen umgenutzt werden.

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28 BAUEN IN DER STADT

mobilienmarkt stehen uns alsonoch bevor!

Diese gross angelegten Ver-schiebungen von Immobilien-eigentum sind nicht nur in denUnternehmensbilanzen und anden Aktienbörsen erkennbar. Ins-besondere in urbanen Regionenist eine zunehmende Anonymisie-rung der Immobilien feststellbar.Die auffälligen Leuchtreklamenan den Fassaden geben ebensowenig Auskunft über den Ei-gentümer eines Gebäudes wie dieoft fantasievollen Anschriften imEingangsbereich. Diese lassenvielleicht auf die Benutzer schlies-sen, während sich der Eigentümerbestenfalls noch an der öffentlichangeschlagenen Hausordnungablesen lässt.

Neben diesen eher banalenIndizien einer zunehmenden Ano-nymisierung gibt es noch andere,weit bedeutungsvollere Zeichendes Wandels im Immobilienbe-reich. Ganze Gebäude und Quar-tiere verleugnen ihre Identität undverstecken sich hinter der Belang-losigkeit sogenannt zeitgenössi-scher Architektur.

Wachsende Anonymität

Ein vor kurzem heftig diskutiertesBeispiel ist das ehemalige Sulzer-Hochhaus in Zürich. Dieses Büro-gebäude wurde vor bald 40 Jah-ren von der damaligen EscherWyss AG bei einer Generalunter-nehmung für die klar bestimmtenZwecke und Anforderungen einerBetriebsabteilung bestellt. Mitdem Entwurf und der Projektie-rung wurden die Architekten Far-ner und Grunder beauftragt. Die-ses Hochhaus mit einer Nord- undSüdfassade aus filigranen Leicht-metall-Elementen und Glas sowiezwei markanten Treppentürmenin Sichtbeton an den Stirnseitenwurde als gelungener Indust-riebau und städtebaulicher Ak-zent am Escher-Wyss-Platz ge-würdigt. Im April 1999 wurde dasGebäude von einer Immobilien-

des quartären Sektors liess denBedarf nach Produktionsflächendeutlich schwinden. Dadurchwurden grosse Industrieareale aninzwischen besten urbanen Lagen für eine neue Zweckbestim-mung frei.

Einen weiteren Schub erhiel-ten die erwähnten Veränderungenim Immobilienmarkt durch denverschärften globalen Wettbe-werb und die dadurch ausgelösteMarktdynamik. Die Unterneh-men reagierten darauf mit einerKonzentration auf ihre Kernkom-petenzen und einer weitgehendenVirtualisierung der Wertschöp-fungskette. Zu diesem Trend stan-den betriebseigene Liegenschaf-ten quer. Ihre langfristige Stand-ortgebundenheit und enormeKapitalbindung behinderten diegeforderte unternehmerische Agi-lität. Was lag da näher, als dieBetriebsliegenschaften zu veräus-sern und die effektiv ausgewiese-nen Raumbedürfnisse über kurz-fristige Mietverträge zu befriedi-gen. Dadurch konnten auf einenSchlag dringend benötigte Liqui-dität und unternehmerische Flexi-bilität geschaffen werden.

Diese Entwicklung ist nochnicht abgeschlossen. Sollen Tele-working und E-Business einmalbreite Realität werden, so wirdder Bedarf nach traditionellenProduktions- und Vertriebs-flächen noch einmal markantzurückgehen. Die Arbeitsleistungals Knowledge Worker im pro-jektbezogenen Netzwerk erfolgtvon zu Hause aus ebenso wie dieBeschaffung von Gütern undDienstleistungen aller Art bis hinzur medizinischen Beratung undzur Aus- und Weiterbildung. Die-ser fundamentale Bruch in derArbeits- und Lebenswelt wirdnicht nur die Anforderungen anArbeits- und Verkaufsflächenrevolutionieren, sondern auch die Anforderungen an die pri-vate Wohnumgebung. Die ganzgrossen Veränderungen im Im-

Der Immobilienmarkt ist zur-zeit im Umbruch. Insbeson-

dere bei betrieblich genutztenLiegenschaften ist seit rund zehnJahren eine rasch fortschreitendeTrennung von Nutzung und Ei-gentum zu verzeichnen. Währendfrüher betriebseigene Büro-, Pro-duktions- und Vertriebsbauten alsAusdruck des Selbstbewusstseins,der Wohlfahrt und des Zukunfts-glaubens des Unternehmens gal-ten, werden solche Gebäude im-mer häufiger an neue Eigentümerverkauft und zum Teil rückge-mietet oder einer ganz anderenNutzung zugeführt. Diese Ent-wicklung beschränkt sich nichtauf die Privatwirtschaft, sonderngreift im Rahmen der aktuellenPrivatisierungswelle auch bei deröffentlichen Hand um sich.

Veränderter Markt

Was sind die Antriebskräfte die-ses Wandels? Im Vordergrund ste-hen die tiefgreifenden strukturel-len Veränderungen in der Wirt-schaft und Arbeitswelt seit Mittedes 20. Jahrhunderts. Der starkeRückgang des sekundären Sektorsder Schweizer Wirtschaft zuGunsten des tertiären und heute

Immobilienmarkt im Wandel

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Dr. Hans Rudolf Schalcher ist or-dentlicher Professor für Baupla-nung und Baubetrieb und Departe-mentsvorsteher des Departe-ments für Bau, Umwelt und Geo-matik der ETH Zürich.

Baulichkeiten im städtischenRaum galten lange Zeit nicht nurals funktionale Hülle, sondern oftauch als Ausdruck des urbanenSelbstbewusstseins ihrer Bauher-ren. Neue Eigentums- und Nut-zungsverhältnisse ändern diesesBauverständnis grundlegend. Ri-siken und Chancen für eine nach-haltige Stadtentwicklung.

VON HANS-RUDOLF SCHALCHER

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29BAUEN IN DER STADT

Mut für grosszügige städtebauli-che Würfe verloren ging. Heutefokussieren die öffentlichen Ein-griffe – neben der Zonenplanung– vor allem auf verkehrslenkendeMassnahmen wie die Förderungdes öffentlichen Verkehrs, Tem-poreduktionen auf Quartierstras-sen oder die Schliessung von Stras-senzügen für den Individualver-kehr. Es ist unbestritten, dass der-artige Massnahmen einen grossenEinfluss auf die Stadtentwicklung

Die zurzeit ablaufenden Ver-änderungen im Immobilienmarktbeinhalten zahlreiche langfristigwirkende Chancen. Die bekann-testen Beispiele in der RegionZürich sind das Eurogate, Zürich-West und Zürich-Nord sowie dasSulzer-Areal in Winterthur. Allengemeinsam ist die städtebaulicheDimension und die zentrale ur-bane Lage.

Im Gegensatz zu vielen aus-ländischen Metropolen hat die

firma erworben und im Zug einesErneuerungsprojektes auch äus-serlich umgestaltet. Das Ergebnislöste Kontroversen aus: Die ehe-malige Fassade wurde mit einerzweiten, diffusen Glashaut ka-chiert, die Treppentürme vomHauptbau optisch losgelöst undalles von weitem sichtbar um dreiGeschosse erhöht. Der neue Ei-gentümer und die heutigen Be-nutzer werden diese Transforma-tion sicher zu schätzen wissen.Doch die Fachleute der Architek-tur und des Stätdebaus sind sichuneins: Rechtfertigen neue Be-dürfnisse der Nutzer und begrüs-senswerte Energiesparmassnah-men gestalterische Klimmzüge aneiner derart exponierten Lageoder wäre Ersatz nicht die nach-haltigere Strategie gewesen?

Ein weiteres Beispiel einer ver-fremdeten Baute ist die neue Zür-cher Börse beim Bahnhof Selnau.In den frühen 90er-Jahren als Zei-chen des Zukunftsglaubens derWirtschaftsmetropole Zürich undals Tor zu Aussersihl erstellt, hin-terlässt der etwas protzig anmu-tende, das Sihlufer flankierendeBaukörper mit seiner dunkelgrauglänzenden Natursteinfassade ei-nen eher deplatzierten Eindruck.Hier war nicht ein Besitzerwech-sel Auslöser der Zweckentfrem-dung, sondern ein technologi-scher Quantensprung, welcher dietraditionelle Ringbörse obsoletmachte. Die heutige Bestimmungdieses dominanten Bauwerks istnur mit Mühe zu erkennen. Diegrosszügige Eingangszone lässtauf ein Hotel oder Kongresszent-rum schliessen, wogegen die auf-fällig häufigen Mieterwechsel sicheher mit einer ungenügendenIdentität beziehungsweise Attrak-tivität in Verbindung bringen las-sen. Der Schluss scheint nahe zuliegen, dass dieses Gebäude heutenicht mehr weiss, wieso es in die-ser Art an diesem Standort steht.

Die Liste von strittigen Bei-spielen könnte beliebig verlängertwerden. Doch weit fruchtbarer istdie Frage nach den positiven Aus-wirkungen des heutigen Wandelsbeim Immobilieneigentum.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 1: Mobimo-Hochhaus:umstrittene Umgestaltung desehemaligen Sulzer-Hochhauses.

Abb. 2: Neue BörseZürich: ein Bauwerkverliert seine Bestim-mung.

Stadtplanung in der Schweiz kei-ne grossmassstäbliche Tradition.Allzu rasch wurden die diesbe-züglichen Bemühungen der öf-fentlichen Hand, wie zum Beispieldie Sihlraumgestaltung aus den60er-Jahren oder die Waldstadtauf dem Zürichberg, den damali-gen politischen Meinungsbil-dungsprozessen geopfert. ÜberSinn oder Unsinn dieser Projektesoll im Nachhinein nicht philoso-phiert werden. Es ist aber offen-sichtlich, dass mit deren Scheiternbei den Zürcher Behörden der

und die Raumnutzung ausüben,aber mit ganzheitlicher Stadtpla-nung haben sie nur am Rande zutun.

Chancen des Wandels

In dieses jahrzehntelange Vaku-um treten nun die neuen Herrender frei gewordenen Industrie-areale und der überbaubarenBahnhofgebiete. Aufgrund der ge-gebenen bzw. erworbenen Eigen-tums- oder Baurechte sind sie inder beneidenswerten Lage, als pri-vate Promotoren im Rahmen der

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30 BAUEN IN DER STADT

antwortung der staatlichen Ob-rigkeit ausgeführt. Klassische Bei-spiele dazu sind die Arbeiten vonGeorges E. Haussmann in Paris im19. Jahrhundert oder der von LeCorbusier Mitte des letzten Jahr-hunderts konzipierte Gesamtplander Provinzhauptstadt Chandi-garh in Indien.

Wenn private PromotorenStadtplanung betreiben, stellt sichdie Frage nach der Verantwor-tung neu. Zu einfach, aber leidernoch oft verbreitet ist die Ansicht,dass das, was bewilligt und vomMarkt assimiliert wird, auch gutsei. Mit andern Worten, die Ver-antwortung wird an die Bewilli-gungsbehörde und an die Nach-frage delegiert. Diese Denkweisegreift zu kurz.

In den kantonalen Planungs-und Baugesetzen wird dem Ei-gentümer bzw. dem Bauherrn eineäusserst umfassende Verantwor-tung für die von ihm erstelltenBauten übertragen. Natürlich be-ziehen sich diese Auflagen inerster Linie auf öffentlichrecht-liche und privatrechtliche An-sprüche sowie auf Fragen derHygiene, der Sicherheit und desUmweltschutzes für ein einzelnesBauwerk und nicht für ein ganzesStadtteil.

Wie viel umfassender mussdann die Verantwortung des Pro-motors eines neuen Stadtteils sein,auch wenn sich das heutige ge-setzliche Regelwerk dazu im Ein-zelnen nicht auslässt. Erfolg oderMisserfolg können dabei nichtvorrangig an monetären Wertengemessen werden. Die Verant-wortung des Promotors, aberauch der beteiligten Planer undBehörden, muss sämtliche Aspek-te einer nachhaltigen Gestaltungund Nutzung des geplanten neu-en Lebens- und Wirtschaftsraumsim Kontext der bereits gebautenStadt umfassen. Mit diesem Ver-ständnis von Verantwortung isteher sichergestellt, dass kommen-de Generationen sich der Namensder Verantwortlichen für das neueStadtteil noch erinnern werden.

mischung, schonender Ressour-ceneinsatz und Umweltschutzeinen hohen Stellenwert. Ande-rerseits verlieren kurzfristigesRenditedenken und der Wunschnach einer raschen Realisierungan Bedeutung. Es ist also weitmehr gefordert als wirtschaftlicheProgrammerfüllung. Bereits derArchitekt Louis I. Kahn leitete die-sen Paradigmawechsel ein, als erdas gut bekannte Sullivan-Zitat«form follows function» in «form

bestehenden Planungs- und Bau-gesetze Stadtplanung zu betrei-ben. Gegeben sind die grossenAreale sowie die behördlichenBau- und Verfahrensvorschriften.Als Variable stehen die Erschlies-sung, der Nutzungsmix und dieGestaltung im Vordergrund. Die-se Ausgangslage bietet die fürSchweizer Verhältnisse einmaligeChance zur Realisierung von voll-ständig neuen Stadtteilen mithöchster sozialer, kultureller und

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 3: Zürich-Nord: ehemalige Industrieareale bie-ten sich an zu neuer Nutzung.

wirtschaftlicher Relevanz. Wennim Kontext des Städtebaus vonNachhaltigkeit gesprochen wer-den muss, dann ohne Zweifel indieser Situation.

Ausschlaggebend für den Er-folg sind die Kriterien, welche diePromotoren bei der Planung unddie Behörden im Zug der Bewil-ligungsverfahren anwenden. UmFehler und Misserfolge zu ver-meiden, muss die Nachhaltigkeitals übergeordnete Forderung ak-zeptiert und umgesetzt werden.Das Postulat Nachhaltigkeit, ver-standen als ausgewogene Ganz-heit von Gesellschaft, Umwelt undWirtschaft während des gesamtenLebenszyklus der neuen Stadttei-le, ist die zwingende Vorausset-zung zur bestmöglichen Wahrungder in den erwähnten Entwick-lungsgebieten steckenden Chan-cen.

Unter dieser Prämisse erhaltenKriterien wie städtebauliche undarchitektonische Qualität, diver-sifizierte Nutzung, soziale Durch-

creates function» umformulierte.Damit meinte er nicht das unein-geschränkte Primat der Form ge-genüber der Funktion, sondern erwies mit Nachdruck auf die Be-deutung der Baukultur und der ar-chitektonischen Gestaltung fürdas Wohlbefinden der Benutzerund der Gesellschaft hin. In unse-rer Zeit heisst dies, dass nur eineganzheitliche Betrachtung der an-stehenden städtebaulichen Pla-nungsaufgaben unter Einbezugaller heutigen und zukünftigenAnspruchsteller einem sozialen,wirtschaftlichen und kulturellenDesaster in diesen neuen Stadt-teilen vorbeugen kann.

Wer trägt die Verantwortung?

Die Umsetzung des PostulatsNachhaltigkeit bei der Entwick-lung von neuen Stadtteilen oderGossüberbauungen stellt höchsteAnforderungen an die Verant-wortlichen. In früheren Zeitenwurde Stadtplanung im Auftragund in der abschliessenden Ver-

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32 VERKEHR

Damit ist die zeitliche Dimen-sion der Systemabgrenzung an-gesprochen. Die Verkehrsinfra-strukturen prägen ihre umliegen-den Systeme auf Zeiträume hin-aus, die allen Prognosemethodennicht mehr zugänglich sind. Um-so wichtiger ist es, potenzielleFehlentscheide aus Gesamtsys-temoptik zu erkennen und ausStrukturfehlern zu lernen. Hierkann die kern-exzentrische Lagedes Zürcher Hauptbahnhofes alsBeispiel herhalten oder auch der«Klassiker», mittels Ersatz alterNiveauübergänge neben Bahn-stationen durch Unter-/Über-führung die Netze des öffentli-chen Tram-/Busverkehrs sehrnachhaltig zu zerreissen, wie1906 in Oerlikon oder 1964 mitder Europabrücke in Altstetten.

Schliesslich die sachliche Sys-temabgrenzung: Für Zürich be-sonders relevant sind– die Folgen der in den Aussen-gemeinden teilweise sehr extensi-ven Flächennutzung mit schlech-ten Marktchancen für den öf-fentlichen Verkehr,– die auf die operative Ver-kehrsmanagementebene trans-ferierten verkehrspolitischen Zie-le im Bereich der Gewichtungenmotorisierter Individualverkehrversus öffentlicher Verkehr. Hierbestehen – wie momentan bei derBauprojektierung der «StadtbahnGlatttal» zu verfolgen ist – sehr gravierende Auffassungsdif-ferenzen zwischen Kanton undStadt.

Ausgangslage

Für die Beurteilung der Zu-kunftsperspektiven des gesamtenöffentlichen Verkehrs relevant isteinerseits die Analyse bestehen-der Systemmängel und anderseitsdie Beschränkung auf die system-und auch entwicklungstragendenVerkehrsmittel. Es sind dies– der Luftverkehr, wofür imWirtschaftsraum Zürich wohlklare Vorgaben über die Lage des

schen Stadt und Kanton bis heu-te fehlt. Aus verkehrstechnischerSicht ist auch der Kanton Zürichkeine logische räumliche Abgren-zung; schon eher die teilweise mitverkehrsrelevanten Kriterien de-finierte Agglomeration, wobei ge-rade im Grossraum Zürich Ag-glomerationen zusammen- undineinanderwachsen.

Wenn hier als Raumbezug dernicht sauber abgrenzbare «Wirt-schaftsraum Zürich» gewähltwird, dann als Hinweis darauf,dass definierte Probleme durchhorizontale und vertikale Koope-ration bestehender staatlicherEntscheidungsebenen fallspezi-fisch und unter Beachtung dersachlich sinnvollen Lösungs-ansätze und auch der opportunenEntscheidungsabläufe angegan-gen werden müssen. Als Beispieldazu sei der für den «öffentlichenVerkehr Zürich» zentrale Zür-cher Verkehrsverbund – operativseit 1990 – erwähnt. Sein direk-ter Wirkungsbereich deckt sichnicht mit dem verkehrlich logi-schen Raum, sondern mit Rück-sicht auf die Umsetzungsproble-me mit den Zürcher Kantons-grenzen. Abgestützt auf die Kan-tonsverfassung, ist der ZVV alsunselbständige Anstalt des kan-tonalen öffentlichen Rechtes be-fugt, mit ausserkantonalen Ge-bietskörperschaften auf Vertrags-basis den Tarif-Geltungsbereichoder auch Angebote wie die S-Bahn auszudehnen. So ist derverkehrsgeografisch zu Zürich«gehörende» Raum Rapperswil –Jona aus Kundensicht voll in denZVV integriert, während «Was-serscheidengebiete» wie Zug oderBaden-Wettingen über spezielleTarife insbesondere für Berufs-pendler in den Raum Zürich ver-fügen. So ist trotz eindeutigenKompetenzabläufen genügendFlexibilität für die Anpassung anabsehbare und auch unbekanntekünftige Entwicklungen vorhan-den.

A chtzig Prozent der wachsen-den Weltbevölkerung werden

künftig in Städten und Verdich-tungsräumen leben. Zur Exis-tenzfähigkeit und -sicherung sol-cher Räume stellt die physischeMobilität als Ortsveränderungvon Personen und Gütern eine un-abdingbare Voraussetzung dar.Obwohl Strukturen und entste-hende Probleme weltweit ähnli-chen Grundmustern folgen, stelltjede Stadt und jeder Verdich-tungsraum einen Solitär dar undverlangt nach fallspezifischen,massgeschneiderten Lösungen.

SchwierigeSystemabgrenzung

Am Anfang steht der räumlicheBezug. «Zürich» genügt so wenigwie «Stadt Zürich», da selbst dieStadt ihren Umfang durch die Ein-gemeindungen 1893/1934 starkveränderte. Die heutige Stadt mitihrer sehr weit gehenden Ver-schmelzung zumindest mit demersten Vorortsgürtel ist dadurchgekennzeichnet, dass seit denDreissigerjahren Eingemeindun-gen politisch nie mehr opportunwaren (im Gegensatz zu den um-fangreichen Gebietsreformen derBRD) und eine sachlich gerecht-fertigte Entscheidungsebene zwi-

Zukunftsperspektiven für Zürich

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Prof. Heinrich Brändli, Institut für Verkehrsplanung,Transporttechnik, Strassen- undEisenbahnbau (IVT) an der Eidgenössischen Techni-schen Hochschule Zürich.

Bahn, S-Bahn, Tram, Bus und so-gar Schiff – Zürichs öffentlicherVerkehr bietet viele Möglichkei-ten. Doch aus den vielen Einzel-teilen ein zukunftsfähiges Ganzeszu machen, ist trotz Zürcher Ver-kehrsverbund weiterhin eine gros-se Aufgabe.

VON HEINRICH BRÄNDLI

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33VERKEHR

rell bestanden im ganzen Kantonausserhalb der Stadt örtlich undzeitlich eine schlechte Feiner-schliessung und fehlende bzw.schlechte Tangentialbeziehun-gen. Dem entsprach ausserdemkein dem wachsenden Wirt-schaftsraum adäquater Regional-verkehr. Und schliesslich litt dasVerkehrssystem unter derschlechten Direkterschliessungder Innenstadt durch die Eisen-bahn.

Direkterschliessung durch dieBahn wohl endgültig fixiert,– und die früher sehr betriebs-behindernde Kopfbahnhofanlagefür rund weitere 100 Jahre (bis1990) festgelegt.

Die Strassenbahn-Netzent-wicklung folgte bis 1930 konse-quent dem konzentrischenWachstum der Stadt. Anschlies-send geriet die Strassenbahn un-ter dem Entwicklungsdruck desmotorisierten Individualverkehrs

einzigen Stützpunktes (FlughafenKloten) und via Pistenkapazitä-ten sowie Emissionsbeschrän-kungen auch hinsichtlich künfti-ger Quantitäten gesetzt sind. Diesführt zum Postulat der Verlage-rung eines Teiles des Kurz-strecken-Luftverkehrs auf dieSchiene.– die Normalspur-Adhäsions-bahn, auf deren Netz sowohl derinternationale und nationaleFern- als auch der S-Bahn-Ver-kehr erbracht wird. Auch die La-ge des Hauptbahnhofes sowie –abgesehen von künftigen Stre-ckenergänzungen – die Netzge-staltung sind als gegeben und fixeinzustufen.– die Meterspurstrassenbahn(Tram) als Hauptträger des öf-fentlichen städtischen Binnenver-kehrs.– gewisse städtische Trolley-und Dieselbuslinien, die längst«Strassenbahnfunktionen» ha-ben, jedoch Kapazitätsbeschrän-kungen unterliegen.

Schwieriger Werdegang

Der erste Bahnhof Zürichs ent-stand 1847 am Ort des heutigenHauptbahnhofes als östliches En-de der ersten innerschweizeri-schen Eisenbahn Zürich–Baden,möglichst nahe am Rande derdamaligen Stadt auf minderwer-tigem und daher noch nicht über-bautem Land beim Zusammen-fluss von Sihl und Limmat. Ent-wicklungsprägend für das Bahn-netz war letzlich die Güter- undPersonen-Schifffahrt auf demZürichsee, weil deswegen zuerstdie Linien via Oerlikon ins obe-re/untere Glatttal sowie nachWinterthur erstellt wurden. Die-se konnten den ersten Kopfbahn-hof mit bescheidenen Umwegenerreichen und mitbenützen. Dieerst 1875 (linksufrig) bzw. 1894(rechtsufrig) eröffneten Seelinienführen je um die Innenstadt her-um in den Hauptbahnhof. Damitwaren – die exzentrische Lage desHauptbahnhofes (trotz immer-währender Verlegungsvorschlä-ge) sowie die fehlende Innenstadt-

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb.1 Stadtverkehr – Mittel zum Zweck: eingebunden in dieextrem vernetztenAktivitätsmuster der urbanen Bevölke-rung.

in den Ruf des Unmodernen; ihrWeiterausbau, jedoch glückli-cherweise auch ein Rückbau un-terblieben weitgehend. Zugleicherfolgte die Weiterausdehnungder Stadt axial ins Limmat- bzw.mittlere Glatttal.

