81
www.uni-erlangen.de Nr. 108 | September 2007 | 33. Jahrgang Exzellenzinitiative 46 | Nordlandexpedition 66 | 300 Jahre Orangerie 90 uni kurier magazin Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

www.uni-erlangen.de

Nr. 108 | September 2007 | 33. Jahrgang

Exzellenzinitiative 46 | Nordlandexpedition 66 | 300 Jahre Orangerie 90

uni kurier magazin

Perfekt unperfektbehindert – gehandicapt – ganz normal

Page 2: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 20071

Editorial

Das Eisrandforschungsschiff Maria S. Merian

Die Orangerie im Erlanger Schlossgarten

Liebe Leserinnen und Leser,

griechische Statuen galten über einen langen Zeitraumals Inbegriff klassischer Schönheit. Wohlgefällig in ihren Pro-portionen, mit makellosen Gesichtszügen, perfekt an Hautund Haar, stehen die personifizierten Götterbilder aus Mar-mor noch heute für den idealtypischen Menschen der Antike.Von diesen Standbildern geht eine enorme Faszination aus,obgleich der Zahn der Zeit inzwischen energisch an ihnen ge-arbeitet hat: Hier fehlt ein Arm, dort eine Nase, ja mitunterblieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins-titutes für Klassische Archäologie spürt der Besucher diesenZauber, der von einem idealen Menschenbild ausgeht, das soniemals existiert hat. Denn den perfekten Menschen gab undgibt es nicht, auch wenn sich seit jeher jede Generation neuum die Perfektion „Mensch“ bemüht.

Im 21. Jahrhundert trägt der Mensch Brille und Hörgerä-te, sein Hüftgelenk ist aus Titan, sein Stent im Inneren seinesKörpers gleicht einem filigranen Schmuckstück. Die Zähnesind aus Keramik, ein künstlicher Darmausgang ist längstnichts Außergewöhnliches mehr. Der Körper ist zum unsicht-baren Hightech-Ersatzteillager geworden, das einem ein-zigen Zweck dient: menschliche Lebensqualität zu erhaltenund manchmal auch wieder zu gewinnen.

Nicht ganz perfekte Menschen leisten immer wieder Er-staunliches. So haben die Paralympischen Spiele bei Sport-fans höchsten Stellenwert, Marathonrollstuhlfahrer werdenmit begeistertem Beifall gefeiert, ein Sprinter ohne Unter-schenkel kämpft um die Zulassung bei regulären Wett-kämpfen. Der Bundesinnenminister lenkt seine Staatsge-schäfte vom Rollstuhl aus. Und damit auch Menschen trotzkörperlicher Beeinträchtigungen Zugang zu den schnellstenInformationsquellen aller Zeiten haben, wird das Internet Zugum Zug barrierefrei.

All dies ist nur möglich, weil Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler aller Disziplinen immer wieder nach mög-lichst perfekten Lösungen für scheinbar unlösbare Fragestel-lungen rund um den Menschen suchen.

Das Schwerpunktthema im uni | kurier | magazin 108stellt zu diesem Thema aktuelle Forschungsansätze und -er-gebnisse der Universität Erlangen-Nürnberg aus den Berei-chen Ethik, Medizin, Informatik, Psychogerontologie, Sozio-logie und Theaterwissenschaft vor. Zudem erzählt ein pro-movierter Biochemiker von seinem Alltag als Wissenschaftlermit Handicap: Christoph Rieck ist nahezu taub.

Zur Illustration unseres Schwerpunktthemas „perfekt unperfekt“wurden Fotos von Georg Pöhlein verwendet, die er in der Gipsabguss-Galerie der Klassischen Archäologie aufgenommen hat. Mehr überdiese und weitere Sammlungen der Universität findet der Besuchergarantiert barrierefrei im Netz unter: www.sammlungen.uni-erlangen.de

Perfekt gestartet ist die Erlangen Graduate School in AdvancedOptical Technologies. Im Rahmen der bundesweiten Exzellenzini-tiative arbeiten in ihr Nachwuchswissenschaftler an den Schnittstellenvon Physik, Medizin und Ingenieurwissenschaften eng zusammenund lernen so, das ungeheure Potenzial der neuen optischen Tech-nologien voll auszuschöpfen. Dass diese Graduiertenschule einBeweis für das hohe wissenschaftliche Niveau ist, auf dem in Erlangengelehrt und geforscht wird, können Sie in unserem Forum Forschungnachlesen.

Sie können aber auch mit Prof. André Freiwald vom Institut fürPaläontologie auf Nordlandexpedition rund um Spitzbergen gehen.Statt mit einem kleinen Forschungskutter durfte der engagierte Wis-senschaftler erstmals mit dem neuen 95 Meter langen Eisrandfor-schungsschiff Maria S. Merian diese unwegsame, wenig kartierteKüstenregion erkunden. Sein persönliches Logbuch gibt Einblick,dass unsere klimatischen Veränderungen den Norden unseres Plane-ten längst erreicht haben.

Zu guter Letzt widmet sich unser Magazin noch einer Erlanger Be-sonderheit: Seit 300 Jahren ziert die Orangerie den Erlanger Schloss-garten. Prof. Karl Möseneder zeichnet die Geschichte dieses archi-tektonischen Kleinods nach, an dem ebenfalls die Zeit nicht spurlosvorübergegangen ist. Ein öffentlicher Hilferuf seitens der Universitätzur Sanierung des maroden Gebäudes stieß auf ein unverhofftesEcho. Über 500 000 Euro sammelten sich auf dem Spendenkonto an,damit kann auch diese unperfekte Schönheit hoffentlich bald wieder inperfektem Glanz erstrahlen.

Für diese perfekte Unterstützung sei an dieser Stelle allenSpendern und Sponsoren herzlich gedankt.

Karl-Dieter GrüskeRektor

Page 3: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 20072

MediadatenAusgaben1 x jährlichVerschiebung des Erscheinungstermines vorbehalten.Auflage8.500uni | kurier | magazinWissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-UniversitätErlangen-Nürnberg. Es informiert seit 1975 über Aktivitäten undVorhaben der Universität in den Bereichen Forschung, Lehreund Hochschulpolitik. VerbreitungInteressierte Öffentlichkeit; Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derUniversität; Studierende; Mitglieder des Universitätsbundes;Partneruniversitäten; Freunde und Förderer; Ministerien;Forschungseinrichtungen; Hochschulen in Deutschland und imAusland; Firmen und Einrichtungen; Medien.InternetDas uni | kurier | magazin wird im Internet unter www.uni-erlangen.de veröffentlicht. DruckverfahrenOffset Heftformat210 x 297mm (DIN A4) AnzeigenVMK – Verlag für Marketing & Kommunikation GmbH & Co. KG,Monsheim Redaktionelle VorlagenTexte per E-Mail oder auf DisketteBildvorlagen elektronisch (z. B. CD) oder auf Papier

ImpressumHerausgeberFriedrich-Alexander-Universität Erlangen-NürnbergDer RektorSchlossplatz 4, 91054 ErlangenTel.: 09131 / 85 - 0Fax: 09131 / 85 - 22131Internet: http://www.uni-erlangen.de Unterstützt durch den Universitätsbund VerantwortlichFriedrich-Alexander-Universität Erlangen-NürnbergÖffentlichkeitsarbeitUte Missel M.A.Schlossplatz 3, 91054 ErlangenTel.: 09131 / 85 - 24036Fax: 09131 / 85 - 24806E-Mail: [email protected] RedaktionAnnkathrin Heidenreich; Sandra Kurze; Ute Missel; Gertraud Pickel Gestaltungzur.gestaltung, NürnbergDTPAndrea FörsterDruckVMK – Druckerei GmbH, Monsheim FotosWenn nicht anders angegeben: Öffentlichkeitsarbeit

Editorial

1 Liebe Leserinnen und Leser

Impressum

2 Mediadaten, Impressum3 Inhalt

Personalia

96 in memoriam98 Berufungen

Mediadaten · Impressum · Inhalt

Page 4: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 20073

Inhalt

Rudolf Kötter6 Ganz normal behindert

Wie unsere Gesellschaft„Behinderungen“ produziert

Ralf L. Schild10 Der unsichtbare Patient

Neue Möglichkeiten derPerinataldiagnostik und -therapie

Ulrich Kneser, Raymund Horch14 Tissue Engineering: Durchblutetes

Gewebe aus der RetorteEine Forschungskooperation vonMedizin, Naturwissenschaft undTechnik

Maria Schuster18 Wenn der Daumen

zum Gaumen wirdAutomatische Analyse vonKommunikationsbehinderungen

Interview22 Und am Sonntag ist manchmal

hörgerätefreiWie ein nahezu tauber Nachwuchs-wissenschaftler seinen Alltag meistert

Michael Sticherling26 Leben mit dem Juckreiz

Akzeptanz von Behinderungen amBeispiel von Hauterkrankungen

Sabine Engel, Andreas Mück, Frieder R. Lang

30 Vergesslichkeit im Alter: Ganznormal oder doch schon krankDas Erlanger Gedächtnis-Zentrum

Hendrik Faßmann34 Von der Badekur zur

IntegrationshilfeSozialwissenschaftliche Forschungim Bereich von Rehabilitation

Wolfgang Wiese38 Surfen ohne Hindernis

Das Rechenzentrum der Universitätals Pionier des barrierefreien Web-Auftritts

André Studt, Henri Schoenmakers40 Nur eine Sache der Perspektive

Theater mit Behinderten oder: wieman vergessen lernt, was man zuwissen glaubt

Perfekt unperfekt

Forum Forschung

Exzellenzinitiative46 Optik-Forschung auf höchstem

Niveau

Medizin54 Warum Frieren weh tut55 Hilfe vom Gedächtnis des

Immunsystems71 Gesucht: Schluckimpfung gegen

Gebärmutterhalskrebs72 Künstliches Herz verpflanzt72 1,6 Millionen für Stimm-Forschung80 Die Niere vor Schaden bewahren

Pädagogik56 Schultheater als Forschungsprojekt56 Islamische Schüler lernen Toleranz

Theologie58 Besser als vermutet:

Das Kirchenbild in den Medien

Buchwissenschaft60 Abenteuer Buch

Ingenieurwissenschaften62 Diamant: Halbleiter der Superlative64 Entwicklungsfähige

Wasserstoffmotoren70 Noch schneller auf der

Datenautobahn

Paläontologie66 Kein Eis rund um Spitzbergen

Informatik68 Der Lotse in der Jackentasche

Germanistik74 Klopstock kam nicht nach Erlangen87 Datenbank der Freundschaftsalben

Geschichte76 An den Quellen europäischer

Geschichte82 Neuvermessung des letzten

Jahrhunderts

Wirtschaftswissenschaften86 Globale Strategien deutscher

Dienstleister

Kunstgeschichte90 Eine Schönheit im Grünen:

Die Orangerie

Page 5: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Perfekt unperfektbehindert – gehandicapt – ganz normal

Page 6: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Rudolf Kötter

Ganz normal behindertWie unsere Gesellschaft „Behinderungen“ produziert

Page 7: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Wenn wir im Alltag von Behinderung sprechen, dann habenwir in der Regel Menschen vor Augen, die unter ganz offensichtlichen und schweren körperlichen oder geistigenGebrechen leiden, welche zur Führung eines eigenen Aus-weises berechtigen oder gar die Unterbringung in speziellenEinrichtungen erforderlich machen. Eine solche Fixierungdes Begriffs auf exemplarische Fälle wird allerdings demkomplexen Sachverhalt nicht gerecht, was jedem auch so-fort klar wird, der etwa bei der Beantragung eines Behinder-tenausweises behilflich sein möchte. Der Begriff der „Behin-derung“ ist auf komplizierte Weise in einen Bedeutungsraumeingefügt, der von einer objektiven, wie auch von einer sub-jektiven und einer sozialen Dimension aufgespannt wird, wo-bei die Einstellung seiner Koordinaten nicht nur medizini-sche, sondern auch – und vor allem – gesellschaftliche Pro-bleme aufwirft.

Die Feststellung einer Behinderung setzt als Erstes einenobjektiven Befund in Form eines dauerhaften organischenbzw. körperlichen Defekts voraus. Dabei grenzt das Merkmalder „Dauerhaftigkeit“ die Behinderung von temporär be-grenzten Krankheiten ab, und einen organischen Defektmuss man zumindest auch dort unterstellen können, wo sichdie „Behinderung“ für die Betroffenen und ihre Umgebung inerster Linie gar nicht als organisches Geschehen darstellt,wie dies häufig bei geistigen Behinderungen der Fall ist. DieRede von einem „Schaden“, einem „Defekt“ oder „Defizit“setzt voraus, dass man eine klare Vorstellung von der „nor-malen“ Funktion eines Organs oder Körperteils besitzt, d. h.,man muss über die entsprechenden Erklärungen für Körper-oder Organfunktionen verfügen. Dies wiederum verweist aufden Stand der Medizin und Humanbiologie. Sicher gibt es dieeingangs erwähnten offensichtlichen Fälle von genetisch be-dingten Missbildungen oder durch Unfälle verursachten Ver-letzungen; aber die Vorstellung, dass nur massive, anato-misch beschreibbare Fehlbildungen oder Zerstörungen sichals Behinderungen darstellen, haben wir längst überwunden;selbstverständlich kann eine Behinderung ihre Ursache auchin physiologischen und neurologischen Fehlfunktionen ha-ben, und dabei gibt es wiederum manche Defekte, von de-nen nicht so klar ist, ob sie nicht nur eine zeitlich begrenzteEinschränkung einer Organfunktion darstellen. Das gilt fürmanche Störungen des Immunsystems oder bestimmter Ge-hirnfunktionen. Deshalb verlangt man im Rahmen der Sozial-gesetzgebung auch nur, dass sich für die Anerkennung einerBehinderung wenigstens ein längerer Zeitraum angebenlässt, während dessen sie mit Sicherheit als vorliegend ange-nommen werden kann.

Das Vorliegen eines körperlichen oder organischen Defekts ist eine notwendige Bedingung dafür, um überhauptvon „Behinderung“ sprechen zu können. Hinzukommen

muss aber noch, dass sich dieser Defekt auf eine spezifischeWeise äußert: Die Betroffenen müssen durch die körperlicheoder organische Einschränkung daran gehindert sein, gesell-schaftliche Basisfunktionen in vollem Umfang wahrzuneh-men. Als gesellschaftliche Basisfunktionen gelten Hand-lungsweisen, deren Beherrschung in einer Gesellschaft vonjedermann erwartet wird und die umgekehrt für jedermannvon elementarer Wichtigkeit für den individuellen wie sozialen Lebensvollzug sind. Dies ist ein wichtiges Merkmal,das zum einen bei der Frage, welche chronischen Krankhei-ten als „Behinderungen“ gelten können, eine entscheidendeRolle spielt, zum anderen deutlich macht, dass eine „Behin-derung“ nicht nur einen biologischen, sondern auch einensozialen Sachverhalt darstellt, der wiederum sowohl sub-jektive wie gesellschaftliche Aspekte aufweist.

Zunächst muss der behinderte Mensch seine Ein-schränkung als belastend (z. B. aufgrund dauernder oderhäufiger Schmerzen) oder behindernd wahrnehmen, d. h., ermuss spüren, dass ihm aufgrund seines Defekts bestimmteFormen der gesellschaftlichen Teilhabe versagt sind, die allenanderen Menschen, welche seine Form der Behinderungnicht haben, offenstehen. Zum anderen muss die Behin-derung auch von der Gesellschaft wahrgenommen werden,d. h., die subjektive Wahrnehmung des Behinderten mussvon seiner Umwelt geteilt werden können. Letzteres hatübrigens nichts mit Diskriminierung zu tun, im Gegenteil. DieAkzeptanz eines organischen Defizits als Behinderung istBedingung dafür, dass man sich überhaupt dazu in einemmoralischen Sinne verhalten kann. Die gelegentlich an-zutreffende Meinung, dass die Feststellung eines Unter-schieds schon eine gesellschaftliche Diskriminierung im-pliziere und es deshalb besser wäre, objektiv vorhandeneEinschränkungen im Interesse der Betroffenen zu „über-

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 20077

Page 8: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

sehen“, beruht auf einer irrigen Vorstellung von gesell-schaftlicher Diskriminierung. Diese liegt nämlich nur dannvor, wenn eine Behinderung zum Argument dafür gemachtwird, den Behinderten von ihm möglichen gesellschaftlichenBetätigungen auszuschließen. Die ethisch gebotene Unter-stützung von Behinderten setzt voraus, dass man sich mitihren Defiziten ernsthaft auseinandersetzt und ihnen auf derBasis dieses Wissens und Verständnisses eine ihren Interes-sen dienliche Hilfe zuteil werden lässt.

Die subjektiven und gesellschaftlichen Dimensionen derBehinderung haben in den letzten zwei Jahrzehnten in dersozialwissenschaftlichen wie auch politischen Diskussion zu-nehmend an Bedeutung gewonnen, was sich gut an der Ent-wicklung des Behinderten-Begriffs durch die WHO ablesenlässt (vgl. hierzu M. Hirschberg: Ambivalenz in der Klassifi-zierung von Behinderung. In: Ethik in der Medizin 15/2003,171 - 179). Dabei wurde eine Reihe von Problemen sichtbar,die große Herausforderungen an unsere Gesellschaft dar-stellen.

Wie oben skizziert, hängt die Wahrnehmung eines körper-lichen oder organischen Defizits als „Behinderung“ stark da-von ab, in welchem Umfang ein Mensch gesellschaftlicheBasisfunktionen erfüllen kann. So fallen in einer Welt, in derdie wenigsten lesen und schreiben können, Lese- undSchreibschwächen nicht als Behinderungen auf; wo niemandzur Schule geht, gibt es auch kein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom; und wo schwere körperliche Arbeit anfällt, fallenSchwächen in der Feinmotorik nicht auf. Werden allerdingsdie letztgenannten Arbeitsvorgänge automatisiert und überein Steuergerät mittels Joystick geführt, dann wird die feh-lende Feinmotorik zur Behinderung. Allgemein gilt, dass diezunehmende Technisierung unserer Arbeits- und Lebensweltund die damit verbundenen Anforderungen an unsere körper-lichen wie kognitiven Fähigkeiten vom Menschen Kompe-tenzen abfordern, über die man früher nicht verfügen mussteund deren Mangel deshalb auch nicht als Behinderung emp-funden wurde. Natürlich gibt es Formen von körperlichen undgeistigen Beeinträchtigungen, die zu allen Zeiten als „Behin-derungen“ gewertet wurden und werden. Aber wenn wir un-seren Blick nur darauf richten, dann können wir nicht erken-nen, dass die Behinderung ein Phänomen ist, das die Gesell-schaft zu einem wesentlichen Teil aus den körperlichen undorganischen Defiziten ihrer Mitglieder erzeugt.

Dieses Problem verschärft sich dadurch, dass die „Nor-malität“ von Körper- und Organfunktionen keine statische,sondern eine dynamische Größe ist, die sich im Laufe des

Lebens ändert – leider nicht zum Besseren. Dies selbst istwiederum ein „normaler“, ganz natürlicher Vorgang. Mit zu-nehmendem Lebensalter lassen die Körperkräfte und diegeistige Spannkraft nach, man hört und sieht schlechter, be-kommt Arthrose usw. und in gleichem Maße engt sich der Ak-tionsraum ein. Es ist dem Fortschritt der Medizin und der Me-dizintechnik zu verdanken, dass heute in den Industriestaatendie meisten Menschen am Ende ihres Lebens in eine Situationgeraten, in der sie als Behinderte gelten müssen: Sie könnennicht mehr Auto fahren und damit sich nicht mehr in ausrei-chendem Maße selbst versorgen, sie können kompliziertetechnische Geräte wie Handys, Computer und Automatenaufgrund ihrer eingeschränkten sinnlichen und haptischenFähigkeiten nicht mehr richtig bedienen und sind damit nichtmehr in der Lage, sich Geld, Güter oder Informationen zu be-schaffen oder an der allgemeinen Kommunikation teilzuneh-men. Und das bedeutet letztlich, dass es in unserer Gesell-schaft „normal“ ist, irgendwann behindert zu werden – diesesSchicksal trifft jeden, der nicht vorher schon gestorben ist.

Hieraus ergeben sich eine ethische und eine sich darananschließende politische Aufgabe. Zunächst muss manakzeptieren, dass es eine negative Erfahrung ist, behindert zusein oder zu werden, da hilft kein gut gemeintes Schönreden.Aber wie schon gesagt, bedeutet die Feststellung einerBehinderung nicht, die Betroffenen zu stigmatisieren, auszu-grenzen oder zu diskriminieren. Ethisch gefordert ist nichteine Redeweise, die den Unterschied zwischen Behinderungund Nicht-Behinderung verwischt, sondern handfeste Unter-stützung bei dem Bemühen, jedem Behinderten ein mög-lichst großes Maß an Autonomie zu gewähren. Und dieseethische Forderung hat politische Konsequenzen. Diese wer-den heute auch schon erkannt und in Handlungen umgesetzt,wobei man sich bislang allerdings nur an den massivstenFormen von Behinderung orientiert, die ein Leben im Roll-stuhl bedeuten. Dass unsere Gesellschaft in zunehmendemUmfang Behinderung „produziert“, weil man die technischeGestaltung unserer Lebens- und Arbeitswelt in unnötigerWeise an bestimmte kognitive und körperliche Kompetenzenbindet, ist ein Umstand, den man erst in jüngster Zeit erkannthat und der angesichts der demographischen Entwicklungunserer Gesellschaft eine große Herausforderung an In-genieure, Architekten, Stadtplaner und Politiker darstellt.

Dr. Rudolf Kötter ist Kommissarischer Leiter des Zentral-instituts für Angewandte Ethik und Wissenschaftskom-munikation der Universität Erlangen-Nürnberg.

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 20078

Page 9: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Ralf L. Schild

Der unsichtbare Patient Neue Möglichkeiten der Perinataldiagnostik und -therapie

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Page 10: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Die pränatale Diagnostik ist ein wesentlicher Bestandteil derpränatalen Medizin. Sie beinhaltet alle diagnostischen Maß-nahmen, durch die morphologische, strukturelle, funk-tionelle, chromosomale und molekulare Störungen vor derGeburt erkannt oder ausgeschlossen werden können. Imweiteren Sinne bietet die Pränataldiagnostik heute auch fürdie Geburtsplanung Möglichkeiten, wie sie vor einigenJahren noch nicht denkbar gewesen wären. Hervorzuhebengilt, dass sich heutzutage individuelle Risiken für Mutter, Kindund Schwangerschaft abschätzen lassen. Mit dem Fort-schritt der medizinischen Wissenschaft wurde auch diePränataldiagnostik immer weiter entwickelt. Durch dieseTechnik ist das ungeborene Kind aus seiner pränatalen Ano-nymität herausgetreten und bereits vor der Geburt zum bild-lich dokumentierbaren Individuum und im Krankheitsfall zumPatienten geworden. Ziele der pränatalen Diagnostik, wie sievon der Bundesärztekammer formuliert werden, sind:

� Störungen der embryonalen und fetalen Entwicklung zu erkennen.

� Durch Früherkennung von Fehlentwicklungen eine optimale Behandlung der Schwangeren und des ungeborenen Kindes zu ermöglichen.

� Befürchtungen und Sorgen der Schwangeren zu objektivieren oder abzubauen und

� Schwangeren Hilfe bei der Entscheidung über die Fortsetzung oder den Abbruch der Schwangerschaft zu geben.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die menschlichen,ethischen und juristischen Probleme der pränatalen Diag-nostik eine hohe fachliche Erfahrung und nachgewieseneKompetenz, sowie in der Regel eine frühzeitige Zusammen-arbeit zwischen Frauenärzten, Humangenetikern, Neonato-logen und gegebenenfalls Spezialisten anderer Fachgebieteerfordern. Vor jeder pränatalen Diagnostik hat eine Aufklä-rung über Anlass und Ziel der Untersuchung, über die Gren-zen der pränatalen diagnostischen Möglichkeiten, über diepränatal nicht erfassbaren Störungen und über die Sicherheitdes Untersuchungsergebnisses zu erfolgen. Diese Aufklä-rung ist bei Vorliegen vermuteter oder gesicherter Störungenentsprechend auszuweiten. Die Aufklärung soll ausführlich,ergebnisoffen, bereits zu Beginn der Schwangerschaft erfol-gen und auf die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik hin-weisen. Die Einwilligung der Schwangeren nach Aufklärungist eine unverzichtbare Voraussetzung für jede Maßnahme inder Pränataldiagnostik.

Dieser Beitrag beschreibt neue diagnostische und thera-peutische Möglichkeiten in der Pränataldiagnostik.

ErsttrimesterdiagnostikDie alleinige Berücksichtigung des mütterlichen Alters als In-dikation für eine invasive Diagnostik zum Ausschlusskindlicher Chromosomenstörungen entspricht nicht mehrdem aktuellen Stand der Wissenschaft. Bei konsequenterAnwendung der reinen Altersindikation würde die Rate anFruchtwasseruntersuchungen deutlich steigen, da sich derAnteil Schwangerer mit einem Alter jenseits von 35 Jahren indem letzten Vierteljahrhundert mehr als verdoppelt hat undderzeit etwa 22 Prozent beträgt. In den letzten Jahren hat sichdie sogenannte Ersttrimesterdiagnostik der Fetal MedicineFoundation (FMF) durchgesetzt, die im Zeitraum von 11 bis14 Schwangerschaftswochen die Möglichkeit bietet, durcheine Blutentnahme bei der Schwangeren und eine Ultra-schalluntersuchung des Kindes die Wahrscheinlichkeit einerChromosomenstörung individuell zu berechnen. Im mütter-lichen Blut werden die biochemischen Marker freies ß-hCG(humanes Choriongonadotropin) und PAPP-A (pregnancyassociated plasma protein A) bestimmt. Bei der Ultraschall-untersuchung liegt der Schwerpunkt auf der Messung der fe-talen Nackentransparenz. Eine Vielfalt von Studien konntezeigen, dass eine erhöhte fetale Nackentransparenz amEnde des ersten Drittels der Schwangerschaft mit einemdeutlich erhöhten Risiko für eine Chromosomenstörung ver-bunden ist. Die Nackentransparenz stellt eine echoarmeZone im Bereich des fetalen Nackens dar und ist im ge-nannten Zeitraum bei 99 % aller Feten nachweisbar. Durchdie Kombination von maternalem Alter und fetaler Nacken-

transparenz lassen sich ca. 75 % der häufigen kindlichenChromosomenstörungen erkennen. Werden biochemischeWerte der Mutter hinzugezogen, lässt sich die Entdeckungs-rate von kindlichen Chromosomenanomalien auf knapp 90 %steigern. International hat sich ein Risikowert von > 1:300,der dem Altersrisiko einer 35-jährigen Schwangeren ent-spricht, als Grenzwert etabliert. Liegt das Risiko darüber (z. B. bei einem Wert von 1:150), wird im Regelfall nach ent-sprechender Aufklärung eine invasive Diagnostik in Formeiner Probenentnahme aus dem Mutterkuchen, oder zu ei-nem späteren Zeitpunkt in Form einer Fruchtwasserunter-suchung empfohlen. Kann durch diese invasive Diagnostikeine Chromosomenstörung ausgeschlossen werden, mussmit einem erhöhten Risiko für andere fetale Erkrankungengerechnet werden. Hierzu zählen vor allem Herzfehler odersyndromale Erkrankungen.

Weitere Entwicklungen auf diesem Gebiet betreffen dieDarstellung des fetalen Nasenbeines, da bei fehlender Dar-stellung das Risiko einer Chromosomenstörung erhöht ist.Des Weiteren können abnorme Flussmuster in kleinen fetalenVenen (Ductus venosus) und an fetalen Herzklappen (Trikus-

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200711

Page 11: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

spidalklappe) richtungsweisend für eine Störung des kind-lichen Erbgutes sein. Alle diese Untersuchungen setzen ei-nen hohen Kenntnisstand der Untersucher und eine regel-mäßige Auditierung voraus.

Die 3D-/4D-Sonographie wird zunehmend auch im erstenDrittel der Schwangerschaft eingesetzt, da diese Methodefür die Nasenbeindarstellung genutzt werden kann.

Zusätzlich zu den oben beschriebenen Untersuchungenwird eine Biometrie des Feten zur Entwicklungsprüfung(Kopf- und Bauchumfang, Oberschenkelknochenlänge)durchgeführt, die Darstellbarkeit von Magen und Harnblasedokumentiert, die Zahl der Gefäße in der fetalen Nabelschnurüberprüft, das fetale Herz mit einer Farbdoppler-Sono-graphie untersucht, die Extremitäten des Kindes dargestellt,die Fruchtwassermenge beurteilt und die Lokalisation desMutterkuchens beschrieben.

Zweite Basisschalluntersuchung zwischen der 18. und 22. SchwangerschaftswocheZielsetzung dieser Untersuchung ist die Erkennung von Ent-wicklungsstörungen und Erkrankungen des Kindes mittelsUltraschall und Dopplersonographie. Die Entdeckungsratechromosomaler Anomalien liegt deutlich niedriger als mittelskombinierter Ersttrimesterdiagnostik wie oben beschrieben.

Im Rahmen dieser Ultraschalluntersuchung werden diemütterlichen Gefäße, die die Plazenta versorgen, auf ihrenWiderstand untersucht. Erhöhte Widerstandswerte zudiesem Zeitpunkt der Schwangerschaft können auf eine er-höhte Inzidenz späterer Hochdruckerkrankungen der Patien-tin und/oder Wachstumsstörungen des Kindes hindeuten.Zusätzlich kann eine Längenmessung des Gebärmutter-halses per vaginalem Ultraschall vorgenommen werden, umdas Risiko einer Frühgeburtlichkeit abzuschätzen. Die Wer-tigkeit beider Untersuchungen im Schwangerenkollektiv oh-ne besondere Risiken wird derzeit weiter kontrovers disku-tiert. Im Risikokollektiv, d. h. bei Frauen mit einer auffälligenVorgeschichte oder entsprechenden Grunderkrankungen,gelten die Dopplersonographie der Gebärmutter versorgen-den Gefäße und die Längenmessung des Gebärmutterhalsesbereits als etablierte Methoden.

Dritte Basisschalluntersuchung zwischen der 28. und 32.Schwangerschaftswoche und weitere EinsatzgebieteNeben der Größenbestimmung und Wachstumsbeurteilungdes Kindes, auch unter Zuhilfenahme der 3D/4D- Sonogra-phie, und der Dopplersonographie bei intrauteriner Wachs-tumsretardierung haben sich in den letzten Jahren weitereEinsatzgebiete herauskristallisieren können.

Zu diesen zählen die Plazentadarstellung vor und nach derGeburt, die Narbenbeurteilung nach vorangegangenem Kai-serschnitt als Hinweis auf das Rupturrisiko bei der Geburt,die sonographische Lagebeurteilung des Kindes und die Er-kennung kindlicher Einstellungsanomalien unter Geburt.

Liegt ein tiefer Plazentasitz, eine sog. Placenta praeviavor, so ist eine Geburt auf normalem vaginalem Weg nichtmöglich. Mittels Sonographie kann die Lokalisation der Pla-zenta frühzeitig und sicher beurteilt werden. Ist ein tiefer Pla-zentasitz nachgewiesen, so muss durch eine Farbdopplerun-tersuchung der seltene Fall aberrierender Nabelschnur-gefäße ausgeschlossen werden, da in diesen Fällen mit einerhohen perinatalen Mortalität zu rechnen ist.

Des Weiteren kann mit der Ultraschallbeurteilung des un-teren Gebärmutterdrittels bei leicht gefüllter Harnblase derMutter die Dicke der vorderen Gebärmutterwand eruiert wer-den. Damit soll das Risiko einer späteren Uterusruptur unterWehen besser eingeschätzt werden können, wenn die Ge-bärmutter nach vorausgehender Entbindung durch Kaiser-schnitt eine Narbe aufweist.

Ganz essenziell ist die Sonographie zur Beurteilung einerfestsitzenden Plazenta, einer sog. Placenta adhaerens bzw.accreta, insbesondere bei gleichzeitig vorliegendem atypi-schem Sitz des Mutterkuchens. Mittels Sonographie gelingtes hierbei, den Verdacht zu verifizieren oder auszuschließen,was weitreichende Folgen für das peripartale Managementhat. Da eine Placenta accreta mit einem deutlich erhöhtenBlutungsrisiko unter Geburt und einer deutlich erhöhten Ratean Gebärmutterentfernungen einhergeht, kann das geburts-hilfliche Team entsprechende Vorbereitungen treffen, um dasRisiko für die Schwangere zu minimieren.

Ein neues Einsatzgebiet stellt die Ultraschalluntersuchungdes Analsphinkters (Schließmuskel am Darmausgang) dar,da mit dieser Methode mehr als ein Drittel der Defekte vorAuftreten klinischer Symptome nachgewiesen wurde. DieseUntersuchung könnte Bedeutung für die Planung der folgen-den Geburten haben. Ein weiteres Einsatzgebiet ist die Beur-teilung der Gebärmutterhalslänge vor einer medikamentösenGeburtseinleitung, um den Einleitungserfolg abzuschätzen.Bekannt ist in diesem Zusammenhang, dass ein unreifer Ge-bärmutterhals mit einer tendenziell längeren Geburtsdauerund einer höheren Kaiserschnittrate assoziiert ist.

Unter der Geburt ist die Sonographie zur Beurteilung vonLage und Einstellung des Kindes wichtig. Britische Ärzte fan-den auch bei erfahrenen Untersuchern (Ärzten und Heb-ammen) eine hohe Rate fehlerhafter Untersuchungsbefundebei der Beurteilung der kindlichen Kopfposition. Die genaueUntersuchung der kindlichen Position ist nicht nur wichtig beider Entscheidung für eine normale oder eine Kaiserschnitt-Entbindung, sondern auch für die korrekte und sichereDurchführung einer Saugglocken- bzw. Zangengeburt.

Dr. Ralf L. Schild ist Professor für Pränataldiagnostik und Peri-natalmedizin am Universitätsklinikum Erlangen und leitet dieSpezialambulanz für Pränatale Diagnostik.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200712

Page 12: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Ausgedehnte Gewebedefekte können eine Vielzahl von ver-schiedenen Ursachen haben. So kann es aufgrund von Un-fällen zu Defektverletzungen mit Beteiligung der Haut, derMuskulatur, des Bindegewebes, des Fettgewebes sowieauch des Knochengewebes kommen. Tumorerkrankungenerfordern mitunter umfangreiche Resektionen, die ebenfallszu Gewebsdefekten führen können. Des Weiteren könnenangeborene Fehlbildungen für das Auftreten von Gewebsde-fekten verantwortlich sein. Die Behandlung von großen Ge-websdefekten stellt eine Herausforderung für viele chirur-gische Disziplinen dar. Verkompliziert wird die Situation unterUmständen durch lokale Infektionen beziehungsweise nachTumorresektionen durch eine lokale Strahlentherapie. Mo-derne rekonstruktiv-chirurgische Techniken ermöglichen dieRekonstruktion von ausgedehnten Gewebedefekten durchVerpflanzung von gesundem Gewebe aus einer Spender-region. Dieser Gewebstransfer kann dabei entweder in Formeiner kleineren Gewebeeinheit, zum Beispiel eines Spalt-hauttransplantates oder eines freien Knochentransplantates,z. B. vom Beckenkamm, erfolgen. Auf der anderen Seite kannGewebe mit eigener Blutversorgung entweder als gefäßge-stielte Lappenplastik oder als mikrochirurgisch freie Lappen-plastik verpflanzt werden. Durch derartige Operationsverfah-ren konnte bereits bei einer großen Zahl von Patienten dieFunktion einer verletzten Extremität wiederhergestellt odergar diese Extremität vor der Amputation gerettet werden. DesWeiteren konnte so einer großen Zahl von Patienten einLeben mit deutlich besserer Lebensqualität ermöglicht wer-den. Viele Patienten, die sich aufwendigen rekonstruktiven

Operationen unterziehen, haben eine vieljährige Leidens-geschichte mit unter Umständen multiplen Operationenhinter sich, bevor ihnen mittels entsprechender plastisch-chirurgischer Techniken geholfen werden kann.

Obwohl die Verpflanzung von verschiedenen Gewebe-typen erhebliche Fortschritte in der rekonstruktiven Chirurgieermöglicht hat, verursacht die Entnahme von gesundemGewebe von einer Spenderstelle einen sogenannten Ent-nahmedefekt. Dies bedeutet, dass an der Stelle des Körpers,an der das Gewebe, zum Beispiel Muskel-, Haut- oder Kno-chengewebe entnommen wird, entweder ein funktionellerDefekt oder ein ästhetischer Defekt zurückbleibt. Mitunterleiden die Patienten im Bereich der Entnahmestelle an lang-anhaltenden Schmerzen und Bewegungseinschränkungen.Daher ist die Entwicklung von Verfahren, die die rekonstruk-tiv-chirurgische Versorgung von Gewebsdefekten mit mini-malem Hebedefekt ermöglicht, von größtem wissenschaft-lichem und klinischem Interesse.

In der Abteilung für Plastische und Handchirurgie stellt dieZüchtung von körpereigenen Ersatzgeweben unter Anwen-dung von Tissue-Engineering-Techniken einen langjährigenForschungsschwerpunkt dar. So konnten in den letzten Jah-ren Verfahren zur Züchtung von Haut entwickelt werden, dieunter anderem auch in der Behandlung von schwer ver-brannten Patienten eingesetzt worden sind. Ein häufig in derPlastischen Chirurgie verpflanzter Gewebetyp ist das Mus-kelgewebe. Mitarbeiter der Abteilung entwickelten ein Ver-fahren, in einer 3-dimensionalen Zellkultur aus Muskelvor-läuferzellen kontraktile Muskelfasern zu züchten. Dieses

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200714

Ulrich Kneser, Raymund Horch

Tissue Engineering: DurchblutetesGewebe aus der Retorte Eine Forschungskooperation von Medizin, Naturwissenschaft und Technik

Tissue Engineering: DurchblutetesGewebe aus der Retorte

Page 13: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Gewebe wurde auch im Tierversuch transplantiert und zeigteein gutes Anwachsen. Ein weiterer wissenschaftlicherSchwerpunkt besteht in der Züchtung von biologischemKnochenersatzgewebe. Die Arbeitsgruppe um Prof. Ray-mund Horch und Dr. Ulrich Kneser entwickelte neben einemneuartigen injizierbaren biologischen Knochenersatz ein me-chanisch stabiles Knochenersatzgewebe, das aus einem zurmedizinischen Anwendung zugelassenen Biomaterial undkörpereigenen Knochenzellen, die in Bluteiweißkleber gelöstsind, besteht. In umfangreichen Zellkulturexperimentenkonnte bewiesen werden, dass die Knochenzellen in demBiomaterial gut überleben und eine normale Funktion an denTag legen. In tierexperimentellen Versuchen im Schädel-knochendefektmodell wurde dieses biologische Knochen-ersatzgewebe in den Knochen integriert und füllte den Defektvollkommen aus.

Die Züchtung von körpereigenen Ersatzgeweben in derZellkultur ist inzwischen ein in vielen Gruppen etabliertes Ver-fahren. Neben Haut-, Muskel- und Knochengewebe könnenzum Beispiel auch Knorpelgewebe, Sehnengewebe, Fettge-webe, Lebergewebe und Nervengewebe sowie Blutgefäßeunter Zuhilfenahme verschiedener, mitunter sehr komplexerZellkulturtechniken gezüchtet werden. Auch die Implantationder körpereigenen Ersatzgewebe ist in vielen verschiedenenDefektmodellen erfolgreich durchgeführt worden. Für einigeGewebetypen, wie zum Beispiel Knorpel-, Haut- und Kno-chengewebe, liegen bereits Ergebnisse aus klinischen An-wendungsstudien vor. In diesen Studien konnte die generellePraktikabilität des Tissue-Engineering-Ansatzes demons-

triert werden. Insbesondere Hautgewebe und Knorpel-gewebe scheinen erfolgreiche Kandidaten für einen klini-schen Einsatz zu sein, da Hautgewebe ein sehr dünnes Ge-webe ist, das schnell von Blutgefäßen durchwachsen wer-den kann, während Knorpelgewebe primär keine direkte Blut-versorgung über das Einwachsen von Blutgefäßen benötigt.Großvolumige Gewebskonstrukte, die auf eine gute Blut-versorgung angewiesen sind, wie zum Beispiel Knochen-,Muskel- oder Lebergewebe, lassen sich derzeit nicht mitoptimalen Ergebnissen verpflanzen. Der Grund für die mit-unter enttäuschenden Ergebnisse bei der Verpflanzung vongroßen Gewebsmengen ist die nicht ausreichende anfäng-liche Blutversorgung. So wachsen direkt nach der Trans-plantation aus der Defektumgebung Blutgefäße in dasGewebe ein, jedoch gehen die gewebstypischen Zellen inder Mitte der Gewebskonstrukte aufgrund der unzureichen-den Sauerstoff- und Nährstoffversorgung innerhalb wenigerTage unweigerlich zu Grunde. Dieser Vorgang konnte unteranderem auch durch Mitarbeiter der Abteilung für Plastischeund Handchirurgie in Zellmarkierungsexperimenten nach-gewiesen werden.

Ein möglicher Lösungsansatz ist die Schaffung einesdurchbluteten körpereigenen Ersatzgewebes. Die Entwick-lung von Verfahren zur Induktion von Blutgefäßen in körper-eigenen Ersatzgeweben, unter anderem auch unter Ver-wendung von mikrochirurgischen Techniken, stellt einen For-schungsschwerpunkt der Abteilung für Plastische undHandchirurgie dar. So wurde in den letzten Jahren ein mikro-chirurgisches Konzept, basierend auf einer arteriovenösen

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200715

Page 14: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Gefäßschleife, weiterentwickelt. Unter Verwendung von mikrochirurgischen Techniken lassen sich an nahezu jederbeliebigen Stelle des Körpers Gefäßschleifen schaffen, diezur Induktion von Durchblutung in biologischen körper-eigenen Ersatzgeweben genutzt werden können. DieseGefäßschleife wird in eine Isolationskammer eingeleitet, inder sich ein entsprechendes Stützgerüst beziehungsweiseeine entsprechende biologische Matrix befindet. Nach einemgewissen Zeitintervall ist das Stützgewebe mit Blutgefäßendurchwachsen, sodass in dieses durchblutete Gewebslagerkörpereigene gewebsspezifische Zellen beziehungsweiseadulte Stammzellen eingebracht werden können. Aufgrundder optimalen Durchblutungssituation kommt es nach er-folgter Zelltransplantation zu einem sicheren und effizientenEinwachsen der verpflanzten Zellen und zu einer entsprech-enden Ausbildung eines funktionellen Ersatzgewebes. Die-ses lässt sich sodann unter Verwendung der definierten Ge-fäßachse mit mikrochirurgischen Techniken oder als gefäß-gestieltes Transplantat in die entsprechende Defektregiontransplantieren.

In Kooperation mit dem Lehrstuhl für Materialwissen-schaften, Glas und Keramik von Prof. Dr. Peter Greil wurdeeine optimierte Trennkammer entwickelt, die inzwischen inKleinserie hergestellt wird. Des Weiteren werden durch die Arbeitsgruppe von Dr. Julia Will und Prof. Dr. Peter Greil inno-vative 3-dimensionale Gerüste für die Züchtung von Kno-chenersatzgeweben entwickelt, die zum einen eine bezüg-lich der Durchblutung optimierte Mikroarchitektur aufweisenund zum anderen die Einlagerung von knochenspezifischenWachstumsfaktoren ermöglichen. Die Darstellung der Durch-blutungsverhältnisse in der Isolationskammer wird in Koope-ration mit Prof. Kai Brune, Inhaber der Doerenkamp-Stif-tungsprofessur für Innovationen im Tier- und Verbraucher-schutz, und Dr. Andreas Hess vom Institut für Pharmakologiemittels hochauflösender Mikrokernspintomographie ermög-licht. Dieses nichtinvasive Verfahren erlaubt die Festlegungdes Zeitpunktes, zu dem die optimale Durchblutung in derKammer besteht, sodass möglichst schnell die Transplanta-tion der gewebsspezifischen Zellen folgen kann. Mittels derKernspintomographie konnte gezeigt werden, dass inner-halb von sechs Wochen eine signifikante Veränderung derDurchblutungsmuster in der Kammer stattfindet. Unter An-wendung verschiedener molekularbiologischer Technikenwird in Kooperation mit Michael Stürzl, Professor für moleku-lare und experimentelle Chirurgie an der Chirurgischen Uni-versitätsklinik, das Genexpressionsmuster der transplan-tierten gewebsspezifischen Zellen sowie deren Funktionnach der Transplantation untersucht. Des Weiteren wird dasZusammenwirken von Endothelvorläuferzellen und der neugeschaffenen Gefäßschleife detailliert charakterisiert.

Weiterführende Arbeiten mit dem Ziel, die Gefäßneu-bildung in der Kammer zu steigern und modernste Bild-gebungsverfahren zur Untersuchung der Vorgänge in derKammer einzusetzen, wurden durch den vom Rektor Prof.Karl-Dieter Grüske und dem Dekan der MedizinischenFakultät Prof. Bernhard Fleckenstein im Dezember 2006 anProf. Horch verliehenen, mit 100.000 Euro dotierten „XueHong und Hans Georg Geis Stiftungspreis zur Förderung vonForschungsvorhaben in der Medizin“ ermöglicht. Unteranderem soll der Einsatz von verschiedenen Wachstumsfak-toren zur Steigerung der Gefäßaussprossung aus der Gefäß-schleife untersucht werden. Die Korrelierung verschiedener

3-dimensional morphologischer Untersuchungstechniken(Mikro-CT und Mikro-MRT) mit elektronenmikroskopischerAuswertung von Gefäßausgusspräparaten wird neue Ein-blicke in die Mechanismen der Gefäßaussprossung ausVenentransplantaten ermöglichen.

