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Swiss Medical Forum Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe officiel de la FMH pour la formation continue Bollettino ufficiale per la formazione della FMH Organ da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly” 37 9. 9. 2015 814 J. Steurer, T. Gächter Defensive Medizin – unnötige Medizin? 817 K. Tschopp, R. Khatami Eine Alternative zur Behandlung des Schlafapnoe-Syndroms 822 H. Wozniak, L. Aeby, M. Fraga, et al. Gewöhnliche Rektalblutung mündet in exotischer Diagnose 808 M. E. Kraenzlin Osteoporose-Update 2015 SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer

Swiss Medical Forum 37/2015 - Aktuelle Ausgabe · dem Intention-to-Treat-Prinzip war in beiden Gruppen nach 24 Monaten identisch. 57% der Patienten der Physiotherapiegruppe ent-

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SwissMedical Forum

Offizielles Fortbildungsorgan der FMHOrgane officiel de la FMH pour la formation continueBollettino ufficiale per la formazione della FMHOrgan da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch

With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly”

37

9. 9

. 201

5

814 J. Steurer, T. GächterDefensive Medizin – unnötige Medizin?

817 K. Tschopp, R. KhatamiEine Alternative zur Behandlung des Schlafapnoe-Syndroms

822 H. Wozniak, L. Aeby, M. Fraga, et al.Gewöhnliche Rektalblutung mündet in exotischer Diagnose

808 M. E. KraenzlinOsteoporose-Update 2015

SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer

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Und anderswo …?

A. de Torrenté

807 Spinalkanalstenose (SKS): OP oder Physiotherapie? Übersichtsartikel

M. E. Kraenzlin

808 Osteoporose-Update 2015Die Abschätzung des Osteoporoserisikos ohne bereits eingetretene Fraktur ist schwierig. Heute wird eine «Case Finding»-Strategie, die auf Erfassung von Personen mit eindeutig erhöhtem Frakturrisiko ausgerichtet ist, empfohlen. Eine medikamentöse Therapie ist indiziert bei bereits erlittener Fraktur, insbesondere einer Wirbelfraktur oder Hüftfraktur, sowie nach einer peripheren Fraktur nach Bagatelltrauma oder erhöhtem absolutem Frakturrisiko.

Artikelserie

J. Steurer, T. Gächter

814 Defensive Medizin – unnötige Medizin?Es lässt sich oft nicht klar definieren, wo «vorsichtige Medizin» aufhört und die medizinisch nicht mehr gebotene «defensive Medizin» beginnt. Es erscheint nicht zielführend, diese Grenze mit messerscharf formulierten Richtlinien ziehen zu wollen. Vielmehr müssen die Rahmen-bedingungen des Systems so gestaltet sein, dass medizinisch sinnvolle Massnahmen nicht aus budgetären Erwägungen unterlassen und rein defensive Massnahmen dagegen aus Furcht vor rechtlichen Konsequenzen ergriffen werden.

Aktuell

K. Tschopp, R. Khatami

817 Eine Alternative zur Behandlung des Schlafapnoe-SyndromsDie Hypoglossus-Nervenstimulation ist eine neue Alternative zur Behandlung der obstruktiven Schlafapnoe. Sie ist eine vielversprechende Hoffnung für diejenigen Pa tienten, die mit einer CPAP-Therapie nicht zurechtkommen. Der Artikel zeigt, welche Patienten dafür in Frage kommen und welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Implantation nötig sind.

INHALTSVERZEICHNIS 805

Redaktion

Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Dr. Nadja Pecinska, Basel (Managing editor); Prof. Dr. David Conen, Basel; Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern; Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal; Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds; Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; Dr. Maria Monika Wertli, Bern

Beratende Redaktoren

Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Prof. Dr. Ludwig T. Heuss, Zollikerberg; Dr. Pierre Périat, Basel

Advisory Board

Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich; Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds; Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne; Dr. Sven Streit, Bern; Dr. Ryan Tandjung, Zürich

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Was ist Ihre Diagnose?

H. Wozniak, L. Aeby, M. Fraga, O. Lamy, N. Wenger

822 Gewöhnliche Rektalblutung mündet in exotischer DiagnoseBei einem 61-jährigen Patienten kongolesischer Herkunft, seit mehreren Jahren in der Schweiz lebend, ist eine pankolische Divertikulose bekannt, die nach zwei Hämatochezie-Episoden in den Jahren 2011 und 2012 festgestellt worden war. Nun wird er wegen eines erneuten Ereignisses mit ausgeprägten Rektalblutungen hospitalisiert. Er hat keine abdominalen Schmerzen, stellte keine Änderung der Stuhlgewohnheiten fest, fühlt sich nicht fiebrig und hat nicht an Gewicht verloren.