Anfang der Fünfzigerjahre – dieIndividulaverkehrswelle schien un-abwendbar, und auch in Zürich(Stadt!) blühten die Generalver-kehrspläne – zeigten sich (nachFunktionen und Räumen geglie-dert) Mängel am Angebot des öf-fentlichen Verkehrs gemäss Abb.2. Sie sind auch heute erst zumTeil und keineswegs nachhaltigbehoben. In den Radialbeziehun-gen des innerstädtischen öV (ins-besondere Tram) zeigten sichEngpässe bezüglich Kapazität,Zuverlässigkeit, Beförderungsge-schwindigkeit und damit auchProduktivität. Zudem ergab sicheine problematische Funktions-vermischung auf den Radialästenmit Feinerschliessung und Ver-bindung Aussenquartiere undz.T. sogar aus dem ersten Vor-ortsgürtel zur Innenstadt. Gene-

Es folgte eine jahrzehntelangeLeidensgeschichte des öffentlichenVerkehrs in Zürich, trotz politi-schem Konsens zur Modalsplit-(Verkehrsanteils-)Verschiebung zu-gunsten des öffentlichen Verkehrs.Wichtige Stationen waren:– 1962 – die teilweise Tiefer-legung der Strassenbahn wird inder städtischen Volksabstim-mung verworfen. Generell beab-sichtigte Mängelbehebung gem.Abb. 3.

Das Scheitern der Vorlage lösteine erste sowohl verkehrspoliti-sche als auch operative Welle zurwesensgerechten und womöglichzu bevorzugenden Behandlunginsbesondere des Trams aus (ei-gene Spuren, Signalphasen usw.)sowie die Erstellung der weltweitersten EDV-gestützten zentralenBetriebsleitstelle im strassenver-kehrsabhängigen öV.– 1973 negative Volksabstim-mungen im Kanton Zürich sowiein 5 Gemeinden (einschliesslichStadt) zum Bau eines kombinier-ten U-/S-Bahnsystems (Mängel-behebung vgl. Abb. 3). Daraus

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bergbahn profitierte. Gleichzeitigwurde der Zürcher Verkehrsver-bund ZVV operativ, womit erst-mals nicht nur kantonsweit undüber alle öV-Angebote hinweg ein-heitliche Tarife zur Anwendungkamen, sondern eine umfassendePlanung, Finanzierung, Informati-on Realität wurde (vgl. Abb. 3).

Damit waren vermeintlich alleöV-Probleme wenigstens grund-sätzlich gelöst, was sich heute alsgrosser Irrtum erweist.

Situation heute

Abb. 4 zeigt die heutige Mängel-analyse. Das Tramnetz entsprichtnoch immer der Stadtstrukturvon 1930; die Kapazitätsproble-me in der Innenstadt sowie vorallem auf den Tagentialbeziehun-gen zwischen den Aussenquartie-ren, aber auch im ersten Vororts-gürtel bestehen weiterhin, und diezeitliche Verfügbarkeit auf denTramradialen wurde sogar redu-ziert. Gesamthaft hat der inner-städtische öffentliche VerkehrZürich kaum mehr Fortschrittegemacht und «rutscht zuneh-mend aus dem Markt». Ausser-dem konnte das Vollbahnnetz sei-ne Struktur mit schlechter Zent-rumserschliessung nicht ändernund wird in dem Sinne Opfer deseigenen Erfolges, als zunehmendKapazitätsengpässe im Kernbe-reich auftreten. Diese werdennoch verschärft durch das ab2005 stark verbesserte Angebot«Bahn 2000 1. Etappe».

Das neu geschaffene Amt fürVerkehr des Kantons Zürichnimmt sich endlich der Gesamt-verkehrsproblematik an und hatbereits einzelne verkehrsträger-bzw. verkehrsmittelspezifische«Perspektiven» erarbeitet undauf den politischen Entschei-dungsweg geschickt. Im mitt-leren Glattal zwischen denHauptanschlusspunkten Flugha-fen, Oerlikon und Stettbach hatdas Grossvorhaben «StadtbahnGlatttal» das Stadium der Bau-projektierung erreicht, und dieVerkehrsbetriebe Zürich planenneue richtplankonforme Tramli-nien.

– 1990 schliesslich ein Durch-bruch auf zwei Ebenen: die Eröff-nung der S-Bahn mit Neubau-strecke und erstmals Durchmes-serbetrieb im Hauptbahnhof. DerS-Bahnhof liegt allerdings undfälschlicherweise auf der innen-stadtabgewandten Seite des altenHauptbahnhofes während von derbesseren, der U-Bahn 1973 vorbe-haltenen Lage unter dem Bahn-hofplatz, die ebenfalls 1990 eröff-nete Verlängerung Sihltal-/Üetli-

zweite Welle zur wesensgerechtenBehandlung des öV im Strassen-raum; diesmal für Traum und Busim ganzen Stadtgebiet.

Zwischen diesen negativenMeilensteinen und dem Durch-bruch für eine S-Bahn (Abstim-mung 1981) gab es wenig zu ver-melden. Als für Zürich von stra-tegischer Bedeutung stehen 1980die Eröffnung der Flughafenliniesowie der Taktfahrplan der SBB(ab 1982) im Vordergrund.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 2: Mängelim Verkehrs-system der60er-Jahre, die teilweiseheute nochnachwirken.

Abb. 3: Ent-scheidendeDruchbrüchemit S-Bahn undZürcher Ver-kehrsverbund.

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35VERKEHR

die langfristige Entwicklung derS-Bahn?– Können die Hauptproblemeder Stadtbahn Glattal rechtzeitigund richtig gelöst werden? DieAnnahmen zur seinerzeitigenSystemwahl sind heute nur zumTeil erfüllt.– Sollen die starken Tangenti-allinien mit hohem Nachfrage-zuwachs weiterhin mit Bussenbetrieben werden, und wiekönnen sie den steigenden

fen. Diesbezüglich stehen heutefolgende Hauptfragen an:– Ist der wohl definitive Ver-zicht auf eine dritte Hierarchie-stufe zwischen Vollbahn undkonventionellem Tram richtig?(Die neuen Streckenführungender Bahnperspektiven entspre-chen im Prinzip der vor 28 Jahrenabgelehnten U-Bahn; allerdingsohne Innenstadterschliessung.)– Was bedeutet dieser Entscheidfür die Entwicklung der Strassen-

Damit herrscht nach einemJahrzehnt relativer Ruhe auch be-züglich öffentlichem Verkehrwohltuende Aufbruchstimmung.

Zukunft

Die Weichen für die Zukunft desöffentlichen Verkehrs im Wirt-schaftsraum Zürich scheinen ge-stellt; nur:– Die sachliche und politischeKoordination zwischen Flächen-nutzung, motorisiertem Individu-al- und öffentlichem Verkehr istnoch kaum sichtbar.– Die «Bahnperspektiven»scheinen auf breiten politischenKonsens zu stossen und entschär-fen die Kapazitätsprobleme imwichtigsten Bahnknoten derSchweiz nachhaltig. Sie stellen je-doch primär eine «Hauptknoten-perspektive der SBB» dar undprovozieren sowohl Zusatzmass-nahmen auf Stadtgebiet sowieAusbauten auf den Haupt-strecken Richtung Winterthurund Lenzburg/Olten (Heiters-berg).– Die «Stadtbahn Glatttal» ist indem Sinne in einer kritischen Pha-se, als konsequent am Projektgearbeitet wird, noch ohne jedochGrundsatzfragen sauber und ab-schliessend geklärt zu haben.Angesprochen sind hier primärdie wesensgerechte Behandlungan Knoten ausserhalb des Stadt-gebietes, die Kompatibilität mitdem Zürcher Tram sowie die sehrunglücklichen Streckenführun-gen ausgerechnet im Bereich derHauptanschlussstellen Oerlikonund Stettbach.– Schliesslich und unter Aner-kennung der Bahnperspektivenscheint die künftige Rolle undAusgestaltung der VBZ-Haupt-linien (Tram, Trolley-/Dieselbus)noch alles andere als geklärt.

Die Mängelanalysen des Ist-Zustandes sowie die Durchleuch-tung des verschlungenen Werde-ganges zeigen auch in Zürich diezentrale Bedeutung von Gesamt-verkehrssystembetrachtungenund die Gefahr, mittels Opti-mierung von Teilsystemen irre-versible Strukturmängel zu schaf-

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 4: Mängel-analyse 2001:Kapazitäts-probleme iminnerstädti-schen öffentli-chen Verkehr.

bahn; einerseits für die vollwerti-ge Innenstadterschliessung abden Bahnhöfen und anderseits be-züglich Aufwertung der langenRadialen für stadtbahnähnlichenBetrieb? Die unbefriedigendenUmsteigeverhältnisse an dengrossen Stadtbahnhöfen HB, Sta-delhofen, Altstetten und Oerli-kon sind nur mit grossem Auf-wand zu verbessern.– Ist es aus der Optik Zürichs(nicht der SBB) richtig, einenzentralen Grossknoten (HB) anbezüglich der Innenstadt de-zentraler Lage zu haben? Wasbedeutet dabei der für denzweiten Durchgangsbahnhofvorgesehene Mischbetrieb für

Anforderungen gerecht werden?Diese zwar schwerwiegenden

Fragen zu den Zukunftsper-spektiven des öffentlichen Ver-kehrs in Zürich klingen unspek-takulär. Dazu ist festzustellen,dass der öffentliche Verkehr inZürich eine hohe Qualität bietetund über wertvollste, funktions-fähige Infrastrukturen verfügt,welche es weiterhin optimal zunutzen gilt und die durchausverbesserungsfähig sind. Zentra-ler Punkt aber bleibt bei allenEntscheiden, die Langzeitwir-kungen bestmöglich zu erfassenund kaum reversible Fehl-entwicklungen zu vermeiden.

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36 VERKEHR

liche Unterschiede auf. Poli-tikwissenschaftliche Studien ha-ben gezeigt, dass gerade in derVerkehrspolitik ein Mix von ver-schiedenen Steuerungsinstrumen-ten und eine schrittweise Ein-führung häufig am erfolgreichstensind. So ist die Massnahme des«Road Pricing» (Strassenzölle)zurzeit kaum durchsetzbar, sofernim Gegenzug nicht eine sichtbareVerbesserung des Infrastruk-turangebotes erreicht wird. Um-gekehrt erreichen reine Infra-strukturangebote einen hohenAkzeptanzgrad, stossen aber zu-nehmend an Grenzen der Finan-zierbarkeit. Etwas im Hinter-grund standen bisher in derSchweiz die Verbesserung dernetzwerkorientierten Zusammen-arbeit und das Abschliessen vonfreiwilligen Vereinbarungen. Dieswären aber geeignete Steuerungs-instrumente, um Lernprozesse zuinitiieren und breit akzeptierteWin-win-Situationen zu schaffen.

Zürcher Seetunnel

Für viele Auto- und Lastwagen-fahrer ist Zürich vor allem eines:ein Verkehrshindernis. Die Um-fahrung der Stadt Zürich bestehtschon lange als Plan, dessen Ver-wirklichung erwies sich aber alsschwierig. Die bisherigen Planun-gen von Hochleistungsstrassen(Ypsilon, Cityring, Tangenten-ring) gehen auf die 1950er- und60er-Jahre zurück, damals mitdem Zeithorizont von 1980 bis2000. Der Utopie «MetropoleZürich» wurde mit der Ableh-nung der U-/S-Bahn-Vorlage1973 ein erster Dämpfer versetzt.Auch gegen die Strassenprojekteformierte sich heftiger Wider-stand. Heute sind Nordumfah-rung und Milchbucktunnel reali-siert, die Westumfahrung ist imBau, und die politische Diskussi-on hat sich etwas beruhigt. DieZeit scheint relativ günstig, umfür die verbleibenden Problembe-reiche eine Neuausrichtung und

nicht nur im individuellen All-tagsverhalten im Verkehr aus,sondern ist auch verknüpft mitder Fähigkeit, im politischen Pro-zess mitzuwirken. Gerade wegender erhöhten Unsicherheit wirdman kaum darum herumkom-men, den Planungsprozess mit ei-ner gewissen Flexibilität zu verse-hen, um Fehlplanungen frühererJahre zu vermeiden. Was wir heu-te also sicherstellen können, sindVerfahren zur Integration dieserpolitischen und gesellschaftlichenGrundlagen in den Planungspro-zess. Dazu verhilft ein systemati-sches Prozess- und Netzwerkma-nagement.

Nach einer kurzen Beschrei-bung von bekannten und wenigerbekannten politischen Steue-rungsinstrumenten wollen wir an-hand von zwei Beispielen ausStadt und Kanton Zürich zeigen,welche Rolle die Nachhaltigkeitspielt und mit welcher Prozess-qualität operiert wird. Diese bei-den Fallbeispiele lassen sich auf-grund der sehr unterschiedlichenProblemlagen auf materiellerEbene nur schwer miteinandervergleichen. Sie verdeutlichenaber die Bedeutung der Qualitätdes politischen Prozesses für einenachhaltige Verkehrspolitik.

Fünf Steuerungstypen

Politischen Entscheidungsträgernsteht eine ganze Palette von In-strumenten zur politischen Steue-rung zur Verfügung. Es lassen sichim Wesentlichen fünf Typen un-terscheiden. Diese weisen hin-sichtlich ihres Wirkungsgradesund ihres Akzeptanzpotenzialstendenziell Merkmale auf, wie siein der Tabelle auf Seite 37 darge-stellt sind.

Selbstverständlich hängen so-wohl Wirkungsgrad wie auch Ak-zeptanzpotenzial von der gewähl-ten Ausgestaltung einer konkretenMassnahme ab. Trotzdem weisendie verschiedenen Typen hinsicht-lich dieser beiden Merkmale deut-

Dem Begriff der Nachhaltigkeitkommt in der Verkehrspolitik

eine wachsende Bedeutung zu.Zum einen sind es die Nachhal-tigkeitskriterien der Wirtschafts-,Sozial- und Umweltverträglich-keit, an denen eine Verkehrspoli-tik gemessen wird. Zum anderenwerden sich die Entscheidungs-träger zunehmend bewusst, dassdie üblichen Planungshorizonteim Verkehrsbereich (etwa bei In-frastrukturprojekten) den Zeit-horizont verlässlicher Prognosenzukünftiger gesellschaftlicher undwirtschaftlicher Entwicklungenmassgeblich überschreiten, waseine erhöhte Unsicherheit der Pla-nungsgrundlagen mit sich bringt.

Trotzdem hat sich in derschweizerischen Verkehrspolitikein wichtiger Aspekt des Nach-haltigkeitsbegriffes noch nichtdurchgesetzt: jener der akzep-tanzsichernden Gestaltung despolitischen Planungs- und Ent-scheidungsprozesses. Unter Ak-zeptanz wird eine positive, tole-rierende Einstellung gegenübernormativen Prinzipien und Rege-lungen verstanden. Sie drückt sich

Nachhaltige Verkehrspolitik

Dr. Walter Schenkel ist Lehrbeauf-tragter, Dr. Thomas Widmer Ober-assistent am Institut für Poli-tikwissenschaft der UniversitätZürich.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Die Qualität des politischen Pro-zesses kann einen positiven Ein-fluss auf die nachhaltige Gestal-tung des Verkehrs nehmen. Dieskann im Vergleich von so unter-schiedlichen Projekten wie demZürcher Seetunnel und der ver-kehrstechnischen Erschliessungvon Zürich-West gezeigt werden.Im Zentrum steht dabei die ko-operative und akzeptanzsicherndePlanung von Verkehrsprojekten.

VON WALTER SCHENKEL UND

THOMAS WIDMER

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37VERKEHR

für den Ausbau der Bahninfra-struktur gaben erste Anhalts-punkte über den Inhalt derGesamtverkehrskonzeption. Aufdieser Basis sollen die verschiede-nen Varianten genau geprüft undin die Gesamtstrategie eingebettetwerden.

Für die Gesamtverkehrspolitikim Kanton Zürich sind gewissenachhaltige Rahmenbedingungenimplizit bereits heute formuliert:Artikel 1 des eidgenössischen

Die Gegner beurteilten denTeilrichtplan Verkehr als unaus-gewogen. Sie befürchteten eineRenaissance des Strassenbaus, diezu Mehrverkehr in der StadtZürich führen werde, und forder-ten eine integrale Gesamtver-kehrsplanung, in der die Ver-kehrszunahme vom öffentlichenVerkehr aufgefangen wird. Kaumbestritten wurden die Finan-zierungsprobleme. Hier schlu-gen die Motionäre eine private

Anpassung an die künftigen Er-fordernisse vorzunehmen (sieheGrafik Seite 38).

Das Projekt Seetunnel, das dieUntertunnelung des unterenZürichseebeckens vorsieht, stehtin einem komplexen Problemum-feld. Erstens gibt es verschiedeneVarianten, die zum Umfahrungs-konzept des Kantons Zürichgehören. Zweitens haben die Pro-jekte unterschiedliche Auswir-kungen auf Gesellschaft, Wirt-schaft und Umwelt. Für die Be-wohner der Stadt Zürich sindbesonders die flankierendenMassnahmen von Interesse, wieetwa die Abklassierung von Stras-sen. Weitere Fragen stellen sichhinsichtlich der Finanzierung: Istder Bund bereit, die Ostumfah-rung ins Nationalstrassennetzaufzunehmen? Sollen andereFinanzierungsmöglichkeiten wieprivater Betrieb und Road Pricinggeprüft werden?

Unverrückbare Positionen

In den kantonalen Richtplan ausdem Jahre 1995 wurden 34 Um-fahrungsprojekte aufgenommen –darunter auch die Nordumfah-rung mit dem Ausbau des Gubrist-tunnels, der Stadttunnel und derSeetunnel. Vier beziehungsweisefünf Jahre später wurden die bei-den Motionen Cavegn (vom23.8.1999 und 13.9.1999 betref-fend Seetunnel respektive Gubrist-tunnel/Nordumfahrung) im Kan-tonsrat behandelt. Beide Malewurden die Vorhaben lebhaft dis-kutiert; die Argumente bliebensich aber weitgehend gleich. DieBefürworter waren der Ansicht,dass in den letzten Jahren sehr vielfür den öffentlichen Verkehr ge-tan wurde; deshalb sei es nun not-wendig, wieder etwas mehr Ge-wicht auf den privaten Verkehr zulegen. Die Umfahrungsprojekteführten in der Stadt Zürich und an-deren Gemeinden zu Entlastungen.Ausserdem sollten die Seegemein-den endlich an das Nationalstras-sennetz angebunden werden. Einweiteres Argument hatte interna-tionale Bedeutung: die Schweiz lau-fe Gefahr «umfahren zu werden».

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Raumplanungsgesetzes verknüpftdie Politikbereiche Umwelt, Wirt-schaft und Siedlung. Auch derkantonale Richtplan anerkennt die gegenseitigen Abhängigkeitendieser Politikbereiche. So wird un-ter anderem darauf verwiesen,dass Entwicklungsgebiete in Städ-ten und Gemeinden rechtzeitig mitdem öffentlichen Verkehr zuerschliessen sind. Die zuständigenBehörden gehen davon aus, dassdie Infrastrukturpolitik, die Preis-politik, das liberalisierte Ver-kehrsangebot und die Wirtschafts-beziehungsweise Integrations-politik lenkbare Faktoren sind;übergeordnete sozio-ökonomi-sche und verkehrspolitische Ent-wicklungen sind nicht direkt lenk-bare Faktoren.

Die Gesamtverkehrskonzepti-on soll letztlich aufzeigen, welche

Steuerungsprinzip

Gebote und Verbote

positive und negative Anreize

Angebote

Information und Aufklärung

Zusammenarbeit und Vereinbarungen

Wirkungsgrad

eher hoch (bei restriktiver Aus-gestaltung)

eher hoch (bei starken Eingrif-fen in das Verhalten)

eher hoch (mit dem Finanzbe-darf steigend)

eher gering

eher hoch (bei angemessener Ausgestaltung)

Akzeptanzpotenzial

eher gering (bei hohem Wirkungsgrad)

eher gering (bei hohem Wirkungsgrad)

eher hoch (wenn Finanzbedarf nicht zu hoch)

eher hoch

eher hoch (bei angemessener Ausgestaltung)

Beispiele

Tempolimiten, Fahrverbote

Lenkungsabgaben, Road Pricing, Steueranreize

öffentlicher Verkehr,Strassenbau

Kampagne zur Unfallverhütung

Vereinbarung mit Transportunternehmen

Wirkungsgrad und Akzeptanzpotenzialpolitischer Steuerungsinstrumente(Tendenzaussagen).Finanzierung vor und verwiesen

auf die Möglichkeit des RoadPricing.

Weder Gegner noch Befür-worter nahmen die Nachhaltig-keitskriterien wirklich ernst; esblieb beim politisch motiviertenSchlagabtausch. Eine systemati-sche «Nachhaltigkeitsprüfung»wurde nicht gefordert. Dies wäreaber angesichts der Erfahrungenaus den Auseinandersetzungenzwischen Behörden und Interes-sengruppen in den 1970er- und80er-Jahren angebracht.

Integratives Konzept

Die beim Kanton in Arbeit ste-hende Gesamtverkehrskonzepti-on versucht, die Verkehrspolitikin den wirtschaftlichen, sozialenund umweltpolitischen Gesamt-zusammenhang zu stellen. DieBerichte über die Verkehrsent-wicklung, die Strategie Hochleis-tungsstrassen und die Strategie

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38 VERKEHR

fung arealübergreifender Parkie-rungslösungen sowie maximaleQuartierdurchlässigkeit für denLangsamverkehr sind die Lö-sungsvorschläge. Wie weit die Lö-sungen politisch tragfähig sind,wird sich noch weisen. Bisherigeparlamentarische Vorstösse un-terstützen die vorliegenden Pläneteilweise. Noch zu reden gebenwird die Einbindung in das Na-tionalstrassennetz.

Mit der Strategie der koope-rativen Entwicklungsplanungzeigte sich, dass eine hohe wirt-schaftliche Standortattraktivitätkeineswegs im Widerspruch stehtzu einer hohen Umwelt-, Lebens-und Verkehrsqualität. Die Zeit-perspektive von 10 bis 15 Jahrenist für das begrenzte Planungsge-biet Zürich-West zweckmässig.Bezüglich der allgemeinen städti-schen Verkehrspolitik «Mobilitätim 21. Jahrhundert» fehlen bis zueinem gewissen Grad die langfris-tigen Ideen und Visionen. Hierdrängt sich eine bessere Verknüp-fung mit der langfristig angeleg-ten Gesamtverkehrskonzeptiondes Kantons auf.

Neue Handlungsalternativen

Die Fallbeispiele zeigen auf, dasseine stärkere Gewichtung derQualität des politischen Prozessesneue Handlungsalternativen inRichtung einer nachhaltigen Ver-kehrsentwicklung eröffnet. ImFalle des Seetunnels – wie auch inanderen, durch eine politischeBlockade im Stillstand verharren-den Problemsituationen – erlaubteine vermehrte Beachtung derAusgestaltung der politischenProzesse und Instrumente einenachhaltige und breit akzeptierteProblemlösung.

LITERATUR

Güller, P. et al.: Road Pricing in der Schweiz. Be-

richt D11 des NFP 41, Bern 2000

Walter, F.: Nachhaltige Mobilität, Bericht S10

des NFP 41, Bern 2001.

Widmer, T./Schenkel, W./Hirschi, Ch.: Akzep-

tanz einer nachhaltigen Verkehrspolitik im

politischen Prozess, Bericht D13 des NFP

41, Bern 2000

die früheren Gräben zwischenStadtbehörden und Wirtschaft imRahmen der baulichen Stadtent-wicklung zu überbrücken. AmAnfang stand das so genannteStadtforum von 1996/1997: Dortdiskutierten verschiedene Grup-pen und Interessenvertreter ausWirtschaft, Gesellschaft, Politikund Wissenschaft über die Auf-wertung in den Stadtkreisen 4, 5und 9. Aber auch in der gesamt-städtischen Verkehrspolitik wur-den neue Wege beschritten: Mitdem ämterübergreifenden Projekt«Mobilität im 21. Jahrhundert»wurden auf der Basis der stadt-rätlichen Blaubücher von 1987und 1994 verschiedene offeneWorkshops durchgeführt. DieDialog- und Konsensbereitschaftscheint sich in der politischen, ge-sellschaftlichen und wirtschaftli-chen Landschaft der Stadt Zürichganz im Sinne der Nachhaltigkeitverbessert zu haben.

Die kooperative Entwick-lungsplanung Zürich-West nahmihren Anfang im Frühjahr 1998.Neben der Suche nach einem städ-tebaulichen Leitbild und der Iden-titätsdefinition war die Verkehrs-erschliessung der dritte Planungs-pfeiler. Die kooperative Planungfand zunächst in mehrerenWorkshops mit einer Vielzahl vonBetroffenen statt. Hauptakteurewaren die relevanten Verwal-tungsstellen und die in Zürich-West ansässigen Grundeigentü-mer. Die Konkretisierung geschahin einer gemischten Kerngruppe.Eine Absichtserklärung und einEntwicklungskonzept mit integ-rierten Nachhaltigkeitsprinzipienwurden verabschiedet.