Derzeit werden völlig neuartige Techniken entwickelt, diees ermöglichen, das Konzept der arteriovenösen Gefäß-schleife mit Trennkammeranordnung auch im Großtiermodelleinzusetzen. Hierfür bestehen im Franz-Penzoldt-Zentrum inenger Kooperation mit seinem Leiter Dr. Dirk Labahn optima-le Bedingungen. Die Entwicklung der komplexen Trennkam-mer ist abgeschlossen und erste bildgebende Untersu-chungen mittels hochauflösender CT- und MRT-Technik, dieim Institut für Medizinische Physik unter Leitung von Prof.Willi Kalender sowie in Zusammenarbeit mit Dr. AndreasHess vom Institut für Pharmakologie durchgeführt werden,zeigen vielversprechende Ergebnisse.

In Zukunft werden gezüchtete Ersatzgewebe bei aus-gesuchten Indikationen eine Alternative zur Verpflanzung vonkörpereigenen Geweben darstellen. Die „erste Generation“von Tissue-Engineering-Produkten konnte den zugegebener-maßen hochgesteckten Erwartungen nicht komplett gerechtwerden. Die Kombination von neuartigen Ansätzen in derMaterialwissenschaft, Zellkulturtechniken, Wachstumsfak-tortechnologie sowie mikrochirurgischen Konzepten wird esermöglichen, auch großvolumige körpereigene Ersatzgewe-be mit optimaler Durchblutung vom Moment der Transplan-tation an zu verpflanzen. Die vorgestellten Forschungsvor-haben der Abteilung für Plastische und Handchirurgie stellenrelevante Schritte auf dem Weg hin zu defektadaptiertendurchbluteten Ersatzgeweben mit minimiertem Hebedefektdar. Doch bis zu einer ersten klinischen Anwendung der-artiger durchbluteter körpereigener Ersatzgewebe, dievoraussichtlich in frühestens drei Jahren erfolgen wird, sindnoch weitere Forschungsbemühungen erforderlich.

Prof. Dr. med. Raymund E. Horch leitet die Abteilung für Plas-tische und Handchirurgie in der Chirurgischen Universitäts-klinik, zu seinen Oberärzten gehört Dr. med. Ulrich Kneser.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200716

Page 15: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Eines von etwa 750 bis 900 Kindern kommt mit einer Spalt-fehlbildung von Lippe, Kiefer und Gaumen zur Welt. EineSpalte kann bleiben, wenn bei dem Embryo zwischen der 12.und 16. Schwangerschaftswoche der Gaumen, Kiefer undLippe nicht zusammenwachsen. Es besteht dann eine offeneVerbindung zwischen Gaumen und Kiefer zur Nase sowieeine Spalte der Lippe bis zum Naseneingang. Dies kann alldie genannten Strukturen betreffen, aber auch nur einzelnewie isoliert den Gaumen oder die Lippe. Diese strukturellenVeränderungen können das Erscheinungsbild der Kinderbeeinträchtigen und Auswirkungen auf die Atmung, die Er-nährung und das Sprechen haben. Hinzu können Problemeim Umgang mit anderen Menschen oder psychische sowieschulische Probleme kommen.

Bis zum Abschluss der primären medizinischen Ver-sorgung der Kinder, meist bis zur Einschulung, wird bei ihnen

eine hochgradige Behinderung anerkannt, was für die Elterneine Erleichterung bei der zeitlich, aber teils auch finanziellaufwendigen Unterstützung ihrer Kinder bedeutet. Danachwird diese in Abhängigkeit von der noch verbleibenden Funk-tionsstörung gutachterlich neu festgelegt, wobei das Spre-chen, also die Verständlichkeit, eine große Rolle spielenkann.

Die medizinische Versorgung dieser Kinder wird in spezia-lisierten Zentren geplant und durchgeführt. Das ErlangerSpaltenzentrum ist von überregionaler Bedeutung mit einemEinzugsbereich von Thüringen bis zur Donau und von derGrenze zur Tschechischen Republik bis zum Steigerwald.Mehrere medizinische Fachdisziplinen, die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, die Kieferorthopädie, die Kinderheilkunde,die Frauenheilkunde, die Genetik, die HNO-Heilkunde unddie Phoniatrie und Pädaudiologie arbeiten eng zusammen.

Maria Schuster

Wenn der Daumen zum Gaumen wird Automatische Analyse von Kommunikationsbehinderungen

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200718

Page 16: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

einen Computer erkennen zu lassen. Vereinfacht kann mandiese Technik so beschreiben: Zuerst wird gesprocheneSprache in kurze zeitliche Einheiten unterteilt, dann derenspektrale Eigenschaften bzw. deren Abfolge analysiert undkategorisiert. Mithilfe von statistischen Wortmodellen, diezuvor mit einer großen Anzahl von Sprechern „trainiert“ wur-den, wird dann die mit dem Gesprochenen wahrschein-lichste Wortfolge ermittelt, die Wortfolge „erkannt“.

Für den diagnostischen Zweck in der Medizin wird dieMethode nun umgedreht verwendet: bei bekannter Wort-folge kann aus der Anzahl der richtig erkannten Wörter durchein Spracherkennungssystem die Qualität des Gesprochenenabgeleitet werden. Für deren Bewertung kann man die fürSpracherkennungssysteme übliche Messgröße nutzen, mitder gewöhnlich die generelle Güte eines Spracherkennungs-systems beschrieben wird. Die Wortakkuratheit gibt die An-zahl der richtig erkannten Wörter einer Wortfolge an. Da sicheine eingeschränkte Sprechqualität auch bei der mensch-lichen Bewertung in der Zahl der „erkannten“ Wörter nieder-schlägt, ist zu erwarten, dass die Bewertung des Kriteriums„Verständlichkeit“ durch einen Menschen und die von einemSpracherkennungssystem berechnete Wortakkuratheit (imWeiteren als Verständlichkeitsgrad angegeben) korrelieren.Und tatsächlich zeigt sich beim Vergleich des neuen Ver-fahrens mit der bisher üblichen subjektiven Bewertung durchmehrere Experten eine sehr hohe Übereinstimmung (Korrela-tion |r|=0,89). Dabei liegt zwischen der automatischen sowieder Expertenbewertung keine größereAbweichung vor als zwischenden einzelnen Experten.

Die automatische Be-wertung kann bereits im

Die Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie ist für dasHören und die Sprachentwicklung inklusive des Sprechenszuständig. Als Sprachentwicklung bezeichnet man das Er-lernen von Lauten, von Wörtern und deren Bedeutung undder Grammatik zusammen mit Kommunikationsstrategien.Sprechen ist dabei die fein aufeinander abgestimmte Bewe-gung von Zunge, Lippen und Gaumen zur Ausformung vonLauten.

Das Sprechen kann selbst nach optimaler Therapie nochbei einigen Kindern mit Spaltfehlbildung auffällig bleiben.Dies kann sich darin äußern, dass die Kinder näseln, Lautenicht an der richtigen Stelle in der Mundhöhle bilden (z. B.vorne in der Mundhöhle statt am Gaumen: „Daumen“ statt„Gaumen“) oder manche Laute zu schwach oder gar nichtbilden (z. B. „_äfer“ statt „Käfer“). Dies alles kann die Ver-ständlichkeit der Kinder zum Teil erheblich beeinträchtigen.Das Spektrum und die Ausprägung dieser Lautfehlbildungensind sehr groß und bei jedem Kind unterschiedlich. Die Di-agnostik zur Planung der passenden Therapie, sei es einerlogopädischen oder auch chirurgischen Therapie, ist dahersehr schwierig, und dies in einem Ausmaß, dass bisher nurdas genaue Hinhören bei der Untersuchung durch einen sehrErfahrenen eine gute Beschreibung von der Art oder Aus-prägung der Sprechstörung geben konnte. Bei einer solchenUntersuchung werden mit dem Kind einfache Bilderangesehen, die es benennen soll und in denen alle Laute inverschiedener Kombination vorkommen.

Die subjektive Beschreibung einer Sprechstörung istjedoch zwischen verschiedenen Untersuchern nur bedingtvergleichbar und daher für Verlaufsbeschreibungen oderKontrollen nach einer Therapie auch nur eingeschränkt ge-eignet. Die subjektive Bewertung entspricht dem Bild vomhalb gefüllten Glas: für den einen ist das Glas halb voll, fürden anderen halb leer. Was der eine großzügig als „nochnormal“ einschätzt, kann ein anderer schon als „gering auf-fällig“ bezeichnen. Beide sind wohl für sich konstant in ihremeigenen Urteil, weichen aber bei den kategorialen Eintei-lungen des Ausmaßes voneinander ab. Für wissenschaft-liche Zwecke, wenn z. B. die Ergebnisqualität verschiedenerTherapieformen verglichen werden soll, ist das Urteil einesEinzelnen nicht ausreichend. Man mittelt daher in der Regeldie Bewertungen mehrerer Erfahrener, da bisher objektiveVerfahren zur genauen und unabhängigen Bewertung derLautfehlbildungen und der Verständlichkeit fehlen.Genau diese diagnostische Lücke kann aber nundurch eine Zusammenarbeit des Universitäts-klinikums und der Technischen Fakultät ge-schlossen werden.

Seit einigen Jahren arbeiten die Abteilungfür Phoniatrie und Pädaudiologie (Vorstand:Prof. Dr. Ulrich Eysholdt) des Universitäts-klinikums und der Lehrstuhl für Informatik 5(Mustererkennung; Leitung: Prof. Dr. JoachimHornegger) der Technischen Fakultät auf diesem Ge-biet eng zusammen. Für die objektive und verlässlicheEvaluation sowohl des Sprechens als auch der Stimmewurde die automatische Spracherkennungstechnik als wei-teres Beispiel der erfolgreichen Kooperation der speziellenKompetenzen an der Universität Erlangen-Nürnberg erprobt.

Spracherkennungssysteme basieren auf statistischenModellen und sind uns mittlerweile etwa von Telefonaus-kunftssystemen bekannt, wo sie im Allgemeinen dazu ver-wendet werden, unbekannte Wörter oder Wortfolgen durch

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200719

Page 17: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Rahmen der regelmäßigen Spaltsprechstunde erfolgen. ImRahmen eines Spieles bekommen dort die Kinder Bilder aufeinem Computerbildschirm gezeigt, die sie benennen, wasdabei über ein Mikrofon aufgezeichnet wird. Die Sprachauf-nahmen werden digital gespeichert und dann mittels Sprach-erkennungssoftware ausgewertet. Die Software für diesespezielle Anwendung ist durch Anpassungen an die Beson-derheiten gestörten Sprechens jedoch umfangreich und be-darf besonderer Computerkapazitäten, die nicht an jedemArbeitsplatz zur Verfügung stehen können. Für die Anwen-dung auch an verschiedenen Arbeitsplätzen wurde deshalbeine standardisierte Software realisiert, die an jedem Arbeits-platz über das Internet aufgerufen werden kann. Aufnahmeund Auswertung einer Sprachaufnahme erfolgt über einenabgesicherten Modus über das Internet zentral an einemServer. Die Auswertung dauert dabei nicht länger als dieSprachaufnahme selbst, also in der Regel wenige Minuten.Das bedeutet im Vergleich zur subjektiven Bewertung durchmehrere Experten eine enorme Einsparung von Zeit und Per-sonal. Zusätzlich werden die Ergebnisse auf einer kon-tinuierlichen Skala numerisch angegeben und nicht katego-rial wie bei der subjektiven Beschreibung. Der Bezug zur Ver-ständlichkeit derselben Altersgruppe ohne Sprechstörungkann nun das Ausmaß einer Lautfehlbildung für jedes be-troffene Kind genau angeben.

Das Projekt wird nach einer Anschubfinanzierung von derJohannes und Frieda Marohn-Stiftung nun von der Deut-schen Forschungsgemeinschaft vorerst bis 2009 gefördertund hat im Weiteren zum Ziel, die einzelnen Lautfehlbildungs-störungen automatisch zu erkennen, zu quantifizieren undderen Einfluss auf die Verständlichkeit zu ermitteln. Dadurchwerden nicht nur Zusammenhänge zwischen den verschie-denen Spaltformen und begleitender struktureller Auffällig-keiten und dem Sprechen deutlicher, sondern dies ermög-licht auch eine wesentlich bessere Ausarbeitung der Ergeb-nisqualität verschiedener Therapieformen oder -zeitpunkte.Neben dem Nutzen für das einzelne betroffene Kind erwartenwir dies auch für die Wissenschaft und Lehre.

Natürlich ist die Spracherkennungstechnik auch bei an-deren Kommunikationsbehinderungen einsetzbar. Bisherwurde sie noch bei Sprechstörungen von Erwachsenen mitTumoren der Mundhöhle sowie bei einer ausgeprägten Formder Stimmstörung erfolgreich getestet.

Bösartige Tumore der Mundhöhle werden in der Regelchirurgisch entfernt und je nach Größe auch bestrahlt. DieTumoren selbst, aber auch die Behandlung, können ebenfallszu Veränderungen der Lautbildung führen und damit die Ver-ständlichkeit des Betroffenen beeinträchtigen.

Nach Anpassung der Spracherkennungstechnik an die Besonderheiten bei Erwachsenen stimmt die automatischeBewertung der Verständlichkeit mit der von mehreren Ex-perten in hohem Maße überein (|r|=0,92) und kann bei diesenPatienten ebenso zur quantitativen Bestimmung der Kom-munikationsbehinderung eingesetzt werden. Das Projekt„Automatische, objektive Analyse von Sprechstörungen vonPatienten mit Plattenepithelkarzinomen der Mundhöhle“ inKooperation mit PD Dr. Emeka Nkenke von der Mund-,Kiefer- und Gesichtschirurgischen Klinik (Direktor: Prof. Dr.Friedrich Wilhelm Neukam) wurde bis November 2006 vomELAN-Fonds des Universitätsklinikums Erlangen gefördert.

Neben der Anwendung bei Sprechstörungen eignet sichdie Methode auch bei Stimmstörungen, einem anderenSchwerpunkt der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudio-logie. Dies wurde bei einer ausgeprägten Form der Stimm-störung, bei Patienten, deren Kehlkopf entfernt werdenmusste, gezeigt und wird von der Deutschen Krebshilfe ge-fördert.

Wenn bei ausgedehnten Tumoren eine Entfernung des ge-samten Kehlkopfes (sogenannte totale Laryngektomie) er-forderlich wird, geht damit die natürliche Stimme verloren.Eine bewährte Möglichkeit, nach einer totalen Laryngektomie– also ohne Kehlkopf – wieder „zu Stimme“ zu kommen undsich verständlich machen zu können, ist die tracheo-ösopha-geale Ersatzstimme. Eine Verbindung zwischen Luft-(Trachea) und Speiseröhre (Ösophagus) erlaubt es dabei, denLuftstrom aus der Lunge umzuleiten und Gewebe-schwingungen in der Speiseröhre zur Ersatzstimmgebung zunutzen. Trotz ihrer Überlegenheit gegenüber anderen Ver-fahren weist die tracheo-ösophageale Ersatzstimme erheb-liche qualitative Unterschiede zur natürlichen Stimme auf –etwa einen anderen Stimmklang, erhöhte Heiserkeit und verminderte Sprechmelodie. Diese Aspekte beeinflussen dieVerständlichkeit und damit die kommunikative Kompetenzder Betroffenen.

Mit der Spracherkennungstechnik kann nun zum einen derVerständlichkeitsgrad in hoher Übereinstimmung (|r|=0,88)zur Bewertung durch erfahrene Hörer bestimmt werden, aberauch Einflüsse auf die Verständlichkeit. Einen wesentlichenEinfluss übt die Prosodie aus. Damit sind die Intonation,Quantität, Sprechrhythmus und Sprechtempo gemeint. Auchdies lässt sich automatisch durch die Spracherkennungs-technik auf der Basis von Wort- und Pausendauern und derDauer und Häufigkeit von stimmhaften Bereichen in der Auf-nahme berechnen.

PD Dr. med. Maria Schuster ist Ärztliche Mitarbeiterin in derPhoniatischen und Pädaudiologischen Abteilung in der Hals-Nasen-Ohrenklinik von Prof. Dr. Ulrich Eysholdt. Zusammenmit Dipl.-Inf. Andreas Maier, PD Dr.-Ing. Elmar Nöth und Dipl.-Inf. Tino Haderlein vom Lehrstuhl für Mustererkennung(Informatik 5) von Prof. Dr. Joachim Hornegger bearbeitet siedas Forschungsprojekt „Automatische Analyse von Kom-munikationsbehinderungen“.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200720

Page 18: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Christoph Rieck, 30, promovierte 2006 am Lehrstuhl für Bio-chemie über den Fettsäurestoffwechsel in der Bier- undBäckerhefe Saccharomyces cerevisiae bei Prof. Dr. EckhartSchweizer. Seitdem ist er bei Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. UweSonnewald als Postdoc tätig. In der Arbeitsgruppe „Moleku-lare Netzwerke“ beschäftigt er sich damit, wie Proteine inPflanzen miteinander in Wechselwirkung treten. Obwohl erseit seiner Geburt an Taubheit grenzend schwerhörig ist,meistert er den Alltag als Wissenschaftler. Für das uni | kurier| magazin fragte Anna Schleinzer:

Was hören Sie gerade?Christoph Rieck: Das Surren der Kaffeemaschine, wenn

die Bohnen gemahlen werden und die Stimmen von den

Leuten um uns herum. Ich höre aber nur einen Klangteppich,was genau gesprochen wird, verstehe ich nicht. Denn obwohlich Hörgeräte trage, muss ich meinen Gesprächspartnern im-mer direkt ins Gesicht sehen, um von den Lippen lesen zukönnen.

Was bedeutet es, an Taubheit grenzend schwerhörig zu sein?

Christoph Rieck: Medizinisch bedeutet das, dass ich aneinem Hörverlust von 97 bis 98 Prozent leide. Ich bin alsokurz davor, gar nichts zu hören. Anschaulicher kann man dasvielleicht so beschreiben: Wenn ich direkt unter einem star-tenden Flugzeug stehen würde, würde ich das ohne Hör-geräte als normale Lautstärke empfinden.

Christoph Rieck im Interview mit Anna Schleinzer

Und am Sonntag ist manchmal hörgerätefreiWie ein nahezu tauber Nachwuchswissenschaftler seinen Alltag meistert

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200722

Page 19: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

In welchem Bereich forschen Sie?Christoph Rieck: Wir betreiben unter dem Titel „Protein-

Protein-Interaktion“ Grundlagenforschung in Kooperationmit einem Max-Planck-Institut und der BASF. Anhand von200.000 verschiedenen Tabakpflanzen erforschen wir, wasgenau am Stoffwechsel kranker Pflanzen kaputt ist.

Bereitet Ihnen Ihre Behinderung Schwierigkeiten inIhrem Arbeitsalltag?

Christoph Rieck: Eigentlich komme ich gut zurecht, aberes gibt Kommunikationsprobleme. Vor allem, wenn sich eineGruppe von mehr als drei oder vier Leuten unterhält. Wennich nicht mehr mitkomme, muss ich nachfragen, oder einen„Ankerpunkt“ suchen, bei dem ich wieder einsteigen kann.Manchmal versuche ich auch die Gespräche zu moderieren,sodass ich einen roten Faden in der Gesprächsrunde finde.Aber trotzdem kommt es häufig zu Missverständnissen.

Wie tauschen Sie sich mit anderen Wissenschaftlern aus?Christoph Rieck: Bisher – und das wird sich auch nicht

ändern – ausschließlich auf schriftlichem Wege oder imdirekten Gespräch. Der Austausch von Wissen geht aber eherin Form von schriftlichen Arbeiten und Papers vonstatten, da-mit kann ich also gut mit Schritt halten und es ist nicht wirklich

eine Beeinträchtigung. In meinem restlichen Arbeitsalltagkommuniziere ich über E-Mails und SMS. Wenn es ganz drin-gend ist, bitte ich jemanden, Anrufe für mich zu erledigen.Schwieriger wird es, wenn tatsächlich jemand am Telefondarauf besteht, mich persönlich zu sprechen. Mein Kollege er-klärt dann den Anrufern jedes Mal geduldig, dass ich hörbe-hindert bin. Aber nicht selten kommt darauf die ungeduldigeAntwort: „Wir müssen Herrn Rieck aber persönlich sprechen!“

Wie managen Sie Kongresse und Tagungen? Christoph Rieck: Für Vorträge besitze ich eine soge-

nannte Mikroportanlage: Der Dozierende trägt ein Mikrofon,das mit einem speziellen Empfangsgerät direkt an meineHörgeräte angeschlossen ist, sodass ich im direkten Kontaktmit dem Dozenten stehe. Bei der letzten Haus-Tagung derLehrstühle für Biochemie und Molekulare Pflanzenphysiolo-gie hatte ich aber ausgerechnet meine Mikroport-Anlage ver-gessen, sodass es für mich leider nur wie eine Stummfilm-Präsentation der Arbeitsberichte war. Schwierig zu verste-hen sind oft Fragen aus dem Publikum. Auch bei eigenenVorträgen habe ich mit diesem Problem zu kämpfen.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200723

Page 20: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Dass Sie überhaupt eine wissenschaftliche Laufbahneinschlagen konnten, verdanken Sie nicht zuletzt demEngagement Ihrer Eltern …

Christoph Rieck: Das stimmt. Sie haben sich zum Bei-spiel stark dafür eingesetzt, dass ich eine reguläre Schule be-suchen konnte. An der Nürnberger Gehörlosen- und Schwer-hörigen-Schule, die ich bis zur zweiten Klasse besucht habe,hätte ich kein Abitur machen können. Im Gymnasium war ichin Deutsch, Latein und Englisch auf Nachhilfe angewiesen,die meine Eltern aus eigener Tasche bezahlt haben. Den Leis-tungsdruck eines achtstufigen Gymnasiums hätte ich mitmeiner Behinderung aber, glaube ich, nicht gepackt.

Auf welche „Hörgenüsse“ werden Sie Ihr Leben lang ver-zichten müssen?

Christoph Rieck: Auf Vogelgezwitscher zum Beispiel undwie es sich unter Wasser anhört. Ich bin ehrenamtlich bei derWasserwacht aktiv und deshalb ziemlich oft beimSchwimmen. Was ich aber kann – und darauf müssen allenormal Hörende leider verzichten –, ist, einen „hörgeräte-freien Tag“ einlegen: Das gönne ich mir manchmal sonntags,wenn ich in absoluter Ruhe ausspannen möchte.

Glauben Sie, dass Sie es wegen Ihrer Behinderungschwerer auf dem Arbeitsmarkt haben?

Christoph Rieck: Bei Stellenausschreibungen steht ja oft,dass behinderte Bewerber mit gleicher Eignung bevorzugteingestellt werden: Aber was heißt „gleiche Eignung“? Miteinem Normal-Hörenden werde ich in diesem Punkt schließ-lich nie mithalten können. Bisher habe ich aber immer aufmeine hochgradige Schwerhörigkeit hingewiesen. Währendmeiner Studienzeit war es jedenfalls nie ein Problem, Arbeitzu finden: Ich habe als Werkstudent bei Siemens, alsBedienung und an der Garderobe einer Disco gearbeitet.

Was könnte die Uni Erlangen-Nürnberg besser machen,um Studierenden und Mitarbeitern mit Behinderung denAlltag zu erleichtern?

Christoph Rieck: Ich muss gestehen, dass ich noch nichtbei dem Behindertenbeauftragten der Universität war, dashabe ich mir aber schon seit Ewigkeiten vorgenommen! Aberda auch meine Familie in Erlangen lebt, habe ich schonimmer die nötige Unterstützung von meinen Eltern be-kommen. Allerdings habe ich von der Existenz dieses Beauf-tragten erst im fünften oder sechsten Semester meinesStudiums erfahren, vielleicht könnte man Behinderte an derUniversität einfach besser über die Angebote und Hilfestel-lungen informieren.

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200724

Page 21: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Die Haut ist das wohl exponierteste und offensichtlichsteOrgan des Menschen und hat im sozialen Umgang eine wesentliche, aber häufig nur unbewusst wahrgenommeneBedeutung. Die Einschätzung von Mitmenschen wird im täg-lichen Leben, im Beruf wie im Privatleben durch die Haut inBezug auf deren Farbe, Oberfläche und Beschaffenheit ganzwesentlich beeinflusst. Die Haut spielt daher in unserem wiein anderen Kulturkreisen eine wesentliche Rolle, wenn auchdie Wahrnehmung und Wertung von Hautzeichen unter-schiedlich ist. Dies ist beispielsweise in der unterschiedlichenBedeutung von Gesichts- und Körperbemalungen und

Tätowierungen, aber auch bewusst zugefügten ornamen-talen Narben nachzuvollziehen.

Das Spektrum des Aussehens der gesunden Haut wird ergänzt durch vielfältige Krankheitszustände, die hier im Gegensatz zu der Erkrankung innerer Organe jedoch offenliegen. Die Haut ist ständig vielfältigen physikalischen,chemischen und infektiösen Schäden ausgesetzt, gleich-zeitig aber in einem großen Umfang in der Lage, diese ab-zuwehren, beziehungsweise eingetretene Schäden zureparieren. Dies erklärt, warum Hautkrankheiten nicht vielhäufiger auftreten.

Michael Sticherling

Leben mit dem JuckreizGesellschaftliche Akzeptanz von Behinderungen am Beispiel von Hauterkrankungen

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200726

Page 22: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

uni.kurier.magazin 107/september 2006

Wie in der gesamten Medizin lassen sich Erkrankungen derHaut in angeborene und erworbene sowie akute und chro-nische unterteilen. Infektiöse stoffwechsel-vermittelte undentzündliche Erkrankungen stehen gutartigen und bösarti-gen Neubildungen gegenüber. Innerhalb dieses Spektrumsgehören das atopische Ekzem („Neurodermitis“) und dieSchuppenflechte zu den häufigsten Erkrankungen. Sie zäh-len zu den chronisch-entzündlichen Erkrankungen, deren Ursache und Entstehungsgeschichte bisher nicht vollständiggeklärt sind.

Die Neurodermitis gehört in den Formenkreis der Ekzemeund wird daher heute korrekt als atopisches Ekzem bezeich-net. Der historische und umgangssprachlich immer noch ge-läufigste Begriff weist jedoch auf die gut bekannte Beziehungzu nervlichen und psychischen Faktoren hin, die früher ganzim Zentrum des Krankheitsgeschehens gesehen wurden.Erst jüngste Untersuchungen der Neuroimmunologie weisentatsächlich auf die Beteiligung von Botenstoffen der Nerven-fasern, sogenannten Neurotransmittern und Neurokinen hin,die auch Funktionen des Immunsystems und damit das Ent-zündungsgeschehen beeinflussen. Gleichzeitig zeichnet sichdie Neurodermitis durch intensiven und quälenden Juckreizaus, der seinerseits ein wesentliches Stresselement für dieBetroffenen sein kann. Im Sinne eines Teufelskreises odereiner Kaskade von Ereignissen schaukelt sich die Erkran-kung immer weiter hoch, bis zu dem Krankheitsbild einermehr oder weniger großflächig ausgebreiteten Rötung derHaut, mit einer ausgeprägten feinen Schuppung und Haut-erosionen. Die klassischen Lieblingsstellen der Neuroder-mitis sind die Gelenkbeugen und das Gesicht, wobei jedochdie gesamte Körperoberfläche betroffen sein kann.

Die Erkrankung gehört in die Gruppe der sogenanntenatopischen Erkrankungen. Das Phänomen Atopie beschreibtdabei aus dem Griechischen abgeleitet eine „verschobene“Körperabwehrlage, die zur Entstehung von Allergien gegennormalerweise harmlose Umweltstoffe wie Baum- und Grä-serpollen oder Hausstaubmilben führt. Als Grundvorausset-zung gilt nach jüngsten Untersuchungen eine angeboreneStörung der Hautbarriere, die zu trockener und schuppigerund in der Folge juckender Haut führt. Typischerweise sinddaher erstgradig verwandte Familienmitglieder ebenfalls er-krankt. Die gestörte Barriere zusammen mit einer gesteiger-

ten oder veränderten Körperabwehr fördert im Laufe der Zeitdie Entstehung von Allergien, die sich hinsichtlich Ausmaßund Zahl der Auslöser ausweiten können. Neben den Haut-veränderungen der klassischen Neurodermitis finden sichdaher als Schwestererkrankungen die Rhinokonjunktivitisallergica (allergischer Schnupfen und allergische Bindehaut-entzündung), das allergische Asthma bronchiale und einigeFormen der Nesselsucht. Alle diese Erkrankungen könnengleichzeitig, nacheinander oder nur einzeln auftreten, sodasseine große Vielfalt von Krankheitsausformungen mit individu-ell sehr unterschiedlichen Folgen entsteht. Bereits im frühenKindesalter können sich dabei die ersten Symptome als emp-findliche Haut mit Auftreten von Ekzemen sowie typischer-weise Nahrungsmittelallergien zeigen. Letztere verlieren sichmeist wieder bis zum Schulkindesalter, um dann von rhini-tischen und asthmatischen Beschwerden abgelöst zu wer-den. Im Erwachsensenalter finden sich dann eher Symptomedes allergischen Schnupfens (Rhinokonjunktivitis allergica).

Atopische Erkrankungen scheinen ein Phänomen west-lich-zivilisierten Lebens zu sein und sind möglicherweise aufdie hohen und zum Teil übersteigerten hygienischen Bedin-gungen zurückzuführen. Die Häufigkeit atopischer Erkran-kungen als Gesamtgruppe hat mittlerweile 15-20 Prozenterreicht, wobei die einzelnen Erkrankungen, wie das atopi-sche Ekzem, bei etwa 5-8 Prozent liegen.

Die Behandlungsansätze der atopischen Erkrankungensind so vielfältig wie ihr klinisches Bild und ihre Entstehungs-geschichte unterschiedlich sind. Gute und konsequenteHautpflege sind wichtig, um Juckreiz und Barrierestörung zuminimieren und damit das Eindringen von Allergenen und dieEntstehung von Allergien. Gleichzeitig sollten typische Aller-gene gemieden werden wie bestimmte Nahrungsmittel oderHaustiere im frühen Kindesalter. Bei bereits ausgebildetenAllergien kommt die symptomatische Therapie mit verschie-denen Allergiemitteln wie Histaminrezeptorblockern oderlokal, gegebenenfalls auch systemisch angewandten Korti-son-Abkömmlingen zur Anwendung. Insbesondere die Hypo-sensibilisierung oder Allergie-Impfung kann durch die do-sierte Zuführung des auslösenden Allergens in Spritzenformoder als Lösung in der Mundhöhle zu einer Beschwerdemin-derung oder -auslöschung führen, insbesondere aber auchden gefürchteten Etagenwechsel sowie die Ausweitung des

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200727

Hermal

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200727

Page 23: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Allergenspektrums verhindern. Der unterstützende Effektvon verhaltenstherapeutischen Übungen wie Kratztrainingund Entspannungsübungen ist dabei unbestritten und wird inPatientenschulungen zusammen mit einem vertieften Ver-ständnis der Erkrankung, ihrer Ursachen und Behandlungs-möglichkeiten vermittelt. Die Einsicht des Betroffenen in ihreErkrankung und der Umgang mit ihrem chronischen Verlaufsind dabei essenziell.

Auch die Psoriasis oder Schuppenflechte ist eine chro-nisch entzündliche Erkrankung der Haut, die zu einer ganzwesentlichen Einschränkung des Lebens der Betroffenenführen kann. Der Name leitet sich aus dem Griechischen von„Psora“ (Schuppe) ab und beschreibt die charakteristischesilbrige, eher fest haftende und gröbere Schuppung aufroten, scharfbegrenzten Plaques. Auch die Schuppenflechtehat sogenannte Lieblingsstellen, die jedoch die Streckseitenvon Ellenbogen und Knie umfassen. Auch die Schuppen-flechte kann die gesamte Hautoberfläche einbeziehen ein-schließlich der Kopfhaut und der Nägel. Zwanzig Prozentaller Fälle treten vor dem zwanzigsten Lebensjahr auf undunterstreichen damit die Folgen für die körperliche und see-lische Entwicklung der betroffenen Kinder. Typischerweisekönnen nach zehnjährigem Verlauf Erkrankung von Gelenk-und Weichteilentzündungen folgen, die sich nach neuestenUntersuchungen bei etwa 20 Prozent aller Schuppenflech-tenpatienten finden. Diese sogenannte Psoriasis-Arthritisbedeutet unter Umständen starke Schmerzen und Umbauder Gelenkstrukturen, die zu einer erheblichen Bewegungs-einschränkung führen können. In den letzten Jahren ist dieBedeutung von Begleiterkrankungen der Psoriasis in den Vor-dergrund getreten, die jenseits der Haut liegen und auf eineSystemerkrankung hinweisen. So sind Stoffwechselerkran-kungen wie die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), Fett-stoffwechselerkrankungen und Bluthochdruck gut beschrie-ben. Folge ist eine erhöhte Rate von schweren Herz-Kreis-lauf-Erkrankungen.

Wie bei der Neurodermitis sind die genauen Krankheits-ursachen und die detaillierte Krankheitsentstehung nicht bekannt. Auch hier findet sich eine angeborene Neigung, diejedoch erst zusammen mit Infekten, bestimmten Medika-menten und Umweltstoffen zur Krankheitsauslösung führt.Auch die Schuppenflechte neigt zum chronischen Verlauf,der sich bei 60 Prozent der Patienten findet. Je nach Betei-ligung der Körperoberfläche und Einschränkung der Lebens-qualität finden sich leichte und schwere Formen, wobei nachderzeitigem Verständnis immerhin 30 Prozent der Betroffe-nen als mittelschwer und schwer betroffen eingestuft werden.

Zur Therapie der Psoriasis steht heutzutage eine großeZahl von äußerlich und innerlich anzuwendenden Medika-menten zur Verfügung. Als Cremes und Salben werden Kor-tison-, Vitamin-D und Vitamin-A-Abkömmlinge eingesetzt.Diese können bei ausbleibendem Erfolg mit künstlichem ultra-violettem Licht unter kontrollierten Bedingungen kombiniertwerden. Als dritte Säule stehen verschiedene innerliche Me-dikamente als Tabletten oder Spritzen und Infusionen zurVerfügung, von denen die sogenannten Biologika die neu-esten und wirksamsten sind. Wie bei der Neurodermitis istauch bei Psoriatikern die Schulung wichtiges Therapiemittel,um damit den Umgang mit der Erkrankung zu verbessern.

Insgesamt zeigen beide Erkrankungen bei allen Unter-schieden zahlreiche Gemeinsamkeiten. Es handelt sich umchronische Erkrankungen, die bereits junge Menschen betreffen und große Teile ihres weiteren Lebens wesentlich

beeinflussen können. Beide Erkrankungen sind nach unse-rem derzeitigen medizinischen Stand nicht zu heilen. Die zurVerfügung stehenden Behandlungen sind zwar vielfältig, zumTeil aber aufwendig und mit Nebenwirkungen behaftet. In die-sem Zusammenhang ist nur an die Behandlung von Kindernund jungen Frauen im gebärfähigen Alter, insbesondere aberauch an Schwangere zu erinnern. Beide Erkrankungen sindnicht ansteckend, erregen jedoch im täglichen Leben mehroder weniger offene Abwehr. Dies betrifft insbesondere dieSchuppenflechte, die in der öffentlichen Wahrnehmung undWertschätzung deutlich negativer eingestuft wird als das ato-pische Ekzem. Historisch und kulturgeschichtlich wurde sieüber Jahrtausende unter dem Sammelbegriff des Aussatzesgeführt und damit in einen Topf mit der Lepra und der Haut-tuberkulose geworfen. Erst im späten achtzehnten Jahrhun-dert wurde die Eigenständigkeit der Psoriasis erkannt, trotz-dem endeten viele Betroffene noch weit danach in Leproso-rien. Interessanterweise wurde die deutsche Bäderordnungerst vor zwei Jahren dahingehend geändert, Psoriatikernnicht mehr den Zugang zu öffentlichen Bädern zu verwehren.Trotzdem ist der Schwimmbadbesuch bis heute für viele Be-troffene eine große Herausforderung für ihr Selbstbewusst-sein.

Die Schwere der Erkrankungen wird andererseits im So-zialgesetzbuch IX gewürdigt, indem sowohl das atopischeEkzem als auch die Psoriasis vulgaris abhängig von ihrerSchwere und Ausdehnung, den Auswirkungen auf den Allge-meinzustand, dem Auftreten von Begleiterscheinungen, derRezidivbereitschaft und Chronizität sowie der Notwendigkeitwiederholter stationärer Behandlungen mit unterschied-lichen Graden der Behinderung bzw. Minderung der Erwerbs-fähigkeit (GdB/MdE) zwischen 0 und 50 Prozent berück-sichtigt werden. Aus Entstellungen ergeben sich Schwie-rigkeiten im Erwerbsleben, Unannehmlichkeiten im Verkehrmit fremden Menschen sowie seelische Konflikte, die unterbesonderer Berücksichtigung bei Entstellung des Gesichteserfasst werden.

Angesichts dieser Herausforderungen betreut daher dieHautklinik des Universitätsklinikums Erlangen unter anderemschwerpunktmäßig Patienten mit Psoriasis und atopischemEkzem und bietet die gesamte Palette der ambulanten undstationären Behandlung an, insbesondere auch im Rah-men klinischer Studien. Parallel werden Schulungen von Betroffenen durchgeführt und evaluiert und damit die Krank-heitsbewältigung verbessert. Im Rahmen der klinischen For-schung werden Auslösefaktoren, aber auch Verlaufspara-meter der Erkrankungen ausgewertet. Die Grundlagenfor-schung befasst sich mit den verschiedenen zugrunde liegen-den Störungen des Immunsystems, die bei diesen Erkran-kungen auftreten und insbesondere Abwehrzellen, aber auchEiweiße als Botenstoffe beinhalten. Ziel dieser klinischenLaboruntersuchungen ist, Ursachen und Entstehungsge-schichte der Erkrankungen aufzuklären, insbesondere aberauch neue, hochwirksame und verträgliche Behandlungs-möglichkeiten zu entwickeln, um zum Wohle der Patientendie Krankheitssymptome zu verdrängen, im Idealfalle zu hei-len und den Betroffenen ein unbeschwertes und krankheits-freies Leben zu ermöglichen.

Dr. med. Michael Sticherling ist Professor für Dermatologieund Immundermatologie an der Klinik für Hautkrankheiten imUniversitätsklinikum Erlangen.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200728

Page 24: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Sabine Engel, Andreas Mück, Frieder R. Lang

Vergesslichkeit im Alter: Ganz normal oder doch schon krank Das Erlanger Gedächtnis-Zentrum

Page 25: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

A

1 2

B

C

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Viele ältere Menschen nehmen Verschlechterungen ihrerMerk-, Konzentrations- und/oder Sprachfähigkeit an sichwahr und fürchten dabei insgeheim, dass diese Verände-rungen Zeichen einer beginnenden Demenzerkrankung seinkönnten. Beschwichtigungen durch Dritte, wie etwa: „ach,das ist doch ganz normal im Alter“ sind für die Betroffenenwenig hilfreich – und auch nicht angemessen. Es stimmtzwar, dass der normale Alterungsprozess durch bestimmtegeistige Leistungseinbußen begleitet wird, die insofern als„altersgemäß“ anzusehen sind. Doch kann die Frage, ob dienormale „Altersgrenze“ bereits unterschritten ist, im jewei-ligen Einzelfall nur über gezielte Untersuchungen in speziali-sierten Einrichtungen geklärt werden.

Die ersten solcher spezialisierten „Gedächtnis-Einrich-tungen“ entstanden Anfang der 80er-Jahre in den USA undEngland unter der Bezeichnung „memory clinic“ mit denZielsetzungen der Früherkennung und -behandlung von De-menzerkrankungen. Die Grundprinzipien einer „memory clinic“sollen sich – so die Vorstellung der „Gründungsväter“ – am„sozialpsychiatrischen Modell“ orientieren (1), d. h. im Einzel-nen: Durch die Multiprofessionalität des Teams soll die Ver-bindung von medizinischer Diagnostik und Behandlung mitpsychologischen Untersuchungen, Therapien und Bera-tungsangeboten gewährleistet werden. Wichtigstes Ziel ist,die Ursachen der aufgetretenen Gedächtnisstörungen ab-zuklären und zu behandeln. Vermeintliche Störungen desGedächtnisses erweisen sich dabei nicht selten als alters-typische und damit „normale“ Veränderungen der Leistungs-fähigkeit im Alter. Neben der Diagnostik, psychologischenBeratung und der Arbeit mit den Angehörigen, erstreckt sichdas Tätigkeitsfeld einer memory clinic auch auf den Bereichder Bildung: Lehr- und Fortbildungsveranstaltungen richtensich einerseits an Studierende und an professionell in derAltenhilfe Tätige, andererseits an Familienangehörige vonBetroffenen und die interessierte Öffentlichkeit, um Vorur-teilen und Stigmatisierungen entgegenzuwirken. Im Bereichder Forschung steht die Beschäftigung mit den Ursachenund Behandlungsmöglichkeiten von Gedächtnisbeeinträch-tigungen und Demenzerkrankungen im Vordergrund. Beson-deres Augenmerk soll der Gesundheitsförderung ältererMenschen gelten. Diese soll dazu beitragen, die körperlichewie geistige Gesundheit möglichst lange zu erhalten und hel-fen, das persönliche Risiko einer Demenzerkrankung zu mi-nimieren. Ausgehend von der Überzeugung, dass ältereMenschen am besten profitieren, wenn sie möglichst lange inihrem sie stabilisierenden häuslichen Umfeld bleiben kön-nen, haben die Gründungsväter eine „memory clinic“ alsnicht-vollstationäre Einrichtung konzipiert.

Die erste deutsche Gedächtnisambulanz entstand 1985in München. Welch großen Stellenwert diese Spezialein-richtung in der Versorgungsstruktur einer älter werdendenGesellschaft einnimmt, zeigt die Tatsache, dass es derzeit inDeutschland bereits über 100 dieser Einrichtungen gibt.

Das Gedächtnis-Zentrum Erlangen wurde vor sieben Jah-ren in der Nägelsbachstraße 25 eröffnet. Die Konzeptiondieser multiprofessionellen nicht-vollstationären Einrichtung,die gemeinsam vom Klinikum am Europakanal als einemgroßen kommunalen Krankenhaus und vom Institut für Psy-chogerontologie der Universität Erlangen-Nürnberg als einemauf Alternsforschung ausgerichteten Universitätsinstitut ge-tragen wird, orientiert sich unter anderem auch am Leitkon-zept der ursprünglichen englischen „Memory“-Kliniken.

Durch die Zusammenarbeit von psychiatrischer Klinik undpsychologischer Gerontologie wird die hohe Fachkompe-tenz des Teams des Gedächtnis-Zentrums gewährleistet.Aufgrund der teilstationären Organisationsform können sichMenschen an das Gedächtnis-Zentrum wenden, ohne dafürihr vertrautes soziales Umfeld zu verlassen. Auf diese Weiseerlaubt der Standort des Gedächtnis-Zentrums am Institutfür Psychogerontologie – außerhalb des Krankenhauses –gerade für Personen mit Gedächtnisproblemen eine ent-spannte und nicht-klinische Atmosphäre, die wenig bedroh-lich erscheint. Vielen Patienten wird damit ein frühzeitigerWeg zu einer Behandlung und Beratung geebnet, der geradedie für die Demenz wichtige Frühdiagnostik und damit denfrühzeitigen Einstieg in vorbeugende Therapien erlaubt.

Menschen, die sich an das Gedächtnis-Zentrum wenden,sind meist ältere Menschen, die über subjektiv empfundeneGedächtnisverschlechterungen berichten und fürchten, dassdiese die ersten Zeichen einer beginnenden Alzheimer-De-menz seien. Es kommt aber auch vor, dass ein ältererMensch sich zur Untersuchung vorstellt, weil Familien-angehörige Verhaltens- und/oder Gedächtnisveränderungenbei ihm wahrnehmen, die er selbst gar nicht bemerkt.

Wie überall im klinischen Bereich ist es gute Praxis, dassdie von den Ratsuchenden geäußerten Sorgen um ihr Ge-dächtnis sorgfältig abgeklärt werden. Zwar zeigt sich, dasslängst nicht alle Gedächtnisprobleme im Alter auf krankhafteStörungen zurückzuführen sind. Allerdings belegen neuereStudien, dass über die Hälfte der Menschen, die geistige Ver-änderungen an sich bemerken, zu einer Risikogruppe fürDemenzerkrankungen gehören: Im Durchschnitt rund einDrittel dieser Personen entwickelt im Verlauf der nächstendrei Jahre tatsächlich eine demenzielle Symptomatik. Sor-gen um das eigene Gedächtnis sind durchaus ein ernstzu-nehmender Hinweis auf mögliche krankhafte Verände-rungen, die möglichst frühzeitig diagnostiziert und behandeltwerden sollten.

In einer Eingangsanamnese werden alle Personen, diesich an das Gedächtnis-Zentrum wenden, einer umfassen-den Untersuchung der Gedächtnis-, Aufmerksamkeits-,Sprach-, Sprech-, Kommunikations-, Urteils-, Orientierungs-und geistigen Verarbeitungsleistungen unterzogen. Ergebensich auffällige Hinweise, schließen sich weitere medizinischeUntersuchungsschritte an, um mögliche Ursachen zu ermit-teln. Eine Demenzdiagnostik ist immer nur im Ausschluss-verfahren möglich. Viele Untersuchungen werden nicht amGedächtnis-Zentrum selbst oder im Klinikum am Europa-kanal durchgeführt, sondern durch medizinische Einrich-tungen oder Praxen, mit denen das Gedächtnis-Zentrum zu-sammenarbeitet.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200731

Page 26: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

B A

B

C

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Da Gedächtnisstörungen im höheren Lebensalter durch eineVielzahl von körperlichen und psychischen Störungen oderKrankheiten verursacht sein können, gilt der sorgfältigen Ur-sachensuche besondere Aufmerksamkeit. Bei rund 15 Pro-zent der Betroffenen ist das sogenannte „demenzielle Syn-drom“ nicht Ausdruck einer fortschreitenden Demenzerkran-kung, sondern wird durch Störungen hervorgerufen, diemöglicherweise heilbar sind, so etwa bei Demenzsymp-tomen in Folge von Depressionen, Schilddrüsenunterfunk-tion, Vitamin-B12-Mangel oder Vergiftungen beziehungs-weise Alkoholmissbrauch. Diese Patienten werden zur Be-handlung der verursachenden Störung an die entspre-chenden Ärzte oder Kliniken weitervermittelt. Patienten, beidenen sich der Verdacht auf das Vorliegen einer Demenzer-krankung bestätigt, werden durch den Arzt des Gedächtnis-Zentrums mit Antidementiva behandelt. Dabei wird die medi-kamentöse Weiterbehandlung durch die Zusammenarbeitmit der Institutsambulanz des Klinikums am Europakanalgewährleistet.