Fallberichte

S. Lötscher, S. Cogliatti, U. Lüthi, J. Pilz, P. Netzer

826 Heterotoper Lymphknoten in der MagenwandBei einem 48-jährigen Patienten wird in der Routine untersuchung durch seinen Hausarzt eine normochrome, normozytäre Anämie festgestellt. In der Ösophago-Gastro-Duodenoskopie im Rahmen der Anämieabklärung findet sich im Magenantrum eine die Schleimhaut vorwölbende Raumforderung mit zentraler Einziehung.

Extended abstracts from SMW

New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 828.

INHALTSVERZEICHNIS 806

ImpressumSwiss Medical Forum – Schweizerisches Medizin-ForumOffizielles Fortbildungsorgan der FMH und der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin

Redaktionsadresse: Ruth Schindler, Redaktionsassistentin SMF, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 58, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected], www.medicalforum.ch

Manuskripteinreichung online: http://www.edmgr.com/smf

Verlag: EMH Schweizerischer Ärzte­verlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 55,Fax +41 (0)61 467 85 56, www.emh.ch

Marketing EMH / Inserate: Dr. phil. II Karin Würz, Leiterin Marketing und Kommunikation, Tel. +41 (0)61 467 85 49, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected]

Abonnemente FMH-Mitglieder: FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, Elfenstrasse 18, 3000 Bern 15, Tel. +41 (0)31 359 11 11, Fax +41 (0)31 359 11 12, [email protected] Abonnemente: EMH Schweize­rischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 75, Fax +41 (0)61 467 85 76, [email protected]: zusammen mit der Schweizerischen Ärzte­ zeitung 1 Jahr CHF 395.– / Studenten CHF 198.– zzgl. Porto; ohne Schweize­rische Ärzte zeitung 1 Jahr CHF 175.– / Studenten CHF 88.– zzgl. Porto (kürzere Abonnementsdauern: siehe www.medicalforum.ch)

ISSN: Printversion: 1424­3784 / elektronische Ausgabe: 1424­4020Erscheint jeden Mittwoch

© EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG(EMH), 2015. Das Swiss Medical Forum ist eine Open­ Access­Publika tion von EMH. Entsprechend gewährt EMH allen Nutzern auf der Basis der Creative­Commons­Lizenz «Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbei­tung en 4.0 International» das zeitlich unbeschränkte Recht, das Werk zu ver­viel fältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen unter den Bedin­gungen, dass (1) der Name des Autors genannt wird, (2) das Werk nicht für kommerzielle Zwecke verwendet wird und (3) das Werk in keiner Weise bear­beitet oder in anderer Weise verändert wird. Die kommerzielle Nutzung ist nur mit ausdrück licher vorgängiger Erlaub­nis von EMH und auf der Basis einer schriftlichen Vereinbarung zulässig.

Hinweis: Alle in dieser Zeitschrift pu blizierten Angaben wurden mit der grössten Sorgfalt überprüft. Die mit Verfassernamen gezeichneten Ver­öffentlichungen geben in erster Linie die Auffassung der Autoren und nicht zwangsläufig die Meinung der SMF­Redaktion wieder. Die angegebenen Dosierungen, Indikationen und Appli­kationsformen, vor allem von Neuzu­lassungen, sollten in jedem Fall mit den Fachinformationen der verwende­ten Medikamente verglichen werden.

Herstellung: Schwabe AG, Muttenz, www.schwabe.ch

Titelbild: © Steveheap | Dreamstime.com

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Und anderswo …?Antoine de Torrenté

Spinalkanalstenose (SKS): OP oder Physiotherapie?

FragestellungSKS ist eine häufige Erkrankung, deren Präva-lenz mit zunehmendem Alter steigt. Die klini-schen Anzeichen sind Rückenschmerzen, die in manchen Fällen mit einer Schwäche der Gesäss- und Oberschenkelmuskulatur mit oder ohne schmerzhafte neurogene Claudica-tio einhergehen. Die Therapie ist schwierig, und bei starken schmerzhaften Symptomen und Claudicatio kann eine Operation in Be-tracht gezogen werden. Meist ist jedoch unklar, ob eine chirurgische Standardbehandlung oder verschiedene Physiotherapiebehandlun-gen verordnet werden sollen. Es existieren bis dato keine Studien, in denen bei Patienten, die alle Kriterien für eine Operation erfüllen, die dekompressive chirurgische Behandlung mit der standardmässigen Physiotherapie-behand lung verglichen wurde.

MethodeAlle eingeschlossenen Patienten waren von einem Fachchirurgen als OP-Kandidaten ein-gestuft worden und mit dem Eingriff ein-verstanden. Alle litten an einer neurogenen

Claudicatio nach einer Gehstrecke von 400 m. <50-jährige Patienten mit arterieller Insuffi-zienz, vor kurzem erlittenem Myokardinfarkt oder Spondylolisthesis von >5 mm wurden ausgeschlossen. Die Teilnehmer wurden ran-domisiert und erhielten entweder eine Stan-dard-OP (nach Rothman und Simeone) oder sechs Wochen lang zweimal wöchentlich Phy-siotherapie nach einem Protokoll mit Übun-gen zur Rumpfbeugung, Anziehen der Knie zur Brust im Liegen sowie körperlichem Kon-ditionstraining (Heimtrainer oder Laufband). Primärer Endpunkt war die Veränderung der Punktzahl der körperlichen Funktionsfähig-keit gemäss Short-Form-36-Gesundheitsfra-gebogen innerhalb von zwei Jahren (http://www.rand.org/health/surveys_tools/mos/mos_core_36item_survey.html). Eine Verän-derung von 0,5 mit Standardabweichung war klinisch signifikant.