Im Gegensatz zu baulichenFragen war die Verkehrser-schliessung eigentlich nie einStreitpunkt zwischen den Partei-en: deutlicher Ausbau des öffent-lichen Verkehrs, optimale Er-schliessung durch Tram, Bus undS-Bahn, Entlastungsmassnahmenauf den bisherigen Einfallsachsennach Eröffnung der Westumfah-rung 2010, Beschränkung dergemäss Parkplatzverordnung ma-ximalen Parkplatzzahl mit Prü-

Ziele der Staat mit seinen ver-kehrspolitischen Massnahmen er-reichen will. Dabei steht dervolkswirtschaftliche Nutzen desVerkehrs und seine Wechselwir-kungen zu Wirtschaft, Siedlungund Umwelt im Vordergrund.Zentrale Problembereiche sindder zunehmende Freizeit-, Luft-und Tangentialverkehr. Beimöffentlichen Verkehr geht es vorallem darum, das relativ hoheNiveau zu halten und seine

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Marktchancen im Agglomera-tionsgürtel zu verbessern.

Gemessen an den oben be-schriebenen Nachhaltigkeitskri-terien ist die Verkehrspolitik desKantons Zürich auf gutem Wege:Die einzelnen Strategien werdenin den Gesamtzusammenhangvon Wirtschafts-, Sozial- und Um-weltverträglichkeit gestellt. Aus-serdem sind die Zeithorizontelangfristig angelegt. Noch eherwenig ist über die Ausgestaltungdes Planungsprozesses bekannt.Neben den üblichen Planungs-und Entscheidungsverfahrendürfte es sich lohnen, mehr Ge-wicht auf die Zusammenarbeitvon staatlichen und nichtstaatli-chen Akteuren über die Gemein-de- und Kantonsgrenzen hinwegzu legen. Lernprozesse und stabi-le Konsenslösungen lassen sichnur über Dialog- und Partizipati-onsbereitschaft erreichen.

Erschliessung von Zürich-West

Im Rahmen der Entwicklungspla-nung Zürich-West wurde schonsehr früh ein kooperatives Vorge-hen gewählt, hauptsächlich um

Rümlang Kloten

Wallisellen

Dübendorf

Zürichbergtunnel

Seetunnel

Uitikon Waldegg

Urdorf

Dietikon

Weiningen

Regensdorf

ÜetlibergtunnelBirmensdorf

VerkehrsdreieckZürich-West

VerkehrsdreieckZürich-Süd

SihltiefstrasseWestast

Milchbucktunnel

Nordumfahrung

A1

A51

A1

N20

A4

N4

N4

A1

Ostumfahrung

Westumfahrung

Schlieren

GubristtunnelBERN

WINTERTHUR

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LUZER

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bestehendim Baugeplant

1 km

N

Umfahrung der Stadt Zürich zwischen Realität und Planung.

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lle: N

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40 UMWELTVERHALTEN

führensschwierigkeiten gebracht.Als «schwierig» bezeichnen wirsolche Verhaltensweisen, die nurvon wenigen Personen gezeigtwerden. Dabei spielt es zunächstkeine Rolle, ob dem Verhaltensituationsbedingte Hindernisseoder psychische Barrieren wie et-wa Gewohnheit, fehlendes Wis-sen oder konkurrierende Werteentgegenstehen. Wenn jedoch dieoben aufgeführte Argumentationrichtig wäre, müssten sich dieschwierigen Verhaltensweisen imVergleich zu denjenigen, die vonvielen Personen gezeigt werden,vor allem durch schwer zu über-windende objektive Barrierenauszeichnen.

Abbildung 1 zeigt die erhobe-nen Verhaltensweisen in der Rei-henfolge ihrer Ausführens-schwierigkeiten. Wie zu erwartenwar, erwiesen sich unterschiedli-che Arten von Recycling – durch-weg Verhaltensweisen, die imVergleich mit der umweltschädli-cheren Alternative kaum negati-ve oder sogar positive Folgen fürdie handelnde Person haben – alsam leichtesten ausführbar. Um-gekehrt sind die extrem schwieri-gen, d.h. selten gezeigten, Ver-haltensweisen wie beispielsweisedie Anschaffung einer Solaranla-ge oder das Kaufen von Milch inPfandflaschen mit hohen situa-tiven Barrieren verbunden. Be-trachtet man jedoch die Skala immittleren Bereich, so fällt auf,dass selten gezeigte Verhaltens-weisen durchaus nicht zwangs-läufig mit objektiven Schwierig-keiten verbunden sind. So dürftebeispielsweise das Herunterdre-hen der Heizung, wenn man dieWohnung für längere Zeit ver-lässt, kaum mehr Aufwand be-deuten als das Sammeln undWegbringen von Altglas. Den-noch rangiert es, wie aus der Ab-bildung ersichtlich ist, 42 Plätze

chen Verhaltens ist der Hinweisauf situationale Barrieren: um-weltschonendes Verhalten ist zuteuer, zu aufwendig, die entspre-chenden Einrichtungen sind nichtverfügbar usw. Massnahmen, dieauf eine Veränderung eines sol-chen Verhaltens zielen – etwa derAusbau des öffentlichen Ver-kehrs oder das vermehrte Auf-stellen von Sammelcontainern –sind zwar Erfolg versprechend,häufig jedoch auch mit beträcht-lichem (finanziellem) Aufwandverbunden und politisch nicht im-mer durchsetzbar. Psychologischausgerichtete Massnahmen, dieeine Verhaltensänderung über dieVeränderung von Wissen, Ein-stellungen und Werten erreichenwollen, sind dagegen mit wenigerAufwand verbunden. Sie setzenaber, so wird argumentiert, nichtan der tatsächlichen Ursache –den erschwerten Verhaltensbe-dingungen – an und können un-ser Umweltverhalten deshalbkaum beeinflussen. Untermauertwird diese Argumentation mitdem Hinweis auf unser bereitsausgeprägtes Umweltbewusst-sein und -wissen, das scheinbar inkeinem Zusammenhang mit un-serem Verhalten steht.

Doch wird ökologisches Ver-halten tatsächlich umso seltenergezeigt, je grösser die objektivensituationalen Barrieren sind, diedem Verhalten entgegenstehen?Dies überprüften wir, indem wir288 Personen aus der StadtZürich über ihr Umweltverhaltenbefragten. Der standardisierteFragebogen enthält 56 Aussagenüber umweltrelevante Verhal-tensweisen aus unterschiedlichenBereichen (Mobilität, Energie,Konsum, Abfallvermeidung, Re-cycling und soziales Verhalten).Diese 56 Verhaltensweisen wur-den nach der Auswertung in eineRangreihe hinsichtlich ihrer Aus-

Moral oder Geld, Gewohnheitoder Einstellungen – was be-

stimmt, ob wir uns umwelt-freundlich oder umweltschädi-gend verhalten? Umfragen zeigenimmer wieder, dass das hohe Um-weltbewusstsein der Schweize-rinnen und Schweizer nicht not-wendigerweise auch das entspre-chende Verhalten nach sich zieht– ein Phänomen, das in den meis-ten Industrieländern zu be-obachten ist. Über die Gründedieser Kluft zwischen Einstellungund Verhalten wird viel speku-liert. Unsere Untersuchung, in derdie Zürcher Bevölkerung über ihrallgemeines Umweltverhalten be-fragt wurde, identifiziert nichtnur diejenigen Verhaltensberei-che, in denen deutliche Defizitebestehen, sondern liefert auchHinweise auf die Art der Barrie-ren, die ökologischem Verhaltenim Wege stehen.

Situationsbedingte oder psychologische Barrieren?

Ein gängiges Argument zurRechtfertigung umweltschädli-

Trendbewusste Ökos und naturverbundene Autofahrer

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Jacqueline Frick und HannahScheuthle sind Doktorierende amDepartement Umweltnaturwissen-schaften der ETH Zürich.

Unser umweltbezogenes Verhal-ten hängt ab von situationsbe-dingten Erfordernissen wie auchvon unseren psychologischen Be-dürfnissen. Diese Einflussfaktorenwerden unter anderem durch denLebensraum geprägt. Ein Ver-gleich der Stadt- und der Landbe-völkerung erlaubt Rückschlüsseauf die Art der jeweiligen Er-schwernisse, die umweltfreundli-chem Handeln entgegenstehen.

VON JACQUELINE FRICK UND

HANNAH SCHEUTHLE

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41UMWELTVERHALTEN

Muoatathal befragt. Es ist klar,dass diese Regionen nicht ver-gleichbar sind beispielsweise mitZürich-Oberland. Es ist bei die-sen Vergleichen ebenfalls zuberücksichtigen, dass nur einegeringe Anzahl der angefragtenPersonen den Fragebogen beant-wortet hat (11%), die vermutlichüberdurchschnittlich umwelt-freundlich eingestellt waren. Dadies jedoch bei allen Personen der Fall ist, steht einem Vergleichder beiden Stichproben nichts imWege.

Bei fast der Hälfte (45%) derVerhaltensweisen bestehen Un-terschiede zwischen Stadt undLand, die sich jedoch gegenseitigaufheben, so dass sich die Land-bevölkerung insgesamt etwagleich umweltfreundlich wie dieStadtbevölkerung verhält.

Lebensraumbedingte Unterschiede

Einige der Unterschiede zwischenStadt und Land sind stark durchden Kontext determiniert, weil sieauf die unterschiedliche Verfüg-barkeit bestimmter Einrichtun-gen zurückzuführen sind. Im Mo-bilitätsverhalten zeigen sich er-wartungsgemäss die deutlichstenUnterschiede, denn umweltge-rechte Mobilität hängt stark vonder Verfügbarkeit öffentlicherVerkehrsmittel ab. Menschen,die in der Stadt leben, fahren so-mit seltener Auto, sei es zur Ar-beit, zum Einkaufen oder in derFreizeit. Es gibt auch mehr Leu-te, die ganz auf ein Auto verzich-ten, wie Abbildung 2 deutlichmacht.

Erwartungsgemäss ist es fürdie Landbevölkerung typisch,dass häufiger kompostiert wirdoder die Milch in Depotflaschengekauft wird. Verhaltensweisenwie diese lassen sich zwar auchdurch umweltpsychologische

weiter unten. Ebenso wenig plau-sibel scheint es, dass der Verwen-dung von Energiesparlampenmehr situative Barrieren entge-genstehen sollten als dem Kaufvon Nachfüllpackungen (25 Plät-ze Unterschied). Das bedeutet:obwohl uns umweltschonendesVerhalten unbestrittenermassenoft objektiv schwer gemacht wird– was nur durch eine Verände-rung der Rahmenbedingungenbehoben werden kann –, sind esnicht nur objektive Barrieren, dieeine Verhaltensänderung verhin-dern.

Selbst in einer umweltbewus-sten und informierten Stadt wieZürich sind es häufig psychologi-sche Barrieren wie beispielsweise«falsche» Gewohnheiten oderauch fehlendes Wissen, die um-weltschonendem Verhalten ent-gegenstehen. Psychologisch aus-gerichtete Massnahmen, die Pro-bleme bewusst machen, Informa-tion vermitteln und bestehendeNormen in Frage stellen, sind al-so, entgegen vielfachen Unkenru-fen, keinesfalls verschwendeteZeit. Dennoch wäre eine Überbe-wertung psychologischer Inter-ventionen als alleinige Lösungvon Umweltproblemen naiv:Zweifelsohne ist auch eine lang-fristige Veränderung der Rah-menbedingungen unerlässlich,wenn das Umweltverhalten dau-erhaft verändert werden soll.Deshalb lohnt es sich, auch diesituationalen Barrieren, die um-weltfreundlichem Verhalten imWege stehen, näher zu betrach-ten.

Vergleich der Stadt Zürich mit Landgemeinden

Situationale Barrieren sind da amdeutlichsten ausgeprägt, wo siedurch das Lebensumfeld be-stimmt sind. Um spezifische Ein-flüsse des Lebensraums zu identi-fizieren, haben wir das Verhaltender Stadtzürcher Bevölkerungmit demjenigen der Bevölkerungländlicher Gegenden verglichen.Zu diesem Zweck wurden zu-sätzlich 310 Personen aus Land-gemeinden im Entlebuch und im

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 1: Die untersuchten 56 umwelt-bezogenen Verhaltensweisen weisenunterschiedliche Ausführensschwierig-keiten auf: Die Balken zeigen denAnteil der befragten Personen an, die sich ökologisch verhalten.

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42 UMWELTVERHALTEN

Land werden zum Beispiel weni-ger Fertiggerichte gekauft. Der-artige Verhaltensursachen zuklären ist im Hinblick auf Um-weltinterventionen von besonde-rer Wichtigkeit.

Beim Einkauf von Lebensmit-teln findet sich noch ein etwas an-ders interpretierbarer Unter-schied: Auf dem Land wird ehersaisongerecht und regional einge-kauft, während in der Stadt mehrBioprodukte gekauft werden.Auf dem Land wird folglich das«Eigene» gekauft, unabhängigvon Bio- oder Öko-Bewegungen;man lebt stärker in der Tradition.In der Stadt jedoch ist ökologi-sches Einkaufen mittlerweile«in» oder gar zur Normalität ge-worden, jedoch eher in Bezug aufentsprechende Labels, nicht inBezug auf regionale und saisona-le Produkte. Solche Trends oderTraditionen zu berücksichtigenoder zu verstärken ist unter Um-ständen Erfolg versprechend.

Bezüglich sozialer Verhaltens-weisen und Informationssuchezeigen sich ebenfalls deutlicheUnterschiede: Menschen, die inder Stadt leben, spenden mehrGeld für Umweltschutzorganisa-tionen, informieren sich und un-terhalten sich öfters mit Bekann-ten über Umweltthemen. Dieskann mit dem Bildungsgefälle zu-sammenhängen oder aber damit,dass in der Stadt Umweltproble-me anders wahrgenommen wer-den (z.B. Luftverschmutzung).Interessanterweise verhält sichdie Stadtbevölkerung nicht öko-logischer, wenn aktives Ein-schreiten gefordert ist, zum Bei-spiel jemanden auf nicht umwelt-gerechtes Verhalten hinzuweisenoder bestimmte Firmen zu boy-kottieren. Solche Verhaltensbe-reiche sind stark von (offensicht-lich lebensraumunabhängigen)sozialen Normen geprägt, die er-fahrungsgemäss Einstellungenüberschatten können.

Individuelle Barrieren

Einige umweltrelevante Verhal-tensweisen können auf individu-

vermischt sind: Zeit und Geldspielt meist mit eine Rolle, jedochnicht ausschliesslich. Interessan-terweise haben diese Unterschie-de nichts mit einer allgemeinenumweltgerechten Einstellung zutun, die wir ebenfalls erfasstenund wo wir keine Unterschiedezwischen Stadt und Land fest-stellten.

Beim Energiesparen lässt sichzum Beispiel feststellen, dass dieLandbevölkerung weniger stark

Massnahmen fördern, jedoch isteine Verbesserung der Infra-struktur sicher effektiver – wennauch nicht billiger.

Lebensstile

Neben den unmittelbar lebens-raumbedingten Unterschiedenzwischen Stadt und Land wirdumweltbezogenes Verhalten jaauch beeinflusst durch Wertvor-stellungen oder Lebensstile, diemit dem Umfeld zusammenhän-

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

«Ich verzichte auf ein Auto» «Ich kaufe Fertiggerichte»

40

30

20

10

0

Prozent der Befragten

36,5

9,7

27,7

14,8

Stadt

Land

gen. Es handelt sich somit umBarrieren, die bei einem Grossteil,jedoch nicht bei allen Bewohne-rinnen und Bewohnern eines Le-bensraums gleichermassen vor-handen sind – auch auf dem Landgibt es Menschen, die nichttypisch «ländlich» denken undhandeln. Vermehrt handelt essich hier um psychologische Bar-rieren wie Interessen oder Ein-stellungen, wobei die Motive oft

heizt. Der Unterschied könnte aufunterschiedlichen finanziellenVerhältnissen beruhen oder auchauf einer kulturell bedingtensparsameren Einstellung derLandbevölkerung. Ähnlich stehtes mit der Tatsache, dass dieLandbevölkerung für längereReisen seltener das Flugzeug be-nutzt. Rührt dies daher, dass manes sich nicht leisten kann odernicht will, und infolgedessen diePrioritäten beim Geldausgebenanders setzt? Im Gegensatz zumGeld herrscht auf dem Landwahrscheinlich ein grosszügige-rer Umgang mit der Zeit: Auf dem

Abb. 2: Unterschiede zwischen Stadtund Land sind entweder auf situationaleBarrieren (z.B. fehlende öffentlicheVerkehrsmittel) oder auf psychologischeBarrieren (z.B. aufgrund unterschied-licher Lebensstile) zurückzuführen.

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43UMWELTVERHALTEN

dungsstand angepasst? Ebenfallsabzuklären ist, ob Gewohnheitenauf sozialen Normen oder aufNichtwissen beruhen. Da die Ein-schränkungen der Lebensqualitätdurch umweltgerechtes Verhal-ten zudem persönlich sehr unter-schiedlich wahrgenommen wer-den, werden einzelne Personenauch gegen die überzeugendsteInformationskampagne resistentsein. Psychologisch ausgerichteteInterventionen können somit si-

nanzielle Motive.Aus der Betrachtung von um-

feldspezifischem Verhalten erge-ben sich Implikationen für diePlanung von psychologischenInterventionen: Wo strukturelleDefizite bestehen, können Mass-nahmen, sei es unter Verwendungvon Information, sozialen Ka-nälen oder gar finanziellenAnreizen nur unter Berücksich-tigung der vorliegenden Sach-zwänge erfolgreich sein. Viel ver-

elle Beweggründe wie Gewohn-heiten, Vorlieben, persönlichemoralische Wertvorstellungenoder bestimmte soziale Normenzurückgeführt werden. Bei diesenVerhaltensweisen bestehen er-wartungsgemäss keine Unter-schiede zwischen Stadt und Land;sie sind kaum durch das Umfeld,sondern durch die individuelle Si-tuation und Persönlichkeit beein-flusst.

Ein typisches Beispiel für Ge-wohnheitsverhalten ist das Re-cycling, obwohl dabei anfangssicherlich die Abwägung vonfinanziellen Vorteilen und zeitli-chem Aufwand sowie weit ver-breitetes Wissen über die ökolo-gische Effizienz des Recyclings ei-ne Rolle spielt. Auch schon beimEinkauf versucht ein Grossteil derPersonen Abfall zu vermeidendurch Wahl entsprechender Ver-packung oder durch Wiederver-wenden von Plastiktragtaschen.Bei diesen letztgenannten Verhal-tensweisen ist die ökologische Ef-fizienz nicht sehr hoch, und essind auch keine finanziellen An-reize vorhanden, es wird also auspsychologischen Gründen um-weltgerecht gehandelt (z.B. ausder Überzeugung, dass Abfall woimmer möglich vermieden wer-den muss). Diese Verhaltenswei-sen haben sich in unserer Kulturzu gefestigten sozialen Normenentwickelt und sind dementspre-chend auf individueller Ebene zuGewohnheiten geworden.

Beim Putzen, Lüften, Wa-schen und Duschen können psy-chologische Barrieren in Formvon Hygienebedürfnissen undKomfort postuliert werden. Hiersteht dem umweltgerechten Ver-halten kein grosser Geld- oderZeitaufwand, sondern eine sub-jektiv wahrgenommene Einbussean Lebensqualität entgegen. ImVergleich zu anderen Bereichendes Energiesparens wie dem obenerwähnten Heizen findet sichkein Unterschied zwischen Stadtund Land; offensichtlich handeltes sich trotz ähnlichen Verhal-tensbereichen hier nicht um fi-

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Abb. 3: Recycling wird von vielen Be-fragten regelmässig beachtet.

sprechender für psychologischausgerichtete Interventionen sindlebensstilbedingte Verhaltens-weisen, weil umweltschädigen-des Verhalten nicht mehr mitklaren Sachzwängen begründetwerden kann. Hier sollten Mass-nahmen vorhandene Einstellun-gen und Werthaltungen aufgrei-fen bzw. positive Trends oderTraditionen unterstützen.

Weiter müssen wir uns fragen,wo materielle und psychischeRessourcen bzw. Defizite liegen.Haben bestimmte Gruppen eherzu wenig Zeit oder zu wenigGeld? Ist Information an den Bil-

cher nicht alle Verhaltensweisengleich erfolgreich beeinflussen,jedoch bestehen mehr Ansatz-punkte, als man vermuten würde.Insbesondere lohnt es sich, einge-hend zu untersuchen, welcher Artdem Verhalten entgegenstehendeBarrieren sind, bevor Interven-tionen durchgeführt werden.

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44 UMWELTVERHALTEN

zeitenwechsel liegende Mangro-vensümpfe eignen sich dafür, zu-mal diesen Gebieten ein geringerökonomischer Wert zugemessenwird und die Pacht günstig ist.

Um hohe Erträge zu erzielen,müssen die Mangroven geschla-gen werden, was ökologische Pro-bleme verursacht. Denn neben derFunktion als Erosionsschutz sindsie eine wichtige Brutstätte fürMeerestiere. Doch beim Fällender Bäume bleibt es nicht: bei derIntensivzucht werden Futtermit-tel verwendet, deren Reste zu-sammen mit den Fäkalien der biszu 300000 Tiere pro Hektare anden Grund der Teiche sinken unddort den Boden kontaminieren.Dies verursachte beispielsweise inder Nähe der Badeorte auf BaliTrinkwasserverseuchungen. Derhohe Besatz führt oft zu Krank-heiten der Tiere, die sich epide-mieartig ausbreiten und die Pro-duktion grosser Gebiete zerstörenkönnen, wie dies kürzlich in Ecua-dor durch die «white spotteddisease» geschah.

Die «Lebensdauer» einer der-artigen Zucht beschränkt sich auffünf bis zehn Jahre, dann sinkendie Erträge aufgrund der Konta-mination, und ein neuer Standortmuss gefunden werden. Immerhäufiger werden Reisfelder in Tei-che umgewandelt und damit fürJahrzehnte unfruchtbar gemacht.Zwar gibt es bereits Zuchten, dieökologisch nachhaltig produzie-ren, sei dies durch massiv gerin-geren Tierbesatz und das freieFliessen der Gezeiten in den Tei-chen oder durch geschlosseneKreisläufe mit Reinigungsstufen.Sie bringen aber (noch) geringeresEinkommen beziehungsweise ei-nen höheren Aufwand mit sich.

Wenn auch die Zucht von Cre-vetten in den meisten Fällen öko-logisch bedenklich ist, so gene-riert sie Einkommen in Ländern,die stark auf Exporteinnahmenangewiesen sind. In einem gutenJahr kann auf einer Hektare mit

stände zu beheben und Sicherhei-ten für die Produzierenden zuschaffen. Daneben stammen aberauch etliche Nahrungsmittelzu-sätze aus Drittweltländern, diewir mit heimischen Produktenmeist unbemerkt kaufen. Ausser-dem haben auch Reisen in ferneLänder Auswirkungen auf dieNachhaltigkeit vor Ort.

Ob die Auswirkungen auf dienachhaltige Entwicklung in denHerkunftsländern positiv odernegativ ausfallen, lässt sich je-weils nur durch die detaillierteAnalyse der Produktionsbedin-gungen und der sozio-ökonomi-schen und ökologischen Folgenbeurteilen. Die Untersuchung dergenauen Zusammenhänge zwi-schen Weltwirtschaftsordnung,lokaler Produktion für den Welt-markt und lokalen Lebensbedin-gungen trägt deshalb zu einem dif-ferenzierteren Bild der Globalisie-rung bei. Entsprechende For-schung zeigt zudem auf, wie wirdurch unsere täglichen RoutinenTeil eines mittlerweile weltum-spannenden sozialen Systemssind, in dem sich globale und lo-kale Prozesse verbinden.