Neben der diagnostischen Abklärung von Gedächtnis-störungen legt das Gedächtnis-Zentrum Erlangen einen be-sonderen Schwerpunkt auf die therapeutische Intervention.So bietet es für Patienten mit einer beginnenden oder leichtfortgeschrittenen Demenz, aber auch für die Personen, derenBefunde zwar noch nicht für das Vorliegen einer Demenzsprechen, aber in mindestens einem untersuchten BereichAuffälligkeiten zeigen, ein spezielles therapeutisches Ge-dächtnistraining an: In der etwa dreimonatigen Therapie-phase nehmen die Patienten an einem Tag pro Woche aneinem ganztägigen therapeutischen kognitiven Training teil.Die Räume für die Gruppentherapie stellt das Institut für Psy-chogerontologie zur Verfügung, die Versorgung mit Mittag-essen und Getränken leistet die Bezirks-Klinik. In einer Eva-luationsstudie konnte die Wirksamkeit des therapeutischenGedächtnistrainings eindrücklich nachgewiesen werden (2).

Da Demenzerkrankungen nicht nur die erkrankte Person,sondern auch – in besonderem Maße – die betreuendenFamilienangehörigen und die familiäre Beziehungsqualität inMitleidenschaft ziehen, wurde am Gedächtnis-Zentrum Er-langen ein spezielles Schulungs-Gruppenangebot für An-gehörige Demenzkranker entwickelt, das seit 2002 regel-mäßig im Gedächtnis-Zentrum Erlangen durchgeführt wird.Eine Evaluationsstudie zeigte, dass sich bei Angehörigen, diean der Schulung teilnahmen, depressive Symptome undBelastungsempfinden über einen Zeitraum von zwölf Mona-ten signifikant verringerten (3). Aufgrund des großen Interes-ses vonseiten der professionell in der Angehörigenarbeit Tä-tigen wird diese Schulung seit Ende letzten Jahres für dieseFachkräfte als Fortbildung in Sinne eines „Train-the-trainer-Kurses“ angeboten (4).

Durch die direkte Anbindung an das Institut für Psycho-gerontologie fließen Arbeitsbereiche und Inhalte des Ge-dächtnis-Zentrums in die Lehre und Ausbildung ein undbilden Themen für Forschungsprojekte der Studierenden. Einweiterer, wichtiger Arbeitsbereich des Gedächtnis-Zentrumsbesteht in der Durchführung von Fortbildungsveranstal-tungen für Pflegekräfte und ärztliches Personal von Klinikenund Altenhilfeeinrichtungen. Durch regelmäßig stattfindendeöffentliche Vorträge leistet es zudem einen wichtigen Beitragzur Gesundheitsförderung älterer Menschen. Zurzeit wird amGedächtnis-Zentrum Erlangen die bestehende Datenbankweiter ausgebaut. Ziel ist eine Vernetzung dieser Datenbank

mit anderen im „Memory Valley Erlangen“ zusammen-arbeitenden Forschungseinrichtungen. Somit trägt das Ge-dächtnis-Zentrum zur Forschung im Bereich der psycho-logischen Früherkennung von Gedächtnisstörungen, der An-passungsprozesse von Angehörigen dementer Patienten,der therapeutischen Beratung und der Abmilderung desKrankheitsverlaufes bei.

Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklungenhaben interdisziplinäre Einrichtungen wie das Gedächtnis-Zentrum Erlangen für das Gesundheitssystem eine zuneh-mend wichtige Bedeutung, tragen sie doch durch ihr ge-samtes Leistungsspektrum dazu bei, dass Demenzer-krankungen im Alter verhindert oder verzögert, beziehungs-weise bereits in einem sehr frühen Krankheitsstadiumerkannt und wirksam behandelt werden können. Zudem kön-nen sie durch wirksame medizinische und psychologischeBegleitung von Betroffenen und deren Angehörigen nach-weisen, dass auch bei Demenzerkrankungen – im Sinne einertertiären Prävention – das weitere Fortschreiten der Erkran-kung, schwerwiegende Komplikationen und Folgeerkran-kungen auch bei den Angehörigen verhindert werdenkönnen.

Gedächtnis-Zentrum ErlangenNägelsbachstraße 2591052 ErlangenTel.: 09131- 85 - 2 25 19Fax: 09131- 85 - 2 65 [email protected]

Literatur:

(1) Jolley, D., Benbow, S.M., Grizzell, M. (2006) Memory clinics. In: Post-

grad Med J 2006; 82:199-206. (Download: 21.02.2007)

(2) Schüssel, K. Therapeutisches Gedächtnistraining bei kognitiver Beein-

trächtigung – Konzeption und Evaluation des Gedächtnis-Zentrums Er-

langen. Inaugural-Dissertation an der FAU Erlangen-Nürnberg.

http://www.opus.ub.uni-erlangen.de/opus/volltexte/2005/148/

(3) Engel, S. (2006a) Belastungserleben bei Angehörigen Demenzkranker

aufgrund von Kommunikationsstörungen. Erlanger Beiträge zur Geronto-

logie, Bd. 7, LIT-Verlag.

(4) Engel, S. (2006b) Alzheimer und Demenzen – Unterstützung für An-

gehörige. Stuttgart: TRIAS

Prof. Dr. Frieder R. Lang leitet seit 2006 das Institut fürPsychogerontologie, zu seinen wissenschaftlichen Mit-arbeitern gehören Dr. Sabine Engel und Dr. Andreas Mück.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200732

Page 27: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligtwerden“ (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Diesem Grundsatz zufolgesind benachteiligende und ausgrenzende Bestimmungensowie diskriminierende Bedingungen im Alltag behinderterMenschen gesellschaftlich nicht zu akzeptieren. Diese habendeshalb, wie alle Bürger, Anspruch auf ein menschenwür-diges Leben und freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Inso-fern ist die Politik in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebotgehalten, für eine gleichberechtigte Teilhabe und volle In-tegration behinderter Bürger zu sorgen. Dabei wird „Behin-derung“ nicht mehr ausschließlich als individuelles Problemdes davon betroffenen Einzelnen gesehen. Vielmehr ist dieGesellschaft verpflichtet, entsprechende integrationsfördern-de Bedingungen für behinderte Menschen zu schaffen.

Grundlage für die Umsetzung dieser Forderungen ist einsoziales Sicherungssystem, das eine bedarfsgerechte Ver-sorgung aufgrund gesetzlich normierter Ansprüche sicher-stellt, wie sie insbesondere das Sozialgesetzbuch NeuntesBuch – (SGB IX) vorsieht. Darüber hinaus sind dem Gesetz zurGleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleich-stellungsgesetz – BGG) entsprechend Vorkehrungen zurGleichbehandlung und zum Schutz behinderter Menschen

gegen Diskriminierung zu treffen, öffentliche Bereiche undAngebote sind barrierefrei zu gestalten. Dabei ist den beson-deren Bedürfnissen behinderter und von Behinderung be-drohter Frauen und Kinder Rechnung zu tragen (§ 1 SGB IX, § 2 BGG).

„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funk-tion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoherWahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für dasLebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihreTeilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (§ 2Abs. 1 SGB IX, § 3 BGG). Unter „Behinderung“ versteht manin diesem Zusammenhang jede Beeinträchtigung der funk-tionalen Gesundheit einer Person. Diese Beeinträchtigung istErgebnis der Wechselwirkung zwischen dem Gesundheits-problem des Betroffenen und ihren Kontextfaktoren, die inder Person selbst liegen oder vom gesellschaftlichen Umfeldin unterschiedlichen Lebensbereichen und Lebenssituatio-nen geschaffen werden (biopsychosoziales Modell). Vor die-sem Hintergrund ist zentrales Ziel von Rehabilitation undTeilhabe die Wiederherstellung oder die wesentliche Bes-serung der Funktionsfähigkeit zur möglichst weitgehendenPartizipation des behinderten bzw. von Behinderung

Hendrik Faßmann

Von der Badekur zur IntegrationshilfeSozialwissenschaftliche Forschung im Bereich von Rehabilitationund Teilhabe – ein Kurzüberblick

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200734

Page 28: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

bedrohten Menschen am Leben in der Gesellschaft, insbe-sondere am Arbeitsleben. Dieses Ziel soll mit medizinischen,beruflichen und sozialen Leistungen erreicht werden, die not-wendig sind, „um unabhängig von der Ursache der Behin-derung � die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen,

zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern,

� Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflege-bedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindernoder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vor-zeitigen Bezug von Sozialleistungen zu vermeiden oderlaufende Sozialleistungen zu mindern,

� die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Nei-gungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern oder

� die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmteLebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern“ (§ 4 Abs. 1 SGB IX).

Nach § 5 SGB IX unterscheidet man Leistungen zur medizi-nischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben, unter-haltssichernde und andere ergänzende Leistungen sowieLeistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.Diese sind von den in § 6 SGB IX aufgeführten Rehabilita-tionsträgern, wie z. B. den gesetzlichen Krankenkassen, derBundesagentur für Arbeit, den Trägern der gesetzlichen Un-fallversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherungusw. zu erbringen. Sie sollen dem Wunsch und Wahlrecht derLeistungsberechtigten entsprechen (§ 9 SGB IX) und dieTeilhabeleistungen schnell, wirkungsvoll, wirtschaftlich unddauerhaft erbringen (§ 10 SGB IX).

Die Rehabilitation ist ein ganzheitlicher Vorgang. Zwar wirdin diesem Kontext verschiedentlich von „Phasen“ gespro-chen; diese sind jedoch nicht getrennt voneinander zu sehen,sondern verlaufen zum Teil parallel oder greifen ineinander.Den Rehabilitationsträgern obliegt es sicherzustellen, dassdie Leistungen auch dann nahtlos ineinandergreifen, wennLeistungen verschiedener Leistungsgruppen oder mehrererLeistungsträger erforderlich sind (§§ 10 bis 12 SGB IX).

Die Rehabilitationsforschung hat in Deutschland einelange Tradition. Im Mittelpunkt stand dabei zunächst die Re-habilitationsmedizin, die sich der Behandlung chronischkranker und behinderter Menschen widmet. Allerdings gerietdie medizinische Rehabilitation in eine Legitimationskrise,als sich das traditionelle Badewesen nach dem II. Weltkrieghin zur von den Sozialversicherungsträgern finanzierten „Sozialkur“ fortentwickelte und (seinerzeit noch ohneSelbstbeteiligung) geradezu massenhaft in Anspruch ge-nommen wurde. Bezweifelt wurden nicht nur Effektivität undEffizienz dieser Maßnahmen, sondern vor allem auch dietatsächliche Behandlungsbedürftigkeit. Seit Mitte der 1980er-Jahre wurden daher vor dem Hintergrund von Massen-arbeitslosigkeit, defizitärer öffentlicher Haushalte und Erosiondes Sozialsystems u. a. folgende Strukturdefizite des Reha-bilitationssystems verstärkt diskutiert:� die ungeklärte Bedarfsorientierung,� die Schnittstellenprobleme (zwischen präventiven,

kurativen, rehabilitativen und pflegerischen Maßnahmen),� Reibungsverluste durch die verschiedenen Träger und

Finanzierungszuständigkeiten,� die starke Betonung von stationären Leistungen,� die geringe Flexibilität der Leistungsangebote,

� die geringe Verzahnung zwischen den verschiedenenrehabilitativen Versorgungsformen,

� die fehlende Qualitätskontrolle der rehabilitativen Versorgung.

Diese Diskussion führte zum einen zu einer inhaltlichen undmethodischen Neuorientierung im Bereich von Rehabilita-tion und Teilhabe (z. B. Aktivierung der Teilnehmer/innen;zeitliche und institutionelle Flexibilisierung der Angebote;rehaspezifische Diagnostik zur Identifikation und pass-genauen Allokation rehabedürftiger Personen). Zum anderenwurden zunehmend Qualitätssicherungs- und Qualitäts-managementsysteme zur Überprüfung von Notwendigkeit,Qualität und Wirksamkeit des Leistungsangebotes ent-wickelt.

Damit einher gingen der Ausbau der Rehabilitations-wissenschaften und die Schaffung einer entsprechendenForschungsinfrastruktur. Hier stehen vor allem Themen imVordergrund wie� Entstehung, Auftretenshäufigkeit, Verlauf und Prognose

von Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit undTeilhabe,

� Epidemiologie und Bedarf an Rehabilitations- undTeilhabeleistungen,

� Entwicklung und Evaluation von Assessments undrehabilitativen Interventionen,

� Analyse und Weiterentwicklung des Rehabilitations-systems,

� ökonomische Fragen,

� Qualität, Qualitätssicherung und Management, Leitlinienentwicklung, Evidenzbasierung,

� Kriterien zur Bestimmung der kurz-, mittel- und langfristigen Ergebnisqualität,

� medizinische, präventive, berufliche und berufs-orientierte Rehabilitationsinterventionen,

� Versorgungsformen, Flexibilisierung von Angeboten,� Entwicklung theoretischer und methodischer Grund-

lagen, Forschungsstrategien und -methoden.Viele dieser Probleme können nur interdisziplinär bearbeitetwerden.

Aus der Sicht von Sozialpolitik und Rehabilitationsträgernwird es zunehmend wichtiger, die zur Erbringung der Reha-bilitations- und Teilhabeleistungen erforderlichen Ressour-cen optimal zu nutzen bzw. kostengünstigere Angebote zu

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200735

Page 29: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

entwickeln und zu erproben. Vordiesem Hintergrund gewinnt dieEvaluationsforschung gerade imBereich der Rehabilitationswis-senschaften zunehmend an Ge-wicht. Dieser Forschungszweigbezeichnet die systematische An-wendung sozialwissenschaftlicherForschungsmethoden zur Beurtei-lung der Konzeption, Ausgestal-tung, Umsetzung und des Nutzenssozialer Interventionsprogramme.Sie dient zur Verbesserung derPlanung und laufenden Über-wachung sowie zur Bestimmungvon Effektivität und Effizienz vonGesundheits-, Bildungs- und an-deren sozialen Interventionsmaß-nahmen.

Zur Programmevaluation stehteine Reihe möglicher Modelle zurVerfügung. Allerdings ist es er-forderlich, dass sich die in For-schungsvorhaben eingebundenenAkteure auf die Anwendung einesbestimmten Verfahrens einigenkönnen. In der Praxis findet daherhäufig ein „Modellmix“ statt. Beider Evaluation von Rehabilitations-

und Teilhabeleistungen orientiert man sich – nicht zuletzt auf-grund normativer Vorgaben des Gesetzgebers bzw. derKostenträger – heute meist an dem für Qualitätsbeurteilunggängigen und verschiedentlich ergänzten Konzept vonDonabedian. Dieses sieht vor, die Qualität von Dienstleis-tungen an der Qualität der Hintergrundmerkmale, derStruktur, des Prozesses und der Ergebnisse zu messen. DemQualitätssicherungs-Paradigma entsprechend wird davonausgegangen, dass die Strukturqualität die Prozessqualitätund diese wiederum die Ergebnisqualität beeinflusst.

Allerdings ist das Konzept in der Zwischenzeit dort nichtunumstritten, wo es – wie auch im Bereich von Rehabilitationund Teilhabe – um die Beurteilung sozialer Dienstleistungengeht. Dabei richtet sich Kritik vor allem gegen die Komplexi-tätsreduktion, die als problematisch erachtete Abgrenzungvon Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität, das instrumen-telle Qualitätsverständnis und die Prüfungs- und Messme-thoden, die zur Qualitätskontrolle personenbezogener päda-gogischer und sozialer Interventionen weniger geeignet er-scheinen.

Immer dann, wenn neue Maßnahmen, die sich noch in derEntwicklungsphase befinden, zu beurteilen sind, hat die wis-senschaftliche Begleitung eine doppelte Aufgabe zu lösen:� die handlungsorientierte Struktur, Prozess und Ergebnis-

evaluation der Projektaktivitäten, d. h. die Überprüfungdes Grades, in dem die einzelnen Aktivitäten – unterBerücksichtigung der dabei eingesetzten Ressourcenund Methoden – zur Erreichung der damit intendiertenZiele beitragen;

� die entwicklungsorientierte Evaluation, d. h. die Über-prüfung von Möglichkeiten einer Modifikation bzw. Ver-besserung des Programms im Sinne einer optimiertenZielerreichung oder auch einer Anpassung der formu-lierten Ziele an neue Erkenntnisse und Erfahrungen.

Gerade dort, wo Projekte von der Planungs- bis zur Transfer-phase zu begleiten sind, wird die Integration formativer undsummativer Evaluationsansätze als zweckmäßig angesehen.

Die formative Evaluation der verschiedenen Aktivitätenwährend der Implementierung und routinemäßigen Umset-zung des neuen Programms dient dazu, den eingebundenenAkteuren laufend Hinweise auf die Wirkungen ihrer Aktivitä-ten unter Berücksichtigung der damit intendierten Ziele so-wie auf Verbesserungsmöglichkeiten zu geben.

Demgegenüber dient die summative Evaluation der wis-senschaftlich zu begleitenden Aktivitäten zu bestimmtenMesszeitpunkten vor allem dazu, Außenstehende nach derEinrichtung eines (neuen) Programms bzw. nach Überfüh-rung der betreffenden Aktivitäten in den Routinebetrieb zu in-formieren, inwieweit die intendierten Zielsetzungen mit derMaßnahme erreicht werden konnten und welche Möglich-keiten bestehen, diese Ergebnisse zu verallgemeinern.

Dabei kann die Evaluation durch Akteure eines Pro-gramms bzw. einer Einrichtung selbst oder durch beauftragteFachleute durchgeführt werden, die die Ergebnisse dieser in-ternen (Selbst-)Evaluation ausschließlich programm- bzw.einrichtungsintern verwenden. Demgegenüber ist externeEvaluation häufig von außen (z. B. von Kostenträgern) initiiertund erfolgt durch externe Evaluatoren, die in erster Linie ihrenAuftraggebern gegenüber verantwortlich sind.

Im Rahmen der Evaluationsforschung kann das gesamteRepertoire an quantitativen und qualitativen sozialwissen-schaftlichen Forschungsmethoden zum Einsatz kommen.Die Beachtung einschlägiger Evaluationsstandards trägt da-zu bei, intersubjektiv überprüfbar qualitativ anspruchsvolleEvaluationsprojekte zu realisieren.

War die Rehabilitationsforschung in früheren Jahren inerster Linie eine Domäne von Medizinern, so gewinnt dieinterdisziplinäre sozialwissenschaftlich und ökonomischorientierte Forschung im Bereich von Rehabilitation undTeilhabe in den letzten Jahren zunehmend Gewicht. Vor demHintergrund von Ressourcenknappheit und demographi-schem Wandel ist es erforderlich, das gesamte Rehabili-tationssystem auf Effektivität und Effizienz hin zu überprüfenund, wo dies erforderlich ist, umzubauen. Die Evaluations-forschung kann wesentlich dazu beitragen, diesen Prozessund die sich daraus ergebenden Innovationen kritisch undkonstruktiv zu begleiten.

Aufgrund des zunehmenden Forschungsbedarfs ist die-ser Bereich als attraktives Betätigungsfeld für angehendeSozialwissenschaftler und Ökonome anzusehen, die bereitund in der Lage sind, sich nicht nur in Theorie und Praxis dersozialwissenschaftlichen Evaluationsforschung, sondern ins-besondere auch in das komplexe bundesdeutsche Sozial-versicherungs- und Gesundheitssystem einzuarbeiten.

Dr. Hendrik Faßmann ist stellvertretender Geschäftsführerund wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für empiri-sche Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200736

Page 30: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Können Internetauftritte den Bedürfnissen von Menschen mitBehinderungen angepasst und möglichst barrierefrei gestal-tet werden: Mit dieser Frage beschäftigen sich seit einigenJahren die IT-Experten am Regionalen Rechenzentrum Er-langen der Universität Erlangen-Nürnberg.

Barrierefrei gestaltete Internetpräsenzen zeichnen sichnicht nur durch ein klares Design und eine übersichtlicheStruktur aus, sondern lassen sich auch mit älteren Browsernoder mobilen Geräten aufrufen und schnell aufbauen. Men-schen mit Behinderung müssen die gleiche Chance haben,sich zu informieren und zu kommunizieren – ganz gleich, obsie nicht oder nur eingeschränkt sehen können, schlechthören, keine Maus verwenden oder auf spezielle Technikangewiesen sind.

Seit mehr als drei Jahren präsentiert sich das RegionaleRechenzentrum Erlangen barrierefrei im Internet – in neuerOptik und mit verbesserter Technik, aber auch mit einerdurchdachten Verwaltung der Webseiten. So ist es dem Re-chenzentrum gelungen, ein Musterbeispiel für einen moder-nen Webauftritt zu geben, dem inzwischen rund 30 Institute,Lehrstühle und weitere Einrichtungen der Universität Er-langen-Nürnberg gefolgt sind. Das Erlanger Web-Team un-terstützt seine Kunden dabei mit Rat und Tat. In Zusammen-arbeit mit der Hochschulleitung und der Pressestelle konnteunter anderem ein Vorlagenkatalog erarbeitet werden, der In-teressenten schon fertige Webseitenmodule in unterschied-lichen Designs zur Verfügung stellt.

Doch nicht nur innerhalb der Universität engagieren sichdie Erlanger IT-Experten, ihr Wissen um die barrierefreien

Internetpräsenzen weiterzugeben. So finden am Rechenzen-trum regelmäßige Schulungen und Workshops statt – zumBeispiel Webmasterkurse, PHP-Kurse, Kurse zum Thema„Barrierefreies Internet“, die auch Interessenten aus anderenbayerischen Behörden offenstehen. Im Herbst 2006 lud dasRechenzentrum mit großer Resonanz zu einem großen Web-kongress, der speziell auf Besucher aus dem ÖffentlichenDienst zugeschnitten war. Denn seit Beginn des Jahres 2006sind alle Bundesbehörden, seit Anfang 2007 fast alle öffent-lichen Einrichtungen des Freistaates – darunter auch dieHochschulen – gesetzlich verpflichtet, ihre Internetauftrittebarrierefrei zu gestalten.

Und die ehrgeizigen Bemühungen des Regionalen Rechen-zentrums Erlangen um Barrierefreiheit werden inzwischenanerkannt: Für seinen Webauftritt www.rrze.uni-erlangen.deist es unter anderem mit dem goldenen BIENE-Award 2005der Aktion Mensch und der Stiftung Digitale Chancen und mitdem Sonderpreis Barrierefreiheit bei den Deutschen Multi-media Awards 2005 ausgezeichnet worden. BIENE steht für„Barrierefreies Internet eröffnet neue Chancen“. Die Jurorenbescheinigten dem Rechenzentrum wiederholt eine mus-tergültige Umsetzung der Kriterien der Barrierefreiheit sowieuneingeschränkte Zugänglichkeit für alle Nutzer.

Dipl.-Inf. Wolfgang Wiese ist Stellvertretender Leiter der Abteilung Ausbildung, Beratung und Information des Regio-nalen Rechenzentrums Erlangen. Als Internetbeauftragter ister für das Projekt Vorlagenkatalog der Universität Erlangen-Nürnberg verantwortlich.

Wolfgang Wiese

Surfen ohne Hindernis Das Rechenzentrum der Universität als Pionier des barrierefreien Web-Auftritts

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200738

Page 31: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Alle Menschen sind behindert, wenn man sie mit anderen Lebewesen vergleicht: So können Hunde riechen, was diemenschliche Nase nicht riechen kann. Bestimmte Vogelartenund Fledermäuse können sehen, was Menschen ohne Pro-thesen wie Brillen, Fernrohre oder Nachtsichtgeräte nicht se-hen können. Wale navigieren über die Weltmeere, währendMenschen nur mithilfe von Kompass oder modernster Satel-litentechnik bestimmen können, wo sie sind. Behinderung isteine Sache der Perspektive.

Aus dieser Sicht wird schnell klar, warum es zu Aufre-gungen kommen kann, wenn man den Begriff „behindert“unreflektiert benutzt: die automatische Scheidung zwischendenen, die „normal“, und denen, die eben „behindert“ sind,impliziert ein Verständnis der Normalität, das nur denjenigennutzt, die nicht unter den Abweichungen einer behauptetenNormalität zu leiden haben.

Behinderung als eine Abweichung von der Norm odereiner Idealvorstellung kann man körperlich, geistig oder psy-chologisch betrachten. Im Theater und anderen Medien wer-den seit dem Altertum vor allem psychologische Handicapsthematisiert, die zu Konfliktstrukturen geführt haben, die fürdie westliche Dramaturgie kennzeichnend sind: fehlendesEinfühlungsvermögen, a-soziales bzw. nur auf einen egoma-nischen Aspekt gerichtetes Verhalten wie unbedingterMachtwille, Verliebtheit, die „blind“ macht, etc. Solche Kon-flikte werden in Theateraufführungen, Filmen und Fernseh-serien thematisiert. Meistens werden die psychologischenBehinderungen von Schauspielern mit perfekten Körpern

André Studt, Henri Schoenmakers

Nur eine Sache der Perspektive Theater mit Behinderten oder: wie man vergessen lernt, was man zu wissen glaubt

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200740

Page 32: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

dargestellt, die in der Gesellschaft als Norm funktionieren.Auf der Bühne der hohen Kunst wurden vor allem im Thea-tertanzbereich körperliche Idealvorstellungen präsentiert. So wurden in den romantischen Balletten des 19. Jahrhun-derts Körperdimensionen, Bewegungen und Haltungen vonmenschlichen Wesen als ideale Normen festgelegt, währendgleichzeitig auf Jahrmärkten die Abweichungen der Normali-tät vorgeführt wurden.

Erst im 20. Jahrhundert zeigen expressionistische undneo-expressionistische Choreographen und Tänzer Alltags-körper und betonen so die Vielfalt inklusive der Abweichun-gen von Idealvorstellungen. Und seitdem im Theater der Per-former wichtiger als die dargestellte Figur geworden ist undso die Grenzen zwischen Theater, Tanz und Performanceverwischen, gibt es viele Theatermacher, die sogenannteBehinderungen für ästhetische Ziele einsetzen. Die TänzerinMill Bitterli experimentiert mit Prothesen, um auf diese Artund Weise ein anderes Bewegungsvokabular zu explorieren.Die Choreographin Pina Bausch benutzt die Bewegungs-merkmale von älteren Menschen ganz absichtlich, wenn siediese auf der Bühne zeigt (Kontakthof, 2003). Der italienischeRegisseur Romeo Castellucci zeigt in Aufführungen wieGiulio Cesare (1997) und Genesi: From the Museum of Sleep(1999) Körper auf der Bühne, die weit von den gesellschaft-lichen Vorstellungen der Normalität abweichen. Er hofft, dassdie Zuschauer dabei eine Art von Schönheit – er spricht von„archaischer Schönheit“ – erfahren. Dies sind nur einige Bei-spiele der vielen Initiativen im Bereich der theatralen Künste,die Grenze zwischen Normal und Nicht-Normal im Bereichder Ästhetik verschwinden zu lassen und die Normalitätsvor-stellungen in den Köpfen der Menschen zu ändern.

Wird man in Theater, Film oder Werbespots mit Behinde-rungen konfrontiert, so steht oft das „Normale“ in der Bezie-hung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung im Mit-telpunkt der Aufmerksamkeit. Oft wird dem vermeintlichNormalen durch den Umgang mit Behinderten eine über-raschende und neue Perspektive beigemengt. In Filmen wieRain Man, Forrest Gump oder Gilbert Grape sieht der gesun-de Protagonist sich gezwungen, seine Sicht auf die Welt, sei-nen Umgang mit den Mitmenschen oder sein eigenes Daseinkritisch zu hinterfragen, um schließlich durch die „verrückte“oder gehandicapte Perspektive zu „gesunden“; in Dramenwie „Ein Fest für Boris“ von Thomas Bernhard, wo das An-derssein ein ideologischer Kommentar zur bestehendenGesellschaftsordnung ist, wird die Differenz zwischen dem„Normalen“ und dem „Behinderten“ zwar visuell und drama-tisch vermittelt, jedoch im Ergebnis eliminiert. Letztendlichist die Behinderung oft eine Gabe, deren Existenz eine posi-tive Konnotation hat – auch weil die Behinderung meistensvon Berufsschauspielern, die nicht behindert sind, professio-nell verkörpert wurde.

Jedoch führt der konkrete Umgang mit Behinderungen inProben für eine Theateraufführung zu anderen Erfahrungen,deren Benennung sich permanent in der Diskrepanz zwi-schen dem „Normalen“ und dem „Behinderten“ abspielt undsich hier sehr schnell die Dominanz des „Normalen“ alleinschon in der Reflektion dieser Diskrepanz bemerkbarmachen kann: Am Institut für Theater- und Medienwissen-schaft entstand vor kurzer Zeit ein Theaterprojekt, in demfünf Studentinnen dieses Faches gemeinsam mit einer Grup-pe von sogenannten „Behinderten“ die Adaption eines Kin-derbuches erarbeiteten. Die Herausforderungen dieser Arbeit, die im Rahmen der angewandten Theater- und

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200741

Page 33: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Perfekt unperfekt behindert – gehandicapt – ganz normal

Medienwissenschaft angesiedelt war, bestanden darin, dieTeilnehmer nicht grundsätzlich „anders“ zu behandeln, sienicht zu unterschätzen, jedoch auch ein angemessenes undausgewogenes Pensum sowohl an Bewegung und körper-licher Anstrengung als auch an reflektorischer Tätigkeit imRahmen der wöchentlichen Proben zu geben. Das war nichtunproblematisch, da die Gruppe sehr heterogen war und ausMenschen, die als körperlich und auch zum Teil geistig be-einträchtigt angesehen wurden, sowie ihren Betreuern be-stand. Zentrale Aufgabe war es also, eine Form zu finden, diejeden mit seinen speziellen Bedürfnissen fördert und fordert.Die eigentliche Probenarbeit gestaltete sich insofern schwie-rig, da man bei den Vorbereitungen der Proben mit „gesun-dem“ Vokabular und der dazugehörenden Methodik aus-gestattet war und diese nur bedingt auf den Prozess verwenden konnte. So war es kaum möglich, auf die Erkennt-nisse von vorhergehenden Proben aufzubauen. Es fehlte Er-fahrung mit einer Probensituation, in der die Anwesenheitund Aufmerksamkeit der Beteiligten stark schwankte undvieles bei der nächsten Probe wieder vergessen war. Um dieBeeinträchtigungen produktiv nutzen zu können, wurde dieFigur eines Erzählers eingeführt. So musste keiner der Dar-steller Text lernen. Der Erzähler hatte zusätzlich den Vorteil,dass die Spieler einen sicheren Anhaltspunkt auf der Bühnehatten. Außerdem stellte diese Erzählinstanz die rezeptiveNachvollziehbarkeit sicher, wodurch sowohl bei der Proben-arbeit als auch bei der späteren Aufführung die Körperlichkeitder Spieler in den Vordergrund rücken konnte, da die Sprach-fertigkeit bei manchen Spielern zum Teil eingeschränkt war.Jedoch ist eine Fokussierung der Körperlichkeit insofern am-bivalent, da darauf zu achten war, dass die Spieler mit ihrerBehinderung nicht auf der Bühne zur Schau gestellt würden.

Während der Proben musste viel mehr als bei Proben mit„normalen“ Darstellern darauf geachtet werden, dass manwährend der Probe zu hundert Prozent präsent war und aufjeden Beteiligten individuell einging. Dies führte auch auto-matisch dazu, dass viel mehr Input gegeben werden musste,um zu einem Ergebnis zu kommen. Gleichzeitig jedoch solltedas eigene Spiel/Mitspiel bei Improvisationen möglichst de-zent und gering gehalten werden, da bei den Spielern derHang zur Nachahmung durchweg sehr hoch war: So wurdennicht nur die Spielleiter, sondern auch die anderen Gruppen-mitglieder häufig Gegenstand einer praktizierten Mimesis.Überlegungen zu kurzfristigen Änderungen des Konzepts,das Aushalten von Stagnation des Prozesses und das Mode-rieren von Konflikten standen als Bestandteil der Proben-arbeit immer unter der anwesenden Differenz von „normal“und „behindert“. Das, was man „normalerweise“ auf Probentut, wurde hier immer erst durch die Perspektive der Behin-derung gefiltert, um dann zu einem normalen Bestandteil derArbeit werden zu können. Auch hier wird die Behinderung eli-miniert, denn das, was man in der Aufführung zu sehenbekam, behauptete eine (hart erarbeitete) Normalität; jedochist diese Einebnung Teil eines Erkenntnisprozesses, der letzt-lich die kritische Hinterfragung des im Rahmen des StudiumsErlernten beinhaltete.

Nach etwa eineinhalb Jahren Probenarbeit fand das Pro-jekt im Lehr- und Ausbildungstheater des Instituts für Thea-ter- und Medienwissenschaft, dem Experimentiertheater, mitcirca 80 Zuschauern einen gebührenden Abschluss. In einem„richtigen“ Theater mit Publikum, das nicht nur aus Ver-wandten und Bekannten der Spieler bestand, zu spielen,bedeutete für alle Beteiligten eine Aufwertung der eigenen

Arbeit und nicht zuletzt für viele ein richtiges Abenteuer. DieAufführung selbst war in ihrem Charakter von unvorherseh-baren Ereignissen geprägt und damit einzigartig: So fragteeiner der Darsteller noch während der Vorstellung, wie er ge-spielt habe. Auch wurde der Missmut über eine vermeintlichmisslungene Szene auf der Bühne von manchen Spielerndeutlich gezeigt. Diese Beispiele illustrieren, wie sehr die ein-zelnen persönlichen Charaktere der Spieler immer anwesendsind: Rollen werden nur oberflächlich übernommen; mit klas-sischen Theorien der Darstellung kommt man in dieser Praxisnicht weit. Diese Erkenntnis beinhaltete dann auch die Spezi-fikation der Umsetzung, denn die Spielleitung musste einer-seits auf die besonderen Bedürfnisse der Spieler eingehenund dadurch andererseits einen gewissen Abstand zum ge-wohnten konventionellen Theater einnehmen. So wurde bei-spielsweise auf schnelle Anschlüsse verzichtet, um für dieSpieler vor allem hinter der Bühne eine Atmosphäre derSicherheit zu gewährleisten. Keiner der Spieler durfte gedrängt oder gestresst werden, war doch das „A-normale“– generell ein Kennzeichen für ästhetische Kommunikationund deren Darstellung – schon Stress genug.

Dieses Projekt brachte nicht nur den beteiligten Studen-tinnen ein nicht zu unterschätzendes Maß an Erfahrungen,sondern hatte auch auf die teilnehmenden Spieler eineäußerst positive Auswirkung, die sich nicht nur in einem sen-sibilisierten Gefühl für den eigenen Körper, die eigenen Aus-drucksfähigkeiten und die interaktiven Kompetenzen zeigte.So öffnete sich beispielsweise ein einstmals sehr verschlos-sener Teilnehmer zum ersten Mal und ließ die anderen fortanan seinen Gedanken teilhaben, was unter anderem das he-rausragende Ereignis und Ergebnis dieses Projekts bleibtund einer theaterpädagogischen Arbeit nicht nur ihre Exis-tenzberechtigung gibt, sondern diese sogar fordert: Generellmuss man vergessen, was man zu wissen meint, erst dannkann man gemeinsam mit Anderen, ob „normal“ oder nichtbetrachtet, zu lernen beginnen – dieser Perspektivenwechselsollte als Grundeinsicht normal sein.

Prof. Dr. Henri Schoenmakers ist Inhaber des Lehrstuhls fürTheater- und Medienwissenchaft, zu seinen wissenschaft-lichen Mitarbeitern gehört André Studt. Beide danken denStudentinnen Sophia Schmidt, Theresa Schmidt, Birte Itta,Claudia Schilling und Katharina Scholl, die für den Artikel ihreProbennotizen in aufbereiteter Form zur Verfügung gestellthaben.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200742

Page 34: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum ForschungDie Maus auf dem Trockeneis spürt trotz 23 Grad unter dem Null-punkt keinen Kälteschmerz. Der biologische Mechanismus, dersie normalerweise vor unbemerkten Erfrierungen schützen soll,wurde gentechnisch ausgeschaltet. Wie dieser Mechanismusfunktioniert, haben Erlanger Forscher herausgefunden. Mehrdazu auf Seite 54.Foto: Clemens Forster

Page 35: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Die Optik gilt als eine der Schlüsseltechno-logien des 21. Jahrhunderts. Von GlobalPositioning System und Internet über La-ser und Glasfasern bis hin zu Chipherstel-lung und Augenchirurgie – in nahezu allenLebensbereichen profitiert die moderneGesellschaft von den rasanten Fortschrit-ten auf diesem Gebiet. In der an der Uni-versität Erlangen-Nürnberg im Rahmender Exzellenzinitiative des Bundes und derLänder zur Förderung von Wissenschaftund Forschung an deutschen Universitä-ten neu eingerichteten Graduiertenschule„Erlangen Graduate School in AdvancedOptical Technologies“ (SAOT) werdenNachwuchswissenschaftler an den Schnitt-stellen von Physik, Medizin und Ingenieur-wissenschaften eng zusammenarbeitenund so lernen, das ungeheure Potenzial derneuen optischen Technologien voll auszu-schöpfen. Dies belegen auch die Mitglied-schaften der International Max Planck Re-search School on Optics and Imaging(IMPRS), des Fraunhofer-Instituts für Inte-grierte Systeme und Bauelementetechno-

logie (IISB) und des Bayerischen Laserzen-trums GmbH (BLZ). Prof. Dr. Alfred Lei-pertz vom Lehrstuhl für Technische Ther-modynamik leitet die SAOT als Sprecher,seit die Graduiertenschule im November2006 ihre Aktivitäten aufgenommen hat.

Die sieben Schwerpunktbereiche derGraduiertenschule bilden nahezu das ge-samte Spektrum der aktuellen Optik-For-schung ab: Fundamentals of Optical Tech-nologies (geleitet von Prof. Dr. GerdLeuchs), Optical Metrology (Prof. Dr. AlfredLeipertz, Dr. Frank Beyrau), Optical Mate-rial Processing (Prof. Dr. Manfred Geiger,Dr. Andreas Otto), Optics in Medicine (Prof.Dr. Elke Lütjen-Drecoll, Prof. Dr. MichaelEichhorn), Optics in Communication andInformation Technologies (Prof. Dr. Bern-hard Schmauß), Optical Materials and Sys-tems (Prof. Dr. Ulf Peschel) und Computa-tional Optics (Prof. Dr. Christoph Pflaum).

Die Graduiertenschule ist ein Beweisfür das hohe wissenschaftliche Niveau, aufdem in Erlangen gelehrt und geforschtwird. Schon lange gilt die Universität als

eine der in Europa führenden Forschungs-einrichtungen auf dem Gebiet der opti-schen Technologien. Zahlreiche Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler mit in-ternationaler Reputation haben sich des-halb für die mittelfränkische Universitätentschieden und arbeiten hier über dieGrenzen von Instituten und Fakultäten hin-weg an den Schnittstellen von Disziplinenwie Materialwissenschaft, Messtechnik,Medizin und Be- oder Verarbeitungstech-nik eng zusammen. In der Erlangen Grad-uate School in Advanced Optical Techno-logies profitieren Nachwuchswissenschaft-ler von dieser interdisziplinären Vernetzungund dem großen Erfahrungsschatz ihrerKollegen. Neben exzellenter fachlicher Be-treuung und hervorragenden Forschungs-möglichkeiten erhalten die SAOT-Dokto-randen umfangreiche Möglichkeiten zurpersönlichen Weiterbildung und Weiterent-wicklung, um sich auf ihre zukünftige Lauf-bahn in verantwortlichen Führungspositio-nen in Industrie, Forschung und Verwal-tung vorzubereiten.

Forum Forschung Exzellenzinitiative

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200746

Optik-Forschung auf höchstem NiveauDie Erlangen Graduate School in Advanced Optical Technologies

Die Erlanger Graduiertenschule hat ihr Zuhause auf einem ehemaligen Militärgelände – dem Röthelheimcampus – gefunden. Foto: SAOT

Page 36: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Exzellenzinitiative

Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit und derAusbildung an der Erlanger Graduierten-schule ist die internationale Ausrichtung.Arbeitssprache ist deshalb Englisch. Welt-weit auf ihrem Gebiet führende Wissen-schaftler werden nach Erlangen eingela-den, um als Gastprofessoren oder Tutoren

ihr Wissen an die SAOT-Mitglieder weiter-zugeben. Sie werden eigene Lehrveran-staltungen anbieten, in den Labors ihrerErlanger Forscherkollegen mitarbeitenoder in Summer Schools als Dozentenagieren. Für die Doktoranden übernehmensie auch die Rolle des Gastgebers an ihrenHeimatuniversitäten, die im Rahmen ihrerAusbildung mindestens drei Monate an ei-ner Hochschule im Ausland verbringenmüssen. Solche Kontakte bestehen be-reits zu nahezu allen bedeutenden Univer-sitäten weltweit, die über die SAOT nochweiter ausgebaut und gefestigt werdensollen.

Exzellente Bewerber gesuchtDie SAOT ermuntert Absolventen mit ei-nem exzellenten Diplom- oder Masterab-

schluss in den Ingenieur- oder Naturwis-senschaften (vorzugsweise Physik) deut-scher und internationaler Hochschulen, sichfür Stipendien zur Aufnahme in die SAOTzu bewerben. Die Bewerbungsfristen en-den jeweils am 31. Januar bzw. am 31. Julifür das kommende Semester. Die Auswahlder SAOT-Kandidaten erfolgt aufgrund derQualität ihrer schriftlichen Bewerbungenund eines Vorstellungsgesprächs. NähereInformationen zur SAOT und zu den Be-werbungsformalitäten sind unter www.aot.uni-erlangen.de zu finden. Im Folgendenwerden kurz die Inhalte der einzelnenSchwerpunktgebiete beschrieben.

Grundlagen der Optik (Fundamentals of Optical Technologies)Die Entwicklung der modernen Optikwurde nachhaltig durch die Erfindung desLasers vorangetrieben. Heute erfüllt derLaser ganz selbstverständlich in so unter-schiedlichen Bereichen wie dem CD-Spie-ler, Laserschweißgeräten oder bei Augen-operationen eine wichtige Aufgabe. DerFortschritt in Optik und Photonik ist aberauch für andere Bereiche wesentlich: Diemoderne Atomuhr für das GPS, die Laser-lithographie für die Mikroelektronik undoptische Kommunikationsfasern für dasInternet wären ohne den Laser so nichtmöglich.

Viele dieser Anwendungen finden sichin den beschriebenen Modulen der SAOTwieder. Im Modul „Grundlagen der Optik“wird zum einen das Handwerkszeug derOptikforschung vermittelt, zum anderen fin-det hier Forschung statt, die grundlegendeFragestellungen beantworten will, aberthematisch noch keinem der anderen spe-zialisierten Module zuzuordnen ist. Dies istder Inkubator für die optische Technik, diespäter neue Anwendungen ermöglicht. AlsBeispiel sei ein Experiment genannt, beidem versucht wird, den scheinbar irrever-

siblen Prozess der spontanen Emission ei-nes Atoms in Zeitumkehr, d. h. als Einzel-photonenabsorption mit größtmöglicherWahrscheinlichkeit, ablaufen zu lassen.

Wie eingangs erwähnt, ist der Lasereines der wichtigsten Hilfsmittel des Optik-forschers, die physikalischen Grundlagenund die technische Umsetzung werden imRahmen dieses Moduls behandelt. Dabeispielt der Diodenlaser dank seiner kleinenBaugröße eine besondere Rolle. Im Grun-de hat der flächendeckende Siegeszugdes Lasers erst mit dem Diodenlaser be-gonnen. Die Eigenschaften des Lichts wer-den je nach Anwendung mithilfe der geo-metrischen Optik, der Wellenoptik oder derQuantenoptik beschrieben. Die Doktoran-den, die in die SAOT aufgenommen wer-den, sollten deshalb ein solides Wissen ingeometrischer und Wellenoptik mitbrin-gen. Die Quantenoptik ist oft weniger fun-diert vorhanden, jedoch wichtig, da Quan-teneigenschaften in zahlreichen Anwen-dungen relevant sind (s. auch Quantenin-formationsverarbeitung im Modul „Optik inder Informations- und Kommunikations-technik“), Licht selbst aber auch ein geeig-netes System ist, um grundlegende Fra-gen der Quantenphysik zu untersuchen.

In vielen Fällen sind optische Metho-den und Technologien hervorragend ge-eignet, um berührungslos Informationenüber das zu untersuchende Objekt oderSystem zu erhalten. Zu nennen sind hierinsbesondere spektroskopische, interfero-metrische und Triangulationsmethoden.Eine Vielzahl von Anwendungen dieserMethoden werden im Arbeitsbereich „Op-tische Messtechnik“ behandelt.