Crevettenkonsum kann Reisfelder zerstören

Crevetten sind längst vom teurenLuxusgut zur erschwinglichenZutat vieler Gerichte geworden.Gesteigerte Fangerträge und dieZucht der Krustentiere machendies möglich. Vor allem in Süd-ostasien und Lateinamerika ent-stehen laufend neue Aquakultu-ren, um die gesteigerte Nachfragezu befriedigen. Ideale Standortesind flache Küstenregionen, wodie durch Wälle geschütztenBecken knapp unter der durch-schnittlichen Meereshöhe errich-tet und ohne technischen Auf-wand durch die Flut gefüllt wer-den können. Für die dreimonati-ge Zuchtperiode werden sie ge-schlossen und nach der «Ernte»bei Ebbe ins Meer entleert. Im Ge-

Wenn wir uns zum Einkauf inein grösseres Lebensmittel-

geschäft begeben, dürfen wir un-seren Speisezettel aus einer rei-chen Auswahl heimischer undexotischer Produkte zusammen-stellen, mit deren Kauf wir alsKonsumenten mit den Produzen-ten in eine Beziehung treten. Un-sere alltäglichen Kaufentscheidehaben deshalb auch Konsequen-zen auf die Bedingungen, unterdenen produziert wird, und fürdie nachhaltige Entwicklung vonGesellschaften und Ökosystemenin Entwicklungsländern. VieleProdukte, wie beispielsweise Cre-vetten, Bananen und Kaffee,stammen vorwiegend aus diesenRegionen. Zumindest teilweisesind wir uns bewusst, dass wir mitihrem Import sozio-ökonomischund ökologisch oft bedenklicheProduktionsbedingungen unter-stützen. Produktelabels, wie etwadas bekannte Max-Havelaar-Gü-tesiegel, versuchen diese Miss-

Konsequenzen des Konsums

Dr. Norman Backhaus ist Oberas-sistent, lic. phil. Marco HoffmannAssistent am GeographischenInstitut der Universität Zürich.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Lokales Handeln hat auch globaleKonsequenzen. Dies zeigt sichsehr deutlich, wenn man den Hin-tergründen unseres Konsumver-haltens nachgeht. Über das Netzder Globalisierung, in das wir alsKonsumentinnen und Konsumen-ten von Lebensmitteln, aber auchvon Tourismusangeboten einge-bunden sind, kann Nicht-Nachhal-tigkeit sozusagen importiert wer-den. Oft auf Kosten von Entwick-lungsländern. Ob die Produktionfür den Weltmarkt für die betrof-fenen Menschen letztlich Fluchoder Segen ist, ist nur im Einzel-fall zu beantworten.

VON NORMAN BACKHAUS

UND MARCO HOFFMANN

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45UMWELTVERHALTEN

die USA zur Endverarbeitung ver-schifft.

Mit den Einkünften konntesich die Familie einen Fernseherkaufen, das Dach ausbessern undein Kind auf eine weiterführendeSchule schicken. Doch die Anbin-dung an den Weltmarkt ist einzweischneidiges Schwert. Dennkaum drei Jahre nach der Pro-duktionsaufnahme sank dieNachfrage nach balinesischemSeetang, und Ketut Mantra war es

Zu diesen Geliermitteln zähltauch das Produkt Agar-Agar, das– wegen der bekannten Fleisch-skandale – als Ersatz von Gelati-ne bei einem Schweizer Grossver-teiler im Januar dieses Jahreseinen um einen Drittel höherenUmsatz erzielte. Ketut Mantrabaut seit einigen Jahren drei Sor-ten Seetang an der flachen Küstein der Nähe des bekannten Bade-ortes Nusa Dua an, was erst auf-grund steigender Nachfrage nach

Crevettenzucht fünfzigmal mehrverdient werden als mit einemfruchtbaren Reisfeld. Nur, werverdient dieses Geld? In sehr vie-len Fällen sind es kapitalkräftigeStädter, die sich die Investitionenfür Teiche leisten können undnicht die oft unterprivilegierte Lo-kalbevölkerung.

Wenn wir Krustentiere konsu-mieren – in Deutschland sind es0,5, in der Schweiz 0,7, in denUSA 1,6 und in Japan 2,5 Kilo-gramm pro Kopf und Jahr –, dannerfahren wir in den wenigsten Fäl-len, woher die Tiere stammen, daunter «Herkunft» meist der Ver-packungsort und nicht der Pro-duktionsort angegeben wird.Auch der Kauf von wild gefange-nen Tieren ist keine Alternative,da durch die nötige Engmaschig-keit der Netze der so genannte Bei-fang die Menge der gefangenenCrevetten um ein Mehrfachesübersteigt. Möchte man also beimCrevettenkonsum ökologischund sozial verträglich handeln,bleibt vorderhand nur das «Essenmit Verstand» oder der Verzicht.Allerdings wird mit Hochdruckund Engagement an einer Zertifi-zierung und einem Label für nach-haltig produzierte Crevetten ge-arbeitet. Der Markt – bezie-hungsweise wir, die Käuferschaft– wird darüber entscheiden, obder höhere Preis akzeptiert wirdund so die Nachhaltigkeit geför-dert werden kann.

Seetang als Geliermittel

Nicht nur beim Kauf von offen-sichtlich importierten Gütern wieCrevetten treten wir in eine Be-ziehung mit entfernt lebendenMenschen. Es kann gut sein, dasswir bei der Verwendung vonHalbrahm oder beim Verzehr ei-ner Glace einen kleinen Teil zumEinkommen etwa von Ni KetutMantra, einer balinesischenKleinbäuerin und Fischersfrau,beitragen und gleichzeitig ein derKüste vorgelagertes Riff schützen.Die Lebensmittelzusätze E 401-407 sind nämlich Gelier- und Ver-dickungsmittel, die aus Extraktenvon Seetang gewonnen werden.

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extrahierten Hydrokolloiden unddem Bedarf nach neuen Anbau-gebieten ermöglicht wurde.

Für Ketut Mantras Familiewar es ein Wagnis, in die Pro-duktion einzusteigen, da einigeInvestitionen (Arbeitsgerät, Setz-linge und eigene Arbeitskraft)getätigt werden mussten, was eingrosses Risiko ist, wenn man ander Armutsgrenze lebt. KetutMantra wollte das Risiko einge-hen, weil ihr Mann als Fischer mitseinem kleinen Auslegerboot ausder von Trawlern überfischtenSee immer weniger fing. Die Risi-kobereitschaft wurde belohnt, derSeetang spross und wurde zueinem guten Preis von Händlerngekauft, die ihn weiter nach Java transportierten. Von dortwurden Halbfertigprodukte nachHongkong, Dänemark oder in

ein Jahr lang nicht möglich, auchnur ein Kilo des schlecht lagerba-ren Seetangs zu verkaufen. Kredi-te mussten zurückbezahlt werden,und ihr Mann konnte nicht wie-der auf Fang gehen, da er seinBoot verpachtet hatte. NachBemühungen zur Qualitätsver-besserung nahm die Nachfragewieder zu und stabilisierte sich,sodass Ketut Mantra wieder ver-kaufen kann. Sie ist dabei nichtreich geworden und lebt immernoch nicht weit über der Armuts-grenze, doch hat ihr der Seetang-anbau zu einer verbesserten Le-benssituation verholfen.

Ein Nebeneffekt des Seetang-anbaus ist der Schutz der in ganzSüdostasien stark bedrohten Rif-

Die Ernte der balinesischen See-tangbäuerin Ni Ketut Mantra gelangtüber viele Stationen in Produkte un-seres täglichen Gebrauchs.

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46 UMWELTVERHALTEN

schen spürbar verbessert, kannsich morgen ins Gegenteil ver-kehren. In Anlehnung an denWahlspruch der Agenda 21, «glo-bal denken – lokal handeln»,muss uns bewusst sein, dass unserlokales Handeln sich auch globalauswirkt. Unsere Einkäufe habenEinfluss auf die Lebensbedingun-gen von Menschen etwa in Bali,Malaysia oder Nepal. Den Kon-sumenten kommt unter den Be-dingungen der Globalisierungnicht nur eine Mitverantwortungfür die eigene Umgebung zu, son-dern auch für andere Teile derErde.

Die Gewährleistung einernachhaltigen Entwicklung in Ent-wicklungsländern, einer gleicher-massen in ökonomischer, sozialerund ökologischer Hinsicht trag-fähigen Lösung bedarf deshalbeiner globalen Perspektive. DasSchicksal der Menschen, die in dieWeltwirtschaft eingebunden sind,wird mitbestimmt durch Ent-scheidungen, die weit von ihnenentfernt getroffen werden. DerExport von Gütern und Dienst-leistungen, die den Kriterien derNachhaltigkeit nicht entspre-chen, ist deshalb im Endeffekt nurvon geringem Nutzen für Men-schen, die eine gesicherte Exis-tenzgrundlage brauchen.

LITERATUR

Backhaus, N.: Globalization and Marine Re-

source Use in Bali, in: King, V. T. (Hg.):

Human Environment Interactions in South-

East Asia: Past and Present, S. 169–192,

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Backhaus, N./Hoffmann, M.: Globalisierung

und translokales Kulturverständnis, in:

Geographica Helvetica 54/3, S. 164–171,

1999

Lustenberger, J.: Sustainable Shrimp – Markt-

nische oder Wachstumspotential?, Di-

plomarbeit am Institut für Agrarwirtschaft

der ETH Zürich 2001

Müller-Böker, U.: Ecotourism in Nepal: The Ex-

ample of the Royal Chitawan National

Park, in: Thapa, R.P./Baaden, J. (Hg.):

Nepal: Myths and Realities, S. 100–117,

Delhi 2000

liche Emmissionen – und der zu-nehmende Besuch von National-parks durch Touristinnen undTouristen auch zu ökologischenProblemen führt. Den MountKinabalu besteigen täglich über130 Menschen, was die Trag-fähigkeit der Gipfelregion bereitszu strapazieren beginnt. Zudemkommt es auch zu sozialen Beein-trächtigungen und ökonomischenUngleichheiten bei der Lokalbe-völkerung. Durch die Schaffungdes Kinabalu-Parks hat sich fürdie Idaan-Dusun-Kadazan einigesverändert. So ist es ihnen unter-sagt, auf dem Parkgebiet zu jagenund Bäume zu fällen, ausserdemist ihnen der nun den Reisendenzugängliche Berg heilig und durf-te früher nur für spezielle Ritualebestiegen werden. Freilich bietetder Park auch neue Einkommens-quellen, von denen mittlerweiledie ganze Region profitiert. Abernicht alle können (und wollen)daran teilhaben und etwa als Ran-ger oder Lastenträger arbeitenoder eine Lodge eröffnen.

Reisende, die sich dieser Prob-lematik bewusst sind und einenökologischen Tourismus prakti-zieren wollen, verlassen sich aufdas Label «Ökotourismus», dasein ökologisch und sozial ver-trägliches Reisen verspricht. Da eskeine international verbindlichenRichtlinien gibt, wird der Begriffoft sehr weit ausgelegt oder nurnoch als Werbemittel miss-braucht, was Konsumentenzwingt, die ökologischen Richtli-nien der Veranstalter anzufor-dern, wollen sie durch die in derSchweiz gebuchte Reise zur nach-haltigen Entwicklung an denDestinationen beitragen.

Fluch oder Segen?

Wie unsere Forschungsbeispielezeigen, ist die Frage, ob die Pro-duktion für den Weltmarkt für diebetroffenen Menschen Fluch oderSegen ist, nur im Einzelfall zu be-antworten. Zusätzlich kompli-ziert sich die Angelegenheit durchdie zeitliche Dimension. Was heu-te willkommenes Geld bringt unddie Lebensbedingungen der Men-

fe durch die Bauern. Denn dieseRiffs brechen die Wellen, die sonstdie Produktion verunmöglichenwürden. Neben sozio-ökonomi-scher Nachhaltigkeit ermöglichenwir mit dem Kauf von Produkten,die die Zusätze E 401-407 ent-halten, auch – wenn auch inhomöopathischen Dosen – denSchutz fragiler Ökosysteme.

Nationalparks als Tourismusdestinationen

Im Denken der Schweizer Bevöl-kerung ist der Naturschutz starkverankert und er beeinflusstauch ihre Reisetätigkeit. Denn«ursprüngliche» Natur wird oftals rein und authentisch, aberauch als exotisch und abenteuer-lich, kurz: als Gegensatz zum mo-dernen Alltag verstanden und des-halb gerne in den Ferien aufge-sucht. Reiseprospekte tragen demRechnung, indem sie – meist alsBestandteil von Rundreisen – denBesuch von exotischen National-parks anbieten.

Bereisen wir einen geschütztenRegenwald in Malaysia oder einTigerreservat in Nepal, so habenwir gleich auf mehreren EbenenEinfluss auf nachhaltige Entwick-lungen. Zum einen tragen wir mitunserer Reise zur Verbreitungund Stabilisierung des Natur-schutzgedankens bei, da die tou-ristische Attraktivität eine poten-zielle Einnahmequelle darstellt.Die Wertschätzung eines wegenseiner Attraktionen, der guten Er-reichbarkeit und der Infrastruk-tur häufig besuchten National-parks – wie zum Beispiel des zumWeltnaturerbe erklärten Kina-balu Parks im Norden Borneosmit dem (gleichnamigen) höch-sten Berg Südostasiens – kann zurSchaffung weiterer Schutzgebieteführen. So haben in Malaysia, woin den letzten Jahren grosseFlächen geschützt wurden, An-träge auf Schaffung eines Natio-nalparks ohne eine «touristischeKomponente» wenig Chancenauf Realisierung.

Doch leider wissen wir nur all-zu gut, dass die Reisetätigkeit –bereits der Flug verursacht schäd-

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47ABWASSER

Testlauf im KraftWerk1 sche Stoffe. In urbanen Regionenjedoch, wo viele Menschen aufengem Raum leben, ist die Men-ge ausschlaggebend. In Zürichmuss die Abwasserreinigungsan-lage Werdhölzli die flüssigen Ab-fälle von rund 350 000 Einwoh-nerInnen bewältigen, Industrieexklusive, bevor sie in die Limmat

mässig beansprucht, um Pro-blemstoffe aufzufangen, zu ver-dünnen und schliesslich in dieMeere zu transportieren. Zwarbemüht sich die moderne Abwas-serreinigung, die neu identifizier-ten Probleme, wie hormonell wir-kende Stoffe, mit aufwendigenTechnologien zu beseitigen. Klär-anlagen werden hochgerüstet undimmer komplizierter. Die Kostensteigen, die Effizienz bleibt hin-tenan. Um die Qualität des gerei-nigten Abwassers auf lange Zeitzu verbessern, ohne immer wiederneue Lösungen für neue Problemeentwickeln zu müssen, ist ein fun-damentales Umdenken nötig – ge-fragt ist Ursachenbeseitigung stattProblembekämpfung.

Ursachenbeseitigung als neues Paradigma

Aus dem Alltag uns allen bestensbekannt: das Trennen von Abfall.Seit Jahren werden Papier, Glas,Blechbüchsen und Kompostab-fälle separat gesammelt und ent-sorgt. Dies macht Sinn, denn sokönnen die einzelnen Materialienviel leichter wiederverwertet wer-den und als Rohstoffe für neueProdukte dienen.

Ähnliches gilt für unser Ab-wasser: Das getrennte Sammelnvon Problemstoffen hilft, sie ausder Umwelt fernzuhalten, und er-möglicht eine stoffspezifischeEntsorgung oder Aufbereitung. Inder Praxis wird dieses Prinzip be-reits für problematische Indus-trie- und Gewerbeabwässer ange-wendet. So haben beispielsweisemanche Zahnarztpraxen einenAmalgamabscheider, um hoch-giftige Quecksilberabfälle aus deröffentlichen Kanalisation fernzu-halten.

Dieses Vorgehen leuchtet füreine Zahnarztpraxis unmittelbarein. Für die privaten Haushaltehingegen scheint eine Vorreini-gung oder Auftrennung der flüs-sigen Abfälle übertrieben, handeltes sich doch nicht um hochtoxi-

Im Sommer 2001 ist es so weit:450 Menschen werden im Kraft-

Werk1 im Zürcher Kreis 5 einneues Zuhause finden. Neu sindhier nicht nur der Bau sowie diezeitgemässe Wohn- und Arbeits-form, die viel Freiraum lässt fürInnovation, neu ist auch in eini-gen Wohnungen die Sanitärein-richtung. Statt mit konventionel-len Toiletten sind vier KraftWerkBäder mit NoMix WCs ausge-stattet, intelligente Toiletten mitdem Potenzial, die traditionelleAbwasserreinigung zu revolutio-nieren.

Man kennt die Meldungen nurzu gut: Überdüngung unserer Ge-wässer durch ungenügend gerei-nigte Abwässer, Fischsterben,Hormone in Seen und Flüssen –der Zustand unserer Umwelt ruftbei vielen beklemmende Gefühlehervor. In den letzten zehn Jahrenist in der Schweiz ein Fischrück-gang um 42 Prozent zu verzeich-nen. Eine traurige Bilanz mit ge-wiss vielerlei Ursachen, beispiels-weise der Emission urbaner Ab-wässer in die natürlichen Gewäs-ser. Denn trotz Kläranlagen ist dieQualität des gereinigten Abwas-sers nicht immer befriedigend,und Flüsse und Seen werden über-

Tove Larsen, Alfredo Alder, RikEggen, Max Maurer, Jane Munckeund Irene Peters sind wissen-schaftliche Mitarbeiter der Eid-genössischen Anstalt für Wasser-versorgung, Abwasserreinigungund Gewässerschutz.

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Bitte nehmen Sie Platz! – Die Ko-evolution des umweltbewusstenMenschen und des intelligentenWCs findet im KraftWerk1 inZürich statt. Ein neues Sanitär-konzept könnte die traditionelleAbwasserreinigung revolutionie-ren.

VON TOVE LARSEN ET AL.

Abb. 1: Die NoMix-Toilette der deut-schen Firma Roediger. Das Prinzip:Beim Absitzen auf die Klobrille hebtsich der im vorderen Teil des WCsintegrierte Verschluss und ermöglichtdas Abfliessen des Urins. ZumSpülen steht man wieder auf – derVerschluss schliesst sich wieder. DieFäkalien werden wie beim konventio-nellen WC im hinteren Teil wegge-spült.

geleitet werden. Dabei wird längstnicht die ganze Abwassermengein befriedigendem Masse ge-reinigt; Verluste durch Lecks inder Kanalisation oder bei Über-lastungen des Kanalisationsnet-zes infolge starker Regenfälle sindan der Tagesordnung. So gelangtimmer wieder ungereinigtes Ab-wasser in die Umwelt. Die pro-

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48 ABWASSER

die anschliessende Entsorgung mitdem festen Abfall: eine noch etwasfuturistisch anmutende Idee!

Wie auch immer die Beseiti-gung des Urins aus dem Haushaltbewerkstelligt wird, die Entwick-lung der NoMix-Technologie istunmittelbar auf die Kooperati-onsbereitschaft der Bevölkerungund der Industrie angewiesen.Kurz gesagt: die Wissenschaftmuss ihren Elfenbeinturm verlas-sen. Aus dieser Not wird in NO-VAQUATIS eine Tugend ge-

WC bietet sich im KraftWerk1(siehe Kasten).

Wie funktioniert die Urinseparierung?

Voraussetzung für das separateSammeln von Urin ist die NoMix-Toilette (siehe Abbildung), die ur-sprünglich in Schweden ent-wickelt wurde. Einzige Bedingungfür das reibungslose Funktionie-ren ist, dass die Herren Platz neh-men. Ob sie, in Anbetracht der

blematischen Stoffe stammendabei zu grossen Teilen vomUrin: Er enthält grosse Mengenvon Nährstoffen, die das Al-genwachstum im Gewässer för-dern und derentwegen die Rei-nigung des Abwassers in der Klär-anlage so aufwendig ist. (Fäkaliensind weit weniger nährstoffreich.)Im Kanton Zürich gelangen jähr-lich 130 Tonnen Phosphor undstolze 4000 Tonnen Stickstoffüber die Kläranlagen in die

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

KraftWerk1

KraftWerk1 ist ein genossenschaft-liches Bauprojekt im äusseren Kreis5 von Zürich. Es bietet Wohnraum für300 Menschen und 150 Arbeits-plätze. Mit einem vielfältigen, fle-xiblen Wohnungsangebot von der 2-Zimmer-Kleinwohnung bis zur 12-ZimmerGrosswohnung wird fürunterschiedliche individuelle undkollektive Bedürfnisse Raum ge-schaffen. Günstige Mieten sowieUnterstützungsangebote für wenigVerdienende ermöglichen eine brei-te soziale Durchmischung.KraftWerk1 verpflichtet sich zunachhaltigem Handeln. Von Beginnweg wurde das Raumprojekt auf öko-logisch sinnvolle Massnahmen über-prüft. Im Haus mit der grössten Ge-bäudetiefe wurde eine Bedarfslei-tungsanlage installiert, welche mitder Verbesserung der Wärmedäm-mung bewirkt, dass Minergie-Stan-dard erreicht wird.Mobility betreibt einen Fahrzeug-pool, um den Bewohnerinnen denVerzicht aufs eigene Auto zu erleich-tern. Bei der Suche nach Möglich-keiten zur Reduzierung des Brauch-wasserbedarfs wurden die Vertrete-rinnen der Genossenschaft Kraft-Werk1 auf das NOVAQUATIS-Projektder EAWAG aufmerksam gemacht.Mit dem Willen zur Förderung vonIdeen zu einer ökologisch nachhalti-gen Gesellschaft wurde der EAWAGermöglicht, ein Pilotprojekt mit demNoMix-Toilettensystem zu realisie-ren.

Ausführliche Informationen auf demInternet: www.kraftwerk1.chE-Mail [email protected] Telefon 01/440 29 81 Fax 01/440 29 82

Abb. 2:NährstoffreicherUrin belastet dieKläranlagen.

Gewässer (NZZ vom 8.2.2001).Aber auch Hormone und immenschlichen Körper modifizier-te Pharmazeutika sind im Urinenthalten, und inzwischen findetman diese Substanzen in den ein-heimischen Gewässern (Tages-Anzeiger vom 7.2.2001). Da istes nahe liegend, den Urin separatzu sammeln und getrennt zu ent-sorgen. Ein weiterer möglicherSchritt wäre die Reinigung desUrins und seine Verwendung alsAusgangsprodukt für die Herstel-lung von Düngemittel – dank sei-ner hohen Nährstoffkonzentrati-on bietet sich das an. Dies würdeauch dazu beitragen, den Nähr-stoffkreislauf zu schliessen, unddamit einem wichtigen Gebot derNachhaltigkeit gerecht werden.

Diffizil bei der Umsetzung derUrintrennung ist allerdings, dassdie Durchführbarkeit massgeb-lich von der Bereitschaft der Be-völkerung abhängt, diese Tech-nologie in ihrem Badezimmer Ein-zug halten zu lassen. Ein optima-ler Nährboden für die Ko-Evolu-tion von umweltbewusstem Men-schen und umweltfreundlichem

Vorteile, die Urinseparierung fürdie Umwelt bietet, bereit sind ab-zusitzen, soll im Rahmen des Pi-lotprojektes im KraftWerk1 un-tersucht werden. Weiter interes-sieren aber noch andere Aspekteder NoMix-Technologie, die erstim Entstehen begriffen ist: derTransport des Urins vom Haus-halt zur zentralen Reinigungsan-lage und, dort einmal angekom-men, die Reinigung. Diese Fragenwerden derzeit, parallel zu ver-schiedenen anderen Fragestellun-gen, im Rahmen des Forschungs-projektes NOVAQUATIS an derEidgenössischen Anstalt für Was-serversorgung, Abwasserreini-gung und Gewässerschutz (EA-WAG) in Dübendorf untersucht.Die dabei diskutierten Lösungs-ansätze sind vielfältig: Es wäre bei-spielsweise denkbar, den Urin imHaus in kleinen Tanks zu spei-chern, die regelmässig von Tank-lastwagen geleert werden. Oderder Urin wird in der Nacht in derKanalisation transportiert, wenndiese leer ist und es nicht regnet.Möglich wäre auch ein Einimpfender Flüssigkeit im Haushalt und

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49ABWASSER

in der Schweiz aus der Gesamt-schau der ökologischen, gesell-schaftlichen und ökonomischenPerspektive lohnen würde. DieIntegration der disziplinären For-schung in diese gesamthafteBetrachtung ist durch ein eigen-ständiges Projekt, das der ab-schliessenden Gesamtevaluationdient, gegeben (Abbildung 3). Diekomplexe Fragestellung nachVerbesserungsmöglichkeiten derAbwasserentsorgung anhand vonNachhaltigkeitskriterien wird ineinzelnen Disziplinen (Arbeitspa-kete=NOVAs, weiter unterteiltin Teilprojekte) untersucht. Beidreimal jährlich stattfindendenProjekttreffen werden die Resul-tate der einzelnen Teilprojektevorgestellt; hinzu kommen exter-ne Inputs. Die Treffen tragen da-zu bei, dass auch in der diszi-plinären Forschungsarbeit eineganzheitliche Perspektive ermög-licht wird. Den Abschluss desProjekts bildet eine gesamthafteIntegration der verfügbaren Er-gebnisse im Arbeitspaket NO-VA7. Das Projekt ist um denNährstoffkreislauf herum organi-siert, wie er aussehen könnte,wenn die vom urbanen Menschenausgeschiedenen Nährstoffe wie-der in die Landwirtschaft zurück-gegeben würden. Die einzelnenArbeitspakete von NOVAQUA-TIS, als NOVA1 bis NOVA 6bezeichnet, stellen dabei dieverschiedenen Etappen diesesNährstoffkreislaufs dar. NOVA1behandelt die Einstellung vonKonsumentInnen gegenüber derNoMix-Technologie und dasindividuelle Verhalten von Nutze-rInnen; das Pilotprojekt im Kraft-Werk1 ist in dieses Arbeitspaketintegriert. NOVA2 untersucht inKooperation mit der Industrie,also den Sanitärherstellern, wiedie fürs Badezimmer benötigteInfrastruktur aussehen könnte. InNOVA3 wird der Transport desim Haus gesammelten Urins zurAufbereitungsanlage betrachtet.Insbesondere geht es auch umVerluste in der Kanalisation.Gegenstand von NOVA 4 ist dieBehandlung der Urinlösung und

macht, wo gesellschaftliches In-teresse zur Voraussetzung für dieForschung wird. Das Interesse derGesellschaft ist, die in den nächs-ten Jahren und Jahrzehnten an-stehenden Unterhaltskosten fürdie Kanalisation und das Abwas-serreinigungssystem möglichsteffizient einzusetzen, geht es dochschliesslich um Milliarden vonFranken.

Eine ähnliche Wechselwir-kung besteht zwischen der For-schung und den Partnern in derIndustrie, den Sanitärherstellern.Diese sind in der Regel erst dannbereit, in eine neue Technologiezu investieren, wenn sie zufrie-denstellend untersucht wordenist. Eine umfassende Erforschungder NoMix-Technologie kannaber erst dann stattfinden, wennPilotprojekte durchgeführt wer-den können – und das ist wie-derum erst dann möglich, wenndie entsprechenden Sanitärinstal-lationen vorhanden sind (sieheAbbildung 3). NOVAQUATISmacht sich zum Ziel, möglichstfrühzeitig alle Akteure in die Ent-wicklung miteinzubeziehen undhat sowohl in der Industrie alsauch mit dem KraftWerk1 inno-vationsfreudige Partner gefunden.

Inzwischen gibt es neben demersten Pilotprojekt im Kraft-Werk1 bereits Pläne für ein wei-teres Pilotprojekt im Kanton Ba-sel-Landschaft. Derzeit wird ab-geklärt, ob es möglich wäre, mitder Zeit eine ganze Siedlung mitNoMix-WCs auszurüsten und dieAuswirkungen der NoMix-Tech-nologie auf eine Kläranlage sowieden Transport zu untersuchen.Ebenso wichtig wären auch hierdie sozialwissenschaftlichen Er-kenntnisse, die man im Rahmendieses Pilotprojektes gewinnenmöchte.

Das Forschungsprojekt NOVAQUATIS

NOVAQUATIS ist ganzheitlicheForschung, die disziplinär und in-terdisziplinär ausgelegt ist undder Beantwortung der Fragedienen soll, ob sich die Ein-führung der NoMix-Technologie

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Abb. 3: Organisationsstruktur undzeitlicher Ablauf des NOVAQUATISForschungsprojekts.

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Projekt-treffen

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die Herstellung des Dünger-produkts. Es werden verschiede-ne Verfahren getestet, die Nähr-stoffe aus Urin wiederzugewinnenund Mikroverunreinigungen zueliminieren. NOVA5 untersuchtdas Gefährdungspotenzial, dasvon den im Urin enthaltenenStoffen für die Umwelt ausgeht.Es geht hierbei sowohl um dieVorteile, die sich durch dieNoMix-Technologie für aquati-sche Ökosysteme ergeben, als

auch Risiken, die durch dieVerwendung von Urin als Aus-gangsprodukt für die Herstellungvon Düngemittel denkbar wären.NOVA 6 prognostiziert die zuerwartende Nachfrage nach ei-nem Düngerprodukt aus Urin inder Landwirtschaft und unter-sucht die Einstellung von Land-wirten gegenüber dem neuenDüngerprodukt. NOVA 7 ist dieganzheitliche Beurteilung derNoMix-Technologie. Dieses Ar-beitspaket führt die Ergebnisseder anderen Arbeitspakete zu-sammen, ergänzt sie um wichtigeThemenbereiche und führt zu ei-ner Gesamtaussage. Die einzelnenProjekte innerhalb von NOVA-QUATIS laufen alle fast zeitgleichab; das Ziel ist, dass Forschung,Gesellschaft und Industrie ge-meinsam zur Gestaltung bzw.Evolution der NoMix-Technolo-gie beitragen.

Ausführliche Informationenauf dem Internet unter:www.novaquatis.eawag.ch

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Herausforderung für die Schulegenstand verbinden. Dabei gingenwir von einem sozio-ökologi-schen Konzept für Umweltbil-dung aus: Umweltbildung ist einegrundlegende Bildungsaufgabe,die nicht für politische Zweckeder Umweltverbesserung instru-mentalisiert werden darf. Ihr Zielmuss es sein, ausgehend von Ana-lysen konkreter Handlungssitua-tionen das Verständnis für indivi-duelle und kollektive Handlungs-bedingungen, Zielkonflikte, Le-bensstile und deren Auswirkun-gen und damit für die Komple-xität der Nachhaltigkeitsfrage zufördern. Dabei verwenden wirden Nachhaltigkeitsbegriff ausdem so genannten Brundtland-Bericht (WCED): «NachhaltigeEntwicklung ist eine Entwick-lung, die den Bedürfnissen derheutigen Generation gerechtwird, ohne die Möglichkeitenzukünftiger Generationen einzu-schränken.» Die Projektwoche«Nachhaltigkeit» an einem Zür-cher Gymnasium ist eines der un-tersuchten Fallbeispiele.

Nachhaltigen Lebensstil fördern

Am Realgymnasium Rämibühlgibt es eine längere Tradition mitProjektwochen für die sechstenKlassen. Der Impuls, die so ge-nannte RG-Woche im Mai 1997unter das Thema Nachhaltigkeitzu stellen, kam vom Prorektor desRealgymnasiums. Er hatte sichseit der Konferenz von Rio im Jahr1992 immer wieder mit diesemThema beschäftigt. Als Ziel derProjektwoche formulierte er:«Die Schülerinnen und Schülersollen soziale und ökologischeProbleme in ihrer Wechselwir-kung wahrnehmen, Handlungs-spielräume für Veränderungen er-kennen und aus diesem Verständ-nis heraus umweltfreundliche, in-dividuelle und kollektive Hand-lungsalternativen ableiten undrealisieren. Unsere Vision ist dieVeränderung der individuellen

missionarischen Eifer. In den letz-ten Jahren haben verschiedeneForschungsergebnisse im In- undAusland dazu beigetragen, dieDiskussion um die Umweltbil-dung zu differenzieren und zu ver-sachlichen. Eine wichtige Rollespielt dabei auch, dass in der Bil-dung selbst gesellschaftlichenThemen, Fragen nach zukünfti-gen Entwicklungen und den Sinn-fragen der Jugendlichen mehrAufmerksamkeit gewidmet wird.Dafür wird zunehmend der Be-griff «Bildung für nachhaltigeEntwicklung» verwendet.

Provokanter Begriff

Nun reicht natürlich die neue Be-grifflichkeit «Bildung für nach-haltige Entwicklung» nicht aus,um die Bildungsaufgabe neu zubegründen und zu positionieren.Es ist zudem heute auch nochnicht klar, ob es überhaupt für dieUnterrichtspraxis Sinn macht,von Bildung für nachhaltige Ent-wicklung zu sprechen. Denn derBegriff ist nicht leicht zugänglich;er provoziert bei Lehrerinnen undLehrern zahlreiche Fragen: «Wasist eigentlich eine nachhaltige Ent-wicklung? Wie kann ich das alsLehrer oder Lehrerin thematisie-ren? Was umfasst Umweltbildungalles? Habe ich als Lehrpersonversagt, wenn die Kinder oder Ju-gendlichen nicht umweltfreund-licher werden?» Es interessierenaber auch grundsätzlichere Fra-gen: «Welche Rollen können odermüssen Bildungsinstitutionen ineinem gesellschaftlichen Prozessnachhaltiger Entwicklung spie-len? Wie können wir weiter auf-bauen auf der gegenwärtigen Pra-xis interdisziplinären Unter-richts?»

Anhand von Fallstudien imRahmen des Schwerpunktpro-gramms Umwelt suchten wir denPotenzialen und Hindernissen aufden Grund zu gehen, die sich mitdem Anspruch der nachhaltigenEntwicklung als Unterrichtsge-

Nachhaltige Entwicklung ist alsSchlüsselaufgabe unserer Ge-

sellschaft seit 1992 eine nationa-le Aufgabe. Die Schweiz hat dieAgenda 21 unterzeichnet, in derdie Staaten unter anderem im Ka-pitel 36 die Notwendigkeit aner-kennen, «die Sensibilisierung derMenschen für Umwelt und Ent-wicklungsprobleme zu fördernund sie an der Suche nach Lösun-gen zu beteiligen». Die dort for-mulierten Empfehlungen sind imGrunde eine Neuauflage von al-ten Forderungen. Schon 20 Jahrevorher wurden Empfehlungen zur Umweltbildung erarbeitet(UNESCO 1977). Die Wunsch-vorstellung, dass die Bildung rich-ten möge, was die Natur- und Um-weltschutzpolitik nicht im erhoff-ten Masse schafft, ist im Übrigennicht neu; sie geht bis in dieAnfänge unseres Jahrhundertszurück.

Unter Umweltbildnerinnenund -bildnern war, und ist teil-weise noch heute, die Überzeu-gung verbreitet, dass Bildungmassgeblich Lösungen von Um-weltproblemen fördern könne.Gelegentlich grenzte diese Über-zeugung auch an Euphorie und

Dr. Regula Kyburz-Graber ist Aus-serordentliche Professorin für Mit-telschulpädagogik an der Univer-sität Zürich.

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Lernen im Hinblick auf nachhalti-ge Entwicklung bedeutet, anhandkonkreter Themen der Frage nach-zugehen, wie sich die Zukunft imSinne einer solchen langfristigpositiven Entwicklung gestaltenlässt. Die Komplexität des The-mas fordert sowohl die Lehrkräfteals auch die Schülerinnen undSchüler heraus, wie eine Fallstu-die anlässlich einer Projektwocheam Zürcher Gymnasium Rämibühlzeigt.

VON REGULA KYBURZ-GRABER

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erahnbaren Voraussetzungen undAuswirkungen. Die Schülerinnenund Schüler suchten sich sodannStationen auf dem «Lebensweg»aus, welche sie im Laufe der Wo-che anhand von konkreten Bei-spielen näher analysieren wollten.Gewählt wurden unter anderemder Lebensmittelhandel anhandeines Quartierladens und die Gast-ronomie anhand des BeispielsMcDonalds. Die Untergruppenentwarfen eine Vorgehensplanungund arbeiteten fortan selbständig;zur Betreuung wurden Terminevereinbart. Neben der selbständi-gen Arbeit fanden vier Exkursio-nen statt: zum Kantonschemiker,zu einer Entwicklungsorganisa-tion, zu McDonalds sowie in eine Fabrik für Süssigkeiten.

Projektteilnehmer befragt

Das Forschungsteam nahm anden vorbereitenden Sitzungen so-wie teilweise an der Woche selbstteil. Für die Auswertung wurdenje ein- bis zweistündige halb-strukturierte Interviews mit Schü-lerinnen, Schülern, Lehrkräftenund mit dem Prorektor durchge-führt.

Um den Lehrpersonen sowieSchülerinnen und Schülern in denInterviews das Verständnis desBegriffes Nachhaltigkeit zu er-leichtern, wurden sie gefragt, obsie der Meinung seien, die Ler-nenden sollten durch die Schulebefähigt werden, die Gesellschaftaktiv mitzugestalten. Die Mehr-heit der befragten Personen sig-nalisierte – zum Teil mit Vor-behalten – Zustimmung zu dieserFrage. Begründet wurde die Zu-stimmung durch folgende Argu-mente: Die Mitgestaltung derGesellschaft wird generell oder imHinblick auf gewisse Verhaltens-weisen als wichtig eingestuft; siewird als der eigentliche oder aus-schliessliche Zweck der Schulebezeichnet. Die Mitgestaltungder Gesellschaft durch die Men-schen überhaupt beziehungswei-se durch die besser Ausgebildetensei normal. Schliesslich wurdeauch gesagt, die Mitgestaltungder Gesellschaft müsse irgendwo

nen und Schülern. Das Betreu-ungsteam hatte sich intensiv vor-bereitet und verschiedene The-men identifiziert, welche es denSchülerinnen und Schülern amersten Arbeitstag vorstellte. An-hand von Magazinen setzten sichdie Jugendlichen zunächst mit all-gemeinen Fragen zu Trends aus-einander. Sodann bildeten sichUntergruppen zu verschiedenenUnterthemen, die von den Lehr-personen vorgeschlagen wurden:

und gesellschaftlichen Praxis inRichtung eines nachhaltigen Le-bensstils (...) Gewisse Strukturensowie der Lebensstil der Schüle-rinnen und Schüler sollen in Rich-tung Nachhaltigkeit verändertwerden.»

Zusammen mit einem Lehrer-team bereitete der Prorektor dieProjektwoche vor. Jede der fünfKlassen wurde von einer Lehr-person und zwei Studierenden derUmweltnaturwissenschaften der

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Wo kommen unsere Lebensmittelher? Wie und mit welchen Auswirkun-gen werden sie produziert? Diesenund anderen Fragen gingen Schülerin-nen und Schüler des Gymnasiums Rä-mibühl an einer Projektwoche nach.

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ETH vor der Projektwoche in dieThematik eingeführt. Sie befrag-ten die Klassen nach ihren Inter-essen im Zusammenhang mit demübergeordneten Thema «Nach-haltigkeit». Darauf wurden ins-gesamt sieben Themen festgelegt:Nord-Süd, Verkehr, Ernährung,ökologische Ethik, Trendgesell-schaft, Energie sowie Tourismus.Während der Woche arbeitetendie Schülerinnen und Schüler inbetreuten, klassenübergreifendenGruppen. Die Trendgesellschaftund die Ernährung wurden bei-spielsweise wie folgt bearbeitet:

Die Gruppe «Trendgesell-schaft» bestand aus 27 Schülerin-

Fitnesszentrum, Nachtleben, Ju-gendkultur, Open-Air-Konzertesowie zum Cabriolet Z3 von Mer-cedes. Die Untergruppen erhieltenden Auftrag, zu ihrem Thema einProdukt zu erarbeiten. Die Schü-lerinnen und Schüler arbeitetenfortan selbständig, wobei mit demBetreuungsteam gewisse Treff-punkte vereinbart waren. Zudemwar ein Nachmittag reserviert fürdie Reflexion über den Zusam-menhang von Trends und nach-haltiger Entwicklung.

Die Gruppe «Ernährung» be-stand aus acht Schülerinnen undSchülern. Die Lehrpersonen hat-ten im Vorfeld Kontakt zu ihnen,um deren spezifisches Interesse zuerfahren. Zu Beginn wurde der«Lebensweg» von verschiedenenProdukten rekonstruiert mit allen

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zwischen dem Bedürfnis nach ein-fachen Antworten und Lösungenund der Komplexität und Vielfaltrealer Probleme einen Weg zu su-chen, der weder in Resignationangesichts der Grösse der Proble-me abdriftet, noch in vereinfa-chende Glaubenssätze mündet. Esmüssen Denkmodelle entwickeltund eine Sprache für die grosseAufgabe der nachhaltigen Ent-wicklung gefunden werden.

In der Projektwoche zeichnetesich der Weg ab: Wo Lehrerinnenund Lehrer, Schülerinnen undSchüler wesentliche Prozessenachhaltiger Entwicklung, wiezum Beispiel der Umgang mit derKomplexität realer Situationen,mit unsicherem Wissen, unter-schiedlichen Wertvorstellungenund Zielkonflikten erfahren unddarüber nachdenken können, er-werben sie Kompetenzen für dieGestaltung der zukünftigen Ent-wicklung im privaten wie im öf-fentlichen Bereich.

LITERATUR

Huber, S., Berchtold, Ch., Kummert, R., Ky-

burz-Graber, R.: Ernährung heute und

morgen. Interdisziplinäre Materialien zu

Produktion, Verarbeitung, Handel und

Konsum, Aarau 2001

Keating, M.: Agenda für eine nachhaltige Ent-

wicklung. Eine allgemein verständliche

Fassung der Agenda 21 und der anderen

Abkommen von Rio, Genf 1993

Kyburz-Graber, R., Halder, U., Hügli, A., Rit-

ter, M.: Umweltbildung im 20. Jahrhun-

dert. Anfänge, Gegenwartsprobleme und

Perspektiven, Münster 2001

Kyburz-Graber, R., Högger, D., Wyrsch, A.: Sozio-

ökologische Umweltbildung in der Praxis.

Hindernisse, Bedingungen, Potenziale.

Schlussbericht zum Forschungsprojekt

«Bildung für eine nachhaltige Schweiz», Uni-

versität Zürich 2000 (www.unizh.ch/hlm/

downloads/publikationen.html)

UNESCO 1997 (Hg.): UNESCO-Konferenzbe-

richt 4 1979, UNESCO-Kommission der

Bundesrepublik Deutschland, Zwischen-

staatliche Konferenz über Umwelterzie-

hung, München 1997

kein allgemein bekannter Begriffund vor allem kein Unterrichts-thema. Nachhaltigkeit bedarf ei-ner intensiveren Auseinanderset-zung als gängige Unterrichtsthe-men: Wie die Interviews mit denLehrkräften gezeigt haben, müs-sen sie den Begriff inhaltlich, um-weltpolitisch, bildungspolitisch,didaktisch und unterrichtsmetho-disch sowie auch im Hinblick aufdessen Bedeutung für ihr persön-liches Leben klären. Für eine sol-che intensive Auseinandersetzungmit nachhaltiger Entwicklungfehlte bei der Vorbereitung derProjektwoche die Zeit.

Schwieriger Umgang mit Komplexität

In den Anfängen der Umweltbil-dung ging man davon aus, dassbesseres Wissen zu umweltge-rechtem individuellem Handelnführe. Das Wissen um die Kom-plexität und die gesellschaftlich-kulturelle Dimension der Um-weltproblematik und der nach-haltigen Entwicklung ist heutesehr viel grösser. Es kann nichtAufgabe der Bildungsinstitutio-nen sein, konkrete Verhaltens-weisen anzuleiten oder Problem-lösungen für die Gesellschaft zuerarbeiten. Lernen im Hinblickauf nachhaltige Entwicklung be-deutet, in konkreten Handlungs-feldern die Frage zu bearbeiten,wie sich die Zukunft im Sinne ei-ner solchen Entwicklung gestal-ten lässt.

Eine Hauptschwierigkeit fürLehrpersonen wie auch für Schü-lerinnen und Schüler scheint da-bei zu sein, dass sie grundsätzlichvon Harmonie, sicherem Wissenund klarer Struktur ausgehen.Der Unterricht kommt in derRegel dem Bedürfnis nach klarerVorgabe entgegen. Für mancheLernbereiche ist eine solche Lehr-Lernkultur gewiss angemessenund hilfreich. Im Hinblick aufThemen im Zusammenhang mitnachhaltiger Entwicklung scheintsie jedoch eines der grössten Hin-dernisse zu sein. Die grosse Her-ausforderung besteht nun fürLehrende und Lernende darin,

erlernt werden. Verschiedene derbefragten Personen hatten Vorbe-halte gegenüber dieser Zielset-zung: Die Befähigung zur Mitge-staltung der Gesellschaft sei nurein Aspekt unter anderen; diesesZiel sei sehr anspruchsvoll; dieSchule arbeite eher entgegen die-ser Zielsetzung.

Ein Teil der befragten Perso-nen kam durch die Projektwocheerstmals mit dem Begriff Nach-haltigkeit in Kontakt; ein weitererTeil kannte zwar den Begriff be-reits vor der Mitarbeit in der Pro-jektwoche, die Bedeutung waraber nicht geläufig. Ein letzter Teilkannte den Begriff und dessen Be-deutung schon vorher. Nachhal-tigkeit wurde in den Interviewsvorwiegend mit der Gerechtigkeitgegenüber späteren Generationensowie mit der Umweltproblema-tik assoziiert. Einzelne der be-fragten Personen stellten auchökonomische, gesellschaftlicheund politische Bezüge her. Weite-re Befragte assoziierten Nachhal-tigkeit mit der Effektivität vonLernerfolgen sowie mit dem Um-gang mit Menschen, bei dem sichdie Prinzipien der Nachhaltigkeitverwirklichen liessen. Das Anlie-gen der nachhaltigen Entwick-lung wurde von den meistenPersonen gleichzeitig sowohl alswichtig als auch als abgegriffen,schwammig oder unerreichbarbeurteilt.

Vorbehalte geäussert

Die grosse Mehrheit der befrag-ten Personen gab zu verstehen,dass sie das Anliegen der nach-haltigen Entwicklung für dieSchule wichtig findet; es wurdenjedoch eine Reihe von grundsätz-lichen und praktischen Vorbehal-ten geäussert. Drei Vorbehaltedominierten: erstens, dass dieLehrpersonen nicht kompetentoder nicht interessiert seien, zwei-tens, dass eine Auseinanderset-zung oberflächlich bleiben müsseund drittens, dass das Interesseder Lernenden beschränkt sei.

Eine grosse Schwierigkeit be-deutet für manche Lehrkräfte dieUnsicherheit. Nachhaltigkeit ist

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sierung sind Schulen und Univer-sitäten zunächst immer noch ei-nes, nämlich individuell und sounterschiedlich. Der Bildungs-wettbewerb wird von Tausendenverschiedenen Einheiten getra-gen, nicht von Bildungs-Compa-nies. Und es ist ein Wettbwerbletztlich um Ideen und erst dannum Märkte oder Produkte.

Orte, Chancen, Zufälle

Es ist daher ironisch, Bildung als«Standortfaktor» und «Wettbe-werbsvorteil» zu verstehen. DieIronie entsteht dadurch, dass estatsächlich um Orte geht, die sicheiner künstlichen Investition ver-weigern und die den eigenen Vor-teil definieren. Man kann nicht«zwei, drei und viele» Silicon Val-leys, Harvard Universities oderEidgenössische Technische Hoch-schulen schaffen; in diesem Sinneist Bildung nicht beliebig repro-duzierbar, sondern braucht Orteund Chancen. Das ist nicht ohneweiteres einsichtig, etwa im Blickauf die sehr populäre Idee, dassman nur die Besten versammelnmüsste, um die höchste Qualitätzu erreichen. Der «Rohstoff», vondem euphemistisch die Rede ist,wird aber nicht über den Intelli-genztest hergestellt, sondern ver-langt, so paradox es klingt, dengeduldigen Umgang mit Heraus-forderungen und Zufällen. WasAlfred Whitehead die «Abenteu-er der Ideen» nannte, ist immerauch die Erfahrung eines ei-gentümlichen Wartens, das oftauch nicht belohnt wird, ohne Bil-dung aber gar nicht nahe liegenwürde.

Bildung ist jedoch nicht nurein idealistisches Projekt, das for-schendes Lernen an Mühsal bin-det und unkalkulierbare Anstren-gungen verlangt. Bildung istzugleich ein gesellschaftlichesGrosssystem, der weltweit grössteund der langfristig wahrschein-lich einflussreichste Arbeitgeber,eine wahre Maschinerie, betrach-

gänglich als individuelle und da-her fragile Qualität.

Humanistische Gelehrsamkeit

Im humanistischen Zürich wäreniemand auf die Idee gekommen,«Bildung» als Rohstoff zu be-zeichnen. Die Schola Tigurinazog, besonders in Konkurrenz mitden Universitäten von Basel undStrassburg, die bedeutendsten Ge-lehrten des 16. Jahrhunderts an,allerdings nicht, um Rohstoffe zubearbeiten. Der Zweck der Bil-dung war Gelehrsamkeit, Stil undFreude am Ausdruck; gemessendaran stellt die Metapher «Roh-stoff» mehr als eine Respektlosig-keit dar.

Humanisten waren unnach-ahmlich darin, Bildung als Selbst-zweck anzusehen, als genuinenLernprozess, aus dem nichts Drit-tes hergestellt werden kann.Gleichwohl trifft die Metapher,so schnoddrig sie klingt, einenKern, nämlich den zunehmendenWettbewerb um Bildungsqua-lität. Das wiederum ist vom 16.Jahrhundert so weit nicht ent-fernt, nur dass sich heute nichtmehr wenige Gelehrte an einemexklusiven Ort versammeln, son-dern Wissenschaften um Mittel,Reputation und Zukunft konkur-rieren.