Optische Messtechnik (Optical Metrology)Die Bedeutung der optischen Messtechni-ken wächst in allen Bereichen des tägli-chen Lebens, angefangen bei dem Aus-

Versuchsstand zur Gemischbildungsanalyse bei der WasserstoffeindüsungAnwendung der CARS-Thermometry zur Temperaturbestimmung der Zylinder-ladung in einem Verbrennungsmotor (M.C. Weikl, F. Beyrau und A. Leipertz,Appl. Opt. 45, 3646, 2006)

Optischer Versuchsaufbau

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200747

Page 37: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Exzellenzinitiative

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200748

tausch von Handelsgütern bis hin zur Me-dizintechnik. Der Einsatz optischer Mess-techniken stellt aufgrund ihres berüh-rungslosen Wirkprinzips die einzige Mög-lichkeit dar, um technische und physikali-sche Größen objektiv und quantitativ zu er-fassen. Neben ihrer berührungslosen Ar-beitsweise verdanken die optischen Mess-techniken ihr rasches Vordringen in Tech-nik und Wissenschaft vor allem ihrer hohenMessgenauigkeit und ihrem hohen lokalenund zeitlichen Auflösungsvermögen. Diesfindet Anwendung bei der Bestimmung vonGrundgrößen in der physikalischen Grund-lagenforschung, in der chemischen Indus-trie zur Prozesskontrolle, bei der Verkehrs-überwachung zur Sicherung des Luft-raums, in der Medizin zur Diagnose und beider Produktentwicklung. Bezogen auf dasbreite Spektrum der optischen Messtech-nik können die SAOT-Mitglieder entwederein spezielles Fachgebiet vertiefen odersich grundlegendes Wissen über die opti-sche Messtechnik im Allgemeinen aneig-nen. Das Lehrangebot umfasst Vorlesun-gen, Übungen, Seminare, Laborpraktikaund Exkursionen folgender drei Themen-bereiche: die Eigenschaften elektromag-netischer Strahlung im Wellenlängenbe-reich der Optik und korpuskulare Phäno-mene, Methoden zur Erzeugung von kohä-rentem und nicht-kohärentem Licht undderen Wechselwirkung mit Materie; An-wendungen optischer Messtechniken un-ter Hervorhebung der Sensorik, der Signal-bearbeitung, der Signalverarbeitung undder Signalauswertung und vollständigerMesssysteme.

Die Lehr- und Forschungsaktivitätenorientieren sich dabei eng an den For-schungsinteressen der in der SAOT betei-

ligten Institute und Lehrstühle und umfas-sen deshalb folgende Schwerpunkte: op-tische Methoden zur Bestimmung physi-kalischer Größen, hochgenaue Bestim-mung optischer Größen, Lasermessver-fahren zur Prozessanalyse und zur Bestim-mung von Stoffdaten der Energie- und Ver-fahrenstechnik, Sensorik, Messverfahrenund Messtechniken für verschiedene phy-sikalische und chemische Anwendungen,Anwendung hochpräziser optischer Mess-verfahren zur Vermessung von geometri-schen Größen, Maschinenwerkzeugen undAggregaten, optische Messverfahren in derMedizin zur Diagnose und zur Beobach-tung und optische Messverfahren zur Um-weltanalytik.

Optik in der Materialbearbeitung (Optical Material Processing)Der Einsatz von Licht als Werkzeug bei-spielsweise im Bereich der Automobilin-dustrie oder für die Mikro- und Nanotech-nologie hat bereits heute die industrielleFertigung revolutioniert. So spielen fort-schrittliche optische Technologien zumBeispiel eine wesentliche Rolle bei der an-haltenden Miniaturisierung elektronischerBauelemente. Erst der Einsatz von Lichtals Werkzeug hat die rasante Entwicklungz. B. im Bereich der Computertechnik er-möglicht und damit entscheidend unserheutiges Weltbild verändert. Aber auch inanderen Bereichen der industriellen Ferti-gung ist insbesondere der Laser zu einemStandardwerkzeug geworden, das her-kömmliche Fertigungsverfahren oftmalsweitgehend verdrängt hat. Ein gutes Bei-spiel hierfür ist die Automobilindustrie, inder das Laserstrahlschweißen innerhalbdes letzten Jahrzehnts das Widerstands-

Punktschweißen fast vollständig ersetzthat. Die Gründe hierfür liegen in der her-vorragenden erreichbaren Fügequalität, inder guten Automatisierbarkeit des Lasers,in der hohen Produkt- und Werkstoffquali-tät und nicht zuletzt in den neuen kon-struktiven Möglichkeiten, die sich durchden Laser als Werkzeug ergeben haben.

Im Rahmen der SAOT sollen unter an-derem die Strahl-Stoff-Wechselwirkungs-mechanismen bei der Laserstrahlmaterial-bearbeitung intensiv untersucht werden.Ziel ist es, die engen Zusammenhängezwischen den physikalischen Grundlagender Strahlausbreitung und der Interaktionder Strahlung mit dem Werkstoff, den da-mit verbundenen werkstofflichen Aspektenund den maschinenbaulichen Konsequen-zen bezüglich der Systemtechnik sowieden unterschiedlichsten Anwendungen zuerforschen. Basierend auf diesen Arbeitensollen zum Beispiel Prozessüberwa-chungs- und -regelungssysteme entwickeltwerden, die angesichts der zunehmendsteigenden Anforderungen an die Bearbei-tungsqualität zukünftig verstärkt Bedeu-tung gewinnen werden. Außerdem ist dasVerständnis der genannten Zusammen-hänge zwingend erforderlich, um zukünfti-ge Entwicklungen im Bereich der optischenMaterialbearbeitung, die sich insbeson-dere im Mikro- und Nanobereich oftmalsan der Grenze des physikalisch Machba-ren bewegen, realisieren zu können.

Neben Experimenten gewinnen Simu-lationen zunehmend an Bedeutung zumeinen zur Erarbeitung eines tiefgehendenProzessverständnisses, zum anderen aberauch im Bereich der Prozessauslegung.Letzteres gilt insbesondere auch für litho-graphische Fertigungsverfahren zur Her-

Kontaktieren von Solarzellen mittels Laserstrahl-Mikroschweißen. Foto: LKT/Kurt Fuchs

Prozessüberwachung und -regelung beim Laserstrahlschneiden von Knochen:Ein Beispiel für interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Fertigungstechnikund Medizin. Foto: LKT/Kurt Fuchs

Page 38: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Exzellenzinitiative

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200750

stellung elektronischer Nanostrukturen inder Elektronikproduktion. Die zunehmendeMiniaturisierung in diesem Bereich erfor-dert die Entwicklung neuartiger bezie-hungsweise die Optimierung bestehenderSystem- und Prozesstechniken. Hierzusollen in einem speziellen Fokus diesesForschungsbereiches ganzheitliche Simu-lationen des kompletten Lithographiesys-tems durchgeführt werden, um so die zu-künftigen Entwicklungen in diesem indus-triell auch für Deutschland äußerst wichti-gen Bereich voranzutreiben.

Optik in der Medizin (Optics in Medicine)In der Medizin kommt bereits heute einegroße Zahl optischer Systeme zum Ein-satz. Optische Verfahren werden nicht nurfür diagnostische Zwecke (Endoskopie,Ophthalmoskopie u. a.), sondern vielfachauch für therapeutische Maßnahmen („La-sermesser“) erfolgreich und nutzbringendeingesetzt. Für eine erfolgreiche Weiter-entwicklung dieser Verfahren ist ein inten-siver Austausch zwischen naturwissen-schaftlich-technischen und medizinisch-

biologischen Wissenschaftsfeldern eineunverzichtbare Voraussetzung. Der Arbeits-bereich „Optics in Medicine“ soll systema-tisch mit grundlegenden Funktionsprinzi-pien des menschlichen Körpers, seiner Or-gane und Gewebe unter physiologischenwie auch pathologischen Bedingungenvertraut machen (Modul „Basics in Anat-omy“). Diese Kenntnisse sollen zu einemtieferen Verständnis spezifischer Wechsel-wirkungen zwischen Licht und biologi-schen Geweben führen. Die darauf fußen-den Forschungsarbeiten könnten zu medi-zinischen Anwendungen führen, die ziel-genauer und nebenwirksamer als bisherarbeiten. Weiterhin sollten sich technischeSpezifikationen definieren lassen, die künf-tig als Grundlage für die Entwicklung und

Produktion von medizinischen optotech-nischen Geräten dienen könnten.

Dem Auge kommt in diesem Zusam-menhang eine besondere Rolle zu. DasAuge ist selbst ein biologisches optischesSystem, das Lichtsignale in chemischeund anschließend elektrische Signale um-wandelt. Dieser Prozess findet in der Re-tina statt. Vorgeschaltet ist eine Kette bio-logischer Gewebe, die unmittelbar opti-sche Leistungen erbringen wie Iris (Blen-denapparat), Cornea und Linse (Anpassender Brechkraft = Akkommodation). Es isteine Herausforderung, die Funktionsprin-zipien aus der Biologie im Sinne der Bioniktechnisch nachzubilden und so zu völligneuen Lösungsansätzen für den Einsatzvon Licht gleichermaßen in der Technik wiein der Medizin zu kommen.

Das Auge ist aber für diagnostischeund therapeutische optische Verfahrenebenfalls ein besonders geeignetes Organ,da Licht durch die Cornea und die Linsebis tief in das Auge natürlicherweise ein-dringen kann. Laserbasierte Systemekommen in der Ophthalmologie daher ingroßem Umfange zum Einsatz, um z. B. Er-

krankungen der Netzhaut, des Sehnerven-kopfes oder Durchblutungsstörungen inder Netzhaut zu diagnostizieren oder zubehandeln. Durch lasergestützte Techni-ken kann die Corneaoberfläche bearbeitetwerden, um Sehfehler auszugleichen undBrillen überflüssig zu machen (refraktiveCorneachirurgie). Aber auch die Entwick-lung von akkommodativen Kunstlinsenoder von elektronischen Netzhautchips,die bei Erblindung die Sehkraft wiederher-stellen könnten, sind vielversprechendezukünftige Arbeitsfelder zwischen Augen-klinik und Ingenieurwissenschaften.

Auch außerhalb des Auges ergebensich interessante Schnittstellen zwischenmedizinischen und optisch-technischenBereichen. Das Modul „Optics in Diagnos-

tics“ beschäftigt sich z. B. mit dem Einsatzder Fluoreszenz-Spektroskopie in der Gas-troskopie mit dem Ziel, mit nichtinvasivenVerfahren eine Frühdiagnose des Magen-carcinoms zu ermöglichen.

Auf dem Gebiet der Mund-, Kiefer-und Gesichtschirurgie ist es ein Ziel, neueVerfahren im klinischen Alltag zu etablie-ren, die sowohl zu einer Erweiterung desSpektrums der Diagnostik als auch derTherapie führen. Für die Diagnostik sollennichtinvasive, nichtionisierende optischeTechniken eingesetzt werden, die bei-spielsweise eine automatisierte Analyseder Gesichtsoberfläche in Bezug auf ihreSymmetrie erlauben und Sollwerte für dieVerlagerung von Strukturen wie dem Aug-apfel generieren. Intraoperativ werden dieoptischen Techniken eingesetzt, um in ei-nem Soll-Ist-Vergleich Daten zur Verfü-gung zu stellen, die den noch bestehendenKorrekturbedarf in allen drei Dimensionenohne Informationsverlust quantifizieren.Die Überlegenheit gegenüber bisher be-kannten Techniken ergibt sich durch dieSchnelligkeit des Verfahrens und die Mög-lichkeit, ohne Strahlenexposition Bildda-ten während Operationen akquirieren zukönnen. Ergänzt wird das Vorhaben durchdie Anwendung sensorgestützter, Gewebeerkennender Lasertechnologie, die beimVorgehen im Gesichtsbereich sicherstellensoll, dass wichtige nervale Strukturen ge-schützt werden können. Die SAOT bietetein geeignetes Umfeld, um die genanntenZiele eingebettet in eine interdisziplinäreVorgehensweise mit exzellenten Wissen-schaftlern durchzusetzen.

Optik in der Kommunikations- und Informationstechnik (Optics in Communication and Information Technologies)Weitgehend unbemerkt von der Bevölke-rung haben sich optische Technologien alsdie Basis unserer modernen Informations-und Kommunikationstechnik entwickelt.Telefongespräche außerhalb des Ortsbe-reichs und besonders das Abrufen von In-formationen aus dem Internet sind imheute üblichen Umfang und in der angebo-tenen Geschwindigkeit nicht ohne opti-sche Übertragungssysteme für den regio-nalen, nationalen, internationalen undtranskontinentalen Bereich realisierbar.Optische Kommunikationsnetze mit Glas-fasern als Übertragungsmedium habensich zum Rückgrat unserer Wissensgesell-schaft entwickelt und werden sich weiteran die steigenden Anforderungen hinsicht-lich Übertragungskapazität, Komplexitätund Flexibilität anpassen und entspre-chend fortentwickeln. Dabei wird nicht nur

Augenschema Netzhautzellen

Page 39: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Exzellenzinitiative

die Weitstreckenübertragung betroffensein, sondern die Optik wird auch zuneh-mend in den Bereich der lokalen Netze undden Teilnehmeranschlussbereich vordrin-gen und dort den Anteil der Kupferleitun-gen reduzieren. Ferner wird die Bedeutungoptischer Übertragungstechnik innerhalbvon Rechnersystemen und Systemen derVermittlungstechnik oder in Kraftfahrzeu-gen weiter an Bedeutung gewinnen. Bereitsheute sind eine Reihe von Automobilen mitoptischen Bussystemen ausgestattet.

Mittlerweile sind experimentelle Sys-teme mit mehr als 10 Terabit pro Sekunde,was mehr als 100 Millionen digitalen Tele-foniekanälen entspricht, demonstriert wor-den. Ein besonderer Forschungsschwer-punkt in den kommenden Jahren wird we-niger die Erhöhung der Übertragungska-pazität, sondern mehr die Erhöhung derRobustheit der Systeme gegenüber Sig-nalverzerrungen auf der Übertragungs-strecke und die Erhöhung der Dynamik inden bereits hochkomplexen optischenÜbertagungssystemen sein.

Im Rahmen der SAOT werden unteranderem die Einflüsse der Streckenausle-

gung bei modernen, sogenannten Pha-senmodulationsverfahren untersucht wer-den. Insbesondere werden Konzepte zurSignalaufbereitung und Signalregenera-tion mit Mitteln der Komponenten- undSystemsimulation sowie in Laborexperi-menten untersucht und weiterentwickelt.Hinsichtlich der zunehmenden Dynamisie-rung optischer Netze ist die Analyse vonLeistungstransienten, wie sie von opti-schen Verstärkern hervorgerufen werdensowie deren Beherrschung ein weitererwichtiger Untersuchungsgegenstand. Zudiesen Themenbereichen kommen die Ak-tivitäten auf dem Gebiet der Kurzstrecken-übertragung, Arbeiten auf dem Gebietneuer optischer Komponenten, insbeson-dere von mikrostrukturierten Fasern undein intensives Studium der nichtklassi-schen Eigenschaften des Lichts im Be-reich der Quantenkommunikation, derQuanteninformationsverarbeitung und derQuantenkryptographie. Die Bearbeitungder Themenstellungen erfordert ein hohesMaß an Interdisziplinarität und damit eineenge Kooperation insbesondere zwischender Naturwissenschaftlichen und derTechnischen Fakultät. Nur so kann dasWissen z.B. über grundlegende physikali-sche Effekte, über Optimierungsstrategienauf der Basis von numerischen Simulatio-nen, über Wege zu einer anwendungsori-entierten, ingenieurmäßigen Umsetzungund über die Integration in ein zukünftigesKommunikationsnetz sinnvoll und effizientzusammengeführt werden.

Optische Materialien und Systeme (Optical Materials and Systems)Das bekannteste optische Material istzweifelsohne Glas. Es findet Verwendungin einer Vielzahl optischer Elemente vonmakroskopischen Linsen, mikrostruktu-rierten diffraktiven optischen Elementen

bis hin zu Glasfasern. Schon in dieser Listewird deutlich, dass die optischen Eigen-schaften nicht nur durch die Materialeigen-schaften an sich, sondern bspw. auch vonder Beschaffenheit der Oberfläche oderder Form beeinflusst werden. In den letz-ten Jahren sind zunehmend Materialien inden Vordergrund getreten, die auf der Län-genskala der Wellenlänge strukturiert sind,wie beispielsweise die photonischen Kris-talle oder noch deutlich feiner wie die so-genannten Metamaterialien.

Bei den beteiligten Instituten derSAOT sind verschiedenste Technologienzur Herstellung mikro- und nanostruktu-rierter Materialien vorhanden, u. a. Laser-und Elektronenstrahllithographie, fokus-sierter Ionenstrahl (FIB) Systeme, sowieTürme zum Ziehen mikrostrukturierterGlasfasern (sogenannte photonische Kris-tallfasern). Die damit herzustellendenStrukturen sind zum einen Modellsystemefür die Untersuchung der Licht-Materie-Wechselwirkung auf kleinen Längenska-len, zum anderen sind vielfältige Anwen-dungen in der Sensorik, Metrologie undTelekommunikation denkbar, um nur ei-nige Anwendungsfelder zu nennen.

Optische Materialien sind ein wichti-ger Baustein für optische Systeme, aberbei weitem nicht der Einzige. Ebenso wich-tig sind bspw. effiziente Lichtquellen. Hierwird insbesondere an neuen Faserlaserngearbeitet, die u. a. medizinisch interes-sante Wellenlängenbereiche einfacher er-schließen können als derzeitige Lösungen.Darüber hinaus sollen auch die spektralenEigenschaften des erzeugten Lichts mög-lichst genau zur vorgesehenen Anwen-dung passen. Die effiziente Erzeugung vonTHz-Strahlung bei Raumtemperatur ist einweiteres interessantes Themenfeld.

Noch komplexer ist die Optimierungganzer optischer Systeme. In Zusammen-

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200751

Optimierung eines Übertragungssystems mithilfe von SystemsimulationenGlasfasern sind das wichtigste Übertragungsmedium für große Reichweitenund hohe Übertragungskapazität.

Mikroskopaufnahmen, links: von einer Antenne zur Abstrahlung von THz Strahlungrechts: von einer 4x4 Matrix von pin-Dioden mit abgestimmten Antennen

Page 40: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

arbeit mit dem Arbeitsbereich „Computa-tional Optics“ sollen Systeme im Hinblickauf spezielle Anwendungen oder in Bezugauf bisher wenig beachtete Parameter op-timiert werden. Als Beispiel sei die Polari-sation des Lichts genannt, die in Systemenmit hoher numerischer Apertur eine wich-tige Rolle spielt, bisher aber nur in denAusnahmefällen explizit berücksichtigtwird.

Computer-Optik (Computational Optics)„Computational Optics“ ist ein grundle-gendes Werkzeug zur Entwicklung zu-kunftsweisender Technologien im Bereichder Optik. Als Beispiel dient hier die Ent-wicklung leistungsstarker Laser mit hoher

Strahlqualität. Solche Laser werden inzahlreichen technischen und medizini-schen Anwendungen benötigt. Hierzu ge-hören die Materialbearbeitung in der Ferti-gungstechnik, verschiedene chirurgischeAnwendungen in der Medizin sowie Halb-leiterlaser zur optischen Informationsüber-tragung in Glasfasern. Je nach Anwen-dung werden Laser mit verschiedenen Ei-genschaften zum Beispiel hinsichtlich derWellenlänge des Laserlichtes, der Leistungund der Betriebsart des Lasers benötigt.Letztere kann sowohl ein Dauerbetrieb alsauch ein Pulsbetrieb mit Pulslängen imFemtosekunden-Bereich sein. Aufgrundder sehr großen Anzahl an unterschiedli-chen Lichtquellen, existieren viele mittel-

ständische Unternehmen, die anwen-dungsspezifische Strahlquellen entwi-ckeln und zur Verfügung stellen. Zur Ent-wicklung und Optimierung dieser Strahl-quellen werden Simulationsprogramme,wie das Programm LASCAD für dioden-gepumpte Festkörperlaser, benötigt, mitdenen neue Laser weniger zeitaufwendigund kostenintensiv entwickelt werdenkönnen. Viele wichtige physikalische Ei-genschaften von Lasern können mit sol-chen Simulationsprogrammen jedoch nurunzureichend simuliert werden. Dies be-zieht sich insbesondere auf zeitabhängigenichtlineare Effekte und die 3-dimensio-nale Simulation von optischen Wellen inLaserresonatoren. Dies führt dazu, dassbei der Entwicklung von Hochleistungsla-

sern immer noch kostenintensive Experi-mente benötigt werden. Um dies zu ver-meiden, sind grundlegend neue Konzeptezur Simulation von optischen Wellen not-wendig. Vielversprechend sind hierbeiKonzepte, die neuartige Finite Elementeverwenden, welche besonders zur Simula-tion von Wellen geeignet sind, die eineHauptausbreitungsrichtung besitzen. Der-artige Wellen treten insbesondere bei La-sern auf.

Ein anderer Bereich, in dem „Compu-tational Optics“ eine große Bedeutung hat,ist die Mustererkennung, die sowohl imBereich der Analyse von Verbrennungsvor-gängen zur Lokalisierung der Reaktions-zone als auch im Bereich der medizini-

schen Bildverarbeitung wichtig ist. Auf-grund des temperaturbedingten Dichteun-terschiedes innerhalb und außerhalb derVerbrennungszone einer Flamme, kann dieFlammenfront anhand des Sprungs derAnzahldichte von Partikeln visualisiertwerden. Die Partikel werden nur zumZweck der Visualisierung des heißen ver-brannten Gases niedriger Dichte und deskalten unverbrannten Brennstoffgemischshoher Dichte zugegeben.

Ein Anwendungsgebiet der medizini-schen Bildverarbeitung ist die Analyse vonFundusaufnahmen der Retina zur Erken-nung einer Glaukomerkrankung („grünerStar“). Obwohl eine Heilung der Erkran-kung nicht möglich ist, kann deren Voran-schreiten gestoppt werden. Zur frühzeiti-

gen Erkennung wurden in den letzten Jah-ren Screening-Untersuchungen durchge-führt. Durch eine automatische Auswer-tung von Fundusbildern kann das Scree-ning auch außerhalb des Klinikumfeldes(z. B. Einkaufszentren) eingesetzt werdenund eine breitere Öffentlichkeit erreichen.

Forum Forschung Exzellenzinitiative

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200752

Schematische Darstellung eines Lichtstrahles miteinem speziellen (radialen) Polarisationsprofil

Visualisierung der Struktur einer Flammenfront

2-dimensionale Simulationen der optischen Welle in einem DFB Laser, in dem sich aufgrund eines zu breiten Verstärkungsbereiches im zeitlichen Verlauf eineMode höherer Ordnung ausbildet

Andreas BräuerTel.: 09131/85-25853andreas.braeuer@aot.uni-erlangen.dewww.aot.uni-erlangen.de

Fernfeld des Lichts, das von einer single-modephotonischen Kristallfaser emittiert wird

Page 41: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Mit steifgefrorenen Fingern einen Knotenim Schnürsenkel zu lösen ist schwierig.Das Gefühl fehlt und Nerven wie Muskelnverrichten ihren Dienst nur widerwillig.Weh tun die eiskalten Finger trotzdem –umso mehr, wenn man sie noch ein-klemmt. So unangenehm das ist: esschützt uns vor unbemerkter Erfrierung.Wie das funktioniert, hat nun eine Gruppeam Institut für Physiologie und Pathophy-siologie der Universität Erlangen-Nürn-berg zusammen mit Forschern der Anäs-thesiologischen Klinik und einer engli-schen Arbeitsgruppe herausgefunden. DieNervenendigungen, die Schmerzsignalean das Gehirn senden können, besitzeneine frostfeste Zündvorrichtung für Ner-venimpulse. Die Fachzeitschrift „Nature“berichtete darüber im Juni 2007 in ihrer Ti-telgeschichte.

Um ordentlich zu funktionieren, müs-sen Nervenendigungen und -fasern explo-sionsartige kleine elektrische Natriumio-nenströme ausbilden können, die zum Ner-venimpuls (Aktionspotential) führen. IhreSchleusen, die Natriumkanäle, öffnen undschließen aber bei Kälte immer langsamer,bis sie schließlich buchstäblich „einfrie-ren“. Sie geraten in einen Zustand der„slow inactivation“, der auf einen Kälte-block hinausläuft. Nur ein ganz speziellerTyp von Natriumkanal, der NaV1.8, erwiessich als verblüffend kälteresistent; er wirdzwar auch träger, blockiert aber nicht und

kann auch bei 10 °C in der Haut noch fort-geleitete Aktionspotentiale auslösen.

NaV1.8 war früher schon aufgefallen,weil er sich nicht durch das Gift desschmackhaften, aber für Sushi viel zu teu-ren Fugu-Fisches aus dem Pazifik blockie-ren lässt. Die meisten anderen Natriumka-näle reagieren im Gegensatz dazu höchstempfindlich auf das Tetrodotoxin (TTX) ausden Eingeweiden des Kugelfisches – mittödlichen Folgen für den Genießer. Einezweite Auffälligkeit war, dass NaV1.8 aus-

schließlich in den auf Schadensmeldungspezialisierten Nervenendigungen und -zel-len, den „Nozizeptoren“, gefunden wird.Die besitzen zwar für den Normalbetriebauch TTX-empfindliche Natriumkanäle.Für den Notbetrieb bei Kälte aber verfügensie, wie sich jetzt gezeigt hat, zusätzlichüber den NaV1.8-Kanal, sodass sie Kälte-schmerz oder anderen Schmerz aus kaltenGliedmaßen signalisieren können. Norma-lerweise hängt die Erregbarkeit dieser Ner-venfasern kaum von NaV1.8 ab; dafür ist

Forum Forschung Medizin

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200754

Nervenimpulse aus schmerzreizempfindlichen Nervenendigungen können von kälteresistenten Natrium-ionenkanälen ausgelöst werden. Zeichnung: Doris Metzner und Dr. Tanja Kichko

Warum Frieren weh tutOhne einen speziellen Ionenkanal wäre Kälte nicht schmerzhaft

Frieren kann die transgene Maus auch ohne kälteresistente Natriumkanäle: Sie kauert sich zusammen, sträubt das Fell und zieht die Vorderpfoten an. Dennochbleibt sie ruhig und schmerzfrei auf der -23 °C kalten Eisplatte sitzen. Foto: Clemens Forster

Page 42: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Medizin

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200755

seine Reizschwelle auch zu hoch. Bei Kälteaber steigt der elektrische Widerstand derZellmembranen. Die Isolation zwischen in-nen und außen wird stärker und von denwinzigen Entladungen der Nervenendi-gungen geht weniger durch Kurzschlussverloren. Auf diese Weise wird die hoheSchwelle von NaV1.8 doch erreicht und derNotbetrieb gesichert.

Ansatzpunkt für SchmerzmittelDie Ausschließlichkeit, mit der NaV1.8 nurin Nozizeptoren, die Schmerz melden kön-nen, auftritt, hat den Natriumkanal zu ei-nem erstklassigen „target“, einem Ansatz-punkt der Pharmaindustrie gemacht. Siedurfte hoffen, durch seine medikamentöseBlockade Schmerzen ohne Nebenwirkung– sozusagen straflos – auszuschalten.Umso größer war die Enttäuschung, als eseiner Arbeitsgruppe um Prof. John Woodvom University College London vor achtJahren zwar gelang, NaV1.8 bei Mäusengentechnisch auszuschalten, doch denTieren mangelte es bei den verschiedens-ten Schmerzreizen trotzdem kaum anEmpfindlichkeit. Nur schmerzhafte Kältehatte bei den Tests gefehlt, was jetzt nach-geholt wurde. Die Versuche zeigten, dassdie Mäuse in freier Wildbahn höchst ge-fährdet wären: sie frieren zwar, spüren aberoffenbar keinen Kälteschmerz. In allerneu-ester Zeit haben die amerikanischen Fir-men Abbott und Icagen ein möglicheskünftiges Schmerzmittel vorgestellt, dasbevorzugt NaV1.8 blockiert. Es wirkt (tier-experimentell) besonders gut gegen „Käl-teallodynie“, eine schmerzhafte Kälteüber-empfindlichkeit, die bei peripheren Ner-venleiden auftritt. Die Erlanger Forschungerklärt diese Wirksamkeit.

Bei den Forschungsarbeiten be-währte sich die Zusammenarbeit der Ar-beitsgruppe von Prof. Dr. Peter Reeh amInstitut für Physiologie und Pathophysiolo-gie mit den Anästhesiologen Dr. AndreasLeffler und Prof. Carla Nau , die im Sonder-forschungsbereich 353 „Pathobiologie derSchmerzentstehung und Schmerzbehand-lung“ begonnen wurde. Die Forschungenin der experimentellen Anästhesiologie amErlanger Universitätsklinikum werden jetztim DFG-Schwerpunkt KFO130 gefördert.An der Nature-Publikation war auch dasTeam von Prof. John Wood maßgeblichbeteiligt.

Prof. Dr. Peter W. ReehTel.: 09131/[email protected]

Nach einer Knochenmark- oder Stamm-zelltransplantation ist das Immunsystemder Patienten für viele Monate bis Jahre in-fektiösen Viren noch nicht gewachsen.Eine gefürchtete Komplikation sind vomhumanen Cytomegalovirus (HCMV), einemHerpesvirus, ausgelöste Erkrankungen,die lebensbedrohlich werden können. DieChemotherapie des Erregers ist problema-tisch, denn die verwendeten Substanzenhaben erhebliche Nebenwirkungen. Prof.Dr. Michael Mach vom Lehrstuhl für Klini-sche Virologie der Universität Erlangen-Nürnberg und Mediziner der Universitäts-klinik Würzburg prüfen, ob Gedächtnis B-Zellen einen Schutz gegen HCMV-Infektio-nen bei Transplantationspatienten bieten.Die Wilhelm Sander-Stiftung fördert dasgemeinsame Forschungsprojekt mit über210.000 Euro.

Herpesviren sind weltweit verbreitet.Von den verschiedenen Vertretern diesesErregertyps sind 40 bis nahezu 100 Pro-zent der Bevölkerung befallen. In der Regelwird die Erstinfektion nicht bemerkt oderdiagnostiziert, weil keine klinischen Symp-tome auftreten. Bei symptomatischen In-fektionen rufen die Viren so unterschiedli-che Erkrankungen hervor wie Windpocken(Varizella-Zoster-Virus), Herpes labialis(Herpes-simplex-Virus) oder PfeifferschesDrüsenfieber (Epstein-Barr-Virus). Die pri-märe Infektion mit HCMV in einem gesun-den Menschen geht in seltenen Fällen mitSymptomen einher, die einer Grippe äh-neln.

Alle Herpesviren verbleiben nach derPrimärinfektion lebenslang im Körper.Während dieser sogenannten Persistenzwerden weder nennenswerte Mengen aninfektiösen Viren gebildet, noch tretenKrankheitssymptome auf, da das Immun-system die Erreger unter Kontrolle hält. Vorallem zwei Mechanismen tragen dazu bei:Zytotoxische T-Zellen („Killer-Zellen“), dievon Viren infizierte Körperzellen eliminie-ren, und Antikörper, die in der Lage sind,die Infektiosität von freien Viren zu neutrali-sieren.

Wenn das gesamte Immunsystemoder einzelne Komponenten der Immun-antwort versagen, können sich die Virenerneut unkontrolliert vermehren und eine

Erkrankung auslösen. Paradebeispiel istder immer wiederkehrende Lippenherpes.In der frühen Phase nach einer Knochen-mark- oder Stammzelltransplantation sinddeshalb nicht nur äußere neue Infektions-quellen eine Gefahr für die Patienten. Dasie noch kein voll funktionsfähiges Immun-system besitzen, ist es persistierendenHerpesviren möglich, sich ungehemmt zuvermehren.

In dem Forschungsvorhaben wird un-tersucht, ob die Übertragung von so ge-nannten Gedächtnis B-Zellen vom Spen-der des Transplantats auf den Empfängerdazu beitragen kann, die Vermehrung vonHCMV zu hemmen. Bei den gängigenTransplantationsverfahren werden dieseZellen nicht mit übertragen. Gedächtnis B-Zellen sind eine zentrale Komponente desImmunsystems. Sie werden nach jedemKontakt mit Infektionserregern gebildetund überleben für Jahrzehnte im Körper.Bei einem wiederholten Kontakt mit demgleichen Erreger werden sie aktiviert undproduzieren entsprechende Antikörper.Falls sich die Zellen als wirksam bei einerHCMV-Infektion erweisen, könnten auchandere Erreger wie Pilze oder Bakterienmit dem Verfahren bekämpft werden.

Hilfe vom Gedächtnis des ImmunsystemsNeue Therapieansätze gegen Infektionen bei

Transplantationspatienten

Prof. Dr. Michael MachTel.: 09131/[email protected]

Page 43: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Pädagogik

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200756

Um die Grundlagenforschung zur theatra-len Bildung zu intensivieren, hat sich amLehrstuhl Pädagogik II der Universität Er-langen-Nürnberg eine Projektgruppe ge-bildet, die beim Schultheater ablaufendeBildungsprozesse exemplarisch untersu-chen will (Projektleitung: Prof. Dr. EckartLiebau, Prof. Dr. Jörg Zirfas, Leopold Kle-packi M.A.; Mitarbeiterinnen: Tanja BauerM.A., Katharina Marquard M.A.). Die aufzwei Jahre angelegte Studie wird von derHeidehof-Stiftung in Stuttgart mit 160.000Euro gefördert und vom BayerischenStaatsministerium für Unterricht und Kul-tus unterstützt.

Forschung und Lehre zum Schulthea-ter gehört seit vielen Jahren zu denSchwerpunkten am Lehrstuhl von Prof. Dr.Eckart Liebau. Hier ist bereits 2001 ge-meinsam mit dem Institut für Theater- undMedienwissenschaften von Prof. Dr. HenriSchoenmakers der für Lehramtsstudentenund Lehrer aller Schularten zum Staats-examen führende, sehr erfolgreiche Erwei-terungsstudiengang „Darstellendes Spielin der Schule“ eingerichtet worden, dergroßes nationales Renommee genießt. Deraus diesen Zusammenhängen 2005 hervor-gegangene Band „Grundrisse des Schul-theaters“ bildet inzwischen die zentraleReferenz-Publikation für Wissenschaftund Praxis in diesem Feld.

Die jetzt gestartete Studie wird anzwei Gymnasien in Erlangen und Nürnbergdurchgeführt. Mithilfe qualitativer For-

schungsmethoden sollen an beiden Schu-len theatrale Bildungsprozesse anhandvon je zwei Aufführungen des GrundkursesDramatisches Gestalten untersucht wer-den. Neben der Dokumentation der Pre-miere bzw. Aufführungen sollen hierbei be-sonders die Probenprozesse und die mitihnen verbundenen Lehr- und Lernpro-zesse im Mittelpunkt der Betrachtung ste-hen. Dabei geht es nicht um eine Bewer-tung oder den Vergleich von Schülerleis-tungen, sondern vielmehr um die grundle-gende Beschreibung und Analyse der in-nerhalb der Theaterarbeit ablaufenden Bil-dungsprozesse.

Konkret bedeutet dies, dass Mitglie-der der Projektgruppe die Grundkursewährend der Schuljahre 2006/07 und2007/08 beobachtend begleiten, mittelsVideo-, Ton- und Fotoaufnahmen doku-mentieren und die gesammelten Datenanalysieren. Darüber hinaus werden dieTheaterschüler Probentagebücher führenund an Gruppendiskussionen teilnehmen.Die Ergebnisse der Studie sollen in Formvon zwei Dissertationen und Forschungs-berichten publiziert werden und dieGrundlage für weiterführende didaktischeStudien und Entwicklungen darstellen.

Das Schultheater bildet ein besonderswichtiges Feld jugendlicher Bildung. Esstellt zugleich einen bedeutenden Be-standteil der Schulkultur und einer an Öf-fentlichkeit orientierten Schularbeit dar. ImDarstellenden Spiel sind Theorie und Pra-

xis besonders gut miteinander verbundenund es bieten sich darüber hinaus vielfäl-tige Möglichkeiten an, diverse Unterrichts-fächer (Kunst, Musik, Geschichte, Sport,Deutsch, Fremdsprachen etc.) miteinan-der zu verknüpfen. An den Schulen findetsich eine vielfältige Praxis; dem Schulthea-ter werden besonders günstige Bildungs-und Sozialisationswirkungen zugeschrie-ben. Schultheater wird in Arbeitsgemein-schaften und/oder als Fachunterricht (z. B.im bayerischen Gymnasium als Grundkurs„Dramatisches Gestalten“) angeboten. Seitlangem gibt es Bemühungen, das Theaterals drittes künstlerisches Fach an derSchule zu etablieren. Jedoch fehlt es anpädagogischer und didaktischer Grundla-genforschung.

Schultheater als ForschungsprojektNeue Studie über Lernprozesse beim Darstellenden Spiel

Welches Bild vom Christentum wird Schü-lerinnen und Schülern in islamischen Län-dern vermittelt? Dieser Frage ist Prof. Dr.Johannes Lähnemann, Inhaber des Lehr-stuhls für Religionspädagogik und Didak-tik des evangelischen Religionsunterrichtsnachgegangen. Zusammen mit Prof. Dr.Klaus Hock von der Universität Rostocksowie Patrick Bartsch und PD Dr. WolframReiss analysierte der ReligionspädagogeSchulbücher aus islamisch geprägten Län-dern, unter anderem aus der Türkei, Iran,Ägypten, Palästina, Syrien, Libanon, Jor-

danien, Algerien. Das Fazit der Wissen-schaftler: Religiöse Toleranz spielt in denLehrbüchern eine wichtige Rolle, diechristliche Religion eine eher untergeord-nete. Gefördert wurde das Projekt von derDeutschen Forschungsgemeinschaft.

Es gibt viele Gemeinsamkeiten in derBetrachtung des Christentums in den ver-schiedenen islamisch geprägten Ländern,sagen die Forscher: Das Christentum wird– gemäß dem Koran – als Buchreligion be-trachtet und damit prinzipiell als aner-kannte Religion. Das Gesamtbild des

Christentums ist deshalb nirgendwo abso-lut negativ. Andererseits gilt das Christen-tum als unvollkommene Vorläuferreligiondes Islam – mit dem Problem von Verfäl-schungen in seinen heiligen Schriften undmit Lehren, die mit dem Glauben an den ei-nen Gott scheinbar nicht in Einklang zubringen sind, zum Beispiel der Gottes-sohnschaft Jesu. Weiterhin spielen Belas-tungen durch die Geschichte eine Rolle,vor allem die Kreuzzüge und der Kolonia-lismus. Insgesamt gehen die Lehrbüchernur punktuell auf die christliche Religion

Prof. Dr. Eckart LiebauTel.: 09131/[email protected]

Islamische Schüler lernen ToleranzProjekt untersucht Bild des Christentums in islamischen Schulbüchern

Page 44: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Pädagogik / Theologie

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200758

Die kirchliche Klage über die journalisti-sche Wahrnehmung ihrer Institution undihres Glaubens ist Legion. Von „Skandal-berichterstattung“ ist häufig die Rede. DenMedien wird eine antikirchliche Einstellungvorgeworfen. Der Theologe Daniel Meiervon der Abteilung Christliche Publizistikder Universität Erlangen-Nürnberg hat essich in seiner Dissertation zur Aufgabe ge-macht, diese Vorbehalte wissenschaftlichzu überprüfen. Er analysierte dafür lang-fristig mehrere deutsche Zeitungen ausOst und West. Ergebnis: Das mediale Kir-chenbild ist vorteilhafter, interessanter undvielfältiger als oftmals vermutet. Die Nach-richtenwerte „Schaden“ und „Konflikt“sind erheblich schwächer ausgeprägt, alsdies in der Berichterstattung über Politikder Fall ist.

Keinesfalls berichten Journalisten nurüber Kardinalsernennungen oder Kirchen-tage als mediale Großereignisse. Auch dasalltägliche Gemeindeleben hat eine Chan-

Besser als vermutetErlanger Wissenschaftler untersuchen das Kirchenbild in den Medien

Prof. Dr. Johannes LähnemannTel.: 0911/[email protected]

ein – ganz überwiegend dargeboten in derForm vermeintlich objektiver Fakten, sodas Fazit der Forscher. Erkenntnisse einerneueren Weltreligionen-Didaktik haben –außer in ersten Ansätzen in der Türkei –noch keinen Eingang in die Schulbüchergefunden.

Große Unterschiede von Land zu Land In der Türkei hat die Tradition der Trennungvon Kirche und Staat einen starken Ein-fluss auf den Unterricht: Das Fach „Religi-ons- und Sittenkunde“ versteht sich als ob-jektiv informierend, wobei eine islamisch-positionelle Konzeption faktisch dominiert.Es gilt aber ein Unterrichtsprogramm, indem auf objektive Information über die Re-ligionen und Erziehung zur Toleranz großerWert gelegt wird.

Im Iran als islamischer Republik spieltReligion in der schulischen Erziehung einezentrale Rolle. Dabei wird in Schulen derMinderheiten auch Religionsunterricht inderen Tradition erteilt. Insgesamt aber istder Islam in den Schulbüchern, auch denGeschichtsbüchern, das Maß aller Dinge –die Überlegenheitsreligion schlechthin.

In Ägypten wird politisch offiziell einmaßvoll islamisch-konservativer Kurs ver-folgt. Die christlichen Kirchen gelten alsanerkannte Religionsgemeinschaften undstützen den nationalen Kurs der Regie-

rung. Es gibt aber kaum eine wechselsei-tige inhaltliche Wahrnehmung – weder inden muslimischen noch in den christlichenReligionsbüchern. Im Geschichtsbild wirdeinseitig die Linie direkt von den Kreuzzü-gen zum Kolonialismus gezogen.

In Palästina waren lange Zeit ägypti-sche (im Gazastreifen) und jordanischeSchulbücher (auf der Westbank) in Ge-brauch. Im Zuge des Friedensprozesseszur Lösung des Nahostkonflikts hat esernsthafte Bemühungen um neue wechsel-seitige Wahrnehmung der muslimischen,christlichen und jüdischen Religionsge-meinschaften gegeben. Gegenwärtig sinddiese aber stark zurückgefahren, trotz derdesolaten politischen Lage aber nicht voll-kommen auf Eis gelegt. „Das Besondereunseres Projekts ist, dass wir die Schulbü-cher nicht nur analysiert haben. Wir hattenauch Gelegenheit, konstruktive Gesprä-che in den Partnerländern zu führen – in Te-heran und Kairo ebenso wie schon in Istan-bul“, berichtet Prof. Lähnemann.

Vorausgegangen war der Untersu-chung von Prof. Lähnemann ein KölnerForschungsprojekt zur Darstellung desChristentums in deutschen Schulbüchernaus den 1970er- und 80er-Jahren, in demWissenschaftler analysierten, wie der Is-lam in deutschen Schulbüchern dargestelltwird. Die Ergebnisse führten zur Revisio-

nen deutscher Schulbücher, und die Un-tersuchung wurde ab 1988 auf zahlreicheandere europäische Länder ausgeweitet.

Page 45: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Theologie

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200759

ce in die Zeitung zu kommen, wenn es demLeser etwas zu sagen hat. So findet sicheine große Reportage über ein christlichesSterbe-Hospiz neben dem Porträt hollän-discher Eltern, die sich als Christen fragen,ob sie ihr behindertes Kind abtreiben dür-fen oder nicht. Dabei treten die Gläubigenin der Tagespresse weniger hierarchischauf, als dies in der evangelischen Presse-arbeit mit einer klaren Dominanz des Bi-schofs der Fall ist.

„Je religiöser formuliert, desto irrele-vanter für die Medien“ – auch dies ist einVorbehalt, den die Studie widerlegt: Gera-de bei Ereignissen, die sich jeder mensch-lichen Vernunft entziehen, bedient sich diejournalistische Sprache häufig religiösenVokabulars. Vor allem die Boulevardpresseartikuliert vergleichsweise unbefangen re-ligiöse Dimensionen. So druckt etwa dieBild-Zeitung am Tage nach der Trauerfeierfür ein ermordetes Mädchen aus dembrandenburgischen Eberswalde die ge-samte Traueransprache von Bischof Wolf-gang Huber unter der Überschrift „Gott –wo bist Du gewesen?“. An anderer Stellewünscht sich Kolumnist Franz-Josef Wag-ner für den an Krebs erkrankten BVB-Stür-mer Heiko Herrlich, „dass er bei Gott alle

Kraft findet, um diese Situation durchzu-stehen“. Auch die anderen Zeitungen pfle-gen eine Art Nutzwert-Journalismus, derAntworten auf die Frage gibt: „Wie bewälti-gen Menschen mit Hilfe von Gott und Kir-che ihr Lebensschicksal?“

Medien praktizieren ÖkumeneNicht zuletzt weist die Studie das speziellevangelische Gefühl der Vernachlässigungdurch die Medien zurück: Zwar ist der Ka-tholizismus im Politik-Ressort stärker prä-sent. Im Feuilleton und im Lokalen bestehthingegen eine annähernde Ausgewogen-heit. Profitiert die katholische Kirche imFernsehen deutlich vom Nachrichtenfak-tor Visualisierung, passt die Fixierung derevangelischen Kirche auf das Wort offen-bar besser zum Genre Tageszeitung. Frei-lich besitzen die binnenkirchlichen Diffe-renzierungen für den Journalisten längstnicht die Bedeutung wie für die Kircheselbst. Wer mag, kann darin ein journalisti-sches Desinteresse erkennen, positivkönnte jedoch auch eine journalistischpraktizierte Ökumene bescheinigt werden,meint Dr. Daniel Meier.

Angesichts der überraschenden Er-gebnisse mag man sich verwundert fra-

gen, woher eigentlich die pauschale Ab-wehr mancher Kirchenvertreter den Me-dien gegenüber rührt. Neben schlechtenErfahrungen im Einzelfall, die bisweilen zu Verschwörungstheorien verallgemeinertwerden, könnte der Grund nicht zuletzt ineiner grundlegenden Konkurrenz zwi-schen Pfarrern und Journalisten liegen,lautet die These des Autors. Beide Berufedeuten das Weltgeschehen auf ihre Art undWeise, auf der Kanzel oder in der Redak-tion, in der Predigt oder in der Reportage.Dagegen könnte die journalistische Wahr-nehmung manches kirchliche Selbstbildhilfreich korrigieren. Nicht zuletzt dieneeine kritische Presse auch der Kirche letzt-lich mehr als jede Hofberichterstattung.