Seit Plato hatte die Akademieeinen, nämlich ihren Ort. Schulenund Universitäten haben und sindeine ortsgebundene Identität, siekönnen daher schlecht exportiertwerden, während Bildung inForm von Informationseinheitenoder Wissenssegmenten heuteweltweit allen zugänglich ist.Aber blosse Zugänglichkeit istkein Anreiz, der mögliche«Input» ist nicht schon der wahr-scheinliche, und dies gilt umsomehr, je unspezifischer und viel-fältiger er angeboten wird. Daherist die Selektion entscheidend, dieSpezifik des Angebots, das je anseinem Ort erzeugt wird. Trotz al-ler Bemühungen um Standardi-

Was bedeutet es, wenn be-hauptet wird, eine Gesell-

schaft habe als einzigen Rohstoff«Bildung»? Eigentlich sind Roh-stoffe Naturerzeugnisse, aus undmit denen Produkte, gelegentlichauch andere Rohstoffe, erzeugtwerden. Bildung aber ist kein Phä-nomen wie «Erdöl», weil aus Bil-dung nichts anderes gemacht wer-den kann, vielmehr Bildung im-mer nur auf sich selbst verweisenkann.

Wenn Bildung als Rohstoff be-zeichnet wird, dann im Sinne vonqualitativen Unterschieden: Be-stimmte Personen sind gebildeterals andere, und verschiedene Sys-teme der Bildung unterscheidensich im Grade ihrer Qualität. DieRedeweise verweist also auf Wett-bewerb: Bildung ist als «Roh-stoff» keine Ausgangsgrösse derHerstellung, sondern Qualität ineinem Prozess, wenngleich eine,der wirklicher «Produktcharak-ter» fehlt, weil die Qualität immerneu gewonnen werden muss undnicht wirklich auf Serie gestelltwerden kann. Bildung ist nur zu-

Bildungssystem im Wandel

Dr. Jürgen Oelkers ist OrdentlicherProfessor für Allgemeine Pädago-gik an der Universität Zürich.

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Bildung unterliegt heute demZwang und der Chance, Lernpro-zesse immer neu zu organisieren.Die Etablierung lernfähiger Sys-teme und entsprechender Leis-tungsüberprüfungen stehen auchauf dem Programm der ZürcherSchulreformen. Von «lernendenSystemen» kann aber nur die Re-de sein, wenn diese auch ihreSchwächen benennen und be-heben können. Mit der wissen-schaftlichen Überprüfung des Re-formprozesses wird auch die Bil-dungsforschung eine neue Rolleübernehmen.

VON JÜRGEN OELKERS

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und der ständigen Wechsel, dassdie Organisationsformen des 19.Jahrhunderts im Bildungsbereichnicht mehr tragfähig sind und aufsehr grundlegende, um nicht zusagen radikale Weise umgebautwerden müssen. Weder dieVolksschule noch das Gymnasi-um sind im 19. Jahrhundert aufProzesse der flexiblen Lernorga-nisation eingestellt worden. Siewaren fach- und kanonorientiert,ausgerichtet auf möglichst glei-

der Ausrüstung mit Grundwis-sen. Vielmehr ist Bildung derZwang und die Chance, Lern-prozesse immer neu zu organisie-ren unter der Voraussetzung, sieauch aushalten zu können. Es gibtkeine Sicherheiten, ausgenom-men vielleicht die Kulturtechni-ken, die am Anfang des Lernenserworben werden können unddann für den gesamten Lernpro-zess vorhalten, weil Leben undLernen nicht mehr zu unterschei-den sind, mit allen Folgen, die da-mit für biographische oder kul-turelle Formen von Identität ver-bunden sind.

Das ist historisch neu, wennman Verbreitung, Verdichtungund Beschleunigung von Bildungbetrachtet. Es handelt sich nichtmehr um einen weitgehend ste-reotypen Prozess der Vorberei-tung auf Beruf und Leben. Viel-mehr sind beide Bereiche, Berufewie Lebensformen, unter denDruck einer flexiblen Individua-lisierung geraten, die gleichblei-bende Verläufe unwahrschein-lich werden lässt. Die grundle-gende Steuerung ist nicht mehrdie Wiederholung bewährter For-men, sondern der flexible Wech-sel zu besseren Alternativen, diein ihren Risiken nicht absehbarsind. Grundlegend für Tempound Tausch ist die Börse undnicht der Markt des 19. Jahrhun-derts. Die Bildungssysteme ste-hen daher vor dem sehr grundle-genden Problem, wie sie sich aufdiesen Wandel einstellen und wei-terhin für Bildung sorgen sollen,wenn Bildung nicht mehr iden-tisch ist und sein kann mit demGelehrtenideal des 16. Jahrhun-derts.

Überholte Formen der Organisation

Die Steuerung der Bildungssyste-me von aussen ist nur begrenztmöglich. Keine Bildungspolitikkann vorhersagen, welche Bil-dungsanforderungen auch nur inzwanzig Jahren gefragt sind.Gleichwohl ist sichtbar, geradewegen der Erfahrungen der Be-schleunigung, Flexibilisierung

tet man Personalausstattung, Or-ganisationsgrad und Kontrollauf-wand. Organisation und Grössestehen in einem eigenartigen Ver-hältnis zum individuellen Cha-rakter der Bildung.

In Bildung investieren

Die Ertragserwartung ist immernoch persönliches Wissen undKönnen. Firmen stellen nicht Pro-gramme an, sondern investierenin die Lernfähigkeit ihrer Mitar-beiter, ohne dabei einfach forma-le Bildungsabschlüsse in Rech-nung zu stellen. Das grosse Systemoperiert aber wesentlich auf derBasis des Tausches von Berechti-gungen gegen Beschäftigung.Wenn es eine Krise der Bildunggibt, dann liegt sie hier und nichtin der Investitionsbereitschaft, dieauf ein historisch gesehen langfris-tiges Wachstum verweist, das imVerhältnis zum Volumen immernur schwache und schnell revi-dierte Kürzungen erlebt hat.

Die Schweiz hat seit der Re-formation immer in Bildung inves-tiert, nicht um die «Rohstoffar-mut» auszugleichen – das würdein der Konsequenz bedeuten, roh-stoffreiche Länder könnten aufBildung verzichten –, sondern umLernanschlüsse zu wahren,zunächst solche der Religion,dann der Industrie und schliess-lich der globalen Organisationvon Forschung und Wissen. Alledrei Epochen, Reformation, Auf-klärung und Industrie sowie dienoch unbenannte des 21. Jahr-hunderts, beziehen sich auf un-terschiedliche Organisationen desWissens und Lernens: katecheti-schen Unterricht im Glauben, ele-mentare Bildung in säkularenVolksschulen und lebenslangesLernen unter der Bedingungschnell wechselnder Kontexteund hoher individueller Anpas-sungsfähigkeit.

Permanentes Lernen

In diesem Sinne ist die Zukunftder Bildung nicht ihrer Vergan-genheit zu entnehmen, künftigeBildung ist nicht länger zu mes-sen am Effekt von Katechese oder

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

che Effekte und organisiert mitStandardformen des Lehrens undLernens.

In gewisser Hinsicht gilt dasauch für die Universität, die sichwie die Schulen nach «Fächern»organisiert, die lange nur bezogenauf sich selbst lernfähig waren.Der Gewinn war Spezialisierung,aber nicht oder nur bedingt Ver-netzung, während die künftigeOrganisation des Lernens und derWissenserzeugung problemspezi-fisch erfolgt und Netzwerke vor-aussetzt, die sich nicht längerbürokratisch verwalten lassen.

Der Frontalunterricht liegt nicht imTrend: In Zukunft ist eine flexibleOrganisation des Lehrens und Ler-nens jenseits traditionellerUnterrichtsformen gefordert.

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len sind im Blick auf sich selbstund im Vergleich mit anderenPartei, sie werden gerade beistärkerer Individualisierung nurbegrenzt zulassen, dass ihreSchwächen zur Sprache kommen.Von «lernenden Systemen» kannaber nur dann die Rede sein, wennsie fehlersichtig sind, also ihreSchwächen benennen und behe-ben können.

Weil Bildung oft nur mit sehrvagen Zielsetzungen kommuni-ziert wird, die konsensbezogensind, ist es schwierig, ein Bild derWirklichkeit zu gewinnen, solan-ge nicht Forschungsdaten zurVerfügung stehen, die mindestensgrössere Steuerungsentscheideabstützen. Über die Belastung derLehrkräfte kann man spottenoder klagen, entscheidbar wirddie politische Diskussion, die mitnicht geringen Folgen verbundenist – bedenkt man, was eine Stun-de Entlastung kostet oder eineStunde Mehrbelastung einspart –nur dann, wenn hinreichend Da-ten vorliegen.

Bildung ist kein «Rohstoff»,aber Lernen und Wissen, die bei-den Grundgrössen jeder Bildung,haben sehr wohl auch materielleAspekte, solche der Organisationund solche der Finanzierung. Esgibt einen Tarif für jede neue Ge-neration, über den sie nicht selbstentscheidet. Auch aus diesemGrunde ist Bildungspolitik unver-zichtbar, ohne, um das zu wie-derholen, über Bildung zu «ver-fügen». Sie ist immer eine heikleInvestition, es gibt keine «blackbox», sondern nur riskantes Ler-nen im Blick auf schnell umschla-gendes Wissen, das didaktischeSicherheit ständig neu minimiert.Bisher waren die Bildungssystemestark auf Tradierung eingestellt.Die Pointe ist, dass auch das einGeschäft der ständigen Innova-tion geworden ist.

kann, dass das Programm ausein-ander fällt.

Die Zürcher Schulreformengehen von der Prämisse aus, dassBildungssysteme sich aus sichselbst heraus entwickeln müssen,dabei aber Anstösse oder besserAnreize von aussen nötig haben.Es sind keine «selbstreferenten»Systeme in dem Sinne, dass sieihren Zweck selbst bestimmenund über sich selbst Aufsichtführen könnten. Bildung ist auchda eine öffentliche Angelegenheit,wo sie privat organisiert wird,allein damit ist ein politischerZwang zur Transparenz gegeben,ohne den Wettbewerb nicht statt-finden kann. Im Wettbewerbsteht das gesamte System, nichtnur die Spitze; wer das System ent-wickeln will, kann nicht lediglichauf bestimmte Anbieter, etwa sol-che für Hochbegabte, setzen undmuss Transparenz auf allen Ebe-nen erzeugen, weil die Qualitätder Volksschule alle anderenQualitäten direkt oder indirektbestimmt.

Die Zürcher Reformen habendrei Ziele: einmal die flexiblereGestaltung der Organisation, da-mit verbunden zweitens die Eta-blierung von lernfähigen Syste-men, die imstande sind, sich aufwechselnde Anforderungen ein-zustellen, sowie drittens dazu pas-sende Formen der Evaluation undLeistungsüberprüfung, die bis-lang im Bildungsbereich nichtannähernd üblich waren. Einwirklicher Wettbewerbsvorteilwäre dann nicht einfach der Ort,sondern die Transparenz der Or-ganisation vor Ort. Volksschulenwenigstens können nicht mehreinfach mit Schulpflicht und his-torischer Gewohnheit begründetwerden, sondern verlangen Leis-tungsnachweise, die mehr sind alsdas Verteilen von Noten.

Bildungsforschung gefordert

Dabei wird die Bildungsfor-schung eine neue Rolle überneh-men, weil Transparenz neutraleDatenerzeugung verlangt. Schu-

Letztlich hat das auch Folgen fürdie persönlichen Karrieren, dienicht mehr Aufstieg mit Ab-schluss gleichsetzen können, weilimmer nur neue Probleme bear-beitet werden können. Professu-ren der alten Art, als Endstufenvon Karrieren, sind dann vermut-lich nicht mehr das einzige Orga-nisationsmuster. Im Schulbereichsind bereits heute Patchwork-Karrieren nicht länger die Aus-nahme; nur so kann auf Flexibili-sierungsdruck reagiert werden,der im Übrigen nicht nur ausAnforderungen der Beschäfti-gung entsteht. Auch Biographienkennen Unterbrechungen auf-grund irritierender Anschlüsse.

Zürcher Schulreformen

Im Vergleich zu zentral verwalte-ten Flächenstaaten haben dieSchweizer Kantone erheblicheVorteile in der Neuorganisationihrer Bildungssysteme. Wenn vonverstärkter Autonomie die Redeist, dann muss vorausgesetzt wer-den, dass die Systeme in derSchweiz nie sehr uniform warenund über einen hohen Grad anAutonomie bereits verfügen. Diessetzt wiederum einen historischenSinn für die Differenz und die Ver-schiedenartigkeit der Wege vor-aus. Die weitergehende Individu-alisierung der Bildungssystememacht allerdings nur dann Sinn,wenn die Massnahmen nicht dasGegenteil von dem bewirken, wassie bewirken sollen, also die Au-tonomie beschränken, indem sieerhöht werden soll.

Das ist, wie angelsächsischeBeispiele zeigen, durchaus nichtnur absurd, sondern eine realisti-sche Möglichkeit, weil Bildungs-systeme, einmal unter Druckgesetzt, dazu neigen, ihre schlech-teren Seiten zu verstärken. DasAugenmass der Politik muss danndarin bestehen, Versuche zuzu-lassen und die Generalisierungder Erfahrungen unter Kontrollezu halten, weil «Individualisie-rung» mindestens im obligatori-schen Schulbereich nicht heissen

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– Allgemeine Gesundheitsför-derung (suchtunspezifische Prä-vention): Angestrebt wird eineallgemeine Stärkung der indivi-duellen und strukturellen gesund-heitsfördernden Kräfte. Nicht wieSucht vermieden, sondern wie Ge-sundheit gefördert werden kann,lautet hier die Frage.– Prävention von Suchtverhal-ten: Diese Art der Präventionmacht keinen prinzipiellen Unter-schied zwischen substanzgebun-denen und substanzfreien Süch-ten. Im Zentrum stehen dieTendenzen zu süchtigem Verhal-ten als solches, die verhindertwerden sollen.– Prävention des Suchtmittel-missbrauchs: Die suchtmittel-spezifische Prävention zielt aufVerhaltens- und Einstellungs-änderungen gegenüber einzelnenSuchtmitteln ab. Es soll die Ab-hängigkeit von ganz bestimmtenSuchtmitteln verhindert werden.

Die drei Zugangsweisen kön-nen sowohl bei den Einzelnen alsauch bei Umwelt und Gesellschaftansetzen. Der personorientierteund der strukturelle Ansatz be-dingen sich gegenseitig:– Personorientierte Gesund-heitsförderung und Suchtpräven-tion richten sich an den einzelnenMenschen. Sie haben zum Ziel,dem Individuum Kenntnisse,Erfahrungen und Ressourcen zuvermitteln, welche süchtigemVerhalten vorbeugen oder ent-gegenwirken. Hier geht es umindividuelles Verhalten.– Strukturelle Gesundheitsför-derung und Suchtpräventionsuchen auf jene Entstehungsbe-dingungen süchtigen Verhaltenseinzuwirken, die über eine Ein-zelperson hinausgehen: Umwelt-faktoren, Gesetze, Lebens- undArbeitsbedingungen. Die Umweltund die gesellschaftlichen Struk-turen sind so anzupassen, dasspositive Einflüsse verstärkt undnegative eliminiert werden. Hiergeht es um Verhältnisse.

Ein ähnliches Spannungsfeldzwischen Gegenwart und Zu-kunft besteht auch in der Ökolo-gie. Die Forderung nach einernachhaltigen Entwicklung willheutige Bedürfnisse so decken,dass die Möglichkeiten künftigerGenerationen nicht geschmälertwerden, ihre späteren Bedürfnis-se zu decken. Gemeinsam istbeiden Handlungsfeldern, dassheutige Bedürfnisbefriedigungen,spätere Bedürfnisbefriedigungennicht verunmöglichen oder er-schweren sollen. Im Unterschiedzur (individuellen) Prävention,wo es gilt, aktuelles Wohlbefin-den nicht zu Lasten des künftigenWohlbefindens (das heisst der Ge-sundheit) zu realisieren, geht es inder Ökologie darum, heutigenatürliche Ressourcen nicht zuLasten künftiger Generationen zuübernutzen.

Das theoretische Konzept

Ende der 1980er-Jahre existierteim Kanton Zürich kein kohären-tes theoretisches Konzept für dieSuchtprävention. Aufgrund derForderungen nach mehr Sucht-prävention, die als Reaktion aufdie offene Drogenszene geäussertwurden, wurde in über zweijähri-ger Arbeit von einer Arbeitsgrup-pe das kantonale Suchtpräven-tionskonzept verfasst und 1991durch die Gesundheitsdirektionund das Institut für Sozial- undPräventivmedizin der UniversitätZürich (ISPM) herausgegeben.Neben einer Bestandesaufnahmewurde auch das theoretische Wis-sen aufgearbeitet und weiter ver-feinert. Im Konsens gelang es, alstheoretisches Kernstück einSechsfelderschema der Sucht-prävention vorzulegen. Damitwurde ein breiteres und umfas-senderes Verständnis der Sucht-prävention begründet (siehe Sche-ma Seite 59).

Die senkrechte Dimension desSchemas unterscheidet zwischendrei Ebenen:

Prävention meint dem Wort-sinne nach «Zuvorkommen»,

«Verhindern» beziehungsweise«Vorbeugen». Sie ist stark zu-kunftsorientiert, gilt es doch,künftige Fehlentwicklungen zuverhindern respektive die Wahr-scheinlichkeit günstiger Bedin-gungen zu erhöhen. Unreflektiertdas unmittelbar Naheliegende zutun, steht einem künftigen Nutzenfür die Gesundheit oft entgegen.In der Prävention geht es deshalbdarum, durch einen Verzicht aufkurzfristige Gratifikation (bei-spielsweise die Entspannungdurch Rauchen oder Frustra-tionsminderung durch Alkohol)eine anhaltende, dafür aber mit-tel- oder langfristig angelegteGratifikation anzustreben. Eineverantwortungsbewusste, daskünftige Leben mitberücksich-tigende Handlungsweise einesMenschen strebt unmittelbaresWohlbefinden nicht zu Lasten des künftigen Wohlbefindens an.

Der Sucht vorbeugen

Lic.phil. Roland Stähli ist Beauf-tragter des Kantons Zürich fürPrävention und Gesundheitsförde-rung. Er arbeitet am Institut fürSozial- und Präventivmedizin derUniversität Zürich, welches vonProf. Dr. med. Felix Gutzwiller ge-leitet wird.

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Anfang der 1990er-Jahre mehrtensich angesichts der untragbarenZustände auf der offenen Dro-genszene in der Stadt Zürich undder damit zusammenhängendenBegleitkriminalität Stimmen, wel-che verlangten, dass neben derRäumung der Drogenszene und po-lizeilichen Massnahmen verstärktPrävention betrieben werden sol-le. Wie hat der Kanton Zürich aufdiese suchtpräventive Herausfor-derung reagiert? Ein Rückblick.

VON ROLAND STÄHLI UND

FELIX GUTZWILLER

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59GESUNDHE I T

kaum etwas zur Verbesserungungünstiger Strukturen ausrich-ten können.

Konstruktive Wege

Als Reaktion auf die Hilflosigkeit,die die Kampagne teilweise aus-gelöst hatte, wurde in der Phasevon 1998/99 die Zielsetzung ver-folgt, auf die Bedeutung von per-sönlichen Veränderungsmöglich-keiten bei Menschen in schwieri-gen Situationen hinzuweisen. Als

In jeder zwei Jahre dauerndenPhase wurde eine spezifische Ziel-setzung verfolgt. Diese wird ab-lesbar an den Sujets der Kam-pagne von 1997 bis 2001. Ziel-setzung der Phase von 1997/98waren Hinweise auf die Bedeu-tung von Strukturen für Sucht-entwicklungen sowie die Sensibi-lisierung für gesellschaftlich be-dingte Risikofaktoren (siehe Sujet«Arbeitslosigkeit» Seite 60). DieAussagen beruhen auf empirisch

Das Suchtpräventionskonzeptbeinhaltet neben der Formulie-rung von Zielsetzungen aucheinen umfangreichen Massnah-menkatalog. Mittels Regierungs-ratsbeschluss vom Dezember1991 wurde als wichtigste Mass-nahme das Institut für Sozial- undPräventivmedizin der UniversitätZürich (ISPM) für die Planung,Förderung und Verbreitungpräventiver Strategien und derGesundheitsförderung zuständigerklärt, soweit diese dem Staateobliegen. Das ISPM schuf in derFolge die Position eines Beauf-tragten des Kantons Zürich fürPrävention und Gesundheitsför-derung, welcher am Institut ar-beitet.

Informationskampagne lanciert

Sichtbarster Ausdruck der sucht-präventiven Anstrengungen imKanton ist wohl die seit 1995 lau-fende Kampagne mit dem Motto:«Sucht beginnt im Alltag. Präven-tion auch.» Die Kampagne wirdvon der kantonalen Gesundheits-direktion finanziert und hat fol-gende generelle Zielsetzungen:– Information über Suchtphä-nomene und Aufzeigen von Zu-sammenhängen bei der Suchtent-wicklung;– Förderung präventiver Orien-tierungen und Hinweise auf dasNetz von Suchtpräventionsstellen;– Senkung der Hemmschwelle,alltägliche (eigene) Suchtphäno-mene zu thematisieren;– Verschiebung der Aufmerk-samkeit vom Suchtmittel hin zumSuchtverhalten und zu suchtbe-günstigenden Bedingungen sowievon der Beschränkung auf illega-le Drogen hin zu allen Suchtmit-teln.

Die wichtigsten eingesetztenMittel der Kampagne sind Stras-senplakate und Kleinplakate inöffentlichen Verkehrsmitteln. Be-gleitet wurden sie in jeder Phasedurch weitere gezielte Aktionender Öffentlichkeitsarbeit. Beispieldafür ist etwa die werberische Un-terstützung der Trennung vonRaucher- und Nichtraucherberei-chen an der Universität Zürich.

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

gesicherten Fakten. Die Sujetswurden vor allem in Form vonPlakaten, einige aber auch alsInserate veröffentlicht.

Eine vom Institut für Publizis-tikwissenschaft und Medienfor-schung unter der Leitung von Pro-fessor Heinz Bonfadelli durchge-führte Evaluation ergab, dass derBeachtungsgrad der Kampagneim Kanton Zürich 51% betrug.Die komplexe Botschaft überstrukturelle Suchtursachen wurdegemäss Eigenangaben von 70%der Befragten verstanden. ZumSujet «Arbeitslosigkeit» sagten82%, es sei informativ, 86%, esgebe ihnen zu denken, fast allefanden es verständlich. Kritischist aber anzumerken, dass mehrals ein Fünftel der zirka 400 Be-fragten angaben, sie fühlten sichdurch die gemachten Aussagenhilfloser als vorher. Dies wohldeshalb, weil sie als Individuen

Mittel wurden sieben Inserate mitPorträts von realen Personen undauthentische Kurzbiographienvon namentlich genannten Men-schen gewählt, die einen kon-struktiven Weg aus einer schwie-rigen Problemlage gefundenhaben (siehe Seite 61).

Die Kampagne wurde positivbewertet: 74% der zirka 400 Be-fragten fanden, sie zeige persönli-che Veränderungsmöglichkeitenauf, 62% zeigten sich gefühls-mässig angesprochen, 65% gabenan, die Kampagne rege zumDenken an, 36% sagten, sie gebeAnstösse für eigene persönlicheVeränderungen. Obwohl dieKampagne Menschen in Krisensi-tuationen zeigte, die sehr oft einenAusgangspunkt für Suchtent-wicklungen darstellen, wurde derBezug zum Suchtmittelkonsumvon den Betrachtern aber nichtimmer hergestellt.

Ansatz

Allgemeine

Gesundheitsförderung

Prävention von

Suchtverhalten

Prävention des

Suchtmittelmissbrauchs

personorientiert

Stärkung des Selbstwert-gefühls, der allgemeinenHandlungs- und Kommunikationsfähigkeit(z.B. Autonomie, Ich-Stärke, Hilfsbereitschaft)

Erhöhung der speziellenHandlungskompetenz (Gruppendruck widerstehenkönnen, Konfliktfähigkeit)

Information über Suchtmittel

strukturorientiert

Verbesserung der allgemei-nen Lebensbedingungen(verbesserte Lebensqualitätz.B. in den Bereichen Luft,Lärm, soziales Klima)

Abbau suchtbegünstigenderStrukturen (z.B. in Betrie-ben, Schulen etc.)

Gesetzgebung zu Suchtmit-teln

Sechsfelderschema der Suchtprävention (aus Suchtpräventionskonzept, 1991)

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wurde klar, dass der Konsumillegaler Drogen kein spezifischstädtisches Phänomen ist, son-dern alle Regionen gleichermas-sen betrifft, auch wenn sich dasProblem vor allem in den Städtenmanifestiert. Seit Anfang der1990er-Jahre forderten deshalbFachleute und Behörden, dassSuchtprävention nicht nur in denStädten, sondern in allen Regio-nen des Kantons betrieben wer-den sollte.