Daniel Meier: Kirche in der Tagespresse. Empiri-sche Analyse der journalistischen Wahrnehmungvon Kirche anhand ausgewählter Zeitungen. Erlan-gen, Verlag Christliche Publizistik, 2006.

Dr. Daniel MeierTel.: 09131/[email protected]

Postbank AG

Page 46: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Wie kann man Kindern die Freude am Le-sen vermitteln? Durch Buchnutzung! Diesist die Basisthese eines Projektes, das ge-genwärtig Stefan Salamonsberger undNormann Stricker, Studenten der ErlangerBuchwissenschaft, unter wissenschaftli-cher Leitung von Dr. Volker Titel konzipie-ren und koordinieren. „Unser Ziel ist es“, soDr. Volker Titel, „Initiativbausteine zu entwi-ckeln, mit deren Hilfe Kinder im Kindergar-ten- und Grundschulalter ein verstärktesInteresse am Medium Buch aufbauen kön-nen.“ Gefördert wird das Projekt in Höhevon 25.000 Euro durch die PwC-Stiftung,den Rotary-Club Erlangen, den VerlagNürnberger Presse sowie das Jugendamtder Stadt Erlangen und die Universität.

Die Kernidee des Projektes besteht darin,nicht das unmittelbare Lesen oder Vorle-sen in den Mittelpunkt zu stellen, sonderndas Buch selbst: seine Herstellung, seineGeschichte, seinen Gebrauch im Alltag.Wenn sich Kinder spielerisch über einenlängeren Zeitraum hinweg immer wiederund in vielfältiger Weise mit Büchern be-schäftigen, dann wächst der Spaß an die-sem Medium. Warum sind mir Bücherwichtig? Woraus werden Bücher gemacht?Wie kommen die Buchstaben und die Bil-der hinein? Wer denkt sich die Geschich-ten aus? Wie kann ein Computer beim Bü-chermachen helfen? Wie kommen die Bü-cher in die Buchhandlung? Gibt es meinBuch auch in anderen Sprachen? Es lässt

sich ein ganzer Strauß an Themen und Fra-gen finden, denen man mit kindgerechtenAktivitäten nachgehen kann.

„Das Engagement eines universitärenFaches Buchwissenschaft mag bei einersolchen Fragestellung nicht unbedingt aufder Hand liegen; wir glauben jedoch, dassdie Kernthemen unserer wissenschaftli-chen Tätigkeit – Buchherstellung, Buch-markt und Rezeption – Schlüssel für dieBemühungen um eine verbesserte Lese-förderung bieten können“, begründen Ste-fan Salamonsberger und Normann Stri-cker ihr Projekt, das sie im Internet unterwww.abenteuerbuch.com detailliert vor-stellen.

Buchwissenschaften im KindergartenGestartet ist das Projekt in Zusammenar-beit mit dem Nürnberger Kindergarten St.Martin, den Erlanger Kindergärten Stadt-insel und Äußere Brucker Straße und derKindertagesstätte KiTAli in Lindelburg. InKooperationen mit weiteren Kindergärtensoll während der zweijährigen Projekt-phase ein Aktivitätenkalender erarbeitetwerden, der als Handreichung für Erziehe-rinnen und Erzieher Hintergrundinforma-tionen und vor allem konkrete Hinweise fürdie Umsetzung eines „Abenteuer-Buch-Jahres“ enthält. Darauf abgestimmt wer-den ein Bastelheft und ein Vorlese-Sach-buch zu den Buchthemen konzipiert. Diewissenschaftliche Begleitung erfolgt ne-ben der ausführlichen Erfahrungs-Doku-mentation u. a. durch ein Kolloquium, beidem Wissenschaftler, Erzieherinnen, Leh-rer und Eltern über die Buchnutzung alsTeil der Medienkompetenz bei Kinderndiskutieren werden. Im Sommersemester2007 gab es am Fach Buchwissenschaftein Projektseminar über Konzepte und Ini-tiativen zur Leseförderung.

Die längerfristige Perspektive des Pro-jektes sieht die Einbeziehung der Grund-schule vor, denn, so die Vision: Gerade inder Übergangsphase Kindergarten/Grund-schule sollte das „Abenteuer Buch“ künftigeinen festeren Platz im Bewusstsein derKinder erlangen.

Forum Forschung Buchwissenschaft

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200760

Dr. Volker TitelTel.: 09131/85-21164volker.titel@buchwiss.uni-erlangen.dewww.abenteuerbuch.com

Abenteuer BuchNeues Konzept für mehr Spaß am Lesen

Page 47: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Diamanten haben Howard Hawks in seinerVerfilmung des Broadwaymusicals „Gen-tlemen prefer Blondes“ zu einem der be-zauberndsten Momente der Filmgeschich-te inspiriert. Diamanten sind aber nicht nurdie besten Freunde einer Frau, sie weckenauch die Leidenschaft der Forscher unddie Begehrlichkeiten der Industrie. Am Ins-titut für Kondensierte Materie beschäftigensich die Forscher seit über zwölf Jahrenvor allem mit den elektronischen Eigen-schaften der Diamantoberfläche.

Der Aufstieg der MaterialwissenschaftenDie Erfolgsgeschichte des Siliziumhalblei-ters hat die Materialwissenschaften als Bin-deglied zwischen Grundlagenforschungund technischer Anwendung in den Blick-punkt des öffentlichen Interesses gerückt.Am Lehrstuhl für Technische Physik vonProf. Dr. Lothar Ley arbeiten drei Professo-ren und ein Dutzend wissenschaftliche Mit-arbeiter an Synthese, Präparation und Cha-rakterisierung neuer Halbleitermaterialien,dazu gehört auch Diamant. In dieser kris-tallinen Form besitzt das alltägliche Ele-

ment Kohlenstoff dieselbe Struktur wiedas Silizium.

Bei ähnlich intensiver Entwicklung undOptimierung könnte Diamant eine Karrierewie dem Silizium bevorstehen, seine ein-zigartigen physikalischen Eigenschaftenprädestinieren Diamant zum herausragen-den Werkstoff der Zukunft. In reiner Formist der Edelstein ein ausgezeichneter Isola-tor, der allerdings durch gezielte Verunrei-nigung mit Bor- oder Phosphoratomen zumHalbleiter wird. Diamant stellt das härtesteund chemisch beständigste Material dar,das der Mensch kennt, besitzt unerreichteWärmeleitfähigkeit, dazu eine breitban-dige optische Transparenz vom Ultravio-letten bis ins ferne Infrarot.

Am Lehrstuhl für Technische Physikvon Prof. Dr. Lothar Ley widmet sich eineArbeitsgruppe um Prof. Dr. Jürgen Risteinvor allem der Funktion von Diamant alsDünnschicht-Halbleiter. Mit der Erklärungder spontanen Oberflächenleitfähigkeitund der Transferdotierung durch Oberflä-chenadsorbate sind die Erlanger Forscherbekannt geworden. Sie haben die For-

schungsergebnisse, die besonders ein-fache und höchst empfindliche Feldeffekt-Bauelemente für die Elektronik ermögli-chen, in Fachmagazinen wie Physical Re-view Letters und Nature publiziert. Zuletzthat Prof. Ristein die Perspektiven der Er-langer Forschung in der Zeitschrift Sci-ence erläutert.

Diamant – künstlich hergestelltBegonnen hat der Siegeszug des Edel-steins als technischer Werkstoff bei Gene-ral Electric: In den USA wurden Ende der50er-Jahre die Bedingungen, bei denenDiamant unter Temperaturen bis zu 2000Grad und enormem Druck innerhalb tau-sender Jahre im Erdinneren entsteht, imLabor nachgestellt. Mit dieser extrem auf-wendigen Synthese in der Hochdruckpres-se konnten erstmals Diamanten in industri-ellem Maßstab hergestellt werden, aller-dings nur als relativ kleine und stark verun-reinigte Kristalle, die zwar als Schleifmittel,jedoch nicht für eine Anwendung als High-tech-Material geeignet waren. Erst dieGasphasenabscheidung (CVD – Chemical

Forum Forschung Ingenieurwissenschaften

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200762

Diamant: Halbleiter der SuperlativeErlanger Wissenschaftler erforschen neue Facette des Schmucksteins

Die Abbildung zeigt einen von mehreren Reaktoren des Institutes, in dem Diamant als Dünnschichtmaterial hergestellt wird. Beim Beschichtungsprozess werdenGasmoleküle z. B. durch einen Glühdraht (Ausschnittvergrößerung rechts) aktiviert und können sich dann als dünne Festkörperschicht auf einem geeigneten Substrat niederschlagen.

Page 48: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Ingenieurwissenschaften

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200763

Vapor Deposition), die russische Forscherbereits Anfang der 60er-Jahre entdeckthatten und die von einer japanischenGruppe zu Beginn der 80er-Jahre wiederaufgegriffen wurde, ergab völlig neue Mög-lichkeiten. Am Lehrstuhl für TechnischePhysik in Erlangen werden seit Beginn der90er-Jahre unterschiedlichste physikali-schen Methoden in interdisziplinärerer Zu-sammenarbeit angewendet, um die Ana-lyse und Charakterisierung elektronischerEigenschaften neuer Halbleitermaterialienvoranzutreiben. Im Blickpunkt der For-scher stehen beispielsweise amorphes Si-lizium, Diamant und Siliziumkarbid, Sili-zium-Nanopartikel und Kohlenstoff-Nano-röhren.

Diamant als DünnschichthalbleiterBei der Gasphasenabscheidung von Dia-mant wird durch Mikrowelleneinstrahlungoder Kontakt mit einem Glühdraht ein Gas-gemisch vorwiegend aus Wasserstoff undwenigen Prozenten Methan aktiviert. DerKohlenstoff schlägt sich als dünne Dia-mantschicht auf einem Substrat mit geeig-neter Temperatur, meist einer Siliziumun-terlage, nieder. Anders als Silizium ist die-ses Material auch bei hoher Temperaturund Leistung noch als Halbleiter einsetz-bar. Der Wasserstoff wirkt bei der Gaspha-sensynthese rein katalytisch, d. h., er wird

nicht in die Diamantkristalle eingebaut. Al-lerdings sorgt er dafür, dass die Oberflä-chenatome der Diamantschichten mit Was-serstoffbindungen abgesättigt werden. Sokönnen dem Diamanten über seine Ober-fläche besonders leicht Elektronen entzo-gen werden, die Schichten gewinnen auf-grund zurückbleibender Löcher automa-tisch eine elektrische Leitfähigkeit. Die zu-grunde liegenden Phänomene, deren Er-klärung lange umstritten blieb, wurden invielen Experimenten mit großer Sorgfaltvom Team um Prof. Ristein aufgeklärt.

Ein weiteres Schlüsselexperiment hin-sichtlich der zweidimensionalen Oberflä-chenleitfähigkeit ist der Erlanger Arbeits-gruppe erst kürzlich geglückt und kann inForm von Feldeffekt-Transistoren ausge-nutzt werden: In einem Vakuum werdenFullerenmoleküle aufgebracht, die die sel-ben elektronischen Effekte induzieren, wiesie bisher unter Atmosphärenbedingungerzeugt wurden. An der Verbesserung derStabilität dieser vielversprechenden Kom-bination wird derzeit mit Hochdruck gear-beitet.

In den vergangenen 15 Jahren hat derFortschritt in der CVD-Technik den Wachs-tumsprozess von künstlichen Diamantenvorangetrieben. Auf vielen Substratmate-rialien können inzwischen Schichten ausparallel angeordneten Kristalliten mit einer

Dicke von bis zu mehreren Mikrometernabgeschieden werden. Sind Diamantkris-talle als Keime aktiv, führt die sogenannteHomoepitaxie sogar zu millimetergroßenKristallen mit einer Qualität, die die bestennatürlichen Diamanten übersteigt. Die Er-langer Wissenschaftler untersuchen auchdie Kombination von Diamant mit anderenMaterialien, die zukünftige Alternativen inHalbleitertechnik oder Elektronik, als Tran-sistor oder Diode ermöglichen.

Auf dem Weg zum Diamant-ChipIn der modernen Chipindustrie findet dienachträgliche Verunreinigung, die soge-nannte Dotierung, von Silizium unter ande-rem durch Ionenbeschuss mit Borelemen-ten statt. Bei Diamant sorgt ein Bor-Atommit seinen drei Valenzelektronen im vier-wertigen Kohlenstoff für eine Fehlstelle(Loch), die als beweglicher Ladungsträgermit positiver Ladung wirkt (p-Dotierung).Für weitere Anwendungen im Halbleiterbe-reich besteht der nächste Schritt in einerHeterostruktur auf Diamantbasis, also ei-nem Bauelement mit einem Wechselspielzwischen Elektronen (n-Dotierung) und Lö-chern (p-Dotierung). Am Lehrstuhl fürTechnische Physik wird dazu ein Prozessentwickelt, mit dem n-dotiertes Zinkoxidauf einer Schicht Bor-dotiertem, p-leiten-dem Diamant aufgebracht wird. In der Op-

Die Abbildung zeigt schematisch einen chemischen Sensor, dessen Funktion auf der in Erlangen aufgeklärten Oberflächenleitfähigkeit von wasserstoffterminiertem Diamant beruht. Solche Sensoren sind in japanischen Laboratorien bereits als Prototypen realisiert worden.

Page 49: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Ingenieurwissenschaften

Moderne Wasserstoff- und Gasmotoren ar-beiten zwar schon vergleichsweise umwelt-freundlich, doch können Schadstoffaus-stoß und Kraftstoffverbrauch noch besserreguliert werden. Der Lehrstuhl für Techni-sche Thermodynamik der Universität Erlan-gen-Nürnberg beteiligt sich unter der Lei-tung von Prof. Dr. Alfred Leipertz und Prof.Dr. Michael Wensing an einem Forschungs-

projekt zur Weiterentwicklung solcherMotoren, das von der Erlanger Firma ESY-TEC Energie- und Systemtechnik GmbHgeleitet und in Kooperation mit der BMWGroup durchgeführt wird. Das auf dreiJahre angelegte Forschungsvorhaben„Gemischbildung/Verbrennung Wasser-stoffmotor“ hat einen Umfang von rund1,3 Millionen Euro und wird von der Baye-rischen Forschungsstiftung mit 600.000Euro unterstützt.

Spezielle Lasermesstechniken erforderlichDas kürzlich gestartete Forschungspro-jekt soll einen direkten Beitrag zur weite-ren Umweltentlastung beim Betrieb mo-derner Wasserstoff- und Gasmotoren leis-ten. Um die Schadstoffemissionen, vor al-lem die Stickoxidwerte, verringern undden Kraftstoffverbrauch noch weiter sen-ken zu können, ist es unverzichtbar, dieProzesse im Motor zuvor möglichst de-tailliert nachzuvollziehen. Bei Benzin- undDieselmotoren werden heute fortgeschrit-tene Lasermesstechniken angewendet,um exakte Daten über die Bildung desKraftstoff-Luft-Gemisches und dessenVerbrennung zu sammeln. Der Lehrstuhl

für Technische Thermodynamik hat dieseTechniken seit Jahren, oftmals mit direkterUnterstützung der Firma ESYTEC, erfolg-reich eingesetzt und weiterentwickelt.Diese Vorgehensweise soll nun auf Was-serstoffmotoren übertragen werden. Dafürwerden spezielle Lasermesstechniken ent-wickelt.

Die Ergebnisse können auch alsGrundlage für die Abstimmung von Simu-lationsrechnungen mit dem realen Motorgenutzt werden. Die Hersteller von Was-serstoffmotoren können damit künftig Ver-suche effektiver planen und Simulationengenauer anpassen. Das verkürzt die Ent-wicklungszeit, sodass neue emissionsär-mere Motoren schneller auf dem Markt zuerwarten sind.

Prof. Dr. Alfred LeipertzTel.: 09131/85-29900 [email protected]

EntwicklungsfähigeWasserstoffmotorenSchadstoffe und Kraftstoffverbrauch sollen verringert werden

Untersuchung der Gemischbildung im Brennraumeines Wasserstoffmotors. Abb.: ESYTEC

toelektronik eignen sich derartige Halblei-terstrukturen mit großer Bandlücke auchbei hohen Temperaturen als Leuchtdiodenim UV-Bereich, also zur Erzeugung kurz-welligen Lichts. Prof. Risteins Arbeits-gruppe experimentiert inzwischen auchmit völlig anderen Grenzflächen: zum Bei-spiel zwischen Diamantoberflächen undflüssigen Medien wie Elektrolyten. Ziel ist,die elektronische Sensitivität der Diamant-oberfläche für den Bau chemischer Senso-ren zu nutzen.

Diamant in all seinen FacettenMit der Herstellung von Diamant in derGasphase, die bis jetzt noch einen margi-nalen Anteil am Industriebedarf deckt,steigt der Bedarf an nichtverunreinigtemDiamant. Aufgrund der Kombination seineroptischen, mechanischen, thermischen undelektronischen Eigenschaften findet er zu-nehmend Einsatz in Forschung, Entwick-

lung und Produktion. HerausragendeHärte und Verschleißfestigkeit machen Di-amant zum begehrten Material für Bohr-,Schleif- und Schneidewerkzeuge, für chi-rurgische Messer oder verschleißfeste Be-schichtung. Seine unerreichte Wärmeleit-fähigkeit wird bereits bei der Kühlung inHochleistungsbauelementen oder inte-grierten Schaltungen genutzt. Dazu diehohe Isolationsfähigkeit, die chemischeBeständigkeit und Hitzefestigkeit: SeineEigenschaften prädestinieren ihn zur Ba-sis von Mikrochips für extreme Bedingun-gen und ermöglichen andere elektroni-sche Anwendungen wie Leuchtdioden,Temperatur- und Drucksensoren oderPhotokathoden. Durch seine breitbandigeTransparenz ist Diamant zudem ein idea-les Material für multispektrale optischeAnwendungen.

Die ursprüngliche Funktion von Dia-mant als begehrter Schmuckstein, die

fast 2000 Jahre lang die einzig gültige ge-wesen ist, beruht zwar auf reiner Äußer-lichkeit, auf hoher Lichtbrechung und star-kem Glanz, auf dem Feuer und der Farbedes Edelsteins, die meist erst durch seinenbesonderen Schliff angefacht werden. DieAnstrengungen in Forschung und Wissen-schaft, die künstliche Herstellung und dieAnwendung in vielen Bereichen der mo-dernen Technik werden jedoch kaum Krat-zer auf seinem Mythos hinterlassen, son-dern Diamant nur eine weitere Facette alsbegehrtem Werkstoff hinzufügen.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200764

Prof. Dr. Jürgen RisteinTel.: 09131/[email protected]

Page 50: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Ein kleiner Forschungskutter, drei oder vier Wissenschaftler anBord und eine hochkarätige technische Ausrüstung, um damit füreinige Monate die Fjorde rund um Spitzbergen unter Wasser zu er-kunden – so stellte sich Prof. Dr. André Freiwald vom Erlanger In-stitut für Paläontologie eine Expedition vor, die er, inspiriert vonJohn Steinbecks „Logbuch des Lebens“, für den Sommer 2006geplant hatte. Sein Vorschlag fand Gefallen und sein Antrag wurdegenehmigt, doch statt des erbetenen Kutters erhielt er einen Kreu-zer: die nagelneue Maria S. Merian, ein 95 m langes Eisrandfor-schungsschiff, das Arbeiten unter extremen klimatischen Bedin-gungen ermöglicht, aber nicht unbedingt für Küstenfahrten ge-dacht ist. Das damals nur wenig eingefahrene Hochseeschiff in diekaum kartierten Fjorde Spitzbergens zu manövrieren war ein au-ßergewöhnliches Erlebnis, für alte Fahrensleute ebenso wie alsKapitel in seinem „persönlichen Logbuch“, wie André Freiwald imFolgenden schildert.

Eine Forschungsplattform wie die Maria S. Merian hatten dieMeeresforscher lange herbeigesehnt. Damit können in polaren Ge-bieten die Eisrandlagen untersucht werden, die sich jeweils mit denJahreszeiten stark verändern. Durch diesen Wechsel werden ent-scheidende biologische und ozeanographische Prozesse geprägt,die sich auch als geologisches Langzeitsignal der Klimavariabilitätam Meeresboden abbilden. Mit Ausnahme des Forschungseis-

brechers Polarstern vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaventaugten die zuvor vorhandenen Hochseeschiffe nur bedingt dazu,wissenschaftliche Arbeiten in den polaren Meeren durchzuführen.So geriet 1992 das Forschungsschiff Meteor in eine extrem schwe-re See mit Windgeschwindigkeiten bis zu 175 km/h und mehr als15 m hoher Kreuzsee. Die kompakte Meereisdecke, gespickt mitEisbergen, löste sich unter der Orkanfront auf, und es war vor al-lem dem Geschick der Besatzung zu verdanken, dass wir dasSchiff in den Gewässern südlich von Spitzbergen nicht verloren.

Unser damaliges Forschungsziel, die geo-biologische Erkun-dung der Schelfmeere vor West-Spitzbergen, hatten wir nach die-sem Orkan aufgeben müssen. Der Stachel saß tief, doch es dau-erte bis zum Jahr 2001, bis ich wieder nach Spitzbergen kam –diesmal mit dem Flugzeug und einem Hubschrauber, der mich inein Geologencamp nach Andree-Land in den Norden Spitzber-gens flog. Beim Kartieren devonischer Bergrücken unter der pola-ren Mitternachtssonne konnte ich einen großen Teil der Küste undFjorde Nord-Spitzbergens überblicken – und der alte Stachel mel-dete sich wieder.

Ein Kutter wie etwa die 13 m lange Polarfuchs hätte für meinePläne genügt, doch die Maria S. Merian bot Platz für größere Unter-nehmungen. Neben einigen Nachwuchswissenschaftlern des Er-langer Instituts waren Geologen aus Bremen, Ozeanographen,

Forum Forschung Paläontologie

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200766

Kein Eis rund um SpitzbergenEindrücke von einer Nordlandexpedition mit dem Forschungsschiff Maria S. Merian

Das Eisrandforschungsschiff Maria S. Merian schiebt sich vorsichtig mit seinem Kran über das soeben aufgetauchte Tauchboot Jago.

Page 51: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Meereschemiker und Polarbiologen sowie das Jago-Tauchboot-Team aus Kiel mit an Bord. Ergänzt wurde die Expeditions-Crewdurch einen Journalisten, der im Auftrag der Reisezeitschrift Merianmitkam, und einen Kameramann, der eine Dokumentation zumKlimawandel in der Arktis vorbereitet. Außerdem hatten wir zweiPolarhistoriker an Bord, die dem Schicksal der 1912 gescheiter-ten Schröder-Stranz-Expedition mit Landgängen und genehmig-ten Grabungen nachgehen wollten. Das ließ eine amphibischeOperation erwarten, weshalb wir Karabiner zum Schutz vor Polar-bären besorgen mussten.

Von Longyearbyen, der „Hauptstadt“ des von Norwegen ver-walteten Inselarchipels, verlief die Expedition zunächst entlangder Nordwestküste Spitzbergens. Wir suchten mit dem bordeige-nen Fächerlot-Kartiersystem besonders steile Unterwasserklip-pen, die kein Mensch zuvor in diesen Breiten gesehen oder be-probt hatte. Diese Klippen wurden in 300 bis 50 m Wassertiefe mitdem Tauchboot erkundet, wobei auch nach kleinräumigen Ta-

schen mit Weichsedimenten gefahndet wurde. Hier konnten dieGeologen mit ihren Kastengreifern und Schwereloten Wissens-wertes sammeln. Uns interessierte auch die Meeresbodenbesied-lung durch Kalkschalen bildende Organismen von der Gletscher-front bis in den offenen Ozean hinaus.

Neben biologischen Fragestellungen wandten wir uns vor al-lem Klimainformationen zu, die in den Kalkschalen gespeichertsind. Forscher berichten schon seit einiger Zeit vom Klimawandelin der Arktis. Die nordpolare Meereisdecke zieht sich rapide zu-rück, die Gletscher schmelzen, die arktischen Lebensformen imMeer treten zunehmend in Konkurrenz mit Organismengruppenaus dem wärmeren Süden, die mit den Fortläufern des Golfstro-mes bis nach Spitzbergen getragen werden – und nunmehr dortüberleben können.

Eine weitere Frage galt der Versauerung der Ozeane. Der an-thropogene CO2-Eintrag in die Atmosphäre vermischt sich auchmit dem Meerwasser. Das CO2 im Meerwasser dissoziiert zu Was-serstoff und Bi-Karbonat. Wenn die Wasserstoffionen nicht mehrdurch das Karbonatsystem gepuffert werden können, sinkt derpH-Wert ins saure Milieu. Das wirkt sich u. a. stressend auf kalk-abscheidende Organismen aus, und abgelagerte Karbonatsedi-mente lösen sich auf. Die prognostizierte Versauerung der Ozeanewird ihre ersten Effekte in den polaren Meeren sowie tiefen Mee-resgebieten zeigen und dann auch die warmen Klimazonen mitden tropischen Korallenriffen erreichen.

Zu den Überraschungen der Tauchbootfahrten zählte die zu-vor kaum bekannte Verbreitung von Kalkalgen-Ökosystemen.Wie jede Pflanze benötigen auch diese Algen Sonnenlicht zur

Photosynthese. Ihre Zellwände bestehen jedoch aus festem Kal-ziumkarbonat, sind daher sedimentbildend und bieten ein bis-lang wenig erforschtes Umweltarchiv für Geowissenschaftler. Wirfanden riesige Meeresbodenareale, die flächendeckend von Kal-kalgen bewachsen waren. Besonders große Kalkalgenvorkom-men konnten wir sogar am Nordkap von Nordostland bei 80,5°nördlicher Breite kartieren. In diesen Breiten erwartet man – lautLehrbuchwissen – eigentlich keine nennenswerte Karbonatpro-duktion mehr. Die lebenden Algen sind durch ihre Chloroblastenlila gefärbt und erzeugen dementsprechend schrille Farben amMeeresboden. Gegenwärtig versuchen wir zu ermitteln, wann dieKalkalgen vor Nordspitzbergen aufgetaucht sind und ob dienaheliegende Idee, Zeugen des Klimawandels vor Augen zu ha-ben, wissenschaftlich überhaupt haltbar ist.

Unübersehbar war der Klimawandel in anderer Hinsicht: DieQualitäten der Maria S. Merian als einem zum Eisgang fähigenForschungsschiff konnten wir nicht testen. Es war kein Eis vor-

handen, ebenso wenig Eisberge. Noch vor wenigen Jahrzehntenwäre unsere Passage um Spitzbergen nur mit einem schwerenEisbrecher durchführbar gewesen. Satellitenerstellte Eiskartenzeigten uns, dass wir im Sommer 2006 mit der Merian mühelosden Nordpol hätten erreichen können!

Wir verließen die Fjorde des Nordostlandes und arbeitetenuns durch die berühmte Hinlopenstraße entlang der Ostküstevon Spitzbergen nach Süden. Dort, wo wir eigentlich auf polareWassermassen mit Temperaturen um 0 °C hätten stoßen sollen,fanden wir 4-5 °C warmes Wasser aus dem Nordatlantik. Nachdrei Wochen liefen wir wieder in Longyearbyen ein. Die zahlrei-chen Fjordpassagen bei vorwiegend bestem Wetter, die Unter-wasserkartierungen zuvor unerforschter Gebiete und die polar-historischen Landgänge bis vor die Gletscherfronten hatten unseine arktische Inselgruppe im deutlichen Wandel gezeigt.

André Freiwald

Forum Forschung Paläontologie

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200767

Kalkalgen und Seeanemone in 50 m Tiefe vor Nordspitz-bergen. Fotos: Hissmann

André Freiwald nach einem erfolgreichen Tauchgangwieder zurück an Deck auf der Merian.

Dr. Sonja Löffler vom Erlanger Institut fürPaläontologie beprobt eine Kalkalge.

Prof. Dr. André FreiwaldTel.: 09131/[email protected]

Page 52: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

In einer fremden Stadt den Weg zum Bahn-hof oder zu einer Sehenswürdigkeit zu fin-den kann sich als nervenaufreibende An-gelegenheit herausstellen. Viel schnellerund bequemer geht es mit dem Fahrplan-auskunftssystem für Mobiltelefone, dasForscher des Lehrstuhls für Informatik 8(Künstliche Intelligenz) der Universität Er-langen-Nürnberg entwickelt haben. Wiebei der Bordnavigation für Autofahrer kanndie Orientierung dem elektronischen Hel-fer überlassen bleiben, nur dass Handy-Navigation für Benutzer gedacht ist, diesich zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrs-mitteln fortbewegen. Das System ist ein-fach zu bedienen; es genügt, den Namendes Ziels in das Handy einzugeben, um dienächste Busverbindung zu erfahren undsich zur Haltestelle lotsen zu lassen. DieErfindung hat Innovationskraft: „Handy-Navigation könnte im Tourismus, aberauch in anderen Anwendungsbereichenvon großem Nutzen sein“, sagt Dr. BerndLudwig, Mitarbeiter des Lehrstuhls fürKünstliche Intelligenz.

Navigation mit verteilten RollenKleine tragbare Endgeräte wie Handyssind meist nicht leistungsfähig genug, umgute Verbindungen zum Internet zu ge-währleisten, größere Datenmengen zuspeichern und komplexe Rechenoperatio-nen durchzuführen. Datenspeicherungund -verarbeitung für die Navigation perMobiltelefon werden deshalb innerhalb ei-nes Netzwerks aufgeteilt. Arbeitsstationen(Clients) greifen dabei auf einen zentralenServer zu, der bestimmte Ressourcen an-bietet. Im Fall des Auskunftssystems über-nimmt der Client die Darstellung auf demDisplay und ermittelt zudem den aktuellenAufenthaltsort des Benutzers. Dazu ver-wendet er Informationen, die über Satellitgesendet werden. Die Angaben, die für dieaufwendige Suche nach dem Wunschzielund den relevanten Fahrplänen gebrauchtwerden, übermittelt der Client an eine Ser-ver-Komponente.

Auf dem Server sind Daten gespei-chert, die speziell zu diesem Zweck erstelltwurden, etwa die Koordinaten aller Halte-

stellen oder Fußwegverbindungen zu aus-gewählten Orten. „Exemplarisch haben wiraus Wikipedia-Artikeln Angaben dazu ent-nommen, wo und wie Sehenswürdigkeitenzu finden sind“, erklärt Dr. Ludwig. Die Ein-träge können fortlaufend erweitert werden,sodass jeder angeschlossene Client auto-matisch von den neuesten Informationenprofitiert. Sowohl diese spezifischen Datenals auch verschiedene Informationsquel-len aus dem Internet werden auf dem Ser-ver ausgewertet und an den Client über-mittelt.

Ist eine Anfrage bearbeitet, zeigt dasDisplay eine Liste mit Ergebnissen. Der Be-nutzer kann sie nach verschiedenen Krite-rien sortieren lassen, beispielsweise nachder Entfernung zum derzeitigen Standort,und dann den Zielpunkt auswählen, derihn am meisten interessiert. Ein Ziel, dashäufiger angesteuert wird, kann auch aufdem Client gespeichert und von dort künf-tig abgefragt werden, ohne dass eine er-neute Suche über den Server nötig ist. Willder Benutzer mit öffentlichen Verkehrsmit-

Forum Forschung Informatik

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200768

Der Lotse in der JackentascheErlanger Informatiker entwickeln mobiles Fahrplanauskunftssystem

Page 53: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

AEE

teln zum Ziel gelangen, weist er den Clientauf seinem Handy an, seinen gegenwärti-gen Aufenthaltsort und die Informationenzum ausgewählten Zielpunkt an den Ser-ver zu senden. Der ermittelt die bestenFahrpläne zur aktuellen Zeit und schicktdiese wiederum zurück an den Client. Dortwird automatisch die nächste Verbindungausgewählt und der Weg angegeben, derzur Starthaltestelle führt.

Ideal für Großveranstaltungen„Diese Version würde sich ausgezeichnetfür einen Touristen eignen, der in einerfremden Stadt eine individuell zusammen-gestellte Rundfahrt mit öffentlichen Ver-kehrsmitteln planen und zeitlich flexibeldurchführen will“, erläutert Dr. Ludwig.Grundsätzlich aber lassen sich die Metho-den, die am Lehrstuhl für Künstliche Intelli-genz erarbeitet wurden, für unterschiedli-che Szenarien einsetzen. So könnte mandie Anwendung mit entsprechenden Modi-fikationen etwa auf Massenveranstaltun-gen wie Messen oder örtlich verteilten kul-

turellen Veranstaltungen,wie den inletzterZeit im-mer be-liebterenLangenNächteneinset-zen. DieBesucherließensich zwi-schen deneinzelnen Statio-nen von ihren Mobilge-räten lotsen und zusätzlich mit Informa-tionen versorgen. Eine weitere Möglichkeitwäre es, auf dem Server regelmäßig dieneuesten Informationen zu kulturellen Ver-anstaltungen, beispielsweise Konzertenoder Ausstellungen, zu hinterlegen und mitWegbeschreibungen und Fahrplänen zukombinieren, die die Veranstaltungsorteleicht erreichbar machen.

Forum Forschung Informatik

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200769

Dr.-Ing. Bernd LudwigTel.: 09131/[email protected]

Page 54: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Immer leistungsfähiger werden die Chips,die heutzutage das Herzstück von Compu-tern, aber auch von Autos oder Industrie-maschinen sind. Doch was nützt ein blitz-schnell arbeitender Prozessor oder Spei-cher, wenn die Daten von dort aus nur rela-tiv langsam zum nächsten Bauteil auf derLeiterplatte übertragen werden? SchnelleGlasfaserverbindungen gelten als dasTransportmedium der Zukunft und habenin vielen Bereichen schon die herkömmli-chen Kupferleitungen abgelöst. Doch Lei-terplatten mit solchen optischen Fasernließen sich bisher nicht wirtschaftlich ver-arbeiten. Das ist Vergangenheit: Wissen-schaftler vom Lehrstuhl für Fertigungsau-tomatisierung und Produktionssystematik(FAPS) der Universität Erlangen-Nürnbergum Prof. Dr. Klaus Feldmann haben in ei-nem größeren Verbundprojekt ein automa-tisiertes Verfahren entwickelt, in dem sol-che Baugruppen in großen Stückzahlen zugünstigen Kosten gefertigt werden kön-nen. Das ist für die Industrie höchst inte-ressant.

Optische Fasern aus Glas, aber immerhäufiger aus Kunststoffen (sogenanntenPolymeren) haben gegenüber Kupferlei-tungen viele Vorteile: In ihnen lassen sichdeutlich größere Datenmengen in viel kür-zerer Zeit übertragen und sie reagieren aufäußere Einflüsse weniger störanfällig. Inder Telekommunikation haben Glasfaser-

kabel die Kupferleitungen deshalb schonfast völlig verdrängt. Auf Leiterplatten bis-her noch nicht, denn es fehlte an einemProduktionsverfahren, mit dem einzelneBauteile mit der nötigen Präzision positio-niert werden können. Dabei kommt es aufMikrometer – also Tausendstel Millimeter –an.

Will man Daten in solchen optischenFasern übertragen, müssen die Informa-tionen, die als elektronische Signalevorliegen, zunächstin kurze Lichtpulseübersetzt werden.Das geschieht in ei-ner Sendeeinheit aufder Leiterplatte. Dieschickt die Licht-pulse in die Polymer-faser, wo die Datenbis zur Empfänger-einheit übertragenund in elektrischeSignale zurücküber-setzt werden. „Diekritischen Punkte beider Übertragungsind die Schnittstel-len zwischen Senderund Faser bzw. Fa-ser und Empfänger“,erklärt MichaelRösch vom Lehr-

stuhl für Fertigungsautomatisierung undProduktionssystematik. Diese Module ste-hen in keinem direkten Kontakt zur Poly-merfaser, die in die Leiterplatte eingebettetist. Sender und Empfänger sind in einigemAbstand darüber montiert. Der Senderschickt einen gebündelten Lichtstrahl indie darunter liegende Faser. Die Stelle, dieer dabei treffen muss, ist winzig klein, nuretwa 70 mal 70 Mikrometer. Ungefähr ge-nau so groß ist der Punkt, den der Licht-

Forum Forschung Ingenieurwissenschaften

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200770

Noch schneller auf der DatenautobahnErlanger Forscher entwickeln neues Produktionsverfahren zur optischen Signalübertragung

Mit dem speziell entwickelten Bestückkopf können die elektro-optischen Sende- und Empfangseinheiten äußerst präzise platziert werden. Foto: FAPS

Vollautomatisch und in einer einzigen Fertigungsanlage lassen sich die elektro-optischen Leiterplatten jetzt verarbeiten. Und das in großen Stückzahlen zuvertretbaren Kosten. Foto: FAPS

Page 55: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

strahl auf seinem Weg von der Faser zurEmpfangseinheit finden muss. Die nötigenBauteile müssen also überaus genau aus-gerichtet werden.

Bei der Verarbeitung von Leiterplat-ten, auf denen die Daten über Kupferbah-nen übertragen werden, ist diese hohe Ge-nauigkeit nicht nötig. Hier werden Senderund Empfänger aufgelötet. Doch bis dasflüssige Metall erstarrt, können sich dieModule um wenige Mikrometer verschie-ben. Das darf bei der Herstellung von Lei-terplatten mit Polymerfasern nicht passie-ren. Deshalb haben die Ingenieure der Uni-versität Erlangen-Nürnberg im Projektver-bund mit mehreren Industriepartnern einausgefeiltes Produktionsverfahren entwi-

ckelt: Sie kleben die Bauelemente zu-nächst mit einem Spezialkleber auf undhärten die Verbindung mit UV-Licht. Dannkann gelötet werden. Das Löten fixiertnicht nur die Bauteile, sondern sichertauch deren elektronischen Kontakt zur Lei-terplatte. Schon vor dem Kleben wurde einwenig Lotpaste – winzig kleine Metallkü-gelchen – unter den Bauelementen aufge-tragen. Die wird nun in einem Lötofen ge-schmolzen, ohne dass sich die Module aufdem flüssigen Metall verschieben können.

Die gesamte Prozesskette zur Mon-tage läuft vollautomatisch in einer Ferti-gungsanlage. Dazu haben die Forscher derUniversität Erlangen-Nürnberg im Rahmenihres Forschungsprojektes AMOB (Auto-

matisierte Montage optischer Bauele-mente auf Substrate mit integrierten Licht-wellenleitern) bereits bestehende Hoch-leistungssysteme verändert und zusätzli-che Teilprozesse integriert.

Weitere Informationen zum Forschungs-projekt gibt es im Internet unter:www.faps.uni-erlangen.de/amob

Forum Forschung Ingenieurwissenschaften / Medizin

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200771

Prof. Dr. Klaus FeldmannTel.: 09131/[email protected]

Ein Impfstoff gegen Gebärmutterhals-krebs, der nicht gespritzt werden muss,sondern als Schluckimpfung verabreichtwerden kann, ist das Ziel einer Arbeit vonDr. Sophia Biemelt vom Lehrstuhl für Bio-chemie der Universität Erlangen-Nürnberg2006 und Dr. Martin Müller aus dem Deut-schen Krebsforschungszentrum Heidel-berg. Die Wissenschaftler planen Impfpro-teine in essbarer Form in Pflanzen zu pro-duzieren. Damit könnten vor allem in ar-men Ländern die fatalen Auswirkungenunsteriler Impfkanülen vermieden werden.Das ehrgeizige Projekt wird von der Wil-helm-Sander-Stiftung für die Dauer von 24Monaten mit 210.000 Euro gefördert.

Im Herbst kam mit der Impfung gegenhumane Papillomviren (HPV) der erste ge-zielt gegen Krebs entwickelte Impfstoff aufden Markt, der Frauen vor Gebärmutter-halskrebs, der gefährlichen Spätfolge ei-ner Infektion mit dem Erreger, schützt. Ge-bärmutterhalskrebs und einige andereKrebserkrankungen des Anogenitaltraktswerden durch eine Reihe von Hochrisiko-Typen des humanen Papillomvirus (HPV)ausgelöst. Die meisten Papillomviren ver-ursachen jedoch nur harmlose Hautwar-zen. Der unter dem Namen Gardasil ver-triebene Impfstoff enthält keine „echten“Viren, sondern besteht aus einem einzigenVirusprotein (L1), das sich im Reagenzglasspontan zu leeren „Virushüllen“ zusam-menlagert, die für das Immunsystem desKörpers einem echten Virus täuschend

ähnlich sind: Das Abwehrsystem reagiertdarauf mit der Bildung von Antikörpern, diedie Bekämpfung der Viren einleiten.

Der aufwendig herzustellende Impf-stoff hat einige Nachteile, die besonders inLändern der Dritten Welt, wo Gebärmutter-halskrebs ein drängendes Gesundheits-problem ist, ein Hindernis darstellen: DieKosten sind allein schon produktionsbe-dingt sehr hoch, auch die Kühlung beiTransport und Lagerung schlägt zu Buche.Außerdem muss das Vakzin in den Muskelinjiziert werden, was bei inkorrektem Ge-brauch der Impfkanülen zu schweren Fol-geinfektionen wie Hepatitis oder AIDS füh-ren kann.

Karotten mit ImpfproteinenSophia Biemelt und Martin Müller wollendieses Problem lösen, indem sie die Pro-teine des Impfstoffs in gentechnisch ver-änderten Pflanzen, wie z. B. Kartoffeln, Ka-rotten oder Gerste produzieren möchten.Damit wären einige Probleme elegant ge-löst: Die Impfproteine müssen nicht auf-wendig aus den pflanzlichen Zellen aufbe-reitet werden, sondern ein Pflanzenextraktstellt den Impfstoff dar. Ein essbarer Impf-stoff würde eine gezielte Immunantwort anden Schleimhäuten auslösen, die auch dieEintrittspforten des Virus sind. Pflanzenbenötigen zum Gedeihen nicht viel mehrals Wasser, Nährsalze und Sonnenlicht,außerdem übertragen sie keine für denMenschen gefährlichen Krankheiterreger.

Möglicherweise könnten die „Impfpflan-zen“ direkt dort angebaut werden, wo siebenötigt werden, sodass auch Transport-kosten entfallen. Allerdings wirkt eine oralverabreichte Impfung möglicherweisenicht so effizient wie die klassische Injek-tion, schränken die Wissenschaftler ein. InVorstudien hatten Biemelt und Müller be-reits bestimmte Proteine der Papillomvirenin Tabak- und Kartoffelpflanzen produziertund konnten damit in Mäusen einen Im-munschutz erreichen.

Stiftungszweck der Wilhelm Sander-Stiftung ist die medizinische Forschung,insbesondere Projekte im Rahmen derKrebsbekämpfung. Seit Gründung derStiftung wurden dabei insgesamt über 160Mio. Euro für die Forschungsförderung inDeutschland und der Schweiz bewilligt.Die Stiftung geht aus dem Nachlass desgleichnamigen Unternehmers hervor, der1973 verstorben ist.

Dr. Sophia BiemeltTel.: 09131/[email protected]

Gesucht: Schluckimpfung gegen GebärmutterhalskrebsWilhelm-Sander-Stiftung fördert ehrgeiziges Forschungsprojekt

Page 56: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Unter der Leitung des Direktors der Herz-chirurgischen Klinik, Prof. Dr. Michael Wey-and, wurde am Universitätsklinikum Erlan-gen zum ersten Mal einem schwerst herz-kranken Patienten ein komplettes künst-liches Herz eingepflanzt. Ohne das künstli-che Organ hätte der auf ein Spenderherzwartende Patient nur noch eine Lebenser-wartung von wenigen Wochen gehabt. Beidem neuen Kunstherzen, welches zum ers-ten Mal in Bayern zur Anwendung kam,handelt es sich tatsächlich um einen kom-pletten Ersatz des eigenen Herzens. In deraufwendigen Operation wurde das schwerkranke und stark vergrößerte Herz des Pa-tienten entfernt und durch zwei, denmenschlichen Herzhöhlen nachempfun-dene künstliche Herzkammern ersetzt. „Wir sind sehr froh, neben unserem erfolg-reichen Herztransplantationsprogramm undden herkömmlichen Herzunterstützungs-systemen nun auch das totale Kunstherzzur Behandlung der schweren Herzmus-kelschwäche zur Verfügung zu haben“,sagt Professor Michael Weyand. „Damit istes ab sofort in Erlangen möglich, auch Pa-tienten mit schweren Funktionsstörungenbeider Herzkammern ein Überleben bis zur

Herzverpflanzung zu ermöglichen.“ DesWeiteren ist das komplette Kunstherz diebeste Möglichkeit, bei schwerst herzkran-ken Patienten mit bereits vorhandenenEinschränkungen von Leber und Niere alsFolge eines Schockgeschehens ein Über-leben überhaupt möglich zu machen. Eine

weitere Einsatzmöglichkeit besteht in Fäl-len von ausgedehnten Herzinfarkten mitZerstörung großer Anteile des Herzmus-kels. Hier können die herkömmlichen Blut-pumpen häufig aus technischen Gründennicht eingepflanzt werden.

Im Gegensatz zu den bisher in Erlan-gen bereits seit dem Jahr 2000 eingesetz-ten Kunstherzen, die lediglich die eigeneHerzfunktion unterstützen können, ersetztdieses neue System das komplettemenschliche Herz und eröffnet Überle-bensmöglichkeiten für Patienten, denenmit den herkömmlichen Systemen nichtmehr geholfen werden kann.

Das Kunstherz vom Typ CardioWestwird von der amerikanischen Firma Syncar-dia hergestellt und weltweit in weniger als20 spezialisierten Herzzentren eingesetzt.