Das Konzept für RegionaleSuchtpräventionsstellen (RSPS)wurde von einer Arbeitsgruppedes ISPM erstellt und vom Regie-rungsrat des Kantons Zürich1994 gutgeheissen. Die wichtigeTrennung zwischen Präventionund Therapie wird darin ausführ-lich begründet. Ebenfalls werdendie Kernaufträge für die RSPS, dieihren Arbeitsaufwand zur Hälfteauf die verschiedenen Schulenund zu je einem knappen Fünftelauf gemeindenahe Arbeit sowieauf Öffentlichkeitsarbeit vertei-len sollen, formuliert. Die ausser-schulische Bildungsarbeit (vorallem Erwachsenen- und Eltern-bildung) soll etwas mehr als einenZehntel ausmachen. Für den Kan-ton wurden acht Suchtpräventi-onsregionen definiert. Das heutevollumfänglich umgesetzte Kon-zept legt fest, dass die Träger-schaften der Gemeinden für 70Prozent und der Kanton für 30Prozent der anfallenden Kostenaufkommen.

Ergänzend zu den acht gene-ralistisch tätigen regionalenSuchtpräventionsstellen (RSPS)waren seit jeher kantonsweit täti-ge Fachstellen für Suchtpräventi-on (KFSP) aktiv, welche mit ihremspezialisierten Wissen die RSPSergänzen (siehe Grafik Seite 61unten). Das vom ISPM ausgear-beitete und 1999 vom Regie-rungsrat verabschiedete Konzeptfür kantonsweit tätige Fachstellenfür Suchtprävention sieht eben-falls acht solche private oderstaatliche Fachstellen für Sucht-prävention vor. Sie richten ihreTätigkeit auf ausgewählte Ziel-gruppen (Volksschule: Fachstelle

te geschaltet (siehe Seite 61). DieBildsprache sollte auch einenKontrast zur Textlastigkeit derVorphase bilden. Je ein weiteresSujet zu Haschischkonsum undSpielsucht soll ab Mai 2001 ge-schaltet werden.

Die drei Sujets wurden in derEvaluation als alltagsnah, ver-ständlich und aussagekräftigwahrgenommen. 73% der zirka600 Befragten gaben an, die Kam-pagne provoziere einen Denkan-

Um einen stärkeren Bezug zuSuchtmitteln zu schaffen und umsichtbar zu machen, dass Sucht-entwicklungen zumeist nicht dra-matisch, sondern schleichend imAlltag einsetzen, wurde in derPhase 2000/01 der alltägliche,problematische Suchtmittelkon-sum thematisiert. Drei Sujets mitBildern von Spuren einer begin-nenden Suchtentwicklung (Medi-kamente, Zigaretten, Alkohol)wurden ausschliesslich als Plaka-

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

stoss, 73% sagten, die Sujets ani-mierten zum Hinschauen, 59%gaben an, die Kampagne zeige,dass Abhängigkeiten früher be-ginnen, als sie vorher angenom-men hätten.

Ausdehnung auf ganzen Kanton

Spätestens seit dem Vorliegen derPolizeistatistiken aus der offenenDrogenszene der Stadt Zürich

In der Informationskampagne von1997/98 standen die gesellschaftli-chen Ursachen von Suchtverhalten im Vordergrund.

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61GESUNDHE I T

reich eine Dienstleistungsabtei-lung Prävention und Gesund-heitsförderung mit mindestens3,5 Stellen einrichten.

Die Neuorganisation bringtmehr Transparenz für denAuftraggeber und mehr Flexibi-lität für den Leistungserbringer.Beides wird dem nunmehr qua-litativen Ausbau der Suchtprä-vention und der anstehendenErarbeitung eines kantonalenKonzeptes für Gesundheitsförde-

am Pestalozzianum; Migrations-bevölkerung: Fachstelle FISP;Mittel- und Berufsschulen: Fach-stelle Berufsbildung) oder be-stimmte Suchtmittel (Tabak:Fachstelle Züri Rauchfrei; Alko-hol und Medikamente: FachstelleZüFAM; Suchtmittel am Steuer:Fachstelle «Alkohol – am Steuernie!») oder sind mit übergreifen-den Aufgaben (Koordination:ISPM; Dokumentation: RadixGesundheitsförderung) betraut.

Das Konzept für die KFSPdefiniert die Rollen der beidenTypen von Stellen und regelt de-ren Zusammenarbeit: Die RSPSleisten die Grundversorgung vorOrt, das heisst, sie machen die Ba-sisarbeit und koordinieren dieSuchtpräventionstätigkeit in derjeweiligen Region. KantonsweiteProjekte werden hingegen durchdie KFSP in Absprache mit denRSPS geplant und realisiert. DieKFSP wiederum versorgen dieRSPS mit nötigem Grundlagen-material (Forschung und Ent-wicklung) und bieten den Fach-leuten der RSPS Weiterbildungenan. Das für die Koordination zu-ständige ISPM hat mit den fünfprivaten, kantonsweiten Fach-stellen detaillierte Leistungsver-träge abgeschlossen. Diese Auf-träge bilden die Grundlage für die Finanzierung der Fachstellendurch den Kanton. Das KFSP-Konzept ist heute weitgehend um-gesetzt.

Investition für künftige Gesundheit

Bis Ende 2000 erfüllte das Institutfür Sozial- und Präventivmedizindie zu erbringenden Leistungenim Bereich der Suchtpräventionmit finanziellen Mitteln der kan-tonalen Gesundheitsdirektion. ImOktober 2000 wurde eine Re-organisation durchgeführt, auf-grund derer das ISPM von der Re-gierung einen Leistungsauftrag miteinem Globalbudget erhält. DerAuftrag regelt Leistungen in denbeiden Bereichen Gesundheits-monitoring sowie Prävention undGesundheitsförderung. Neu solldas Institut für den zweiten Be-

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Regionale Suchtpräventionsstellen

(RSPS)

Diese Stellen übernehmen die präventive

Grundversorgung in einer klar abgegrenzten

Region. Sie sind generalistisch tätig und wer-

den von den spezialisierten, kantonsweit täti-

gen Fachstellen unterstützt.

Kantonsweite Fachstellen für Sucht-

prävention (KFSP)

Dies sind fachlich spezialisierte Präventions-

stellen. Sie sind kantonsweit tätig, aber nur in

ihrem spezialisierten Bereich, der definiert

sein kann nach Zielgruppen, Suchtmitteln

oder übergreifenden Aufgaben.

SUCHT BEGINNT IM ALLTAG. PRÄVENTION AUCH.

Die Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich

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Peter Wyss ist mit Leib und Seele Wirt. Und er gibt nicht nur mit seiner 900er

Triumph gern Gas: Er habe für den Aufbau seiner Existenz sogar seine Familie

geopfert. Immerhin investiert er täglich 16-18 Stunden und am Wochenende betreibt

er einen Party-Service. Das sei seiner Frau zuviel geworden. Sie lebt jetzt samt

Töchterchen in einer neuen Beziehung. Das und die Warnung des Arztes, er betreibe

Raubbau an seinem Körper, hätten ihn schon aufgeschreckt. Heute lebt er bewusster

und gönnt sich mehr Ruhephasen. Zwei Wochen-enden im Monat nimmt er frei und verbringt

mit Töchterchen und Hund viel Zeit in der Natur. Er raucht auch nur noch halb soviel.

Einmal pro Woche schwitzt er in der Sauna, ab und zu auf dem Mountain-Bike. Und dann

und wann lässt er sich in einem Wellness-Hotel so richtig umfassend verwöhnen.

Wahrscheinlich habe es auch mit dem Älterwerden zu tun, dass man mehr nachzudenken

beginne. Es heisse ja, wenn du die Vier schreibst, musst du einen Gang zurückschalten,

sonst erlebst du die Fünf nicht mehr. Und die Fünf wolle er unbedingt erleben.

Schliesslich habe er noch Pläne zu verwirklichen.

GENUSSMENSCH.

SUCHT BEGINNT IM ALLTAG. PRÄVENTION AUCH. DIE STELLEN FÜR SUCHTPRÄVENTION IM KANTON ZÜRICH

Fachstelle für Suchtpräventionam Pestalozzianum

Fachstelle für SuchtpräventionBerufsbildung

Fachstelle «Alkohol –am Steuer nie!»

Fachstelle Züri Rauchfrei

weitere Fachstellen

Den Ausstieg aus der Suchtthematisierte die Kampagne von1998/99 (rechts); Anzeichenbeginnender Sucht diejenige von2000/01 (oben).

rung zugute kommen. Zudem er-geben sich für die institutsinterneZusammenarbeit mit der EinheitForschung und Entwicklung inder Gesundheitsförderung wich-tige Synergien und Chancen füreinen effizienten Wissenstransferzur Praxis. Die Leistungsabgel-tung in der Höhe von jährlich 1,68Millionen Franken ist eine Investi-tion in die zukünftige Gesundheitder Zürcher Bevölkerung.

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62 BOTAN IK

gezehrt wird. Auch der Menschkann durch vielseitige Einwir-kung ihr Überleben verhindern.Jede Pflanzenart hat etwas ande-re Ansprüche, so dass sie in ihremVerbreitungsgebiet irgendwo eineökologische Nische finden kann,die von schneller wachsendenKonkurrenten nicht besiedeltwird. Je mehr solcher Nischenvorhanden sind, desto mehr Ar-ten können sich einfinden.

In der modernen Landschaftsind viele ökologische Nischenverschwunden: Hecken; Feld-gehölze; breite Waldränder;Strassenböschungen, Feldwegemit Naturbelag; Ackerrandstrei-fen; Grenzstreifen zwischenGrundstücken; Schutthaufen,kleine Kiesgruben; Steinlesehau-fen, Unkrautfluren usw. Die Kul-turen sind grossflächig geworden,bestehen meist nur aus einer Artund werden gleichmässig intensivgedüngt und mit Herbiziden vonden Unkräutern befreit.

Demgegenüber besitzt dieStadt eine Vielfalt von Strukturenund möglichen Lebensräumen:Gartenanlagen; Blumen- undGemüsebeete; Schrebergärten;Parkanlagen; Friedhöfe; Baum-gärten; Spielwiesen; Bach-, Fluss-und Seeufer; Teiche; Rasen, Ge-büsche, Baumscheiben, Pflaster,Mauern, grüne Flachdächer;Schutt- und Ablagerungsplätze;Parkplätze, Bahn- und Strassen-anlagen usw. Während früher oft-mals an solchen Orten keine sichselbst ansiedelnden Arten gedul-det wurden und nicht bepflanzteAreale «sauber» bleiben mussten,ist heute die Toleranz gegenüber«Unkräutern» bedeutend grössergeworden. In der Umgebung derStadt werden oft auch die Resteeiner vielfältigen Landwirtschaftnoch als Naturschutz- und Erho-lungsgebiete (z.B. Sumpfgebiete,magere Rasen, Allmenden, Wild-nisse, lichte Wälder) weiter ge-pflegt, sodass manche Arten trotzLuft- und Bodenverschmutzung

tenvielfalt in der Landschaft in derzweiten Hälfte des letzten Jahr-hunderts, bedingt durch dieIntensivierung und Rationalisie-rung der Landwirtschaft, und mitdem wachsenden Umweltbewusst-sein nahm auch das Interesse anden Lebewesen in der Stadt zu.

Der Autor hat während 15Jahren (1984 bis 1999) die Pflan-zen der Stadt auf einer Quadrat-kilometerbasis kartiert, die Ent-wicklung der Flora während die-ser Zeit verfolgt und anhand vonalten Literaturangaben und Her-bariumbelegen mit früheren Zei-ten verglichen. Die Ergebnissesind in einer «Flora der StadtZürich» (Birkhäuser Verlag,1424 S.) zusammengefasst. Dabeihat sich gezeigt, dass die Stadtheute fast doppelt so reich anPflanzenarten ist als eine vorwie-gend land- und forstwirtschaft-lich genutzte Gegend von ähnli-cher Grösse. Innerhalb der politi-schen Grenzen konnten 1210 ein-heimische oder eingebürgerte Ar-ten festgestellt werden. Im Laufeder letzten 160 Jahre sind 190Arten innerhalb der Stadt ver-schwunden und nahezu 300Arten neu hinzugekommen. Vonden heute vorkommenden einhei-mischen oder eingebürgerten Ar-ten sind 26% im Kartierungsge-biet verbreitet, 17% ziemlich ver-breitet, 15% zerstreut, 13% ziem-lich selten und 30% selten. Diemittlere Artenzahl pro Quadrat-kilometer beträgt 451.

Urbane ökologische Nischen

Jede Pflanze stellt für ein erfolg-reiches Gedeihen eine Reihe vonAnsprüchen hinsichtlich Nähr-stoff- und Wasserbedingungen,Licht und Temperatur an dieUmgebung. Wo diese nicht vor-handen sind, fehlt die Pflanze,ebenso dort, wo sie von anderenArten, die am gleichen Ort eben-falls wachsen können, verdrängtoder wo sie von Parasiten befal-len oder von Pflanzenfressern auf-

Die Ursachen der höheren Bio-diversität in der Stadt sind:

höhere Temperaturen, vielfältige-re Lebensräume, weniger ökono-mischer Druck für einen maxi-malen Ertrag und grösseres Sa-menpotenzial. Ist die Stadt alsoeine Idylle für Pflanzen? Ganz soeinfach ist die Sache nicht. Einestarke Verinselung verhindert ei-nerseits eine rasche Wiederein-wanderung ausgestorbener Artenund hält die Populationen kleinund verletzlich, erlaubt aber an-dererseits Arten zu gedeihen, diesonst durch die Konkurrenz ver-drängt würden.

Die Stadt mit ihrem grossenAnteil an Beton, Asphalt und ver-siegelten Mauern scheint auf denersten Blick nicht sehr geeignet alsLebensraum für wilde Pflanzen.Neben den sorgfältig gepflegtenGärten bleibt nur wenig Platz fürden Aufbau von genügend gros-sen Populationen sich selbständigausbreitender Lebewesen. Die inder Stadt wachsenden Pflanzenwurden deshalb von Botanikernauch wenig untersucht, sieht manab von den zwischen 1900 und1920 den Güterbahnhof undSchuttplätze durchforschendenZürcher Botanikern um AlbertThellung (1881–1928), die dortzahlreiche fremde eingeschleppteArten sammelten. Erst mit dembedrohlichen Rückgang der Ar-

Die Stadt als Lebensraum

Dr. Elias Landolt ist emeritierterProfessor am Geobotanischen In-stitut der ETH Zürich.

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Die Stadt – eine pflanzenfeindlicheBetonwüste? Weit gefehlt! Dieüberbaute Stadt weist etwa dop-pelt so viele Pflanzenarten auf wiedie land- und forstwirtschaftlichbewirtschaftete Umgebung. DieStadt kann für viele gefährdete Ar-ten ein Refugium bilden.

VON ELIAS LANDOLT

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63BOTAN IK

ren Seite fehlen gelegentlich auchkonkurrenzstarke Arten, sodassseltene Arten die Chance haben,sich erfolgreich zu halten.– Grosses Samenpotential: In ei-ner Stadt werden in den Gärten Sa-men unzähliger Arten angesätoder angepflanzt. Man schätzt,dass 5000 bis 10000 Arten ausgeographisch und teilweise auchklimatisch verschiedenen Gegen-den kultiviert werden. Zusätzlichfinden längs der Bahn und Auto-

lichtbedürftige Arten genügendLebensmöglichkeiten finden.– Isolation der Lebensräume:Die einzelnen Lebensräume in derStadt sind stark aufgesplittert undisoliert, Mauern und Strassen ver-hindern oft eine ungehemmte Aus-breitung der Pflanzenarten. DieFolge ist, dass mancherorts, z.B.in Innenhöfen, die Populationender einzelnen Arten klein bleibenund deshalb rasch wieder ver-schwinden können. Auf der ande-

erhalten bleiben. Die Leute in derStadt und die städtischen Bewirt-schafter sind im Unterschied zuLandwirten nicht auf maximalenErtrag der bewachsenen Flächenangewiesen und können die Be-triebsrationalisierung, Düngungund Unkrautvertilgung auf einMinimum reduzieren. Die Stadtzeichnet sich zudem gegenüberder umgebenden Landschaftdurch folgende Faktoren aus: – Wärmere Temperaturen: Dieeingestrahlte Sonnenenergie wirddurch die grossen Gesteinsmassengespeichert und kann die umge-benden Lufttemperaturen bis zu 5 °C erhöhen. Unser Klima ist re-lativ sommerkühl. Die etwas wär-meren Temperaturen lassen auchwärmebedürftige Arten aus demMittelmeergebiet oder aus konti-nentaleren östlichen Steppenge-bieten erfolgreich wachsen.– Mildere Winter: Die grosseBaumasse wirkt auf die umge-bende Luft temperaturausglei-chend; zudem vermindert dieDunst- und Staubglocke über derStadt und die geringere Windge-schwindigkeit die Abkühlung.Mildere Winter erlauben auchPflanzen das Wachstum, die nichtstark frostresistent sind, z.B. Fei-genbäumen, immergrünen Arten. – Schuttböden: Die Böden derStadt sind zu einem grossen Teilvon kalkreichem Schuttmaterialdurchzogen. In Bezug auf Wasser-und Nährstoffverhältnisse sindsie sehr unterschiedlich: mager bisüberdüngt, sehr trocken bis nass.Oft können nur Spezialisten die-se Verhältnisse ertragen: Pionier-und Schuttpflanzen. NormaleWaldböden sind oberflächlichhumusreich und schwach sauer.In Bezug auf Wasser- und Nähr-stoffhaushalt sind sie für diePflanze günstig, so dass wenigerasch wachsende, ausdauerndeArten überhand nehmen und dierestlichen verdrängen.– Gute Lichtverhältnisse: Im Ge-gensatz zum geschlossenen Waldoder zu dichten, hochgewachse-nen Kulturen ist in der Stadt anvielen Orten genügend Licht bisauf den Boden vorhanden, sodass

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Abb. 1: Der Gelbe Lerchen-sporn (Corydalis lutea) ist eintypisches Beispiel einer verwil-derten Gartenpflanze, die sichan Mauern der inneren Stadtvöllig eingebürgert hat. Siestammt ursprünglich von Kalk-felsen und -geröllhalden derSüdalpen und wurde bereitsim 18. Jahrhundert in Stein-gärten angepflanzt. Da sie re-lativ viel Wärme verlangt,konnte sie ihr Verbreitungs-areal in der Stadt in den letztenJahrzehnten dank der allge-meinen Erwärmung vom wär-meren Zentrum in die äusse-ren Stadtteile ausdehnen.

nicht seltenseltensehr selten

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Naturzusammenhänge und dieFreude an der lebenden Natur. Essind zwar nicht die auffälligstenBlumen, die wir in der Stadt ver-wildert antreffen. Gerade kleine,unscheinbare Arten lassen unsaber erstaunen, wenn wir uns Zeitnehmen, sie näher zu betrachten,die wundervolle Struktur ihrerunscheinbaren Blüten mit einerLupe zu erforschen und dieGenügsamkeit ihrer Lebensweise,die weitgehende Anpassung anihren jeweiligen Standort wahr-zunehmen. Offenhalten von klei-nen Plätzen zwischen Kulturenund Asphalt, Verzicht auf die Ver-siegelung jeder offenen Stelle undjeder Fuge, Toleranz gegenüberden wild wachsenden Pflanzen,auch wenn sie vielleicht etwas«unordentlich» in der gepflegtenGartenanlage oder im sauber ge-wischten Hof erscheinen, sindwirksame Möglichkeiten.

ten haben sich zahlreiche neuewärmeliebende Arten eingefun-den, die früher nur in südlichenGegenden zuhause waren. Dieheutige Artenvielfalt der Stadt istim Hinblick auf den grossen Ar-tenrückgang in der Agrarland-schaft erfreulich. Mit wenig Mit-teln kann die Stadt positiv zurBekämpfung der schwindendenBiodiversität beitragen. Dazugehört in erster Linie die Förde-rung des Verständnisses für die

verkehrswege laufend Einschlep-pungen von fremden Arten statt,die besonders von Bahnhöfen undParkplätzen aus in die Umgebungausstrahlen können. Viele dieserArten finden in der Stadt auch ab-seits der Gartenanlagen zusagen-de Lebensbedingungen, die ihnenein langfristiges Überleben gestat-ten.

Die Klimaerwärmung kann inder Stadt sehr rasch nachgewiesenwerden. In den letzten Jahrzehn-

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Abb. 2. (oben): Auf Plätzen, die eineZeitlang brachliegen, längs von Stras-sen und auf Industrie- und Bahnarea-len entstehen sogenannte Ruderal-fluren. Das sind Gemeinschaften vonPflanzen, die aus fremden Gegendenim Gefolge des Menschen eingewan-dert sind. Sie sind darauf angewie-sen, dass immer wieder neue offeneFlächen entstehen, da sie sonst vonGebüschen und Bäumen überwach-sen werden.

Abb. 3. (unten): Selbst in feinen Pfla-stersteinspalten ist ein Leben fürSpezialisten möglich. Es steht wenigBoden zur Verfügung und das bedeu-tet, dass zeitweise Nährstoff- undWassermangel herrscht. Auf dem Bildwächst der Niedrige Vogelknöterich(Polygonum calcatum), der für warme,steinige Böden in der Stadt typischist.

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66 DAS BUCH

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Konfliktstoff ErdölDie Folgen der Erdölförderung werden vom öffentlichen Bewusstsein meistens mit dem Prob-lem des globalen Klimawandels verbunden. Das Institut für Ökologie und Aktions-Ethnologie (infoe CH) legt nun eine Studie vor, welche die ökologischen, politischen und sozio-kulturellenProbleme in den Fördergebieten und die Auswirkungen auf die dort lebenden Ureinwohneruntersucht.

Tobias Haller, Annja Blöchlinger,Markus John, Esther Marthaler, Sabine Ziegler:Fossile Ressourcen,Erdölkonzerne undindigene Völker, Institut für Ökologieund Aktions-Ethnologie (infoe CH),Infoestudie 12, Focus Verlag, Giessen 2000, 57 Franken

sich um Gebiete mit weniger re-sistenten Ökosystemen als denwüstenartigen Regionen desMittleren Ostens, namentlichmit tropischen Regen-, Mang-rovenwäldern sowie arktischenund subarktischen Ökosyste-men. Erdölkonzerne verursa-chen in diesen Regionen oftauch unter Umgehung von Um-welt- und Menschenrechtenden betroffenen Ureinwohnerngrosse Schäden ökologischer,ökonomischer und sozio-kul-tureller Art.

Die Studie, die unter derMithilfe von Studierenden desEthnologischen Seminars ent-standen ist, beleuchtet dieinternationalen Rahmenbe-dingungen, unter denen dasErdöl- und Erdgasgeschäftsteht, und zeigt die Strategiender Konzerne und der Urein-wohner auf. So stellt sich daskomplizierte Verhältnis heraus,das zwischen den indigenenVölkern und den Investorender Industrieländer besteht,welches bedingt ist durch dieParameter des Weltmarktes

Am 10.11.1995 wurde diezentrale Integrationsfigur

des indigenen Widerstands, derSchriftsteller Ken Saro-Wiwa,von der nigerianischen Regie-rung hingerichtet, was zu in-ternationalen Protesten führteund zum vorläufigen Rückzugdes Erdölkonzerns Shell ausdem Gebiet der Ogoni im Ni-ger-Delta. Was Umweltgrup-pen und Unterstützungsorga-nisationen von Ureinwohnernschon seit einiger Zeit beschäf-tigte, wurde mit dem «Ogoni-Fall» nun von einer breiterenÖffentlichkeit wahrgenom-men: die Erdölförderung undderen Folgeschäden in den be-troffenen Gebieten.

Das Institut für Ökologieund Aktions-Ethnologie (infoeCH), das dem EthnologischenSeminar der Universität Zürichangegliedert ist, legt nun unterder Autorschaft von TobiasHaller, Annja Blöchlinger,Markus John, Esther Martha-ler und Sabine Ziegler eine Stu-die vor, welche den Blick aufdie Probleme am Anfang derÖl-Pipelines richtet. Unter-sucht werden die Umwelt- undMenschenrechtsprobleme inbetroffenen Gebieten, die Ter-ritorien indigener Völker sindund nicht zum Mittleren Ostengehören.

Empfindliche Ökosysteme

Das Buch «Fossile Ressourcen,Erdölkonzerne und indigeneVölker» behandelt Fallbeispie-le aus Afrika (Nigeria), Süd-ostasien (Papua-Neuguinea),Russland (Westsibirien),Nordamerika (Alaska) und ausvier Ländern Lateinamerikas(Venezuela, Ecuador, Peru,Kolumbien). Dabei handelt es

sowie die politisch-histori-schen Verstrickungen der ein-zelnen Staaten und deren re-gierenden Eliten.