Großer Erfolg für Forscher der UniversitätErlangen-Nürnberg: Ein Team bestehendaus Wissenschaftlern des Universitätskli-nikums, der Technischen und der Natur-wissenschaftlichen Fakultät I sowie der TUBergakademie Freiberg hat von der Deut-schen Forschungsgemeinschaft (DFG) denZuschlag für die Förderung als DFG-For-schergruppe erhalten. Als Forschergruppe„Strömungsphysikalische Grundlagen dermenschlichen Stimmgebung“ (FOR 894)werden die Wissenschaftler zunächst fürdrei Jahre mit Finanzmitteln im Umfangvon mehr als 1,6 Millionen Euro gefördert.Sprecher ist Prof. Dr. Dr. Ulrich Eysholdtvon der Abteilung für Phoniatrie und Pä-daudiologie am Universitätsklinikum Er-langen.

Das Ziel der Wissenschaftler ist es,herauszufinden wie die menschlichenStimmlippen im gesunden, aber auch im

kranken Zustand funktionieren und wiedas akustische Signal – der Stimmschall –gebildet wird. Sie wollen unter anderem inVersuchen in Strömungskanälen die dyna-mischen Eigenschaften des menschlichenKehlkopfs erforschen und ein numerischesModell entwickeln, das das Zusammen-wirken von Strömungen, mechanischenund akustischen Phänomenen im Kehl-kopf simuliert. Ihre Forschungsergebnissesollen dazu beitragen, die Ergebnisse vonmedizinischen Behandlungen, u. a. chirur-gischen Eingriffen, an den Stimmlippenmöglichst genau vorherzusagen.

Ausgangspunkt für die Modellbildungsind endoskopische Videoaufnahmen vongesunden und kranken (z. B. heiseren) Pa-tienten, aufgenommen mit einer Hochge-schwindigkeitskamera. Zur Erklärung derdynamischen Phänomene wurde am Er-langer Lehrstuhl für Strömungsmechanik

ein Luft-Strömungskanal entwickelt, derein realitätsnahes Modell der Stimmerzeu-gung darstellt. Die hier verwendeten syn-thetischen Stimmlippen werden optimiert,indem die Elastizität an menschliches Ge-webe mathematisch angepasst wird. Umdefinierte, klinisch beobachtete Irregulari-täten und deren strömungsphysikalischeAuswirkungen auf die Stimmqualität zuuntersuchen, wird ein in Freiberg entwi-ckeltes dynamisches Stimmlippen-Modellin einem Wasserkanal hinzugezogen, mitdem sich Schwingungsformen der Stimm-lippen dem Modell aufprägen lassen.

Forum Forschung Medizin

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200772

Künstliches Herz verpflanztDie komplizierte Operation wurde erstmals in Bayern vorgenommen

Dr. René TandlerTel.: 09131/[email protected]

PD Dr.-Ing. Michael DöllingerTel.: 09131/85-33815 [email protected]

Hauptschlagader

Antriebsschläuche

Hohlvenen

Lungen-schlagader

künstlichelinke Herz-kammer

künstlicherechte Herz-kammer

1,6 Millionen für Stimm-ForschungDFG-Forschergruppe „Strömungsphysikalische Grundlagen der menschlichen Stimmgebung“

Page 57: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

In einer Zeit, als der große Aufklärer Fried-rich Nicolai bemerkte, dass die menschli-che Gangart in Erlangen deutlich lebhaftersei als im nahen friedlich-kirchlichen Bam-berg, wäre die Universität beinahe zur ge-feierten Pilgerstätte der Schwärmerei undEmpfindsamkeit geworden – und das auf-grund eines tiefreligiösen Werkes. Kurznach ihrer Gründung – wir schreiben dasJahr 1748 – bemühte sich nämlich dieAlma Mater heftig, aber vergeblich um dieBerufung des berühmtesten Poeten des18. Jahrhunderts: Friedrich Gottlieb Klop-stock. Damit ziert neben dem gescheiter-ten Bemühen um den Philosophen Imma-nuel Kant einige Jahrzehnte später einzweiter spektakulärer Misserfolg die Beru-

fungsgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität.

Klopstock hatte gerade mit den erstendrei Gesängen seines Messias internatio-nal Aufsehen erregt; vom berühmten Lite-raturkritiker Johann Jakob Bodmer wardas junge Genie in die Schweiz eingeladenworden. Der Göttinger MedizinerprofessorAlbrecht von Haller bot ihm nicht nur eineHauslehrerstelle an, sondern schickte denMessias mit allen Empfehlungen an denPrinzen von Wales. In Zürich bemühte mansich zeitgleich Klopstock an einer Seiden-färberei zu beteiligen. Wenig später bekamder Dichter eine Einladung an den däni-schen Hof in Kopenhagen, dem der Dich-ter schließlich Folge leistete. Gelockt

wurde er mit einem stattlichen Jahresge-halt von 400 Reichstalern. Die einzige Auf-lage, die Friedrich V. von Dänemark Klop-stock stellte, war die Fertigstellung desMessias.

In dieser Gemengelage von Möglich-keiten für den Epen-Dichter hat die jungeUniversität Erlangen offenbar mitgespielt.Sie konnte eine der gerade unbesetztenProfessuren der Theologie bieten, leidernur ein Extraordinariat, das aber über einefür Klopstock interessante Option ver-fügte. Der Gründungsrektor der Universi-tät, Daniel von Superville, hatte erlassen,dass eine Professur für Poesie und Bered-samkeit – ihre Tradition wird heute in derGermanistik fortgeschrieben – geschaffenwurde, die dem „Tauglichsten, welcher Fa-kultät er angehöre, zugeteilt werden“ sollte(Stiftungsbrief). Und wer wäre damalstauglicher gewesen als Klopstock, der üb-rigens später der erste deutsche Dichterwar, der seine Bücher verkaufte, bevor ersie schrieb (‚Subskription‘) und der, als erim Alter von 78 Jahren starb, in einem„Festakt von einmaliger Großartigkeit“ bei-gesetzt wurde? An Klopstocks Beerdigungin Altona, die der dänische König und dieStadt Hamburg finanzierten, nahmen etwa50.000 Menschen teil. Ähnliches hätte deraufstrebenden fränkischen Universitäts-stadt wahrlich gut gestanden.

„Le Maître“, der VermittlerWarum hat die Berufung aber letztendlichnicht geklappt? In seinem Schreiben vom2. Dezember 1748, gerichtet an seinenFörderer Bodmer, formuliert der erst 24-jährige Dichter recht selbstbewusst seineWünsche an ein zukünftiges Universitäts-amt. „Ich habe […] vernommen, dass sichein erlangischer Buchführer […] nach mirim Namen der Academie erkundigt hätte.Sie kennen M. le Maitre in Erlangen. Ichweiß nicht was die Absichten der Acade-mie seyn könnten. Ich will meine Absichtenentdecken. Ich wünsche mir eine ausser-ordentliche Profession irgend einer derschönen Wissenschaften am liebsten aberder Beredsamkeit oder der Poesie, mit ei-nem Gehalte, das mich nicht der Nothwen-digkeit aussezte, den größten Theil meinesUnterhalts selbst zu verdienen, welchesmir in Sonderheit auf einer Academie

Forum Forschung Germanistik

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200774

Klopstock kam nicht nach ErlangenWarum die Universität den berühmten Poeten nicht für sich gewinnen konnte

Der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock nach einem zeitgenössischen Stich von Juel/Müller.

Page 58: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

schwer fallen würde, deren Numerus nochnicht sehr groß ist. Ich könnte eine solcheStelle so lange übernehmen bis sich einemeiner Musse günstigere Gelegenheitzeigte.“ Der Prediger der französisch-re-formierten Gemeinde in Erlangen JohannHeinrich Meister („Le Maître“) scheint derwichtigste Vermittler zwischen dem Dich-ter und der Universität gewesen zu sein;und er hatte Klopstock offensichtlich gutüber die Stellenlage informiert. An Bodmerberichtete Meister jedenfalls am 20. Ja-nuar 1749 über den Stand der Verhandlun-gen mit dem begehrten „Phénix Teutoni-que“. Er erläuterte die spezifische Strukturdes ‚doppelten‘ Extraordinariats und des-sen leider eher bescheidene finanzielleAusstattung; zudem sei der Lebensunter-halt in der kleinen Stadt „généralement fortchers“, obwohl Siemens damals nochnicht in Erlangen angesiedelt war. Als Aus-gleich würde er Klopstock aber mit einem„Etudiant de bonne Maison“ zusammen-bringen, dem dieser gutbezahlte Privat-stunden geben könnte. Am 26. Januar rea-gierte Klopstock schließlich auf die geringeund unsichere Bezahlung der Stelle; imBrief an Bodmer heißt es lapidar: „M. leMaitre hat an mich geschrieben. Eine Pro-fession dasselbst ist so wenig erheblichu[nd] noch dazu mit so viel Schwierigkei-ten umgeben, dass ich mich nicht darumbemühen werde.“

1750 besuchte Klopstock auf seinerReise nach Zürich immerhin Nürnberg undErlangen. Wahrscheinlich schaute er sichdie Universität bei dieser Gelegenheit so-gar an und nahm endgültig Abschied vonseinen einstigen Berufsplänen. Der spä-tere Berliner Philosophie-Professor Jo-hann Georg Sulzer berichtet, der Dichterhabe hier lediglich „mit Gewalt schöneMädchen sehen wollen“. Da er nicht zumZuge gekommen sei, glaube er, „daß inNürnberg keine Freude wohnen könne“.Damit ist Klopstocks fränkische Entrepriseim Grunde erzählt – jedenfalls eine Varianteder Geschichte.

Statt Klopstock berief man dann denrationalistischen, vermutlich etwas trocke-nen Historiker Johann Martin Chladeniusauf die Professur für Poesie und Bered-samkeit; die Universitätshistoriker spre-chen von einer „nicht unbeträchtliche Zu-lage zum Gehalt“, die man dem Neuberu-fenen zukommen ließ. Möglicherweise for-cierten der Philosoph Johann Ernst Basi-lius Wiedeburg und der Theologe CasparJacob Huth dessen Berufung, die ihnenviel angenehmer sein musste als eine Be-stellung des ‚Schwärmers‘ Klopstock; dieErlanger Professoren waren nämlich mitdem Aufklärer und erklärten Bodmer-Feind

Johann Christoph Gottsched befreundet,der in Leipzig mächtiger Ordinarius fürPoesie und Rhetorik war. Nach seinemVorbild gründeten sie 1755 in Erlangeneine Deutsche Gesellschaft, die sich umdie Poesie und Beredsamkeit verdientmachte. Im September 1749 hielt sichGottsched in der Stadt auf, wurde von derUniversität in Ehren empfangen und berietseine Erlanger Freunde beim Aufbau ihrerFakultäten. Dass sie nicht über KlopstocksInteresse an einer hiesigen Professur gere-det haben, scheint mir höchst unwahr-scheinlich. Eine einschlägige Geheimdi-plomatie ist aber meines Wissens nichtüberliefert worden.

Rationalismus kontra EmpfindsamkeitWill man diese Konstellation stark ma-chen, könnte man spekulieren, dass Klop-stocks Nicht-Berufung nach Erlangennicht unbedingt am Gehalt gescheitert ist,wie es seine Briefe an Bodmer vielleichtaus rhetorischen Gründen nahelegen, son-dern an Gottsched beziehungsweise amberühmten deutsch-schweizerischen Lite-raturstreit. Denn die Klopstock-AlternativeChladenius bekam ja letztendlich einedeutliche finanzielle Zulage. Vielleicht also

siegten auf dem Nebenschauplatz Erlan-gen noch einmal die deutschen Frühauf-klärer und leider nicht die Schweizer Ver-fechter des Wunderbaren in der Kunst. Derinternationalen Reputation Erlangens hatdie (eher mutlose) Entscheidung gegenKlopstock und für den Rationalismus si-cherlich geschadet.

Im Jahre 2008 jährt sich zum 125. Maldie Gründung des Erlanger Instituts fürGermanistik. Klopstocks Nicht-Berufungnach Erlangen gehört zur spannenden Vor-geschichte eines traditionsreichen Fachesder Friedrich-Alexander-Universität.

Dirk Niefanger

Forum Forschung Germanistik

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200775

AVL DiTest

Prof. Dr. Dirk NiefangerTel.: 09131/[email protected]

Page 59: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Petrus und seine Nachfolger nahmen ihrenHirtenauftrag ernst: Sie versuchten, die im-mer größer werdende Herde zusammenzu-halten. Dies gelang ihnen meist ohne Aus-landsreisen allein durch Gesandte undBriefe. Auf diese Weise wuchs ein enormerBestand schriftlicher Quellen an, der dasRingen des christlichen Abendlands umEinheit und gemeinsame Werte über die

Jahrhunderte mitverfolgen lässt. Am Erlan-ger Historischen Institut haben Forscher inverschiedenen Projekten gemeinsam einespannende Aufgabe übernommen: Sie er-schließen diesen in der europäischen Ge-schichte einzigartigen Quellenfundus.

SpurensucheDie Papstgeschichte beginnt auf dem Hö-hepunkt des römischen Weltreiches. Kai-ser Konstantin der Große legte ab demJahr 324 die Grundlagen einer engen Zu-sammenarbeit des bis dahin heidnischenStaates mit den Bischöfen. Nach dem Un-tergang des antiken Rom trat der Papsteine schwierige Erbschaft an. Vom Auf-stieg des Heiligen Stuhls zur obersten Au-torität des Abendlandes ist in den Zeugnis-sen des 5. Jahrhunderts noch nichts zu ah-nen. Ohne die schriftliche Hinterlassen-schaft aus der Kurie und den Diözesenwüssten wir ohnedies wenig über dieWandlungsprozesse von der Antike zumMittelalter.

Die theologischen Auseinanderset-zungen mit der Kirche von Byzanz um dasBilderverbot oder um drei hinzugefügteBuchstaben im Glaubensbekenntnis ge-winnen durch die Berichte der hin- und

hergesandten Geistlichen eine dramati-sche Note. Nicht immer wurden die Ge-spräche sachlich geführt: Der filioque-Streit gipfelte 1054 in der gegenseitigenVerurteilung von Papst und Patriarch alsKetzer. Bis heute arbeiten Kirchen undStaaten mühsam auf eine Überwindungdieser Trennung in Ost und West hin.

Glaube und Gesellschaft blieben bisüber die Aufklärung hinaus so eng mit-einander verwoben, dass die römischenEntscheidungen in das tägliche Leben hin-ein wirkten – von der Festlegung gebote-ner Feier- oder Fastentage bis hin zumEherecht, das ganz Reiche zu Fall bringenkonnte.

Umgekehrt sahen sich die geistlichenFührer der Kirche weltlichem Einfluss aus-gesetzt. Die Konzilsbeschlüsse KaiserKonstantins oder die spannungsgeladeneBegegnung von Kaiser und Papst in Ca-nossa hinterließen ihre Spuren. In den Vor-verhandlungen bei Papstwahlen und Kai-serkrönungen engagierten sich die großenMächte ihrer Zeit. Nicht immer verlief diesso friedlich, wie es das Kirchenrecht vor-schreibt: Im Jahr 998 trieb Kaiser Otto III.den abgesetzten Papst Johannes verkehrtherum auf einem Esel sitzend durch Rom,nachdem er ihn durch Blendung amtsunfä-hig gemacht hatte. Nach anderen Berich-ten hätte man Johannes sogar noch Naseund Zunge abgeschnitten. Glücklicher-weise muss die Forschung heute nichtmehr entscheiden, wer nach Doppelwah-len als Papst und wer als Gegenpapst an-zusehen ist. Ihr geben solche dramati-schen Zuspitzungen Einblick in die Vor-gänge hinter den sonst geräuschlos funk-tionierenden Kulissen.

Fälscher als willkommene ZeugenWeltliche und geistliche Bittsteller ausganz Europa bemühten den Bischof vonRom als Autorität in ihrem zähen Ringenum Güter, Rang und Rechtspositionen.Man erbat sich Urkunden als Beleg für dieeigenen Ansprüche – oder man fälschte.Die jüngst untersuchten päpstlichen Privi-legien für die Kathedrale von Vienne sindhierfür ein typisches Beispiel: Ein großer Teilwurde in Vienne gefälscht, um den eigenenVorrang vor dem Erzbistum Arles zu bele-gen. Gab es keine Urkunden, die die eige-

Forum Forschung Geschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200776

An den Quellen europäischer GeschichteErlangen bündelt die Fäden der Internationalen Papsturkundenforschung

Urkunde Papst Eugens III. mit Bleibulle(1146)

Papstgeschichte aus den Archiven der Empfänger (Abteilung Italia Pontificia)

Page 60: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

nen, von alters her beanspruchten Rechtefesthielten, so schuf man sich solche.

Durch den Vergleich von Urkundenkam schon Papst Alexander III. 1176 einergefälschten Passage auf die Spur. In einerUrkunde seines Vorgängers Eugen III.hatte man mit dem Rasiermesser Buchsta-ben abgeschabt und neuen Text eingefügt,um die Zugehörigkeit des Michaelsheilig-tums auf dem Monte Gargano zum BistumSiponto zu untermauern. Die Echtheitskri-tik gilt bis heute als neuralgischer Punkt inder Urkundenforschung. Alexander III. ließdie gleichen Merkmale prüfen, wie heutigeForscher: Die Formulierungen, die Schriftund die Besiegelung müssen mit dem au-thentischen Kanzleigebrauch übereinstim-men.

Doch auch die päpstliche Kanzeiwusste kreativ mit Pergament und Tinteumzugehen. Als Pippin und Karl der Großedas römische Kaisertum erneuerten, no-

tierte man den päpstlichen Besitz in Italien– rückdatiert auf Kaiser Konstantin. Diesesogenannte Konstantinische Fälschungwurde in den folgenden Jahrhundertenmehrfach von den Kaisern bestätigt undunter Leo IX. gar zur Durchsetzung despäpstlichen Primatsanspruchs eingesetzt,bis 1433 Nikolaus von Kues mit linguisti-schen Argumenten die formale Unechtheitder angeblichen Schenkung feststellte.Historiker sind dennoch dankbar für diese„spuria“: Fälschungen verraten nicht weni-ger über die Interessen der Beteiligten, alsechte Urkunden.

Forscher und KooperationenDie Erschließung und Erforschung derpäpstlichen Urkunden bis 1198, die vonEmpfängern in ganz Europa erbeten wur-den, ist vielfach Gegenstand nationalerForschung. In Erlangen jedoch laufen dieFäden des einzigen international angeleg-ten Forschungsprojektes zusammen, dasdie über 30.000 noch nachweisbaren Kon-takte des Papsttums bis zum Einsetzender kontinuierlichen Register mit InnocenzIII. systematisch erfasst. Erst mit einemÜberblick über den Quellenbestand kannman den Trumpf ausspielen, der in der eu-ropaweiten Verteilung der Überlieferungliegt. Keine andere Institution erreichte dieeuropaweite Wirkmächtigkeit der Kirche,die lokale und internationale Prozesse,staatliche Identitätsbildung und intellektu-elle Biographien gleichermaßen betraf.

Am Lehrstuhl für mittelalterliche Ge-schichte arbeiten unter einem Dach For-scher mehrerer Projekte an einer wissen-schaftlichen Sichtung des Quellenmate-rials. Gleichzeitig bündelt die Erlanger Infrastruktur weitere individuelle For-schungsvorhaben, die von den Grundla-genforschungen ebenso profitieren, wie

sie diese im Gegenzug inspirieren und vo-rantreiben. Unmittelbarer lassen sich dieErgebnisse der Grundlagenforschung nichtin aktuelle Projekte umsetzen.

Einzigartig ist dabei die Form einesnichtinstitutionalisierten Forschungsver-bundes, der sich aus Projekten verschie-dener Organisationen speist. Er wird nichtdurch eine zusätzliche Verwaltung zusam-mengehalten, sondern durch die Kompe-tenz und den unmittelbaren Austausch derWissenschaftler. Möglich wird dies durchdie Beteiligung des Lehrstuhlinhabers inden einschlägigen Forschungsinstituten.

Aus der europäischen Wissenschafts-tradition haben sich zwei Forschungsstel-len entwickelt, die sich gezielt mit demKorpus der mittelalterlichen Papsturkun-den beschäftigen:

Das 1896 vom Göttinger ProfessorPaul Friedolin Kehr initiierte GöttingerPapsturkundenwerk, das heute von derdortigen Akademie der Wissenschaftenfortgeführt wird und über eine herausra-gende Sammlung von Materialien verfügt.Seit 1931 unterstützt die Piusstiftung fürPapsturkundenforschung das Unterneh-men, dem über 30 ehrenamtliche Mitarbei-ter in Europa und den USA angehören.Sein Kuratorium ist mit Vertretern derwichtigsten mediävistischen Forschungs-institutionen aus dem Vatikan, Deutsch-land, Österreich und der Schweiz besetzt.

Nicht weniger ehrwürdig ist die Kom-mission für die Herausgabe der RegestaImperii bei der Akademie der Wissen-schaften und der Literatur in Mainz. Seit1969 erscheinen hier parallel zur älterenReihe der Herrscherurkunden Regesten-bände zu Papsturkunden des Mittelaltersim 9. bis 12. Jahrhundert.

Als Sekretär obliegt Prof. Dr. KlausHerbers seit 2004 die wissenschaftliche

Forum Forschung Geschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200777

Die Universität bündelt die wichtigsten Forschungsprojekte der Internationalen Papsturkundenforschung unter einem Dach.

Paul Fridolin Kehr

Page 61: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Leitung der Piusstiftung, gleichzeitig arbei-tet er in den Kommissionen und Projektendes Göttinger Papsturkundenwerkes undder Regesta Imperii – ideale Voraussetzun-gen für die Verzahnung der benachbartenUnternehmungen, die mit unterschiedli-chen Schwerpunkten Papsturkunden edie-ren, regestieren und erforschen. Entspre-chend sind Teilprojekte aller Institutionenin Erlangen beheimatet und um weitereForschungsvorhaben ergänzt worden,welche die Möglichkeiten der konzertier-ten Forschung voll ausschöpfen.

Für die Piusstiftung werden in Erlan-gen alle überlieferten Papstkontakte mitEmpfängern in Spanien und dem burgun-dischen Raum bearbeitet und durch Prof.Klaus Herbers und Dr. Beate Schilling fürdie Reihe der Iberia und Gallia Pontificiapubliziert. Das DFG-Projekt „Zentrum undPeripherie im europäischen Mittelalter“schließt sich mit Forschungen zum Papst-tum und Galicien bis 1198 unmittelbar an.Als Außenstelle der Regesta Imperii bear-beiten der Lehrstuhlinhaber und Dr. SofiaSeeger Bände zu den Papstregesten derKarolingerzeit. Durch ein neues Langzeit-pojekt der Union der Akademien der Wis-senschaften konnte seit diesem Jahr dieÜberarbeitung des zentralen Verzeichnis-ses der Papsturkunden bis 1198 durch Ka-thrin Korn und Dipl.-Hist. Markus Schütz inAngriff genommen werden.

Neufunde und massenhaft AltesDie am Lehrstuhl für Mittelalterliche Ge-schichte gebündelten Projekte leisten ei-nen entscheidenden Beitrag, um der For-schung die über ganz Europa verstreutenQuellen zugänglich zu machen und durchvertiefte Analysen in Forschungszusam-menhänge einzuordnen. Seit dem Beginnder systematischen Papsturkundenfor-schung vor 100 Jahren ist das bekannteQuellenmaterial sprungartig angewachsenund es wächst noch weiter. Jedes Jahrentdecken die Forscher neue, bisher un-bekannte Urkunden. Die wissenschaftli-che Erschließung muss auf diese ständigeVeränderung des Quellenkorpus reagie-ren. Auch wenn auf absehbare Zeit keinendgültiger Stand zur Überlieferung zu er-warten steht, so kann doch ein aktualisier-tes Verzeichnis das vorhandene Wissenbündeln und einer neuen inhaltlichen Aus-einandersetzung den Weg bereiten.

Obwohl kein anderer Quellenbestandbis in das Hochmittelalter eine vergleich-bare Fülle an Informationen bereithält, liegtin der Masse des Materials bisher einHauptproblem der Forschung. Die Ent-wicklung standardisierter Dokumentati-onssysteme für die Forschung an Urkun-den und historischen Texten hilft, die de-zentrale und durch Neufunde weiterhin an-wachsende Überlieferung der kurialen Do-kumente zu bewältigen. Eine speziell auf

die Bedürfnisse zuge-schnittene Datenbankermöglicht neben derVolltextsuche gezielteAbfragen nach formalenund inhaltlichen Krite-rien. Wo bisher Archiv-reisen und OrtstermineZeit und Geld ver-schlangen, wo manJahre auf die Veröffent-lichung neuer Ergeb-nisse wartete, entstehteine im Internet verfüg-bare Datenbank, durchdie ortsunabhängig ak-tuellste Informationenverfügbar sind – einwichtiger Vorteil, denngerade in Echtheits-und Datierungsfragenentstehen durch veral-tete Informationen oftfolgenschwere Irrtümer.

Dieses Standardin-strument wird gemein-sam mit dem ErlangerLehrstuhl „Datenbank-systeme“ (Prof. Dr.Klaus Meyer-Wegener)

und dem Lehrstuhl „Künstliche Intelli-genz“ (Prof. Dr.-Ing. Günther Görz) entwi-ckelt. Die elektronische Aufbereitung derDaten ermöglicht zudem die Anwendungstatistischer Fragestellungen zur Urkun-denverteilung oder dem Personal, die bis-her aus quantitativen oder methodischenGründen nicht an die Papsturkunden he-rangetragen werden konnten. Suchergeb-nisse sind immer nur so präzise wie dieDatengrundlage. Will man wissen, welchekurialen Schreiben die fränkischen Bistü-mer im 12. Jahrhundert gegen den Zugriffder Adelsgeschlechter einsetzten, findetman in der zukünftigen Datenbank Schlag-wörter und präzise Suchinstrumente fürMediävisten, Linguisten und Theologen.Bis 2012 soll der erste Teil des neuen Ge-samtverzeichnisses vorliegen.

Der Geschichte gemeinsam auf den FersenDie in Erlangen möglichen Synergien lie-fern eine optimale Ausgangsbasis für eintieferes Verständnis von den Vorausset-zungen und Prozessen, die im Mittelaltereiner vergleichsweise schlanken Verwal-tung ein derart erfolgreiches, supranatio-nales Agieren erlaubten. Hier eifert die In-ternationale Papsturkundenforschung inErlangen dem Vorbild Roms nach. Die herausragenden Gestalten der Geistes-geschichte wie Gregor der Große oder dieWeichenstellungen für die europäischeIdentität und Politik in Spätantike und Mit-telalter werden immer für die eigene Ge-genwart deutungsrelevant bleiben. Diewissenschaftliche Erforschung der dazuunabdingbaren Wissensbasis erfordertvereinte Kräfte und einen langen Atem.Jedes Jahr zeigen neue Bände der Inter-nationalen Papsturkundenforschung inErlangen, wie Forschung ohne zusätzlicheVerwaltung allein von der räumlichen Nä-he, dem Austausch und dem Engagementder Forschungsprojekte profitiert, wie sichGrundlagenforschung und aktuelle Frage-stellungen unter einem Dach effizient ver-knüpfen lassen.

Markus Schütz

Forum Forschung Geschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200778

Gregor der Große, Trier, Stadtbibliothek, Hs. 171a

Prof. Dr. Klaus HerbersTel.: 09131/[email protected]

Page 62: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Akute und chronische Nierenerkrankungenhaben weltweit eine zunehmende medizini-sche und gesundheitsökonomische Rele-vanz. Allein in Deutschland benötigen etwa75.000 Patienten eine dauerhafte Nieren-ersatztherapie in Form der Dialyse odereine Nierentransplantation. Darüber hinausleiden vermutlich fast zehn Millionen Men-schen in Deutschland an einem früherenStadium einer Nierenerkrankung. Diese Zah-len werden aufgrund des zunehmenden Le-bensalters und der zunehmenden Häufig-keit des Diabetes mellitus in den nächstenJahren weiter ansteigen. Trotz der erhebli-chen Bedeutung von Nierenerkrankungensind die Grundlagen ihrer Entstehung undihrer Progression bislang nur unzureichenduntersucht. Die Gründe dafür sind viel-

schichtig. So sind die Auswirkungen chroni-scher Nierenerkrankungen auf die Ge-samtmorbidität und -mortalität erst in denletzten Jahren zunehmend erkannt worden,nachdem man lange davon ausgegangenwar, dass eine Nierenfunktionseinschrän-kung erst dann Konsequenzen hat, wennsie sehr weit fortgeschritten ist. Der häufiglangjährige Verlauf von Nierenerkrankun-gen erschwert außerdem Therapiestudien.

Zielsetzung des SFB 423Angesichts der Bedeutung von Nieren-erkrankungen und der unzureichendenKenntnisse über deren Grundlagen wurde1999 auf Initiative von Prof. Dr. Ralf B. Ster-zel der SFB 423 „Nierenschäden: Pathoge-nese und Regenerative Mechanismen“ ander Universität Erlangen-Nürnberg gegrün-det. Für den SFB 423 sind folgende inhaltli-che und strukturelle Aspekte von zentralerBedeutung:

� Zusammenführung der Expertise vonspeziell an Fragestellungen der Niereinteressierten Forschern.

� Interdisziplinäre Bearbeitung von neph-rologischen Fragestellungen durch Ein-bindung verschiedener Fachgebiete.

� Enge und fortlaufende Interaktion zwi-schen klinischen Forschern undGrundlagenforschern.

� Verbindung von Molekular- und Zell-biologie, tierexperimentellen Untersu-chungen und patientennaher For-schung.

� Förderung des wissenschaftlichenNachwuchses in der nephrologischenForschung, sowie von klinischem/medizinischem Nachwuchs, durch partielle Freistellungen.

Im SFB 423 sindWissenschaftleraus acht Klinikenund Instituten ander Universität Er-langen-Nürnbergbeteiligt. Dazu ge-hören die Medizini-sche Klinik 4 –Nephrologie undHypertensiologieam Universitätskli-nikum Erlangen imVerbund mit der 4.Medizinischen Kli-nik am KlinikumNürnberg und die

Kinder- und Jugendklinik, ein vorklinischesInstitut (Institut für Zelluläre und Moleku-lare Physiologie) sowie vier klinisch-theo-retische Institute (Lehrstuhl für Experimen-telle Medizin II, Institut für Humangenetik,Pharmakologisches Institut und Patholo-gisch-Anatomisches Institut). Weiterhinsind der Lehrstuhl für Genetik der Natur-wissenschaftlichen Fakultät II und dieNachwuchsgruppe 3 des Interdisziplinä-ren Zentrums für Klinische Forschung(IZKF) beteiligt.

Die Niere besteht aus verschiedenenArten von Zellen, die sehr unterschiedlichefunktionelle Aufgaben haben und in sehrkomplexer Weise miteinander interagieren.Die molekularen Grundlagen dieser vielfäl-tigen Wechselwirkungen werden erst teil-weise verstanden, sind aber wichtig, umbessere Therapieoptionen zu entwickeln.Deshalb werden in sieben Teilprojektendes Projektbereiches A die „Pathophysio-

logie renaler Zellen und initiale Schädi-gungsmechanismen“ in vitro an Zellkultu-ren und in vivo an Tiermodellen mit Metho-den der Grundlagenforschung, Physiolo-gie, Zellbiologie und Molekularbiologie un-tersucht. Im Projektbereich B „Progre-dienz- und Reparaturmechanismen“ ar-beiten fünf Projekte an verschiedenenTiermodellen von renalen Erkrankungen.Tiermodelle sind im Bereich der Nierenfor-schung von besonderer Bedeutung, daviele Erkrankungen der Niere chronischverlaufen, deshalb am Menschen nur in ei-nem sehr späten Stadium in Erscheinungtreten und dementsprechend bei Patien-ten nur sehr bedingt untersucht werdenkönnen. Genetisch veränderte Tiere kön-nen dazu beitragen, die Krankheitsbilderbesser zu verstehen und Therapiemaß-nahmen gezielt zu testen. Deshalb wurdein einem Zentralprojekt, das in dem neuenTierversuchszentrums an der UniversitätErlangen-Nürnberg (Franz-Penzoldt-Zen-trum) angesiedelt ist, die Generierung vongenetisch veränderten Tieren für alle Pro-jekte etabliert. Weiterhin wurde eine Zen-traleinheit zur Quantitativen Strukturana-lyse eingerichtet. Mit modernsten Gerätenwurden hier Techniken entwickelt, die dieAnalyse von speziellen Strukturen derNiere mit optischen und molekularbiologi-schen Methoden erlauben.

Von Anfang an war es ein Anliegen desSFBs, die Freistellung von Assistenzärztenfür die Forschung zu ermöglichen. DieDFG und die Universität haben deshalbzwei Stellen genehmigt, die im Halbjahres-turnus von klinischen Mitarbeitern der ver-schiedenen Projekte besetzt werden kön-nen.

Mit Hilfe des SFB 423 ist die Nieren-forschung zu einem überregional und in-ternational bedeutsamen Forschungs-schwerpunkt an der Universität Erlangen-Nürnberg ausgebaut worden.

Forum Forschung Medizin

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200780

Die Niere vor Schaden bewahrenNephrologische Grundlagenforschung im SFB 423

Sprecher: Prof. Dr. Kai-Uwe EckardtKoordination: Nina AdamTel.: 09131/[email protected]

Page 63: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Mitte Dezember 1986 berichtete RadioMoskau, in der UdSSR werde eine neue In-formationspolitik betrieben. Die Partei for-dere alle Massenmedien auf, nichts zu-rückzuhalten und in der Berichterstattungüber das politische, wirtschaftliche undsoziale Leben der sowjetischen Gesell-schaft mit allen Tabus aufzuräumen. Wardie Geschichte davon auszunehmen? ImFebruar 1987 war es Gorbatschow selbst,der seine frühere Zurückhaltung aufgab.Bei einem Treffen mit führenden Medien-vertretern überraschte er mit der lapidarenFeststellung: Man müsse auch die Ge-schichte sehen, „wie sie ist“, „vergesseneNamen“ und „weiße Flecken“ dürfe esnicht mehr geben, weder in der Literaturnoch in der Geschichte. Die Revolution imDenken, im Verhältnis zur eigenen Vergan-genheit, die er auslöste, förderte und be-günstigte, kann in ihrer Bedeutung kaumüberschätzt werden. Überall sah man sichmit ihren Themen konfrontiert: im Fernse-hen, im Kino, auf der Bühne. Tageszeitun-gen griffen sie, erstmals um das Leserinte-resse konkurrierend, auf; Illustrierte stell-ten ihre eigenen Recherchen an; Zeitzeu-

gen, Betroffene meldeten sich hier wie dortzu Wort; in den „dicken Journalen“ stießman auf ihre literarische Verarbeitung.

Der gescheiterte Putschversuch imAugust 1991, dem kaum eine halbes Jahrspäter die Auflösung der Sowjetunionfolgte, bedeutete dann einen weiterenDammbruch in der Auseinandersetzungmit der Vergangenheit, der Aufarbeitungder sowjetischen Geschichte. Dekrete desrussischen Präsidenten Jelzin verbotender Kommunistischen Partei in Russlandjede weitere Tätigkeit, bis eine Untersu-chung ihre Rolle beim Putsch geklärt hatte.Sie nationalisierten das Parteivermögenund übergaben es zur treuhändlerischenVerwaltung den jeweiligen Orts- und Ge-bietssowjets. Für das Zentrale Parteiar-chiv, die Handakten der Allgemeinen Ab-teilung des Zentralkomitees und die regio-nalen Parteiarchive (einschließlich allerBaulichkeiten und des Personals) solltenkünftig die staatlichen Archivverwaltungs-stellen Russlands zuständig sein. Die Be-gründung hierfür lautete: weil die Partei defacto als Teil des Staatsapparates fungierthatte, müssten auch die daraus hervorge-

gangenen Dokumente in die Obhut desStaates übernommen werden. Die Mos-kauer Stadtverwaltung ließ die Parteizen-trale (das ZK-Gebäude am „Alten Platz“)versiegeln, um einer Vernichtung von Akten-beständen vorzubeugen. Gesetze und Ver-ordnungen zur Rehabilitierung aller politi-schen Opfer seit dem Tag der Oktoberrevo-lution, zur Erschließung und Deklassifizie-rung von Archivbeständen folgten.

Was als vorsichtige „Tilgung weißerFlecken“ begonnen hatte, stellte sich nunals gigantisches Projekt – als Neuvermes-sung der sowjetischen Geschichte nach ih-rem Ende – dar. Die Zielsetzung, diese Dis-kussion und ihre Ergebnisse einer breiterenÖffentlichkeit zugänglich zu machen, vondem, was weiterhin gilt, und von dem vielen,was sie neu zutage brachte und zutagebringt, zu berichten, stand am Anfang derhier vorgestellten Internet-Edition.

Ihre Initiatoren schlugen vor, dies anausgewählten Schlüsseldokumenten derrussischen und sowjetischen Geschichtezwischen 1917 und 1991 zu versuchen, anihrem Beispiel Weichenstellungen der Ent-wicklung von Partei und Staat, Wirtschaft,Gesellschaft und Kultur zu illustrieren unddabei zugleich in den Stand ihrer Erfor-schung einzuführen. Ein kurzer Vorspann(Abstract) sollte das Dokument vorstellenund erklären, wofür es ein Schlüsseldoku-ment ist; danach ein (drei- bis fünfseitiger)Kommentar in das Dokument, sein themati-sches Umfeld und den Forschungsstand ein-führen, mit ergänzenden Hinweisen auf wei-terführende Quellen und Literatur; schließlichsollte das Dokument selbst folgen, als Typo-skript (Volltext) und als Faksimile (Image). Als Kommentatoren waren fachlich entspre-chend ausgewiesene deutschsprachige wierussische Historiker zu gewinnen. Alle Texte(Dokumente wie Kommentare) sollten zwei-sprachig (deutsch und russisch) präsentiertwerden und ein Glossar für die Klärung vonBegriffen und die Vorstellung von Personensorgen. Es wurde angeregt, die Dokumenta-tion mit der Entwicklung des Staates, seinerpolitischen, wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Grundordnung sowie seiner Au-ßenpolitik zu beginnen, danach rasch auchandere Felder der gesellschaftlichen und kul-turellen Entwicklung einzubeziehen. Eineerste vorläufige Liste machte deutlich, an

Forum Forschung Geschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200782

Neuvermessung des letzten JahrhundertsSchlüsseldokumente zur russischen und zur deutschen Geschichte im Internet

Dekret des 2. Allrussländischen Sowjetkon-gresses über die Bildung der Arbeiter- und Bau-ernregierung, 26. Oktober (8. November) 1917.Hier nach: Zeitung. Aus der Sammlung der wis-senschaftlichen Bibliothek des GCMSIR. © Fak-simile. Gosudarstvennyj central'nyj muzej sovre-mennoj istorii Rossii (GCMSIR). Moskau. 2003.

Schon am Tag nach der Machtübernahme bilde-ten die Bolschewiki eine neue, revolutionäreSowjetregierung, die sie „Rat der Volkskommis-sare“ nannten. Sie spiegelte Anspruch und Wirk-lichkeit der bolschewistischen Machtübernahmewider. Die neue Regierung, so verhieß das Grün-dungsdekret, sollte basisdemokratisch agieren,„in engem Kontakt mit den Massenorganisatio-nen der Arbeiter, Soldaten und Bauern“ stehen;unbürokratisch und flexibel bleiben, sich aufbloße „Kommissionen“ stützen; und den obers-ten Sowjetgremien (dem Allrussländischen Sow-jetkongress und seinem Exekutivkomitee) ver-antwortlich sein. Tatsächlich wurde von diesemKonzept nur wenig verwirklicht. Die „Kommissio-nen“ wurden nie geschaffen, stattdessen rück-ten die „Volkskommissare“ in die alten Ministe-rien ein und übernahmen ihren Apparat. An dieStelle der Sowjetkontrolle trat die Abhängigkeitvon der bolschewistischen Partei, die im ur-sprünglichen Konzept gar nicht vorgekommenwar; und was den Bürgerkrieg und die 1920er-und 1930er-Jahre überdauerte, war im Grundenur der revolutionäre Anspruch, greifbar in derBezeichnung „Rat der Volkskommissare“ für dieSowjetische Regierung, bevor sie 1946 in „Mi-nisterrat“ umbenannt wurde.

Helmut Altrichter

Page 64: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

welche „100(0) Schlüsseldokumente“ da-bei gedacht wurde. Die Zahl 100 sollte sig-nalisieren, dass es sich dabei nur um einebegrenzte Anzahl handeln konnte, diedritte Null in Klammern auf die prinzipielleOffenheit der Sammlung verweisen. Beiden Dokumenten war zunächst an „Texte“im herkömmlichen Sinne gedacht, dochsollten beim weiteren Ausbau dem Me-dium entsprechend auch Bilder sowie Au-

dio- und Videodokumente in die Editionaufgenommen werden.

Das Konzept wurde in der deutsch-russischen Historikerkommission positivaufgenommen, die Federführung demLehrstuhl für Osteuropäische Geschichtean der Universität Erlangen-Nürnberg unddem Institut für Allgemeine Geschichte derRussländischen Akademie der Wissen-schaften (Moskau) übertragen. Im Früh-

sommer 2001 unterzeichneten die Leiterder beiden Institutionen, Prof. Dr. HelmutAltrichter und Akademiemitglied Prof. Dr.Aleksandr Cubar’jan, in Moskau eine ent-sprechende Absichtserklärung. In Vorge-sprächen hatte sich die Bayerische Staats-bibliothek München bereit erklärt, dietechnische Umsetzung zu übernehmenund die kommentierten Dokumente auf ih-rem Server bereitzustellen. Vertreter derArchive sagten zu, Faksimiles für die Inter-netedition zur Verfügung zu stellen. In Er-langen wurde, mit Projektmitteln des Bun-desministeriums des Innern, eine kleineKopfstelle für die redaktionelle Betreuungder Beiträge eingerichtet, die mit Lilia Anti-pow M. A. besetzt wurde. In Moskau über-nahmen die Koordinierung Prof. Dr. Alek-sandr Subin und Prof. Dr. Viktor Iscenko.Die Moskauer Kollegen wirkten bei derAuswahl der Dokumente ebenso mit wiebei der Einwerbung von Kommentaren; sieleisteten darüber hinaus wertvolle Mithilfebei der Bereitstellung von Faksimilesdurch russische Archive.

Im Herbst 2001 wurden die ersten 20Dokumente zur Kommentierung an Fach-kollegen, von deren Bereitschaft zur Mitar-beit das Projekt abhängig war und blieb,mit der Bitte vergeben, ihre Texte binnenJahresfrist fertigzustellen. Obwohl nichtalle Zusagen eingehalten wurden, wuchsdie Edition bis zum Frühjahr 2007 auf über80 kommentierte Dokumente. Wie geplantgehören dazu alle Verfassungen Sowjet-russlands (wie z. B. die Stalin-Verfassung

Forum Forschung Geschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200783

Auszug aus dem Protokoll Nr. 13 der Sitzung des Politbüros des CK der VKP(b): Beschluss über dieErschießung der polnischen Offiziere, Gendarmerie- und Polizeimitarbeiter, Osadniki und andererPersonen aus drei Sonderlagern für Kriegsgefangene sowie der Häftlinge aus den Gefängnissen inder Westukraine und Westweißrusslands, 5. März 1940. Hier nach: RGANI, f. 89, per. 14, dok. 1-20, l.5. Kopie. © Faksimile. Federal'naja Archivnaja Sluzba Rossii. Rossijskij gosudarstvennyj archivnovejsej istorii (RGANI). Moskau. 2004.

Der Beschluss des Politbüros des CK der VKP(b)über die Erschießung von polnischen Offizieren,Gendarmerie- und Polizeimitarbeitern sowie Ge-fängnishäftlingen stellt ein Schlüsseldokumentim Katyner Drama dar, das die ganze Welt überein halbes Jahrhundert lang bewegte. Die Ver-nichtung von 21.857 Polen aus den Kriegsgefan-genenlagern und den Gefängnissen der Westge-biete der Ukraine und Weißrusslands war inte-graler Bestandteil der Liquidierung der polni-schen Staatlichkeit und der polnischen militäri-schen und intellektuellen Elite als deren Träger.Zieht man in Betracht, dass gleichzeitig eine Mas-sendeportation der Familien der zur ErschießungBestimmten durchgeführt wurde, so ist es offen-sichtlich, dass es sich um einen sorgfältig durch-dachten, außerordentlich genau vorbereitetenund auf Staats- und Parteiebene umgesetztenGenozid des polnischen Volkes handelte.

Natal'ja Lebedeva

1943/1945 drehte Sergej Eisenstein seinen zwei-teiligen Film „Iwan der Schreckliche“. Entgegenaller Erwartungen auf offizieller Seite stellte Ei-sensteins kinematographisches Meisterwerkkeine Allegorie des sowjetischen Führers unddes „sozialistischen Übermenschen“ (Günther)dar. Zwar war dem Regisseur im Teil I ein politi-sches und charakterliches Portrait gelungen,das einen omnipotenten Autokraten an derSpitze eines modernen säkularen Staates undeiner imperialen Großmacht zeigte, einen Macht-menschen, der mit brutaler Gewalt geherrscht

hatte. Beim Teil II handelte es sich jedoch um dieTragödie eines „Genies und Despoten“, eines auto-nomen und emanzipierten Individuums der russi-schen Moderne, das allen kulturellen Sinnsystemenentfremdet war. Der Zar ließ eine klare Weltanschau-ung vermissen, war stets zwischen Ratio und Emo-tion, zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Kul-tur und Barbarei hin und her gerissen. Seine Ethik,Rechtsauffassung und sein Herrschaftskonzept so-wie sein Handeln als Politiker und Mensch waren an-tinormativ, ambivalent, unberechenbar und selbst-zerstörerisch. Darüber hinaus zeichnete Eisenstein

das Bild Iwan des Schrecklichen als einer psy-chisch devianten Persönlichkeit, die ihre Ganz-heit verloren hatte, eines angstgesteuerten undmisstrauischen „willensschwachen Melancholi-kers“ (Siladi). Indem Sergej Eisensteins Film denstalinistischen Mythos Iwan des Schrecklichenhinterfragte, regte er eine kritische Auseinander-setzung mit dem sowjetischen Staatssystem sei-ner Gegenwart an. 1946 wurde Teil II des Filmsfür den sowjetischen Verleih verboten; erst 1958durfte er öffentlich gezeigt werden.