Die Untersuchung führt vorAugen, dass in den betroffenenLändern zwar oft rechtlicheGrundlagen in Sachen Men-schenrechte und Umwelt-schutz vorhanden sind, dasInstrumentarium zu derenDurchsetzung jedoch fehlt. Seitden 1990er-Jahren geben sichverschiedene Erdölkonzernezudem vermehrt ein grünes, so-ziales Image und zeigen sich ge-genüber den Forderungen derUreinwohner offener. Gleich-wohl, wie die Autoren aufzei-gen, finden die Firmen immerwieder Wege, Gesetze zu um-gehen, zum eigenen Vorteil zuinterpretieren oder die indige-nen Gruppen in ihrem Wider-stand zu spalten.

Anreize zur Nachhaltigkeit

Im Schlussteil der Studie hatdas Autorenteam bereits vor-handene Lösungsansätze zu-sammengetragen und stellt

weitere Vorschläge zur Dis-kussion. Demnach müssten dieKonzerne zu sozialen und öko-logischen Mindeststandardsgezwungen werden, die beieiner internationalen Gerichts-stelle einklagbar wären unddurch internationalen Druckvon indigenen Organisationenund Nichtregierungsorgani-stationen (NGOs) gewährlei-stet würde. Des weiteren dürf-te der Erdölpreis nicht mehrvom freien Markt allein be-stimmt werden. Es müssten fürdie Konzerne Anreize geschaf-fen werden, nachhaltig zu för-dern, nicht mehr neue Förder-gebiete zu erschliessen und indie Suche nach alternativenRessourcen zu investieren.

Vielfältige Zugänge

Die umfangreiche Studie leisteteinen wichtigen Beitrag für diekomplexen Probleme, die sichin der globalisierten Welt zwi-schen den kulturell differentenMinderheiten der Weltbevöl-kerung und den ständig wach-senden Forderungen derIndustrieländer stellen. DieZusammenhänge der Welt-wirtschaft und deren Folgenkommen sowohl in ihrer öko-logischen und ökonomi-schen Dimension als auch inkultureller und politisch-historischer Hinsicht zumVorschein. Die Studie bieteteinen profunden und sorgfältigrecherchierten Überblick überdie Gesamtproblematik, istaber genauso als Handbuch fürdie einzeln betroffenen Regio-nen lesbar.

Simona Ryser

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67PORTRÄT

MAGAZIN UNIZÜRICH 1/01 – BULLETIN ETHZ 281

Der Architekturprofessor Mario Campi hat die Gebäudeder 3. Ausbauetappe an der ETH Hönggerberg entworfen.

ziniert: «Ich denke, dass es kei-nen Architekten gibt, der nichtgerne ein Hochhaus bauenwürde.»

Architektur – eine belastete Kunst

Seine Inspiration schöpft Prof.Campi aus der Arbeitselbst:«Ich glaube nicht, dass esInspiration an sich gibt.» Ar-chitektur sei eine jener Künste,die von Aspekten belastet sei,die die bildende Kunst oder dieMusik beispielsweise nichtkennen. Sie sei an gewisse Re-geln gebunden, denn Faktorenwie Gravität und Lastenüber-tragung oder Klima und Wün-sche der Leute müssen beimBauen berücksichtigt werden.Jeder Ort drücke durch die Ar-chitektur seine eigene Identitätaus: Ein Gebäude in Italienwird zum Beispiel anders ge-baut als ein Haus in Schweden,nicht alleine aus klimatischenGründen.

Architektur bedeutet fürden «modernen Klassiker»,wie sich Campi selbst einord-

Nein, Architekt wollte ernicht immer werden:

«Schiffe wollte ich bauen, spä-ter Naval-Engineering studie-ren, aber das konnte man da-mals nicht in der Schweiz», er-innert sich der ETH-ArchitektProf. Mario Campi an seineKindheitsträume. Seine Eltern,italienische Auswanderer,wünschten sich aber, dass ihrSohn in ihrer Wahlheimat stu-diere: So widmete der jungeKnabe, der in seiner Freizeit lei-denschaftlich Architekturzeit-schriften las, die nächsten 40Jahre seines Lebens dem Bau-en auf dem Festland. Seinespätere Stellung als ETH-Pro-fessor ermöglichte ihm, in derSchule und in der Praxis gleich-zeitig tätig zu sein, was er im-mer als eine Art Privileg be-trachtete: Um den Studentenetwas auf der theoretischenEbene beibringen zu können,so Campi, müsse man auchüber sein eigenes Tun nach-denken können.

In seinem Büro am Höng-gerberg, das vis-a-vis vom neu-en, vom Campi selbst entwor-fenen Chemie-Gebäude liegt,steht ein Stück Heimat: dasModell der Stadt Lugano 2000aus Holz, das 1984 entworfenwurde mit dem Ziel, die wun-den Punkte der Stadt zu erken-nen und zu sanieren. EineSammlung der schönstenHochhäuser der Welt, eben-falls aus Holz, erinnert an ei-nen anderen, bis jetzt nochnicht verwirklichten Traumdes ETH-Professors, der imSeptember dieses Jahres emeri-tiert wird.

Die Wuchtigkeit und Ele-ganz dieser hochgezogenen Ge-bäude hat ihn schon immer fas-

«Ich bin ein Klassiker in der Moderne»Der Hof ist sein ästhetisches Prinzip, ein Hochhaus bauen sein noch nicht verwirklichter Traum.Im März gewann er den Studienwettbewerb um den grössten Wohnbereich von Eurogate undveröffentlichte ein Buch, in dem er eine neue Form von Stadt beleuchtet. ETH-Architekt Prof.Mario Campi über eine Kunst, die entsteht, wenn ein Raumgefühl erzeugt wird . . .

net, mehr als Schutz geben,mehr als nur den Programmen,die die Bauherren liefern, zufolgen. Architektur verlangemehr als Funktionalität: «Ar-chitektur entsteht dann, wennein Raumgefühl erzeugt wird,wenn die Dimensionen undProportionen so gewählt sind,dass Emotionen erweckt wer-den und Stimmung erzeugtwird.» Dies sei ein grundsätz-licher Unterschied zwischenBauen und Architektur. So warGeld nie der Motor von Cam-pis Handlungen. Der über-zeugte Atheist baute einmal un-entgeltlich eine kleine Kapelleim Tessin.

Campi versucht seinen eige-nen Stil zu charakterisieren:«Mich interessiert, was von derVergangenheit in die heutigeArchitektur übernommen wer-

den kann – die gleiche Ruhe,das gleiche Charisma, welchesdie damalige Architektur aus-strahlte.»

Der Hof als ästhetischesPrinzip

Ästhetische Prinzipien liessensich in der Architektur nichteinfach so definieren, man kön-ne eher von persönlichen Vor-lieben sprechen: «Ich identifi-ziere mich mit einer gewissenModerne, die stark mit meinerHerkunft zusammenhängt.»Wenn er sich mit einem Ratio-nalismus identifizieren könnte,dann wäre das sicher der itali-enische, der ganz anders sei inseinem Ausdruck als der deut-sche oder der skandinavische.Das hindert den Architektenaber nicht daran, Aufträge mitgleicher Vorliebe in ganz Eu-ropa auszuführen: «Die Grund-risse, die wir jetzt in Schwedenmachen, sind anders als die, dieim neusten Zürcher Projekt(Eurogate) zu sehen sind, da dieÖkonomie des Denkens in je-dem Land leicht anders ist.»

Sei es nun das Einfamilien-haus Casa Felder in Lugano,bei dem er neben dem Umbaudes Castello di Montebello dieGrundlagen seines Berufshatte prüfen können, oder daskürzlich fertiggestellte grosseChemie-Gebäude am Höng-gerberg – in Campis verschie-denen Entwürfen lässt sich einroter Faden erkennen: der Hof.«Der Hof ist einer jener privi-legierten Orte, wo man sein ei-genes Zuhause einrichten kannund somit sein eigenes StückWelt für sich beanspruchenkann.»

Vanja Cucak

Mario Campi, Franz Bucher, Mirco Zardini: Annähernd perfekte Peripherie,Glattalstadt/Greater ZürichArea, 2001, Birkhäuser-Verlagfür Architektur.

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68 BAU UND KUNST

ETH und Universität sindweit mehr als «nur» Orte fürLehre und Forschung, son-dern auch beliebte Freizeit-anlagen für die Stadtbevöl-kerung. Bestes Beispieldafür ist der Irchelpark, wosich Joggerinnen, Spazier-gänger, Kinder, Mütter,Jung und Alt treffen. EduardNeuenschwander, Gestalterdes unteren Teils des Ir-chelparks, erzählt von des-sen Entstehung und von derEntwicklung, die es brauch-te, bis der Park als Mehr-wert für das Quartier er-kannt wurde.

I ch bin gerne in der Natur»,antwortet eine Frau, die sich

am See im Irchelpark über dieFrühlingssonne freut, auf dieFrage, warum sie hierher kom-me. – Damit hat sie EduardNeuenschwander wohl dasgrösstmögliche Komplimentgemacht. Denn der Park wur-de von Neuenschwander, zu-sammen mit Stern und Part-ner, vollständig neu erschaffenund ist somit eine künstlich ge-staltete Landschaft. Für den

Naturgarten Irchelpark – «ein Missverständnis»

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unteren, westlichen Teil ent-warf Neuenschwander imBüro Seen, Hügel und All-menden, die er später mit Bau-maschinen verwirklichen liess.Sein Ziel war ein Naturgarten,was ihm offensichtlich so gutgelungen ist, dass man sich ger-ne täuschen lässt. Als ich dieFrau am Irchelsee auf dieKünstlichkeit dieser Land-schaft hinweise, erwidert sieruhig: «Das weiss ich schon,doch man merkt es nicht!»

An schönen Sommertagenwimmelt es geradezu von Leu-ten im Irchelpark. Familiengrillieren, Pärchen liegen aufder grossen Wiese, Kinderspielen am See, Einsame füt-tern die Tauben und Enten,Sportliche drehen ihre Rundenauf der Finnenbahn, undSeniorinnen beobachten dasGeschehen. Das Leben ist hiergreifbar. Eduard Neuen-schwander ist noch heute überden riesigen Erfolg dieses Pro-jektes erstaunt, zumal er auchZeiten erlebt hat, als seine Artvon Parkgestaltung auf grosseAblehnung stiess und als«Sauerei» bezeichnet wurde.

Parks hatten in den 60er- und70er-Jahren noch geordnet zusein, mit Alleen, planiertenTerrassen, gepflegtem Rasenund Blumenrabatten, exoti-schen Ziersträuchern undschön geschnittenen fremd-ländischen Bäumen. Neuen-schwander wollte aber etwasanderes. Zusammen mit UrsSchwarz und Louis le Roy warer Promotor der Naturgärten,in Abgrenzung zu den Zier-und Nutzgärten. Damit wirdein bestimmtes Verhalten derNatur gegenüber zum Aus-druck gebracht: «Eine Synthe-se von Architektur und Na-tur».

Seit den 60er-Jahren ist Neu-enschwander mit dieser Na-turgarten-Mission unterwegs.Er hält Vorträge, schreibt Ar-tikel und setzt seine Grundsät-ze in seinen Projekten um, wie

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69BAU UND KUNST

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zum Beispiel in der Kantons-schule Rämibühl in Zürich. Ander Grün80 in Basel schuf er imSektor «Land und Wasser» sei-ne erste grosse Landschaft. Da-mals wurde er vom AtelierStern und Partner angefragt,beim Irchel, wiederum einerGrossanlage, war es umge-kehrt. Eigentlicher Anstoss,sich am Wettbewerb um dieIrchelparkgestaltung zu betei-ligen, war der Hinweis in derAusschreibung, es seien beson-ders einheimische Bäume undPflanzenarten zu verwenden.Dass er den Wettbewerb abergewann, hält er für eine Sensa-tion, mehr noch: «Und, ohWunder, wurde dieses Miss-verständnis, mein Parkent-wurf, prämiert!» Auf die Fra-ge, ob er denn der Meinung sei,dass sein Projekt falsch inter-pretiert worden sei, antwortet

er: «Nein, die konnten meinenParkentwurf ja gar nicht inter-pretieren, so etwas gab es in derSchweiz noch nicht.»

Mit dem Gewinn des Wett-bewerbes waren aber nochnicht alle Hürden genommen.Als er im unteren Teil des Ir-chelparkes das Profil für denErdwall, der als Lärmschutzdienen sollte, ausgesteckt hat-te, regte sich bei den Anwoh-nern Widerstand. Den geplan-ten Hügelzug nahmen sie nurals störende Wand wahr, die esihnen verunmöglichen sollte,von der Küche aus mit demFeldstecher startende Flugzeu-ge zu beobachten. Neuen-schwander verhandelte mit denBehörden, wobei es ihm ge-lang, die Leute mit einer mini-malen Reduktion der Höhe desWalles von 50 Zentimetern zubesänftigen.

Um weitere Auseinander-setzungen mit der Anwohnernzu vermeiden, lud er die Verei-ne der angrenzenden Quartie-re ein, ihre Erwartungen zumPark zu formulieren. Er trafsich dann mit sechs bis achtFrauen, die Unterstände undRutschbahnen wollten. Dieüblichen Sachen eben, die ihmzwar bekannt waren, die eraber in dieser Art nicht in sei-nem Park hatte haben wollen.So erfüllte er den Wunsch nachden Rutschbahnen nicht, botihnen aber anstelle davon an-dersartige Spielmöglichkeitenan: eine Moränenburg und ei-nen Seespielplatz, Sand undFelsen. Auch Unterstände wur-den keine gebaut, doch dafür

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Die Hochschulanlagen amIrchel und auf dem Höngger-berg sind Treffpunkte fürJung und Alt.

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70 BAU UND KUNST

viele Feuerstellen mit gratis zurVerfügung gestelltem Holz. Inden vielen Gesprächen konnteer die Frauen für das Projekt sobegeistern, dass sich diese da-mit identifizierten. Ich hakenach, wie es ihm denn gelun-gen sei, die Frauen zu überzeu-gen. «Das war eine Zusam-menarbeit, da brauchte es kei-ne Überzeugung», antwortetNeuenschwander. «Ich habeeinfach gesagt, was man ma-chen kann und warum ich et-was nicht machen will. So ent-stand ein Dialog, und letztlichist der Park ja viel grösser undschöner für die Mütter gewor-den.»

In der Bauphase wurdeNeuenschwander noch mit vie-len weiteren Bedürfnissen kon-frontiert, die im Irchelpark un-tergebracht werden sollten:Einer riesigen Zivilschutzan-lage und einem Elektrizitäts-werk, die er beide grösstenteilsin den Untergrund verbannenkonnte, einem Feuerwehrde-pot, dessen Bau er verhindernkonnte, einer Sportanlage mitHallen, Tennisplätzen, Kletter-wand und Finnenbahn. «Beider Finnenbahn hatte ich zu-erst eine Sauwut», erinnert ersich. «Da hatte ich Angst, dassmir die ganze Naturlandschaft

kaputt gemacht wird. Dochdann machte es Klick, als ichrealisierte, dass die Sportlerauch Sicherheit bedeuten.»Darauf machte sich Neuen-schwander sofort daran, dieTopologie für die Finnenbahnanzupassen.

Langsam nahm dann derPark Gestalt an. Die Bevölke-rung rückte der Baustelle dau-ernd neugierig nach, verfolgteund kommentierte die allmäh-lichen Veränderungen, nichtimmer wohlwollend. Doch alszum ersten Mal Wohnungsin-serate für das Quartier Ober-strass erschienen, die mit «na-

he Irchelpark» warben, wussteNeuenschwander, dass er mitseinem Projekt den Durch-bruch geschafft hatte. Die an-fängliche Skepsis und Ableh-nung war vergessen, der na-turnahe Park wurde plötzlichals Qualität, als Mehrwert er-kannt. Das Quartier hatte anLebensqualität gewonnen.

Rückblickend staunt Neu-enschwander, wie gut seinKonzept funktioniert hat: «Al-les ist voll in Gebrauch.» Ersieht heute nur ein einziges Pro-

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Der Irchelpark und seine GestalterIm Juni 1978 prämierte die Jury aus 13 eingereichten Entwürfen dasProjekt «Terra» vom Atelier Stern und Partner, Zürich, und von EduardNeuenschwander, Gockhausen, mit dem ersten Platz. Stern undPartner übernahmen die Gestaltung des östlichen, oberen Teils,Neuenschwander den westlichen, unteren Teil. Die naturnahe Ge-staltung wurde unterstrichen durch die Verwendung einheimischerVegetation, welche die natürliche Fortsetzung des Zürichbergwaldesin Richtung Milchbuck darstellt.

Eduard Neuenschwander (1924) studierte zuerst ein Jahr Biologieund Geschichte, bevor er sich der Architektur zuwandte. 1949schloss er mit dem Diplom an der ETH Zürich ab. Anschliessend ar-beitete er bis 1952 im Büro Alvar Aaltos. Diese Jahre in Finnlandhaben ihn stark geprägt, sein Naturverständnis vertieft. Ab 1953führte Neuenschwander ein eigenes Architekturbüro, zuerst inZürich, später in Gockhausen. Eine Auswahl seiner Werke in Zürich:Kantonsschule Rämibühl (1966–1970), Parkanlage Irchel(1978–1986), Umgebungsgestaltung Überbauung Nordbrücke,Wipkingen (1986–2001).

blem, und das ist die Tierfütte-rung. Dadurch gibt es im Parkeine Überpopulation von En-ten und Möwen, was wieder-um zu einer Gewässerver-schmutzung und einem zugrossen Fischbestand führt. Esgibt keine Balance. Im Irchel-park gibt es keine Verbote, unddeshalb will er auch die Tier-fütterung nicht verbieten. Aus-serdem sei zu bedenken, dasses Väter gebe, die mit ihren Kin-dern hierher kämen, um ihnendie herzigen Enten zu zeigen.«Das ist eine menschliche Be-ziehung, die wir respektierenmüssen und die auch nötig ist.»

Der Irchelpark ist ein Treff-punkt von Öffentlichkeit undHochschule. Daneben gibt esnoch viele andere Beispiele wiedie Polyterrasse als städtischerAussichtspunkt, die ETHHauptmensa als billige Ver-pflegungsstätte, das Zoologi-sche Museum der Universitätals Retter von verregnetenSonntagen oder die Physik-cafeteria auf dem Hönggerbergals ein beliebter Seniorinnen-und Seniorentreffpunkt. Dochdas sind wieder andere Ge-schichten. Dora Fitzli

Eduard Neuenschwander, Gestalter desunteren Teils des Irchelparks, staunt nochheute, dass sein Park zu einem solchenErfolg wurde.

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71GLOSSE

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Feng Shui für den Kreis 4Arme Human Resources. Erst schuf-

ten sie, dass es Gott erbarmt, unddann wundern sie sich, wenn ein klit-zekleiner Erreger sie flachlegt. GrossesRätselraten, wie der Grippe beizu-kommen sei. Wirds Mutter Natur vonalleine richten, oder soll man mit Hops-diweg & Co. nachhelfen? Nach glie-derschmerzgeplagten Tagen geht eslangsam wieder aufwärts. Doch weni-ge Tage später: Der Parainfluenza-Vi-rus schlägt zu. Man hustet, dass dieNachbarn ausziehn. In der zehntendurchbellten Nacht erste Selbstzweifel.Lebt man auch bewusst genug? Oderwäre es an der Zeit, sich einen scho-nenderen Lebensstil zuzulegen? Viel-leicht wollen uns Krankheiten jatatsächlich etwas sagen – auch wennsie sich nicht deutlich ausdrücken.

Ich auf jeden Fall beschliesse in einerähnlichen Situation, meiner Wider-standskraft nachhaltig auf die Sprün-ge zu helfen. Die Zigaretten wandernin den Abfall («Endlich Nichtrau-cher!»), die Stereoanlage aus demSchlafzimmer (Feng Shui), der Rinds-braten zu meiner italienischen Nach-barin («no, no, niente paura vo BSE»),und statt «Lüthi und Blanc» schaue ich in den Ratgeber «Mit Alternativ-methoden die Abwehrkräfte stärken».Gehorsam beisse ich in eine rohe Knob-lauchzehe, kippe ein linksdrehendesJoghurt hinterher, inhaliere mit Zimt-Essenzen und gehe um zehn schlafen.

Der Erfolg lässt nicht auf sich war-ten. Am nächsten Morgen fühle ichneue Kräfte in mir. Dass sogar meineTageszeitung ungeahnt positiv ist, be-flügelt zusätzlich. «Mitarbeitende sindals Kunden des Unternehmens zu be-trachten», steht da zum Beispiel ge-schrieben. Jedes gute Unternehmenhabe sich heute die selbstkritische Fra-ge zu stellen: «Warum sollte jemand inunserem Unternehmen arbeiten?»Mein Arbeitgeber ist ein gutes Unter-nehmen. Ich beschliesse, ihm noch glei-chentags die Möglichkeit zu geben,meine «zentralen Erwartungen undBedürfnisse» zu evaluieren, indem ichwieder zur Arbeit erscheine.

Also hurtig ein Schwupsdifit ge-trunken («wirkt von innen – schütztgegen aussen»), die leeren Arznei-

fläschchen eingesammelt, und los gehts– als erstes zum Altglascontainer. Auchdort klare Zeichen positiver Energie.Jemand hat versucht, das Glas seinertieferen Bestimmung zuzuführen(«Scherben bringen Glück»), und soglänzen rund um die Behälter farbigeSplitter gar hübsch in der Sonne. Fünf-zig Meter weiter vorne, vor der Bäcker-anlage (so nennt sich ein bis vor kurz-em nachhaltig von Suchtmittelkonsu-menten besuchter Park im Herzen desKreises 4) eine Art urbanes Genrebild:Zur Linken schwatzen Alkis mit ihrenHunden, die Velofahrer zu schnappenversuchen («He Rex, da isch ja nütdra…»), zur Rechten erörtern Dröge-ler die Tagesspezialitäten, dahinter ver-arbeiten Schulkinder ihre Eindrückemit «Alki gegen Junkie» und im Vor-dergrund parkieren tamilische Fami-lienväter ihre Kombis um.

Mit dem Vorsatz, mich nie mehr ausder Ruhe bringen zu lassen(«oooohm»), warte ich an der Kreu-zung («ich habe Zeeeit»). Der Verkehrrauscht in alle vier Himmelsrichtun-gen. Ich denke an Yin und Yang undan 30 innerorts. Schliesslich wird esgrün, ich setze meinen Fuss auf dieStrasse. Ein Auto macht Anstalten,mich in den Club der 700 zu befördern,

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die jährlich auf Fussgängerstreifenangefahren werden. Beherzt springeich aufs Trottoir. Nein, ich werde dieVerkehrspartnerin nicht anschreien.(«Nicht alles macht viel viel schneller,viel viel mehr Spass!») Vermutlichwurde sie von den Velofahrern gereizt,die ungestraft bei Rot über die Kreu-zung radelten.

Ich putze den Hundekot ab, in demich in der Hektik gelandet bin und sum-me «Always look at the bright side oflife» vor mich hin. Denn was habe ichgestern gelesen? Wer singt, kann nichtgleichzeitig negative Gedanken haben,was erwiesenermassen das Immunsys-tem stärkt. Die gleiche Wirkung hatLächeln, und so lächle ich vor mich hin(«mar-me-la-de»). Der Zufall will,dass mein Lächeln auf einen Heroin-konsumenten fällt, der so rücksichts-voll gewesen ist, sich für sein Geschäftin ein Gebüsch zurückzuziehen. Ergrinst zurück: «Schu-gar?» Glückli-cherweise quietscht in diesem Momentder Achter um die Kurve. «Gefühle fah-ren ein» steht in grossen Lettern aufder Karosserie. Ja wenn selbst die städ-tische Suchtprävention dazu rät… Ge-nervt schreie ich in Richtung des un-schuldigen Gebüschs: «Noch nie wasvom Fixerstübli gehört?»

Die Türe schliesst gnädig hinter mir.Mit weichen Knien lehne ich mich andie letzte freie Haltestange, währenddas langsamste aller Trams geräusch-voll Richtung Helvetiaplatz abbiegt(«In achtzig Tagen bis zum Bürkli-platz»). «Aber Fräulein», spricht michein rüstiger Pensionär mit Indianer-feder im Haar an, «wer sich so aufregt,lebt gefährlich. Herzinfarktgefahr.»Misstrauisch schaue ich auf das Buch,das er mir entgegenstreckt. «Papa-tulpismus oder Die richtige Art, seinenSchwestern, den Pflanzen, zu begeg-nen.»

Ich danke auch herzlich. Doch fürserste reicht mir der positive Input. Ichbeschliesse, mich doch nicht zu ändern.

Brigitte Blöchlinger

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