Lilia Antipow

Sergej Eisenstein, „Iwan der Schreckliche“, Mosfil'm 1943/45, links: Metropolit Filipp (Andrej Abrikosov), rechts: Zar Iwan der Schreckliche (Nikolaj Cerkasov)

Page 65: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

von 1936), wichtige Staatsgrundgesetze(wie z. B. das Dekret über den Grund undBoden), Schlüsseldokumente zu dendeutsch-russischen Beziehungen (wiez. B. der Friedensvertrag von Brest-Litovsk1918), aber auch wichtige Manifestationenzur Ausbildung des sowjetischen Systemsund der Kritik an ihm (wie z. B. die Resolu-tion der Kronstädter Matrosen 1921).

An der Kommentierung wirkten über30 deutsche und russische Historiker mit,wobei – gemessen an der Anzahl der Kom-mentare – der Anteil beider Gruppen ziem-lich ausgeglichen ist. Faksimiles stelltendas Russländische Staatliche Archiv fürPolitik- und Sozialgeschichte (RGASPI),das Staatliche Archiv der RussländischenFöderation (GARF), das RussländischeStaatliche Archiv der Neuesten Geschich-te (RGANI), das Archiv der Außenpolitik derRussländischen Föderation (AVP RF), dasStaatliche Zentrale Museum der Zeitge-schichte Russlands (GCMSIR), alle Mos-kau, sowie das Bundesarchiv (BArch) unddas Politische Archiv des AuswärtigenAmtes (PA AA), beide Berlin, zur Verfü-gung. Alle Dokumente liegen wie geplantzweisprachig vor (was inzwischen auch fürdie Mehrzahl der Einführungen und Kom-mentare gilt). Erstmals wurden in derjüngsten Marge auch Filmszenen aufge-nommen (wie z. B. die durchaus ambiva-lente Charakterdarstellung des histori-schen Alter Ego Stalins in Eisensteins„Iwan der Schreckliche.“ 1943/45).

Der Fortgang der Edition ließ den Planzu einem Parallelprojekt „Schlüsseldoku-mente zur deutschen Geschichte des 20.Jahrhunderts“ entstehen; sein Aufbau(Vorspann, Kommentar, Quellen- und Lite-raturhinweise, Dokument als Volltext, Do-kument als Faksimile, Hintergrundsglos-sar) sollte mit dem russischen identischsein. Die Anregung ging von den russi-schen Kollegen in der deutsch-russischenHistorikerkommission aus. Der ErlangerLehrstuhl wurde gebeten, dafür eine ent-scheidungsreife Vorlage zu erarbeiten. Beider Erstellung einer vorläufigen Dokumen-tenliste versicherte er sich der Mithilfe vonausgewiesenen Fachkollegen. Für ihre Un-terstützung bei der Quellenauswahl seiProf. Dr. Andreas Wirsching (UniversitätAugsburg) für die Zeit der Weimarer Re-publik, Dr. Volker Dahm, Dr. Christian Hart-mann und Dr. Dieter Pohl (alle: Institut fürZeitgeschichte, München-Berlin) für dieZeit des Nationalsozialismus und desZweiten Weltkriegs, Privatdozent Dr. Man-fred Kittel und Prof. Dr. Udo Wengst (beideInstitut für Zeitgeschichte München undUniversität Regensburg) für die Nach-kriegsgeschichte 1945 bis 1969/72 und

Prof. Dr. Andreas Rödder (damals Universi-tät Stuttgart, jetzt Universität Mainz) für dieJahre zwischen 1969 und 1990/92 herzlichgedankt. Die mit ihrer Hilfe erstellte Vor-schlagsliste von über „100(0) Schlüsseldo-kumenten zur deutschen Geschichte seitdem Ersten Weltkrieg“ ging im Frühjahr2002 den beiden Kommissionsvorsitzen-den (Prof. Dr. Horst Möller/München-Berlinund Prof. Dr. Aleksandr Cubar’jan/Moskau)sowie Prof. Dr. Jakov Drabkin/Moskau zu,der das Projekt maßgeblich mit angeregthatte. Einwände wurden dagegen nicht er-

hoben, der Erlanger Lehrstuhl mit der Fe-derführung betraut und das Vorhaben alsGemeinschaftsprojekt des Instituts für Ge-schichte der Universität Erlangen-Nürn-berg und des Instituts für Allgemeine Ge-schichte der Russländischen Akademieder Wissenschaften in die Agenda derdeutsch-russischen Historikerkommissionaufgenommen. Das Bundesministeriumdes Innern stellte Projektmittel in Aussicht.

2004 konnte mit einer ersten Margebegonnen werden. Mit den Projektmittelnder Kommission war es möglich, für je-

Forum Forschung Geschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200784

Weisung Hitlers Nr. 21 „Fall Barbarossa“, 18. Dezember 1940. © Faksimile. BundesarchivBerlin (BAB). 2004.

Der deutsch-sowjetische Krieg, der am 22. Juni1941 mit dem Überfall der Wehrmacht auf dieSowjetunion begann und in der Nacht vom 8. aufden 9. Mai 1945 mit der Unterzeichnung derdeutschen bedingungslosen Kapitulation in Ber-lin-Karlshorst beendet wurde, war der größte,verlustreichste und wichtigste Teilkonflikt desZweiten Weltkriegs. Er steht in seinem blutigenVerlauf und seiner nachhaltigen Wirkung in derdeutschen und russischen Geschichte, wennnicht sogar in der Weltgeschichte, ohne Beispielda. Daher kommt der Weisung Hitlers vom 18.Dezember 1940, dass sich die Wehrmacht biszum 15. Mai 1941 darauf vorbereiten müsse,„auch vor Beendigung des Krieges gegen Eng-land Sowjetrußland in einem schnellen Feldzugniederzuwerfen (Fall Barbarossa)“, eine zentraleBedeutung zu. Hier manifestierte sich erstmalsschriftlich, verbindlich und konkret der hochris-kante Angriffsplan des deutschen Diktators ge-gen das Reich seines ideologischen AntipodenStalin. Die Weisung konzentrierte sich ganz aufdie – leichtsinnigen und letztlich verfehlten –operativen Richtlinien für die drei Wehrmachts-teile (Heer, Luftwaffe, Kriegsmarine), gab aberdarüber hinaus das Startsignal für die gesamtemilitärische, politische und wirtschaftliche Vor-bereitung eines ideologisierten Raub- und Er-oberungsfeldzugs.

Johannes Hürter

Bericht der Hauptverwaltung der DeutschenVolkspolizei (HVDVP) für die Zeit vom 16.6.53 bis22.6.1953, 18.00 Uhr [Volksaufstand in der DDRam 17. Juni 1953], undatiert. © Faksimile. Bun-desarchiv Berlin (BAB). 2004.

Der Bericht der Hauptverwaltung der DeutschenVolkspolizei (HVDVP) über die Ereignisse in derDDR zwischen dem 16. und 22. Juni 1953 schil-dert die erste Volkserhebung im kommunisti-schen Machtbereich nach dem Tode des sowje-tischen Diktators Josef Stalin. In der vier Jahrezuvor gegründeten DDR waren damals Hundert-tausende Menschen spontan auf die Straße ge-gangen und hatten für den Rücktritt der Regie-rung und freie Wahlen demonstriert. Nur durchdas Eingreifen der in Deutschland stationiertensowjetischen Truppen konnte der Aufstand nie-dergeschlagen werden. Das Dokument fasst dieEreignisse zusammen und beziffert das Ausmaßder Erhebung sowie der anschließenden Re-pressionswelle – eine Bilanz, die trotz ihres büro-kratischen Duktus und der ideologischen Ver-zeichnung deutlich macht, wie machtvoll derVolksaufstand gegen die SED-Diktatur im Juni1953 war. Zweifellos gehört der Aufstand, auchwenn er scheiterte, in die Reihe der großen de-mokratischen Erhebungen in Deutschland.

Hubertus Knabe

Page 66: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

weils zwei, drei Monate pro Jahr eine Re-daktionsstelle zur Betreuung des Projektseinzurichten (in ihr waren nacheinander tä-tig: Dr. Jaromir Dittmann-Balcar, jetzt Uni-versität München; Dr. Patrick Bernhard,jetzt DHI Rom; Ariane Leendertz). Außer-dem konnten Faksimiles angefertigt undgegebenenfalls Publikationsrechte erwor-ben und mithilfe von Sondermitteln Über-setzungen von Dokumenten und Kom-mentaren in Auftrag gegeben werden.Ebenso wichtig, ja noch wichtiger war,dass auch hier viele Fachkollegen zur (un-entgeltlichen) Mitarbeit bereit waren unddie Kommentierung von Dokumentenübernahmen. Bisher waren es weit über 40Historiker und Historikerinnen, und das istin etwa auch die Zahl der Dokumente, dieinzwischen kommentiert und in Überset-

zung vorliegen und auf dem Server derBayerischen Staatsbibliothek präsentiertwerden sollen. Auch im „deutschen Pro-jekt“ wurde versucht, zunächst mit Staats-grundgesetzen (wie z. B. die WeimarerReichsverfassung 1919) sowie Weichen-stellungen der Außenpolitik (wie z. B. derRapallo-Vertrag 1922) zu beginnen undEckdaten wie zentrale Manifestationen dergeschichtlichen Entwicklung Deutsch-lands zu dokumentieren.

Ab Herbst 2007 steht das Projekt„100(0) Schlüsseldokumente zur russi-schen und sowjetischen Geschichte(1917-1991)“ im Internet unter derAdresse:http://mdzx.bib-vb.de/1000dok/start.htmlzur Verfügung, das Projekt „100(0) Schlüs-seldokumente zur deutschen Geschichte

im 20. Jahrhundert“ unter der Adresse:http://mdzx.bib-bvb.de/de1000dok/start.html.

Lilia Antipow

Forum Forschung Geschichte / Wirtschaftswissenschaften

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200786

Prof. Dr. Helmut Altrichter Tel.: 09131/[email protected]

Lilia AntipowTel.: 09131/[email protected]

Der Lehrstuhl für Internationales Manage-ment der Universität Erlangen-Nürnberghat vom Bundesministerium für Bildungund Forschung (BMBF) den Zuschlag fürein weiteres Projekt mit dem Titel „GlobaleStrategien von Dienstleistungsunterneh-mungen. Konfiguration – Koordination –Kundenintegration (3K)“ erhalten. Das aufdrei Jahre ausgerichtete Forschungspro-jekt wird vom BMBF mit 600.000,– Eurogefördert. Erste Erkenntnisse sind bereitszum Ende des 1.Quartals des Jahres 2007zu erwarten. Die Projektleitung hat Prof. Dr.Dirk Holtbrügge.

Das neue Forschungsprojekt unter-sucht, welche Wettbewerbsvorteile die In-ternationalisierung von Dienstleistungenermöglicht. An dem Forschungsvorhabensind die Juniorprofessur für Dienstleis-tungsmanagement und der Lehrstuhl fürMarketing der Universität Dortmund alswissenschaftliche Partner des Lehrstuhlsfür Internationales Management beteiligt.Eine praxisorientierte Perspektive bietendie Unternehmen GfK, Star Alliance Ser-vices, Aconsite und Log-IT. Nach dem For-schungsprojekt „Export ferngelenkterDienstleistungen“ hat der Lehrstuhl vonProf. Holtbrügge damit bereits den Zu-schlag für ein zweites Projekt erhalten.

Internationale Dienstleistungsunter-nehmungen haben in den letzten Jahr-zehnten zunehmend an Bedeutung ge-

wonnen. In jüngster Zeit ist über den Ex-port hinaus auch eine starke Zunahme anDirektinvestitionen von Dienstleistungsun-ternehmungen zu beobachten. Unterneh-mungen, die mit Tochtergesellschaften inverschiedenen Ländern tätig sind, müssennicht nur spezifische Strategien für die ein-zelnen Auslandsmärkte entwickeln, son-dern ihre in- und ausländischen Engage-ments in eine globale Unternehmensstra-tegie integrieren, um dadurch länderüber-greifende Wettbewerbsvorteile zu erzielen.Zur Ausschöpfung von Wettbewerbsvor-teilen dienen vor allem die länderübergrei-fende Konfiguration von Wertaktivitäten,deren unternehmensinterne Koordinationsowie die Kundenintegration. Bislang feh-len Studien, welche die Zusammenhängedieser drei Instrumente für Dienstleis-tungsunternehmungen analysieren. DasZiel dieser Pionierstudie ist es deshalb, eintheoretisch und empirisch fundiertes Kon-zept zur länderübergreifenden Konfigura-tion, Koordination und Kundenintegrationinternationaler Dienstleistungsunterneh-mungen zu entwickeln, welche den Ent-scheidern konkrete Handlungsempfehlun-gen für die Internationalisierung liefert. DieStudie schließt damit eine große Lücke inder wissenschaftlichen Literatur und istvon hoher praktischer Relevanz.

Die enge Zusammenarbeit mit denPraxispartnern soll dazu beitragen, fun-

Prof. Dr. Dirk HoltbrüggeLehrstuhl für Internationales ManagementTel.: 0911/[email protected]

dierte praxisbezogene Erkenntnisse zu ge-winnen. Bei der Auswahl der Praxispartnerwurde auf Unternehmungen unterschiedli-cher Branchen, Größenklassen und strate-gischer Ausrichtung geachtet. Der wirt-schaftliche Nutzen der Studie besteht inder Stärkung der Globalisierungsfähigkeitund der internationalen Wettbewerbsfä-higkeit deutscher Dienstleistungsunter-nehmungen gegenüber Unternehmungenaus anderen Ländern. „Ein wichtiger Bei-trag ist dabei der Erfahrungstransfer vongroßen Unternehmungen, die bereits glo-bal tätig sind, auf kleine und mittlere Unter-nehmungen, die am Beginn ihres Interna-tionalisierungsprozesses stehen“, so derProjektleiter Prof. Dr. Dirk Holtbrügge.

Globale Strategien deutscher DienstleisterWeiteres BMBF-Projekt am Lehrstuhl für Internationales Management

Page 67: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Germanistik

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200787

Beim Wort „Stammbuch“ denkt man heutein erster Linie an Formularsammlungen,die man bei der Eheschließung ausgehän-digt bekommt, oder an genealogische Zu-sammenstellungen, die die Abstammungund Entwicklung einer Familie dokumen-tieren. Anders als in der Umgangsspracheversteht die kulturwissenschaftliche For-schung darunter freilich eine Buchgattung(„Album Amicorum“), die über Jahrhun-derte hinweg dem Sammeln handschriftli-cher Erinnerungsnotate von Gönnern, Be-kannten und Freunden gedient hat.

Vor allem Studenten und Adelige wa-ren seit den 1530er-Jahren Träger dieserSitte, später weitete sie sich auf Diploma-ten, Handelsleute und Handwerker aus,ehe im ausgehenden 18. Jahrhundert auchjunge Frauen erfreulichen Begegnungenmit näherstehenden Mitmenschen durchdas Erbitten eines Eintrags Dauerhaftigkeitzu verleihen versuchten. Heute sind eshauptsächlich Schülerinnen der Grund-schulklassen, die die Sitte des „Poesie-albums“ in simplerer Form weiterpflegen.

Stammbücher als ForschungsfeldVor allem Stammbüchern des 16. bis 19.Jahrhunderts wird heute in ganz verschie-denen Disziplinen hohes Interesse entge-gengebracht. Sie lassen nicht nur ein-drucksvolle Netzwerke persönlicher Be-ziehungen erkennbar werden und sindeine wichtige Quelle für die prosopogra-phische Forschung, die einem bestimmtenPersonenkreis auf der Spur ist. Auch dieLiteraturgeschichte greift gerne auf sie zu-rück, um die Frequenz und Reichweite derRezeption von Autoren oder literarischenMotiven in verschiedenen Milieus quantifi-zieren zu können. Die kurzen, meist nurwenige Zeilen umfassenden Texte dienender Rekonstruktion denkgeschichtlicher,religiöser wie politischer Strömungen. Dieoft ausgesprochen reizvollen Illustrationenwerden von der Kunstwissenschaft undder Kulturgeschichte thematisiert, und ge-legentliche Notenbeigaben finden immerwieder das Interesse der Musikwissen-schaft. So haben sich die Alben längst alsmultidisziplinärer Forschungsgegenstandetabliert, der für viele kulturwissenschaftli-

che Fragestellungen bislang brachliegen-des Quellenmaterial zur Verfügung stellt.

Dem breiten Interesse der Forschungkam der Dokumentationsstatus freilichlange Zeit kaum entgegen. Nur wenige Bibliotheken haben ihre Stammbücher ingedruckter Form verzeichnet, die Hand-schriftenbestände sind meist nur über in-terne Kataloge vor Ort, nicht aber über öf-fentlich zugängliche digitale Fundmitteleruierbar. So war die Suche nach be-stimmten Alben ein zeitaufwendiges Un-terfangen, da oft nicht einmal deren Exis-tenz, geschweige denn die gegenwärti-gen Standorte recherchierbar waren. Zu-dem gab es kaum Möglichkeiten, raschauf Forschungen zu einzelnen Stamm-büchern zurückzugreifen, die nicht nur inälterer Zeit oft an recht abgelegenen Pu-blikationsorten erschienen sind.

Das RAA – Repertorium Alborum AmicorumSeit März 1998 versucht eine am ErlangerInstitut für Germanistik erstellte Daten-bank, hier Abhilfe zu schaffen. Aus kleinen

Stammbücher des 17. Jahrhunderts enthaltenhäufig reizvoll guachierte Emblemdarstellungen,die rezeptionsgeschichtlich interessant sind.

Die Abbildung aus dem Album desNürnberger Handelsmanns Johann Con-

rad Goez greift 1675 die Pictura 27 aus denberühmten „Emblemata ethico-politica“ des

Julius Wilhelm Zincgref auf, die bereits 1619 erst-mals erschienen waren (Nürnberg, Stadtbibliothek:

Amb. 37. 8° Rar., fol. 223r).

Datenbank der FreundschaftsalbenWeltweit größtes Nachweisinstrument für Stammbücher ist umgezogen

Page 68: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Anfängen (ca. 3000 Nachweise) hat sichdas „RAA – Repertorium Alborum Amico-rum“ mittlerweile zum weltweit größtenNachweisinstrument für Stammbücher

und Stammbuchfragmente in europäi-schen und überseeischen Sammlungenentwickelt. Weisen übliche Handschriften-datenbanken mehr oder minder zufälligkaum mehr als 150 Exemplare dieserBuchgattung aus, so bietet das RAA in deraktuellen Version über 17.000 Datensätze.Sie bieten Aufschluss über den ehemaligenStammbuchhalter (oft mit Lebensdatenund biographischen Angaben), nennen dieLaufzeit des Albums und die Eintragsorte,den Standort und die Signatur. In jeder derKategorien lässt sich gesondert recher-chieren, sodass z. B. leicht Stammbücheraus dem Leipzig Gottscheds oder demWeimar der Goethezeit eruiert werden kön-nen. Aufgenommen sind momentan Albenaus rund 550 Bibliotheken, Archiven undMuseen in 23 Ländern, außerdem einegroße Zahl von Nachweisen aus Antiquari-ats- und Auktionshandel sowie privatenSammlungen.

Besonders wichtig für die praktischeArbeit sind die gegenwärtig rund 40.000

Literaturangaben, die den Zugang zu nä-heren Informationen über das jeweilige Al-bum ermöglichen und in vielen Fällen auchdie Benutzung der wertvollen Unikate vor

Ort unnötig machen. Das RAA vereint alsoeine Standortdatenbank im Sinne eineszentralen Bibliotheksfindbehelfs mit einerbibliographischen Datenbank, die der Wis-senschaft oder auch interessierten Privat-leuten unmittelbare Hilfen für die weitereInformationssuche zur Verfügung stellt.Das gesondert aufrufbare Literaturver-zeichnis umfasst momentan über 1100Aufsatz- und Buchtitel und ermöglicht da-mit einen breitangelegten Einstieg in dieStammbuchforschung.

Weltweit verweisen Linksammlungender großen Bibliotheken mittlerweile aufdas Nachweisinstrument des Erlanger Ins-tituts für Germanistik, das sich als gegen-standsbezogene Zentraldatenbank etab-liert hat und – wie die Nutzerstatistiken zei-gen – gerade auch in den USA rege ge-nutzt wird. Bibliotheken und Archive, aberauch Privatsammler melden ihre Beständean die Redaktion, die den Datenfundusauch über die Auswertung abgelegenerSekundärliteratur ständig weiter ausbaut.

Enge Kooperation besteht mit einem ähnli-chen Projekt an der Universität Szeged,das sich auf ungarländische Alben be-schränkt; zu den besitzenden Institutionen

und den führenden Stammbuchforschernwerden rege Kontakte unterhalten, die dieAktualität und den weiteren Ausbau derDatenbank sicherstellen. Für die Zukunftist eine wesentliche Erweiterung der Re-cherchemöglichkeiten geplant, die dannauch die Suche nach einzelnen Einträgern,zitierten Autoren oder Bildmotiven mit um-fassen könnte.

Nach einer technischen Neugestal-tung und Aufwertung, die mit freundlicherHilfe des Erlanger Rechenzentrums umge-setzt werden konnte, ist das RAA im Inter-net jetzt unter der neuen Adressewww.raa.phil.uni-erlangen.de/ wieder fürjedermann frei zugänglich.

Werner Wilhelm Schnabel

Forum Forschung Germanistik

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200788

Prof. Dr. Werner Wilhelm SchnabelTel.: 09131/[email protected]

Goethe, häufig um Stammbucheintragungen gebeten, ließ sie in höherem Alter von seinem Schreiber John in Schönschrift anfertigen, unterzeichnete sie aber zu-mindest eigenhändig. Hier ein Blatt für den noch jungen Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847).

Page 69: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Das repräsentative Gebäude steht fürmanches: Wegen seiner prächtigen Archi-tektur ist die Orangerie ein von vielen Sei-ten oft und gern genutzter Schauplatz fürfestliche Anlässe, wegen ihres schlechtenbaulichen Zustandes in den letzten Jahrenaber auch ein Sorgenkind der Universitätund der anteilnehmenden Öffentlichkeit.Um die ursprüngliche Gestalt im Hinblickauf eine Renovierung zu ergründen, wurdesie nun auch zum Gegenstand von Bau-und Archivforschung. Nicht zuletzt des-halb rückt die Orangerie auch ins Visier derKunstgeschichte.

Markgraf Christian Ernst von Bran-denburg-Bayreuth hatte in der Planstadt,die er zur Aufnahme hugenottischerFlüchtlinge aus Frankreich 1686 errichtenließ, kein Schloss vorgesehen. Es sollteerst ab 1700, mit dem Erbprinzen GeorgWilhelm als Bauherrn, an der Ostseite der„Grande Place“ nach Plänen von AntonioPorta dem bereits vorgegebenen urbanis-tischen Rasterrahmen eingefügt werden.Repräsentative Bedeutung im Sinne einer

fürstlichen Hofhaltung wurde der Schloss-anlage jedoch erst 1703 zugemessen. Da-mals erwarb Markgraf Christian Ernst vonseinem Sohn, dem Erbprinzen, das nochunfertige Gebäude und schenkte es seinerjungen dritten Gemahlin Elisabeth Sophie.Die Tochter des Großen Kurfürsten Fried-rich Wilhelm von Brandenburg und Halb-schwester des brandenburgischen Kur-fürsten Friedrich III. beziehungsweise ers-ten preußischen Königs Friedrich I. (ab1701) verfolgte ehrgeizige Pläne zur Ge-staltung der bald nach ihr benannten „Eli-sabethenburg“.

Für die Konzeption eines großzügi-gen, weit über die östliche Stadtmauer-grenze hinausgreifenden Gartens zog sievor allem Gottfried von Gedeler heran. Erwar seit 1702 Oberingenieur und Oberbau-meister in markgräflichem Dienst, hatteaber die Ausbildung in Berlin erfahren undbetrachtete sich dem niederländisch-fran-zösischen Klassizismus verbunden. Derköniglichen Auftraggeberin und ihm stan-den offenbar Bauten im Umkreis der Ho-

henzollernresidenz vor Augen. So folgt die1705/06 nach Plänen Gedelers nördlichhinter dem Schloss errichtete Orangeriedeutlich dem Vorbild des neuen „Pomo-ranzen-Hauses“ am Lustgarten des Berli-ner Schlosses. Johann Arnold Nering hattedort, holländische Vorläufer rezipierend,1685 das wohl erste Beispiel eines Ge-wächshauses mit konkav einschwingen-der Fassade aufführen lassen. Statt einerÄdikula mit Segmentbogen zentrieren nunjedoch drei, zu einem risalitartig vortreten-den Triumphbogen zusammengefasste Ar-kaden und vorgelegte korinthische Voll-säulen die nach Süden gewandte Schau-seite. Säulenpaare stützen einen derdurchlaufenden Attika vorgeblendetenSegmentgiebel, über den das gekrönte Al-lianzwappen des Markgrafenpaares – be-gleitet von Liegefiguren mit Füllhörnern –hinausragt; Statuen vierer Gottheiten (Flo-ra, Ceres, Bacchus, Vulkan) aus der Werk-statt des Elias Räntz repräsentieren dieJahreszeiten. Gemeinsam mit den blüten-besetzten Piedestalen der Säulen verlei-

Forum Forschung Kunstgeschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200790

Die Erlanger Markgrafen züchteten Südfrüchte in der Orangerie und feierten hier rauschende Feste. Heute beheimatet der Bau an der Nordseite des Schlossgar-tens die Institute für Kunstgeschichte und für Kirchenmusik der Universität Erlangen-Nürnberg. Foto: Uni Erlangen-Nürnberg

Eine Schönheit im GrünenSeit 300 Jahren ziert die Orangerie den Erlanger Schlossgarten

Page 70: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Forum Forschung Kunstgeschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200791

hen sie der Orangerie eine heitere Aura,überdecken jedoch keineswegs die trium-phalen Züge des Architekturmotivs. Zumherrschaftlichen Erscheinungsbild tragenauch die auffliegenden Adler mit Kronreifbei, die die Kanten der Seitenpavillonsmarkieren. Als preußische Wappenbilderreflektieren sie Planungen, die AndreasSchlüter für das neue Berliner Schloss um-zusetzen suchte: Zur Bekrönung der flan-kierenden Rundtürme hatte der nunmehrführende Berliner Architekt heraldisch sig-nifikante Skulpturen flügelschlagender Ad-ler vorgesehen.

Den „Wassersaal“, in der Mitte derOrangerie gelegen, beherrschte ursprüng-lich ein im Marmorfußboden eingelassenerSpringbrunnen. Die beiden Türbogen, diein der Querachse des Raumes zu den vier-telkreisförmigen Gewächshäusern führen– diese, den Pflanzen zugedachten Zonensind unterkellert, um die Überwinterungder Agrumen durch Heizungen zu ermögli-chen –, werden von schmalen sandstein-sichtigen Wandnischen gerahmt. Hier sindes die plastischen Stuckfiguren über denMuschelkalotten, die an die Berliner Ho-henzollernresidenz erinnern, nämlich andie von Schlüter entworfenen Supraportender Paradezimmer im Lustgartenflügel(1698-1700). Weniger geschmeidig, verge-genwärtigen sie in Erlangen die Allegorienvon Morgen und Abend. Die beiden ande-ren Personifikationen der Tageszeiten anden heute freien Stellen sind verloren. Dieseitlichen Nischenrahmen weisen je fünfKonsolen auf, die möglicherweise Fa-yencen trugen, ähnlich wie sie ein Stich der

„Pilder Nische“ in freilich geringerer Anzahlzeigt. Paul Decker, ein Schüler Schlütersund seit 1710 für die Markgrafen von Bran-denburg-Bayreuth tätig, hatte dieses Blattgestaltet. Ob die vom rustizierten Nischen-grund umschlossenen kandelaberartig ge-staffelten Überfließbecken und Muscheln,in die Sirenen und Genien, vor allem aberauffliegende Wappenadler ihre Strahlengießen, je so ausgeführt waren, ist unsi-cher. Jedenfalls wollte Decker, konformder politischen Linie des vom expansivenpreußischen Königtum durchaus einge-nommenen Markgrafen und seiner Ge-mahlin, mit dem preußischen Adler, derhier zudem das Kreuz des „Hohen Ordensvom Schwarzen Adler“ auf der Brust trägt,auch im Hauptsaal der Orangerie die jungeköniglich-preußische Würde repräsentiertsehen.

Verschwunden sind auch die hydrauli-schen Installationen, die es erlaubten,Gäste durch dünne Strahlen aufspringen-der Vexierwässer zu erschrecken. DieExistenz derartiger Wasserkünste machtdeutlich, dass die Orangerie auch als einOrt des Divertissements und des kurzweili-gen Aufenthalts – dazu dienten überdiesdie Appartements in den seitlichen Quer-flügeln – genutzt wurde. Nach oben abge-schlossen wird der Wassersaal durch einstuckiertes, dort und da mit Orangenmoti-ven geziertes Spiegelgewölbe. Sein ovalesMittelfeld ist von Kriegstrophäen, Fahnenmit einer Fürstenkrone, dem brandenbur-gischen Adler sowie den Initialen CEM fürChristian Ernst Markgraf umgeben. DasZentrum nahm, so überliefert eine Be-schreibung des frühen 19. Jahrhunderts,einst ein Gemälde mit der „Befreiung An-dromedas durch Perseus“ ein, zweifellosgedacht als Allegorie für den mutigen Mili-täreinsatz Christian Ernsts gegen Türkenund Franzosen im Dienst des Heiligen Rö-mischen Reiches. Es war nicht ungewöhn-lich, den Markgrafen mit dem Retter Per-seus, Andromeda mit der deutschen Frei-heit zu parallelisieren.

Von ihrem Berliner Vorbild unterschei-det sich die Erlanger Orangerie indes vorallem durch die Lage im Schlossgarten.Denn das Gebäude wurde nicht als ab-schließender Prospekt am Ende der Gar-tenlängsachse errichtet, sondern – an-fänglich von einem heckenumschlossenenKüchen- und Heilkräutergarten hinterfan-gen – als nördliche Begrenzung des Par-terres, einer ursprünglich etwas höher ge-legenen terrassenförmigen und mit Kiesbestreuten Fläche vor der Gartenfassadedes Schlosses. Zum übrigen Gartenschloss sie eine Steinbalustrade ab. DieFunktion der Orangerie als rahmende Ar-

chitektur wurde noch dadurch verstärkt,dass gegenüber, auf der Südseite, ein na-hezu entsprechendes Gebäude aufgerich-tet werden sollte: die gleichfalls von Gott-fried von Gedeler geplante Concordienkir-che, benannt nach dem von MarkgrafChristian Ernst 1660 gegründeten Orden„De la concorde“. Die Grundsteinlegungder Kirche erfolgte – nicht ohne Kontrover-sen zwischen Lutheranern und Calvinisten– am 5. August 1708, die Einweihung am27. Juli 1710. Das architektonisch Bemer-kenswerte besteht nun darin, dass dieFront der Kirche als Pendant zur Orangeriegleichfalls mit zwei konkav einschwingen-den Flügeln zur Überwinterung von Zitrus-früchten versehen werden sollte. Ein Fas-sadenriss von 1712 offenbart, dass darangedacht war, die im Mittelpavillon unterge-brachte Kirche allein durch eine etwas an-dersgestaltige Ornamentzier gegenüberder Orangerie auszuzeichnen – abgesehenvom kennzeichnenden Turm.

Sucht man Vorläufer für die Situierungzweier, im rechten Winkel gartenseitig voreiner Schlossfassade gelegener Orange-rien, so führen die deutlichsten Spuren er-neut nach Brandenburg. Vermutlich war eswiederum Nering, der 1691-1693 in derbevorzugten Sommerresidenz des Kur-fürsten Friedrich III. in Niederschönhausenseitlich des Gartenparterres eine Orange-rie über halbovaler Grundrissfigur auffüh-ren ließ. Zwei an den Schmalseiten einerTerrasse einander gegenüberliegende,wenn auch ungekrümmte Orangerienwies, wenn der Schein nicht trügt, dasSchloss in Schlodien auf. Hier hatte Jeande Bodt, Hugenottenflüchtling und seit1700 brandenburgischer Hofbaumeister,für Christoph Burggraf zu Dohna-Schlo-dien, eine der bedeutendsten Gestaltenam Berliner Hof, zwischen 1701-1704 denseit langem anspruchsvollsten AdelsbauOstpreußens geschaffen. Dem Corps deLogis über H-förmigem Grundriss sind, je-denfalls nach Ausweis eines Gartenent-wurfs, zwei schlichte Orangerien überrechteckigem Grundriss vorgelegt.

Resümiert man, so liegen die Wurzelnder Erlanger Orangeriekonzeption in derbrandenburgischen Architektur, sowohlbei Nering wie bei Jean de Bodt. Wendetman sich der „Großen Fontäne“ zu, dasheißt dem von der Schlossfassade undden beiden Orangerien flankierten Brun-nendenkmal des Stadtgründers und Lan-desherren in der Terrassenmitte, so wer-den die Blicke zunächst erneut nach Berlingelenkt. Und zwar auf die seitlich von Flü-gelbauten gerahmte marmorne Statue desGroßen Kurfürsten am Kreuzungspunktder von Ligusterhecken umschlossenen

Der repräsentative Wassersaal ist ein beliebter Ver-anstaltungsort – und wird zum Beispiel beimSchlossgartenfest als Ballsaal genutzt. Foto: UniErlangen-Nürnberg

Page 71: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

und von den kurfürstlichen Initialen undWappenadlern in Beeten geprägten Gar-tenterrasse. Der flämische Bildhauer Fran-çois Dieussart, hochgeschätzt an nordeu-ropäischen Fürstenhöfen, hatte die Skulp-tur im Auftrag der Gemahlin Friedrich Wil-helms, Luise Henriette, 1651-1652 ge-schaffen. Sie zeigt den Herrscher mit Kom-mandostab im Harnisch auf einem Posta-ment in einem kleinen Wasserbecken, indas von Putten gehaltene Delphine Was-ser speien. An dieses alles andere als be-scheidene, freilich spätestens 1702 durchSchlüters Neubau der Lustgartenfront zer-störte Ambiente erinnerte sich offenbarMarkgräfin Elisabeth Sophie, als sie, demVorbild der Stiefmutter entsprechend, dasStandbild ihres Gemahls auf der platzarti-gen, kiesbestreuten und frei zugänglichenTerrasse errichten ließ.

Der Denkmalbrunnen steht gartensei-tig vor der Schlossfassade und damit auchim Mittelpunkt der kosmologischen Statu-enzyklen, von denen die Geburtstagsrededes Bayreuther Gymnasialprofessors Da-vid Meyer aus dem Jahr 1708 auf denMarkgrafen ein literarisches Zeugnis gibt.Konkret gilt dies für die Skulpturen auf derAttika der Schlossgartenseite mit Apollund Diana als zentralen Personifikationenvon Sonne und Mond sowie die seitlich ge-reihten vier Elemente (Pluto, Merkur, Nep-tun, Ceres) bzw. vier Erdteile. Die Jahres-zeiten über dem Mittelrisalit der Orangerieund die Tageszeiten im Wassersaal ergän-zen also dieses weitgespannte Programmum die zeitliche Dimension und prononcie-ren so, dem Dekorum eines Gartens ange-

messen, den Hinweis auf den Wechsel derZeiten und mithin auf das Gedeihen derBlüten und Früchte.

Die – soweit nicht mit Bauten verbun-denen – längst untergegangenen Skulptu-ren stammen wohl gleichfalls aus derWerkstatt des Bayreuther HofbildhauerElias Räntz. Auf ihn geht auch die „GroßeFontäne“ oder das seit dem 19. Jahrhun-dert bevorzugt als „Hugenottenbrunnen“bezeichnete Herrschermonument vor demSchloss zurück. Es erhebt sich aus einemquerovalen, auf die Rundungen der beidenGebäude an den Schmalseiten abge-stimmten niedrigen Becken. Dominiertwird der etwa zwölf Meter hohe Denkmal-brunnen von einem pyramidalen Felsen-berg, auf dem das Standbild des korpulen-ten Markgrafen steht. Die über dem Porträtauf Wolken schwebende geflügelte Fama

bekränzt den Feldherrn und Stadtgründermit Lorbeer und verkündet seinen Ruhmmit einer Posaune, die ein Wimpel mit sei-nem herrscherlichen Wappen ziert.

Der aus Sandstein gehauene, teils argverwitterte und seiner strukturierenden far-bigen Fassung längst verlustig gegangeneFelsen bietet vier primäre Ansichten. Siesind achsial so ausgelegt, dass die Front-seite zur Schlossfassade gewandt ist undbei geöffneten Portalen vom Schlossplatzgerahmt im Durchblick wahrgenommenwerden kann. Nach Osten zu erlaubt einschmaler Felsspalt im Brunnenberg dieSicht auf das in der Gartenhauptachseplatzierte Reiterstandbild des Markgrafen.Es wurde 1712, also in seinem Todesjahr,von Elisabeth Sophie gleichfalls bei Elias

Räntz in Auftrag gegeben und folgt, inSandstein vergröbernd, dem Vorbild vonSchlüters Bronzedenkmal für den GroßenKurfürsten auf der Langen Brücke vor demBerliner Schloss, bestätigt also aufs Neuedie offenbar gesuchten Bezüge zur preu-ßischen Königsresidenz.

Unter dem Herrscherstandbild plat-zierte Räntz am wasserumspülten Felsen-berg bärtige Flussgötter, die aus Füllhör-nern – Sinnbilder abundanter Fruchtbar-keit – Wasser in die Tiefe hinabgießen. Da-zwischen weisen Putten und, eine Zonetiefer, auf den Vorsprüngen des zerklüfte-ten, dort und da mit Blatt- und Blütenran-ken bedeckten Felsens, vier Adler mit Kron-reif um den Hals auf Inschriftkartuschen.Unter den wasserspeienden brandenbur-gisch-preußischen Wappentieren stem-men Männergestalten atlantengleich Mu-

schelbecken. Darin sammeln sie einerseitsdas herabstürzende Wasser, andererseitsverteilen sie es neu und vermitteln so dasElement hinab zu den zeitgenössisch ge-wandeten Flüchtlingen und Einwohnern„Christian-Erlangs“, wie die neue Stadtseit 1701 hieß. Frauen, Männer und Kindersind teils vereinzelt, teils in kleinen Grup-pen gleichsam in Felswinkeln eingebettet.Sie geben sich erholsamen, genrehaft aus-gebreiteten Tätigkeiten hin.

Ist der Brunnen in voller Funktion, soentspringt der oberste Wasserstrahl demSzepter des kriegerisch gewandeten kai-serlichen Feldmarschalls und Stadtgrün-ders. Gewissermaßen als Ausfluss seinerherrscherlichen Fürsorge verbreiten dieFlussgötter ihr erquickendes Nass. Präzi-

Forum Forschung Kunstgeschichte

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200792

Wandbrunnen im Wassersaal der Orangerie, ein Entwurf von Paul Decker. Foto: Institut fürKunstgeschichte

Nach dem Vorbild des Brunnendenkmals des Großen Kurfürsten im Garten des Berliner Schlosses (Zeich-nung von François Dieussart, links) fertigte Elias Räntz die Portätstatue des Markgrafen Christian Ernst aufdem Hugenottenbrunnen im Erlanger Schlossgarten. Foto: Institut für Kunstgeschichte

Page 72: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia

Personalia

Page 73: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia in memoriam

Prof. Dr. Philipp Hümmer

Prof. Dr. Philipp Hümmer, Professor für die Didaktik der Geo-graphie, ist am 25. Juli 2006 im Alter von 61 Jahren verstor-ben.

Philipp Hümmer, geboren 1944, studierte Geographie, Germanis-tik und Geschichte und war nach seiner Promotion im Jahre 1972als Lehrer an einem Nürnberger Gymnasium tätig. 1974 wech-selte er an den Lehrstuhl für Didaktik der Geographie an die Uni-versität Bayreuth, wo er sich 1981 habilitierte. Im gleichen Jahrnahm Philipp Hümmer den Ruf auf die Professur für die Didaktikder Geographie an der Universität Erlangen-Nürnberg an. Nebender Didaktik der Geographie waren seine Forschungsschwer-punkte die Wirtschafts- und Sozialgeographie der Türkei, fränki-sche Landeskunde sowie die Geographie des ländlichen Raums.

Professor Hümmer war Gründungsmitglied des Instituts für Ent-wicklungsforschung im ländlichen Raum Ober- und Mittelfran-kens sowie wissenschaftlicher Beirat im Frankenbund.

Prof. Dr. Hans-Joachim Lang

Prof. Dr. Hans-Joachim Lang, zwischen 1967 und 1986 Inha-ber des Lehrstuhls für Amerikanistik, ist am 14. Dezember2006 im Alter von 85 Jahren verstorben.

Als Vorstand des Seminars für Amerikakunde und ab 1974 als Mit-vorstand des Instituts für Anglistik und Amerikanistik führte er dieErlanger Amerikanistik zu internationalem Ansehen. Als Mitgliedder Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, deren Beirat erzwölf Jahre lang angehörte, sowie als Mitherausgeber des Jahr-buchs für Amerikastudien hat Lang die Entwicklung der deut-schen Amerikanistik nach 1950 maßgeblich mitbestimmt.

Geboren am 3. Januar 1921, promovierte er 1946 in Gießen. NachTätigkeiten als Verlagslektor und freier Journalist wurde er 1951wissenschaftlicher Assistent an der Universität Hamburg. 1958habilitierte er mit einer Arbeit über die amerikanische Literaturkri-tik des frühen 20. Jahrhunderts. 1959 folgte er einem Ruf nach Tü-bingen, 1967 wurde er Ordinarius in Erlangen. Rufen nach Göttin-gen und Hamburg folgte er nicht. Zu Gastprofessuren luden ihndie University of Arkansas, die Indiana School of Letters und dieUniversity of California (Berkeley) ein.

Langs wissenschaftliches Werk umfasst neben Büchern hundertevon Artikeln und kürzere Schriften. Als akademischer Lehrerwirkte Lang über sein Fach hinaus für Verstehen und Verständniszwischen deutschen und amerikanischen Kulturen.

Prof. Dr. Richard Klein

Prof. Dr. Richard Klein, außerplanmäßiger Professor am Lehr-stuhl für Alte Geschichte, ist am 20. November 2006 im Altervon 71 Jahren verstorben.

Der gebürtige Fürther studierte Latein, Griechisch, Geschichteund Archäologie an den Universitäten in Erlangen und München.Zwischen 1960 und 1998 unterrichtete er die Fächer Latein, Grie-chisch und Geschichte an den Gymnasien in Vilshofen, Forch-heim und am Neuen Gymnasium Nürnberg. 1971 wurde er zumFachmitarbeiter des Ministerialbeauftragten von Mittelfranken fürLatein und Griechisch bestellt.

Seit 1970 lehrte Richard Klein am Lehrstuhl für Alte Geschichteder Universität Erlangen-Nürnberg, wo er sich 1977 habilitierte.1978 wurde Richard Klein zum Privatdozenten,1983 zum apl. Pro-fessor ernannt. Bis ganz zuletzt war er als engagierter Forscher,beliebter akademischer Lehrer und gefragter Herausgeber aktivins Universitätsleben eingebunden.

Prof. Dr. Wolfgang Männel

Prof. Dr. Wolfgang Männel, bis zum Frühjahr 2006 Inhaber desLehrstuhls für Betriebswirtschaftlehre, insbesondere Rech-nungswesen und Controlling, ist am 26. September 2006 kurzvor Vollendung seines 69. Lebensjahres verstorben.

Wolfgang Männel, geboren am 18. Oktober 1937, studierte Be-triebswirtschaftslehre an der Wirtschaftshochschule Mannheim.1963 folgte er seinem akademischen Lehrer Professor Dr. PaulRiebel nach Frankfurt am Main. Dort promovierte er 1967 über„Wirtschaftsfragen der Anlagenerhaltung“. 1973 folgte er einemRuf an die Universität Dortmund und nahm aktiv teil am Aufbauder dortigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät.1982 übernahm er an der Universität Erlangen-Nürnberg denLehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Rechnungs-wesen und öffentliche Betriebe.

Professor Männel amtierte mehrfach als Prodekan der Wirt-schafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und als Ge-schäftsführender Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts.1983 bis 1985 war er Mitglied des Vorstandes des Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlichen Fakultätentages der Bundesrepu-blik Deutschland. 1976 bis 2002 gab er die Fachzeitschrift „Kos-tenrechnungspraxis“ heraus.

Im Auftrag der WiSo-Fakultät vereinbarte Prof. Männel mit derspanischen Universidad de Alcalá de Henares einen neuen inter-disziplinären Doppeldiplom-Studiengang ab dem Jahr 2001.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200796

Page 74: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia in memoriam

Prof. Dr. Gerhard Meier-Reutti

Prof. Dr. Gerhard Meier-Reutti, früherer Inhaber der Professurfür Christliche Publizistik, ist am 15. Juli 2006 nach kurzer,schwerer Krankheit im Alter von 72 Jahren verstorben.

Professor Meier-Reutti leitete seit 1991 die Abteilung für Christli-che Publizistik an der Universität. Während der zehn Jahre, die erin Erlangen lehrte, baute er die Publizistik als ein eigenständigesFach aus. Er schuf ein studienbegleitendes Curriculum für Theo-loginnen und Theologen und gestaltete einen Aufbaustudien-gang, der Theologen - viele davon aus ehemals kommunistischenStaaten - für publizistische Aufgaben in und außerhalb der Kirchevorbereitet. Theorie und Praxis gehören im Fach Publizistik zu-sammen, davon war Meier-Reutti überzeugt. Deshalb zog er vieleProfis aus der journalistischen Praxis als Lehrende nach Erlangen.

Im Ulmer Vorort Reutti war Meier-Reutti viele Jahre Pfarrer undfühlte sich dieser Gemeinde so verbunden, dass er sie in seinenNachnamen aufnahm. Bis zuletzt hielt er als HonorarprofessorSeminare an der Ulmer Universität.

Sein wissenschaftliches Lebenswerk hat Meier-Reutti in Erlangenhinterlassen. In seinem letzten Aufsatz, der anlässlich des 40-jäh-rigen Jubiläums der Abteilung Christliche Publizistik im Oktober2006 erschien, schilderte er die Schwierigkeiten sowohl innerhalbder Universität als auch innerhalb der Kirche, Publizistik als ein ei-genständiges wissenschaftliches Fach anzuerkennen.

Prof. Dr. Holger Sandig

Prof. Dr. Holger Sandig, von 1970 bis zu seinem Ruhestand1995 Leiter der Abteilung Theaterwissenschaft, ist am 7. No-vember 2006 im Alter von 76 Jahren verstorben.

Prof. Dr. Holger Sandig verkörperte in den über 25 Jahren seinerBerufstätigkeit in Erlangen eine Personalunion, wie sie in den Zei-ten anonymer Großuniversitäten zur Seltenheit wurde und geradeheute wieder herbeigesehnt wird: Ein professioneller und effizien-ter Institutsleiter mit interdisziplinärem Fachwissen ohne bürokra-tische Berührungsängste und ohne akademischen Dünkel, einfundierter Fachmann, der es verstand, Wissenschaftlichkeit undKunst, Theorie und Praxis lebendig zu vermitteln, und ein leiden-schaftlicher Theatermann mit einem unerschöpflichen Erfah-rungsfundus, dem es als Dozent nie an Flexibilität und Kreativitätmangelte.

Die Verbindung von Wissenschaft und Theater war für ihn bereitsin jungen Jahren zum Lebensinhalt geworden. Neben seinem Stu-dium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie undPsychologie in Braunschweig, Göttingen und München war er alsRegie- und Dramaturgieassistent am Staatstheater in Braun-schweig tätig. Nach seiner Promotion wirkte er bis 1970 als Spiel-leiter und Erster Programmgestalter beim Saarländischen Rund-funk und hatte gleichzeitig einen Lehrauftrag für Theaterwissen-schaft an der Universität des Saarlandes inne. 1978 folgte die Ha-bilitation im Fach Theaterwissenschaft über „Deutsche Dramatur-gie des Grotesken“. Die Leitung des Faches Theaterwissenschaftin Erlangen übernahm er 1970.

Prof. Dr. Eberhard Paterok

Prof. Dr. Eberhard Paterok, Professor für Geburtshilfe undFrauenheilkunde an der Frauenklinik des Universitätsklini-kums, ist am 10. September 2006 durch einen tragischen Un-glücksfall im Alter von 58 Jahren verstorben.

Eberhard Paterok wurde 1948 in Schwandorf geboren. Nach demAbitur studierte er von 1967 bis 1973 Humanmedizin in Erlangenund Tübingen. Seine Promotion erfolgte 1973. Anschließend warer Medizinalassistent bei Prof. Dr. Ludwig Demling an der Medizi-nischen Universitätsklinik in Erlangen sowie Assistenzarzt an derUniversitätsfrauenklinik bei Prof. Dr. Karl G. Ober. 1980 beendeteer seine Facharztausbildung für Gynäkologie und Geburtshilfe.1986 erfolgte seine Ernennung zum Universitätsprofessor. Von1989 bis 1992 war Prof. Paterok Prodekan der Medizinischen Fa-kultät.

Zu den Arbeitsgebieten von Prof. Paterok gehörten u. a. Diagnos-tik und Therapie von Cervix- und Mammacarcinomen.

Prof. Dr. Hans H. Simmer

Prof. Dr. Hans H. Simmer, der erste Inhaber des Lehrstuhls fürMedizingeschichte in Erlangen-Nürnberg und ehemalige Di-rektor des Instituts für Geschichte der Medizin, ist am 21. Juli2006 im Alter von 80 Jahren verstorben.

Prof. Simmers Spezialgebiet war die gynäkologische Endokrino-logie. Er zählte zu den wenigen international anerkannten Wissen-schaftlern, die auf dem Gebiet der Sexualhormone erfolgreicheForschungsarbeit geleistet haben.

Prof. Simmer wurde 1926 in Barmen geboren. Sein Medizinstu-dium absolvierte er in Bonn, Göttingen und Tübingen. Er arbeiteteu. a. am Max-Planck-Institut in Tübingen bei dem Biochemikerund Nobelpreisträger Adolf Butenandt, absolvierte an der Univer-sitäts-Frauenklinik Freiburg eine Facharztausbildung, ging 1960in die USA und wurde 1963 an der Universität von Kalifornien inLos Angeles zum Associate Professor berufen. Wenige Jahre spä-ter folgte die Ernennung zum „Full Professor“ für Frauenheilkundeund Geburtshilfe. 1967 erhielt Simmer den Titel eines „Professorof Medical History“. Dem Ruf an das Institut für Geschichte derMedizin in Erlangen folgte Prof. Simmer 1974. Im Jahre 1983zwang ihn eine schwere Erkrankung, in den Ruhestand zu treten.Er betreute jedoch seine Doktoranden weiter und setzte - soweites die Gesundheit zuließ - seine Forschungsarbeit fort. Dabei lagihm die Untersuchung der Beiträge jüdischer Wissenschaftler zurMedizin stets besonders am Herzen. Davon zeugt seine 2003 er-schienene Biographie über den pathologischen Anatom LudwigPick, der 1944 im Ghetto Theresienstadt ums Leben kam.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200797

Page 75: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia in memoriam/Berufungen

Prof. Dr. Erich Rügheimer

Prof. Dr. Erich Rügheimer, ehemaliger Direktor des Institutsfür Anästhesiologie, ist am 24. Februar 2007 im Alter von 81Jahren verstorben.

Der gebürtige Nürnberger studierte zwischen 1946 und 1951 Me-dizin an der Universität Erlangen, wo er 1953 auch promovierte.Im Jahre 1958 wurde Prof. Rügheimer Leiter der Anästhesieabtei-lung und 1960 Oberarzt der Chirurgischen Klinik. 1966 folgte dieErnennung zum Extraordinarius für Anästhesiologie,1970 schließ-lich zum Ordinarius für Anästhesiologie. 1974 wurde die Anästhe-sieabteilung in „Institut für Anästhesiologie“ umbenannt. For-schungsschwerpunkte von Prof. Rügheimer lagen auf den Gebie-ten der Pathophysiologie und Therapie von Lungenversagen undbeim Schock nach Trauma und Sepsis.

Bis zu seiner Emeritierung 1995 hatte Prof. Rügheimer zahlreicheÄmter innerhalb und außerhalb der Universität inne. So stand ervon 1974 bis 1979 der Medizinischen Fakultät als Dekan vor. Inden Jahren 1980 und 1981 fungierte er zudem als Geschäftsfüh-render Direktor des Universitätskrankenhauses. 1973/1974 und1979/1980 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anäs-thesiologie. Von 1978 bis 2001 war Prof. Rügheimer Mitglied desADAC-Ärztekollegiums, von 1979 bis 1998 Mitglied des Wehrme-dizinischen Beirats beim Bundesminister der Verteidigung. Fürseine Verdienste wurde Prof. Rügheimer 1984 mit dem Bundes-verdienstkreuz ausgezeichnet.

Prof. Dr. Antonio Delgado

Antonio Delgado Rodriguez (Jahrgang1956) leitet als W3-Professor seit April2006 den Lehrstuhl für Strömungsme-chanik (Nachfolge Prof. Dr. Dr. h. c. mult.Franz Durst) am Institut für Chemie- undBioingenieurwesen der Technischen Fa-kultät.

Antonio Delgado studierte Maschinenbau an der Universität Es-sen. Seine Habilitation folgte 1993. Schon 1992 erhielt er Ange-bote des Bundesministeriums für Forschung und Technologie zurMitwirkung an der Koordination der deutschen Raumfahrt sowieeines renommierten deutschen Unternehmens, in dessen Reihener als Leiter der Vorentwicklung/Forschung bis 1995 agierte. AmCenter for Food and Life Sciences (WZW) der TU München wirkteer bis 2006 als Inhaber des Lehrstuhls für Fluidmechanik und Pro-zessautomation.

Antonio Delgado versteht die Strömungsmechanik als eine Quer-schnittsdisziplin, welche in enger multidisziplinärer Verbindungmit den Ingenieurwissenschaften inklusive der Informatik, denNaturwissenschaften unter besonderer Einbeziehung der Ange-wandten Mathematik und der Medizin wesentliche Impulse zusetzen vermag. Dementsprechend weist der von ihm geleiteteLehrstuhl ein breitgefächertes Forschungsspektrum auf. Im Sinnedes Humboldt’schen Grundgedankens verfolgt er in der Lehre dieintensive Einflechtung von Kenntnissen aus diesen Feldern.

Prof. Dr. Hans Klees

Prof. Dr. Hans Klees, Extraordinarius im Ruhestand der AltenGeschichte in der Philosophischen Fakultät I, ist am 2. Mai2007 im Alter von 77 Jahren verstorben.

Geboren 1930 in Gronig, studierte Hans Klees von 1951-1958 dieFächer Griechisch, Latein und Geschichte an den UniversitätenSaarbrücken und Tübingen mit den Abschlüssen 1. und 2. Staats-examen und Promotion in Alter Geschichte. Nach einem Studien-aufenthalt am Benedetto-Croce-Institut in Neapel wirkte er von1962 - 1973 als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Klas-sische Altertumskunde in Kiel und am Erlanger Lehrstuhl für AlteGeschichte. 1972 erhielt er die Lehrbefugnis für das Fach Alte Ge-schichte, 1973 folgte die Ernennung zum wissenschaftlichen Rat,1978 die Ernennung zum Professor. 1993 wurde er vor dem Hin-tergrund einer schweren Krankheit pensioniert.

Prof. Klees forschte vornehmlich auf dem Gebiet der Grie-chischen Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der So-zial- und der Religionsgeschichte. Seine umfangreiche Studie zurSklaverei im ökonomischen und politischen Schrifttum in klassi-scher Zeit (1975) im Rahmen des großen Sklavenprojekts derMainzer Akademie verdient hier eine besondere Hervorhebung.Mit vergleichbarem Ansatz hat Hans Klees unter anderem diespartanische Helotie im politischen und historischen Denken derGriechen untersucht.

Prof. Dr. Thomas M. Fischer

Thomas M. Fischer (Jahrgang 1961) istseit Oktober 2006 Inhaber des Lehr-stuhls für Rechnungswesen und Con-trolling.

Nach seiner Stammhauslehre zum Indus-triekaufmann bei der Siemens AG studierteer Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

an der Universität Augsburg, war dort wissenschaftlicher Mitar-beiter und Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftsprüfung undControlling und erhielt von 1995 bis 1996 ein DFG-Habilitations-stipendium. Anschließend war er bis 2002 Inhaber des Lehrstuhlsfür Unternehmensrechnung und Controlling an der Handelshoch-schule Leipzig. 2003 übernahm er bis zu seiner Berufung an dieUniversität Erlangen-Nürnberg den Lehrstuhl für Controlling undWirtschaftsprüfung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten ihn ins In-und Ausland, unter anderem 2001 an die Tuck Business School(USA). Zwischen 2003 und 2005 leitete er die Arbeitsgruppe„Operating and Financial Review“ beim Deutschen Standardisie-rungsrat für Rechnungslegung.

Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Controlling und In-ternationale Rechnungslegungsstandards (IFRS), Dividendenpo-litik und Kapitalmarkt, Informationsversorgung von Aufsichtsrä-ten, Intellectual Capital und Unternehmenswert, Kapitalflussrech-nungen und Finanz-Controlling, Corporate Social Responsibilitysowie Nachhaltigkeitsorientiertes Rating.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200798

Page 76: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia Berufungen

Prof. Dr. Manfred Frasch

Manfred Frasch ist seit März 2006 Inha-ber des Lehrstuhls für Entwicklungsbio-logie am Institut für Biologie der Natur-wissenschaftlichen Fakultät II.

Manfred Frasch absolvierte das Studiumder Biochemie und Chemie in Tübingen,München und am Max-Planck-Institut (MPI)

für Biochemie in Martinsried. Seine Doktorarbeit und seine Habili-tationsschrift erstellte er in Tübingen während seiner Tätigkeit amMPI für Virusforschung und am MPI für Entwicklungsbiologie.1985 erfolgte die Promotion, 1992 die Habilitation im Fach Gene-tik. In die Jahre 1986-1988 entfiel ein Postdoc-Aufenthalt an derColumbia University, Department of Biology, New York.

Seit 1991 war Manfred Frasch Assistant Professor, Associate Pro-fessor (1996) und Full Professor (2002) am Brookdale Departmentof Molecular, Cell and Developmental Biology an der Mount SinaiSchool of Medicine, New York. Sein Forschungsinteresse kon-zentriert sich auf die Frage: Was sind die molekularen Grundlagender embryonalen Herz- und Muskelentwicklung? Insbesondereerforscht er dabei Signal- und Transkriptionskaskaden bei der Ge-websentwicklung im genetischen Modellsystem Drosophila, diein ähnlicher Weise auch in Vertebraten, einschließlich des Men-schen, eine wichtige Rolle spielen.

Prof. Dr. Hacik Rafi Gazer

Hacik Rafi Gazer ist seit Oktober 2006 In-haber der W2-Professur für Geschichteund Theologie des Christlichen Ostensder Theologischen Fakultät.

Hacik Rafi Gazer (Jahrgang 1963) studierteEvangelische Theologie in Bethel, Mün-chen und Tübingen. Nach der Promotion

1993 in Tübingen war er von 1994 bis 2000 an der TheologischenFakultät der Universität Halle-Wittenberg im Seminar Konfessi-onskunde der Orthodoxen Kirchen tätig. 2001 wurde er mit einerArbeit über die sowjetarmenische Kirchengeschichte in Halle ha-bilitiert. Dort beschäftigte er sich von 2001 bis 2005 im Rahmeneines von der Volkswagenstiftung geförderten Projektes mit demThema des Verhältnisses von Kirche und Bildungssystem im Kau-kasus.

In Erlangen hat Prof. Gazer in Lehre und Forschung u. a. folgendeSchwerpunkte: Kirchen- und Theologiegeschichte der Orthodo-xen und Orientalisch-Orthodoxen Kirchen im Osmanischen Reichund in der gegenwärtigen Türkei; die religiöse Lage der türkischenMigranten in Deutschland und der europäische Islam; Konfes-sionskunde der Orthodoxen und Orientalisch-Orthodoxen Kir-chen; Aufarbeitung der Synodalbibliothek der Russisch-Orthodo-xen Kirche in Erlangen. Im Rahmen der Städtepartnerschaft derStadt Erlangen mit Besiktas (Istanbul) begleitet er das Projekt„Das Interreligiöse Zusammenleben in Erlangen und in Besiktas“.

Prof. Dr. Andreas Gastel

Andreas Gastel ist seit Oktober 2006 W2-Professor für Mathematik (Geometri-sche Analysis) am Mathematischen In-stitut der Naturwissenschaftlichen Fa-kultät I.

Andreas Gastel studierte Mathematik undzunächst auch Physik an der Universität

Düsseldorf, wo er im Fach Mathematik promovierte. Seine Post-doc-Tätigkeit in Düsseldorf wurde durch einen Forschungsauf-enthalt an der Humboldt-Universität in Berlin unterbrochen. 2003habilitierte er im Fach Mathematik und vertrat danach Professu-ren in Düsseldorf, Duisburg und für zwei Semester, von 2003 bis2004, in Erlangen.

In seiner Forschungsarbeit beschäftigt sich Prof. Gastel mit ver-schiedenen Themenbereichen an der Schnittstelle zwischen Geo-metrie und Analysis. Hierzu gehören geometrische Variationspro-bleme, elliptische Differentialgleichungen und geometrische Evo-lutionsgleichungen. Die dabei oft gestellte Frage lautet: Wie hel-fen Symmetrien Differentialgleichungen lösen?

Prof. Wolfgang H.Goldmann, Ph. D.

Wolfgang H. Goldmann ist seit August2006 Inhaber der W2-Professur für Bio-medizinische Physik am Lehrstuhl fürPhysikalisch-Medizinische Technik derNaturwissenschaftlichen Fakultät I.

Wolfgang H. Goldmann ist Deutsch-Ameri-kaner. Er studierte Humanmedizin an der Universität in Münchenund physikalische Biochemie an der Universität Bristol, England,wo er 1990 seinen Ph. D. erhielt. Anschließend wechselte er nachMünchen in die Biophysikabteilung der Technischen Universität.Von 1995 bis 2004 arbeitete er an der Harvard Medical School inBoston; ab 1997 war er als Dozent für physikalische Zellbiologieund Biochemie tätig. 2004 trat er sein sabbatical am Zentrum fürMedizinische Physik und Technik der Universität Erlangen-Nürn-berg als Gastprofessor an.

Professor Goldmanns Forschungsgebiet umfasst die Protein-und Zell-Biomechanik. Speziell beschäftigt er sich mit der Bin-dung membranständiger Proteine an das Aktinzytoskelett und andie fokalen Adhäsionspunkte sowie deren Einfluss auf das visko-elastische Verhalten der Zelle mittels biochemischer und biophy-sikalischer Messmethoden. Darüber hinaus forscht er an derFunktion fokaler Adhäsionsproteine auf Wachstum, Motilität undchemical signaling von Krebszellen.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 200799

Page 77: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia Berufungen

Prof. Dr. Erika Greber

Erika Greber ist seit April 2007 Inhaberindes Lehrstuhls für Vergleichende Litera-turwissenschaft (Komparatistik) in Ver-bindung mit Neuerer deutscher Literatur(NdL) und Osteuropa-Schwerpunkt amInstitut für Germanistik der Philosophi-schen Fakultät II.

Erika Greber studierte in Tübingen und Göttingen Russistik undAnglistik nebst Pädagogik und Philosophie; sie promovierte im fä-cherübergreifenden Promotionsprogramm „Theorie der Literaturund der Kommunikation“ in Konstanz. Ihre Habilitation erfolgte1994 in den Fächern Slavistik sowie Allgemeine und Verglei-chende Literaturwissenschaft. 1993 erhielt sie den ersten Kon-stanzer Universitätslehrpreis. Ein Jahr lehrte sie als Professor ofEnglish and Comparative Literature an der University of California,Irvine. 1995-2007 war sie als Professorin für Allgemeine und Ver-gleichende Literaturwissenschaft an der Universität München tä-tig. Dort leitete sie zeitweilig das Graduiertenkolleg „Geschlech-terdifferenz und Literatur“ und das IPP „Literaturwissenschaft“.Sie ist Mitherausgeberin der Fachzeitschrift Poetica und Mitgliedder DFG-Forschergruppe „Anfänge (in) der Moderne“.

Die Komparatistik ist in Erlangen eng an die Germanistik ange-bunden und soll die Literaturen Osteuropas eigens berücksichti-gen. Auf diese Weise läßt sich die klassische „westliche“ Ausrich-tung der Komparatistik durch eine explizite „östliche“ Akzentuie-rung ausbalancieren, was bundesweit ziemlich selten ist.

Prof. Dr. Antje Kley

Antje Kley hat im Januar 2007 den Rufauf die W2-Professur für nordamerikani-sche Literatur- und Kulturwissenschaftam Institut für Anglistik und Amerikanis-tik der Philosophischen Fakultät II ange-nommen.

An der Universität Mannheim legte AntjeKley das erste Staatsexamen in Germanistik und Anglistik(Schwerpunkt Amerikanistik) ab. Zusätzlich erwarb sie mit einerArbeit über Erinnerung und Identität in Romanen der Schriftstelle-rin Toni Morrison einen master’s degree in Women’s Studies ander Emory University in Atlanta, USA. Ab 1998 war sie als wissen-schaftliche Mitarbeiterin in Bielefeld tätig. Ihre Promotion zumThema „‘Das erlesene Selbst’ in der autobiographischen Schrift“wurde von der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördertund erfolgte 2000 in Mannheim.

Mit einer Arbeit über die Ethik medialer Repräsentation im engli-schen und amerikanischen Roman 1741-2000 habilitierte AntjeKley im Juni 2006 an der Philosophischen Fakultät der UniversitätKiel, wo sie sechs Jahre als Assistentin beschäftigt war. In ihrerneuen Funktion an der Universität Erlangen-Nürnberg wird Prof.Kley ihre theoriegeleitete und kulturwissenschaftlich orientierteArbeit in Lehre und Forschung fortsetzen, wobei sie Schwer-punkte in der Literatur der Karibik und Kanadas, in der Erfor-schung des Verhältnisses von amerikanischer Literatur und Me-dien sowie zum Thema Transkulturalität setzen will.

Prof. Dr. Harald Gröger

Harald Gröger (Jahrgang 1968) ist seitOktober 2006 W2-Professor für Organi-sche Chemie am Lehrstuhl II des Insti-tuts für Organische Chemie mit denSchwerpunkten Biokatalyse, Chemoka-talyse und nachhaltige Synthesemetho-den.

Der gebürtige Erlanger studierte Diplom-Chemie an den Universi-täten Erlangen-Nürnberg und Oldenburg. Nach der Promotion inOldenburg (1997) und einem Postdoc-Aufenthalt an der Univer-sity of Tokyo als Stipendiat der Japan Science and TechnologyCorporation war er von 1998 bis 2006 in der industriellen For-schung bei den Chemieunternehmen SKW Trostberg AG und De-gussa AG tätig, dort zuletzt als Senior Project Manager im ServiceCenter Biocatalysis auf dem Gebiet der „weißen Biotechnologie“.Für seine Forschungsarbeiten erhielt er in den Jahren 2003 und2005 den Degussa-Innovationspreis sowie 2007 den Thieme-Journal-Preis. Die Technologieplattform der Redoxreaktionen mit„Designerzellen“, die in einem BMBF-Projekt unter seiner Leitungentwickelt wurde, erreichte zudem die Endrunde beim „Innova-tionspreis der Deutschen Wirtschaft 2004“.

Die wissenschaftlichen Schwerpunkte von Prof. Gröger liegen aufdem Gebiet der organischen Synthesechemie unter Einsatz vonEnzymen als Katalysatoren. Weitere Forschungsinteressen sinddas Design und die Anwendung biomimetischer Chemokatalysa-toren sowie die Entwicklung nachhaltiger Synthesemethoden.

Prof. Dr. Nicole Koschate

Nicole Koschate leitet seit Januar 2007den GfK-Lehrstuhl für Marketing Intelli-gence am Betriebswirtschaftlichen Insti-tut der Wirtschafts- und Sozialwissen-schaftlichen Fakultät.

Nicole Koschate (Jahrgang 1970) erwarb ander Universität Mannheim Diplome in Psy-

chologie und Betriebswirtschaftslehre. Zwischenzeitlich hielt siesich als Visiting Scholar an der Graduate School of Business, Uni-versity of Florida, Gainesville, USA auf.

Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für AllgemeineBetriebswirtschaftslehre und Marketing I der Universität Mann-heim und am Sonderforschungsbereich 504 „Rationalitätskon-zepte, Entscheidungsverhalten und ökonomische Modellierung“wurde sie 2002 promoviert. Ihre weitere wissenschaftliche Tätig-keit am Mannheimer Lehrstuhl bis zum Jahr 2006 wurde durchzwei Aufenthalte als Visiting Scholar an der McCombs School ofBusiness, University of Texas at Austin, USA unterbrochen. 2006wurde ihr von der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre der Univer-sität Mannheim die Venia Legendi verliehen.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 2007100

Page 78: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia Berufungen

Prof Dr. Frieder R. Lang

Frieder R. Lang ist seit Juli 2006 neuerLehrstuhlinhaber und Leiter des Institutsfür Psychogerontologie (Nachfolge Prof.W. D. Oswald).

Frieder R. Lang studierte Psychologie inBerlin und promovierte 1993 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Von

1994 bis 1999 war er Postdoc-Stipendiat am Max-Planck-Institutfür Bildungsforschung, Visiting Scholar an der Stanford Universityund wissenschaftlicher Mitarbeiter der Psychiatrischen Klinik derFU Berlin, danach wissenschaftlicher Assistent in der Erziehungs-wissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. Seit2002 hatte er eine Professur an der Universität Halle-Wittenberg.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Persön-lichkeitsforschung und -diagnostik im Erwachsenenalter und Al-ter. In seinen aktuellen Forschungsprojekten beschäftigt er sichmit der Beziehungsregulation in Kooperations- und Familienkon-texten, mit Grenzregimen des menschlichen Lebens, mit den so-zialen und kognitiven Bedingungen des Lernens und Denkens inder zweiten Lebenshälfte und mit Bedingungen der geistigen undkörperlichen Gesundheit im Alter. Prof. Lang hat in renommierteninternationalen Zeitschriften der Psychologie und Gerontologiepubliziert. Er ist Mitglied in den Herausgeberbeiräten zahlreicherinternationaler gerontologischer Zeitschriften sowie aktuell For-schungsprofessor am Deutschen Institut für Wirtschaftsfor-schung (DIW Berlin).

Prof. Dr. Andreas Luther

Andreas Luther (Jahrgang 1969) ist seitNovember 2006 W2-Professor für AlteGeschichte an der Philosophischen Fa-kultät I.

Andreas Luther studierte Geschichte undLateinische Philologie an der Freien Univer-sität Berlin. Von 1995 bis 2000 war er als

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geschichtswis-senschaften tätig. 1996 folgte die Promotion, im Jahr 2000 dieHabilitation, der sich eine Tätigkeit als Privatdozent an der FUBerlin anschloss. Daneben setzte er seine Ausbildung für dasLehramt an Gymnasien fort.

In den Jahren 2001/02 hatte Prof. Luther eine Gastprofessur amInstitut für Alte Geschichte und Altorientalistik der UniversitätInnsbruck. 2002 erhielt er ein Heisenberg-Stipendium der DFG.Im Wintersemester 2002/03 nahm er einen Lehrauftrag am Insti-tut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zuBerlin wahr, im Sommersemester 2003 einen Lehrauftrag für Ge-schichtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Er ist Mithe-rausgeber der Reihe „Oikumene. Studien zur antiken Weltge-schichte“, der Zeitschrift „Gymnasium. Zeitschrift für Kultur derAntike und Humanistische Bildung“ und Mitglied des Wissen-schaftlichen Beirats der Zeitschrift und Studienreihe „Millen-nium. Jahrbuch zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtau-sends n. Chr.“

Prof. Dr. Richard Lenz

Richard Lenz (Jahrgang 1964) ist seitApril 2007 W2-Professor am Lehrstuhlfür Datenbanksysteme des Instituts fürInformatik der Technischen Fakultät.

Richard Lenz studierte Informatik mit Ne-benfach Wirtschaftswissenschaften an derUniversität Kaiserslautern. Danach war er

als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Lehrstuhl für Daten-banksysteme tätig. 1997 wurde er mit einer Arbeit zur AdaptivenDatenreplikation in Verteilten Systemen promoviert. Anschließendarbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Medizi-nische Informatik der Universität Marburg, wo er am Aufbau desKrankenhausinformationssystems des Universitätsklinikums be-teiligt war sowie eine Projektgruppe zur IT-gestützten Prozessopti-mierung leitete. Mit der Habilitationsschrift zum Thema „Evolutio-näre Informationssysteme“ erhielt er 2005 die Venia Legendi. In derFolge war er kommissarischer Direktor des Marburger Instituts undVertreter des Lehrstuhls für Medizinische Informatik.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen weiterhin im Bereich derprozessorientierten und evolutionären Informationssysteme. Ins-besondere motivieren ihn Problemstellungen aus dem Gesund-heitswesen, wie Anwendungsintegration, bedarfsorientierte Pro-zessunterstützung und Datenqualität, sowie deren Implikationenauf die Datenhaltung in dezentralen Anwendungsszenarien. Zielseiner Forschung sind Konzepte und Werkzeuge zur Benutzer-kontrollierten Datenqualität in verteilten Anwendungsszenarien.

Prof. Dr. Kathrin Möslein

Kathrin M. Möslein ist seit Januar 2007Inhaberin des Lehrstuhls für Wirt-schaftsinformatik, insbesondere indus-trielle Informationssysteme an der Wirt-schafts- und SozialwissenschaftlichenFakultät (Nachfolge Prof. Dr. P. Mertens).

Kathrin Möslein studierte Informatik undWirtschaftswissenschaften an der TU München (TUM), der LMUMünchen und der ETH Zürich. 1999 promovierte sie in Betriebs-wirtschaftslehre an der TUM. In ihrer Zeit als wissenschaftlicheAssistentin am Institut für Information, Organisation und Manage-ment der TUM unternahm sie Forschungsaufenthalte an die Uni-versity of California, Berkeley, sowie zahlreiche internationale In-terview- und Studienreisen. Von 2003 bis 2005 war Kathrin Mös-lein als Associate Director des Advanced Institute of ManagementResearch an der London Business School tätig. Nach der Habili-tation in Betriebswirtschaftslehre an der TUM im Jahr 2004 über-nahm Kathrin Möslein ab 2005 den Lehrstuhl für StrategischesManagement und Organisation sowie die Leitung des Programms„International Entrepreneurship“ an der HHL - Leipzig GraduateSchool of Management und wirkte mit am Auf- und Ausbau desHHL-Center for Leading Innovation & Cooperation (CLIC).

Prof. Möslein erforscht die systematische Innovationsfähigkeit vonOrganisationen aus der Perspektive der Wirtschaftsinformatik.Schwerpunkte liegen dabei in den Bereichen der Innovations-, Ko-operations- und Führungssysteme.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 2007101

Page 79: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia Berufungen

Prof. Dr. Carla Nau

Carla Nau (Jahrgang 1968) ist seit Sep-tember 2006 Extraordinaria für Anästhe-siologie mit dem Schwerpunkt Schmerz-forschung.

Carla Nau studierte Humanmedizin an derUniversität Gießen, promovierte dort 1996und war von 1994 bis 1997 wissenschaftli-

che Angestellte an der Klinik für Anästhesiologie. Danach folgteein zweieinhalbjähriger Forschungsaufenthalt an der Harvard Me-dical School in Boston, USA. Im Jahr 2000 wurde sie in dasEmmy-Noether-Programm der DFG aufgenommen und etablierteeine Nachwuchsgruppe an der Anästhesiologischen Klinik derUniversität Erlangen-Nürnberg. Sie habilitierte 2002 für das Fach„Experimentelle Anästhesiologie“ und ist seit 2005 Fachärztin fürAnästhesiologie. Seit August 2005 leitet sie die von der DFG ge-förderte Klinische Forschergruppe „Determinanten und Modula-toren der postoperativen Schmerzverarbeitung“.

Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Struktur und Funktionvon Ionenkanälen im peripheren Nervensystem, die an der Nozi-zeption beteiligt sind. Ihre Arbeiten haben das Verständnis dermolekularen Wirkmechanismen von Lokalanästhetika und derenNebenwirkungen entscheidend gefördert. Die Klinische Forscher-gruppe untersucht Ursachen für persistierende Schmerzen nachchirurgischen Eingriffen. Ziel ist die Entwicklung neuer Strategienzur Prävention und Behandlung akuter, persistierender und chro-nischer Schmerzen.

Prof. Dr. Perdita Pohle

Perdita Pohle (Jahrgang 1958) hat im Ok-tober 2006 als W3-Professorin die Lei-tung des Lehrstuhls für Kulturgeogra-phie und Entwicklungsforschung am In-stitut für Geographie übernommen.

Perdita Pohle studierte Geographie, Sport-wissenschaft, Biologie und Erziehungswis-

senschaften in Gießen, wo sie 1989 promoviert und 1998 habili-tiert wurde. Durch langjährige Mitarbeit in zwei DFG-Schwer-punktprogrammen sammelte sie Erfahrungen über die Lebens-räume Nepal und Tibet/Himalaja aus geographischer, ökologi-scher und ethno-sozialer Sicht. Als Gastdozentin, Gastprofesso-rin und Lehrbeauftragte lehrte sie zwischen 1999 und 2006 inBern, Göttingen und Salzburg.

Die auf das Verhältnis Mensch-Umwelt bezogene geographischeEntwicklungsforschung, Bevölkerungs-, Siedlungs- und Agrar-geographie sowie die vergleichende Hochgebirgsforschung auskulturgeographischer Sicht sind Arbeits- und Forschungsschwer-punkte von Prof. Pohle. Regional konzentrieren sich ihre Arbeitenauf die Hochgebirgsräume Himalaja, Alpen und Anden bzw. dieEntwicklungsländer Nepal, Tibet und Indien. Mit Fragen nachhal-tiger Entwicklung in einem Schwellenland befasst sie sich derzeitin dem DFG-Projekt „Ethnoökologische Untersuchungen in dentropischen Bergwaldregionen Südecuadors“. In der Lehre sindBevölkerungsgeographie, Humanökologie und geographischeEntwicklungsforschung schwerpunktmäßig vertreten.

Prof. Dr. Falk Nimmerjahn

Falk Nimmerjahn (Jahrgang 1972) hatseit Februar 2007 die Professur für Expe-rimentelle Immunologie und Immunthe-rapie (W2) an der Medizinischen Klinik 3inne.

Falk Nimmerjahn studierte in Bayreuth undErlangen Biologie. 2002 erfolgte die Promo-

tion am Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit (GSF)und an der Universität München. Das Hauptinteresse der Promo-tion galt immunologischen Fragestellungen, wie etwa nach dengrundlegenden Mechanismen, die dazu führen, dass der KörperVirus-infizierte oder maligne entartete Zellen erkennen kann. 2004wechselte Falk Nimmerjahn von der GSF an die Rockefeller-Uni-versität in New York. In Erlangen ist er Mitglied der DFG-Forscher-gruppe „Regulatoren der humoralen Immunantwort“.

Seine Arbeitsgruppe am Nikolaus-Fiebiger-Zentrum für Moleku-lare Medizin beschäftigt sich mit den Mechanismen und Fehl-steuerungen, die zur Entstehung von Autoimmunerkrankungen imMenschen führen. Insbesondere die Rolle von autoreaktiven B-Zellen und die von diesen Zellen hergestellten Antikörper stehenim Mittelpunkt des Interesses. Ein weiterer Schwerpunkt liegt aufder Etablierung von Modellsystemen, in denen die genetischeKomplexität des menschlichen Immunsystems besser abgebildetwird. Dadurch soll eine bessere Vorhersagbarkeit über die An-wendbarkeit von im Tiermodell erhaltenen Versuchsergebnissenim Menschen erreicht werden.

Prof. Dr. Stefan Ritter

Stefan Ritter (Jahrgang 1959) ist seitApril 2007 Professor (W2) für KlassischeArchäologie.

Stefan Ritter, geboren in Schmalkalden/Thüringen, studierte von 1979 bis zu seinervorzeitigen Exmatrikulation 1981 Klassi-sche Philologie und Germanistik an der

Universität Jena, von 1984 bis zur Promotion 1991 Klassische Ar-chäologie, Latein und Christliche Archäologie an der UniversitätHeidelberg. Danach war er u. a. Reisestipendiat des DeutschenArchäologischen Instituts. Seit 1994 arbeitete er als wissen-schaftlicher Assistent, nach seiner Habilitation 2000 bis 2005 alsPrivatdozent und Oberassistent an der Universität Freiburg i. Br.Nach einer Lehrstuhlvertretung in München nahm er 2007 den Rufan die Universität Erlangen-Nürnberg an und lehnte einen weite-ren Ruf an die Universität Kiel ab.

Seine Forschungen sind von einem dezidiert kulturanthropologi-schen Erkenntnisinteresse geprägt. Schwerpunkte liegen im Be-reich der griechischen und römischen Bildkunst sowie auf demGebiet der historischen Landeskunde, namentlich des antikenNordafrika, wo er ein deutsch-tunesisches Grabungsprojekt zurErforschung der Stadtgeschichte von Thugga leitet.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 2007102

Page 80: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia Berufungen

Prof. Dr. Georg Schett

Georg Schett ist seit April 2006 Leiterdes Lehrstuhls für Innere Medizin III undDirektor der Medizinischen Klinik 3 -Rheumatologie, Immunologie und Onko-logie.

Georg Schett studierte Humanmedizin inInnsbruck und wurde dort 1994 promoviert.

Die Habilitation für das Fach Innere Medizin erfolgte 2002 an derMedizinischen Universität Wien, wo er bis 2006 als Außerordentli-cher Universitätsprofessor und ab 2003 als Oberarzt an der Klini-schen Abteilung Rheumatologie tätig war. Ein Forschungsaufent-halt bei dem Biotechnologieunternehmen Amgen führte ihn imJahr 2004 nach Kalifornien.

Prof. Schett ist auf Innere Medizin und Rheumatologie speziali-siert und befasst sich vorrangig mit den molekularen Grundlagenvon Erkrankungen, die mit Fehlsteuerungen des Immunsystemszusammenhängen, wie der Rheumatoiden Arthritis. Insbesondereuntersucht er die Krankheitsprozesse, die zur Schädigung vonKnochen, Knorpeln und des Gefäßsystems führen, da Osteopo-rose, Brüche und eine verstärkte Arteriosklerose bei den Patien-ten gehäuft zu finden ist. Derzeit richtet sich sein Interesse auf dieUrsachen des Knochenschwunds, der häufig in Zusammenhangmit derartigen entzündlichen Erkrankungen auftritt. Zu diesemZweck hat er Tiermodelle etabliert, die zusammen mit klinischenBeobachtungen den Weg zu Ansatzpunkten für neue therapeuti-sche Möglichkeiten weisen sollen.

Prof. Dr. Michael Sticherling

Michael Sticherling (Jahrgang 1958) ist abJuli 2006 zum Professur für Dermatologieberufen worden und hat zugleich die Funk-tion als Stellvertretender Klinikdirektor derHautklinik übernommen.

Michael Sticherling hat sich nach dem Stu-dium der Medizin an der Universität Kiel zu-

nächst für zwei Jahre am dortigen Institut für Immunologie mittransplantations-immunologischen Fragestellungen beschäftigt.Nach seiner Dissertation im Jahre 1986 wechselte er mit einemPostdoktoranden-Stipendium der DFG 1987 an die Universitäts-hautklinik Kiel. Nach Aufbau einer eigenen Arbeitsgruppe und kli-nischer Ausbildung mit Facharztanerkennung 1994 habilitierte er1995 zum Thema „Die Bedeutung von IL-8 bei der kutanen Ent-zündung“. 2001 nahm er den Ruf auf die C3-Professur für Klini-sche und Experimentelle Dermatologie an der Universitätshautkli-nik Leipzig in der Funktion als Leitender Oberarzt an. Neben sei-ner klinischen Tätigkeit beschäftigte Prof. Sticherling sich dort u. a. wissenschaftlich mit der Expression von antibiotischen Pep-tiden der Haut sowie immunologischen Aspekten von Kollageno-sen und der Psoriasis. In den Jahren 2002/2003 hat Herr Prof. Sti-cherling die Klinik kommissarisch geleitet.

An der Hautklinik wird er zukünftig die entzündlichen Hauterkran-kungen klinisch wie wissenschaftlich vertreten. Dazu gehören dieAutoimmunerkrankungen der Haut, die Kollagenosen sowie diePsoriasis.

Prof. Dr. AlexanderSchneider

Alexander Schneider (Jahrgang 1968) istseit April 2006 W2-Professor für Experi-mentalphysik am Lehrstuhl für Festkör-perphysik der NaturwissenschaftlichenFakultät I.

Alexander Schneider studierte Physik ander Universität Göttingen, wo er 1993 sein Diplom erhielt und1997 mit einer Arbeit zur Mikroskopie des elektronischen La-dungstransportes promovierte.

Nach Forschungsaufenthalten an der Universität Cambridge,Großbritannien, und der Ecole Polytechnique Fédérale de Lau-sanne (EPFL), Schweiz, kam er an das Max-Planck-Institut fürFestkörperforschung, Stuttgart, wo er von 2000-2006 die For-schergruppe „Lokale Elektronenspektroskopie“ leitete. Er habili-tierte an der Universität Konstanz mit einer Arbeit zur Spektrosko-pie von Vielelektronen-Effekten an Metalloberflächen.

Die Schwerpunkte seiner Forschung entstammen dem Gebiet derOberflächenphysik der Festkörper. Sein besonderes Interesse giltder Wechselwirkung zwischen atomarer Struktur einer Oberflächeund den elektronischen Eigenschaften von auf der Oberfläche de-ponierten Adsorbaten und Nanostrukturen, die auf atomarerSkala studiert werden.

Prof. Dr. Svetlana Tsogoeva

Svetlana Tsogoeva (Jahrgang 1973) istseit Februar 2007 W2-Professorin für Or-ganische Chemie.

Svetlana Tsogoeva studierte Chemie an derStaatlichen Universität von Sankt Peters-burg (Russland), wo sie, gefördert durch einDoktoranden-Stipendium von Procter &

Gamble, 1998 zum Thema „Synthese modifizierter Analoga ste-roider Östrogene“ promovierte. 1998 bis 2000 folgte, unterstütztdurch ein DFG-Postdoktoranden-Stipendium, ein Forschungs-aufenthalt am Institut für Organische Chemie, Universität Frank-furt am Main. Vom Juli 2000 bis Dezember 2001 war sie bei derDegussa AG als Postdoktorandin im Bereich Feinchemie tätig.

2002 erhielt sie einen Ruf auf eine Juniorprofessur (W1) für Orga-nische Chemie an die Universität Göttingen. Ihre Forschungsar-beiten am Institut für Organische und Biomolekulare Chemie derUniversität Göttingen wurden vom BMBF, dem Fonds der Chemi-schen Industrie, der DFG, der Volkswagen-Stiftung und der De-gussa AG gefördert und mit dem Thieme Chemistry JournalsAward 2007 ausgezeichnet.

Die aktuellen Forschungsschwerpunkte von Prof. Tsogoeva sindasymmetrische organische Katalyse, asymmetrische Autokata-lyse und die Synthese von neuen Hybrid-Naturstoffen mit Anwen-dungen in der Medizinischen Chemie.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 2007103

Page 81: UKM108 cover 02 · blieben nur ein paar Bruchstücke vom einst makellosen Kör-per übrig. Bei einem Besuch in der Antikensammlung des Ins- titutes für Klassische Archäologie spürt

Personalia Berufungen

Prof. Dr. Wolfgang Weiß

Wolfgang Weiß (Jahrgang 1966) ist seitOktober 2006 Professor für ÖffentlichesRecht, Europa- und Völkerrecht an derJuristischen Fakultät.

Nach dem Studium der Rechts- und Wirt-schaftswissenschaften schloss WolfgangWeiß 1993 das Erste Juristische Staats-

examen ab. 1995 folgte die juristische Promotion mit einer Arbeitzu den Verteidigungsrechten im EG-Kartellverfahren, 1997 dasZweite Juristische Staatsexamen und 2000 die - wie auch die Dis-sertation - preisgekrönte Habilitation an der Universität Bayreuthmit einer Arbeit zum Thema Privatisierung und Staatsaufgaben.Nach einer Zeit als Lehrstuhlvertreter und Lehrbeauftragter an ver-schiedenen deutschen Hochschulen folgte er einem im Dezember2005 ergangenen Ruf an die Oxford Brookes University. Dort lehrtWolfgang Weiß auch noch nach seiner Berufung an die UniversitätErlangen-Nürnberg als „Professor in International Law“.

Zu den Lehr- und Forschungsschwerpunkten von Wolfgang Weißzählen das Europäische und Internationale Recht, vor allem euro-päisches Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Völ-kerrecht, Internationales Wirtschaftsrecht, WTO-Recht und ver-gleichendes öffentliches Recht. Aktuell befasst er sich mit der Ein-wirkung des WTO-Rechts auf nationale Regulierungsspielräume,mit der Auslegung der Kompetenzen des UN-Sicherheitsrats, mitdem Wettbewerbsverwaltungsrecht im Binnenmarkt und den Aus-wirkungen der Osterweiterung auf den rechtlichen Diskurs in derEU.

Prof. Dr. Jörn Wilms

Jörn Wilms (Jahrgang 1969) hat im Juli2006 eine W2-Professur für Astronomieund Astrophysik an der Bamberger Dr.-Karl-Remeis-Sternwarte, dem Astrono-mischen Institut der Universität, über-nommen, die mit der kollegialen Leitungdieses Instituts verbunden ist.

Jörn Wilms studierte Physik an den Universitäten in Tübingen undBoulder, USA. Nach seinem Diplom war er wissenschaftlicher An-gestellter am Institut für Astronomie und Astrophysik der Universi-tät Tübingen (IAAT) und verbrachte mehrere längere Forschungs-aufenthalte in Boulder und an der University of California, SanDiego (UCSD). Er promovierte 1998 und übernahm eine Assisten-tenstelle am IAAT, wo er 2002 habilitiert wurde. In diese Zeit entfie-len Forschungsaufenthalte an der UCSD und dem MassachusettsInstitute of Technology. Ein Heisenberg-Stipendium der DFGschlug Wilms zugunsten einer Stelle als Lecturer in Astronomyand Astrophysics an der University of Warwick, Coventry, Groß-britannien, aus, wo er von 2004 bis zu seinem Dienstantritt an derUniversität Erlangen-Nürnberg beschäftigt war.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Hochenergieastro-physik, insbesondere in der Theorie und Beobachtung SchwarzerLöcher. Sein Hauptinteresse liegt dabei im Verständnis der für dieStrahlung dieser Systeme wichtigen physikalischen Prozesse.Ferner ist Wilms an der Beobachtung von Neutronensternen mitextrem starken Magnetfeldern bis hin zu 107 Tesla interessiert.

uni kurier magazin | Nr. 108 | September 2007104