Resultate87 Patienten wurden in die OP- und 82 in die Physiotherapiegruppe eingeschlossen. 74 bzw. 72 Patienten nahmen bis zum Studienende teil. Die funktionelle Verbesserung nach dem Intention-to-Treat-Prinzip war in beiden Gruppen nach 24 Monaten identisch. 57% der

Patienten der Physiotherapiegruppe ent-schieden sich meist vor Woche 10 für den Wechsel in die OP-Gruppe, die statistische Sensitivitätsanalyse zeigte jedoch keinen Un-terschied zwischen den Gruppen. Laut Stan-dardabweichungskriterien besserte sich die körperliche Funktionsfähigkeit bei 61% der Patienten der OP- und 52% der Physiothera-piegruppe, die nicht operiert wurden.

Probleme und KommentarIn der Studie gab es keine Kontrollgruppe. Durch die hohe Prozentzahl der Patienten, die in die OP-Gruppe wechselten, ist die Analyse der Ergebnisse schwierig. Statistisch gesehen besteht jedoch kein Unterschied zwischen den Gruppen. Ferner ist zu beachten, dass auch die Operation, selbst wenn sie von spezia-lisierten Chirurgen durchgeführt wird, nicht ohne Probleme ist und 33 Komplikationen wie Reoperationen, schlechte Wundheilung und Infektionen zur Folge haben kann. Ärzte sollten ihre Patienten dahingehend beraten, sich zunächst einer guten Physiotherapie zu unterziehen und nur bei invalidisierenden Symptomen auf eine Operation zurückzu-grei fen.Delitto A, et al. Ann Intern Med. 2015;162:465−73.

Protonenpumpenhemmer (PPI) und Clostridium difficileDie schweren Folgen einer Infektion mit Clos-tridium difficile sind bekannt. Eine bekannte Ursache dafür ist eine vorangegangene Anti-biotikatherapie. Existieren weitere begünsti-gende Faktoren? Zwei Universitätsspitäler in Québec führten von 2010–2013 eine retrospek-tive Studie bezüglich rekurrenter C. difficile-In-fektionen durch und untersuchten dabei die Gabe von PPI als möglichen Risikofaktor. Die HR für ein Rezidiv bei dauerhafter PPI-Gabe betrug 1,5, KI 1,1–2,0. Noch beunruhigender: Lediglich 47% der Patienten hatten eine aner-kannte Indikation für PPI. 53% unnötige Be-handlungen sind wirklich viel!Mc Donald EG, et al. JAMA intern Med. 2015;175: 784.

Intensive Typ-1-Diabetes-Therapie und Augen-OP: Nutzen?1441 Patienten der DCCT-Studie (Diabetes Con-trol and Complications Trial) wurden 23 Jahre lang nachbeobachtet und ihre Augenoperatio-nen erfasst. 711 wurden in den Intensivthera-piearm zur Hyperglykämieprävention und 730

in den Standardbehandlungsarm eingeschlos-sen. Bei 8,9% der Patienten der Intensiv- und 13,4% der Standardtherapiegruppe wurde eine Augen-OP durchgeführt (p <0,001): Katarakt, Vitrektomie, Netzhautablösung. Das Risiko war in der ersten Gruppe um ca. 50% verrin-gert. Auch weitere Variablen wie Proteinurie und Hypertonie wurden durch die Intensiv-therapie positiv beeinflusst. Die Nebenwir-kungen der Intensivtherapie (hauptsächlich Gewichtszunahme und Hypoglykämieepiso-den) werden in dem Artikel nicht erwähnt.DCCT/EDIC Research group. N Engl J Med. 2015; 372:1722.

Intraartikuläre Injektion vor Physiotherapie bei Kniearthrose: sinnvoll?Einige Ärzte nehmen bei Kniearthrose vor Be-ginn der Physiotherapie eine intraartikuläre Steroidinjektion vor. Dieses Vorgehen ist bis-lang nicht validiert, und Nutzen sowie Kom-plikationen sind unbekannt. 100 Patienten mit Kniearthrose erhielten intraartikulär ent-weder 40 mg Methylprednisolon + Lidocain oder Kochsalzlösung + Lidocain in gleicher Menge. Alle wurden 12 Wochen lang 3× wö-

chentlich nachbeobachtet. Zwischen den Gruppen bestanden keine Unterschiede hin-sichtlich Schmerzreduktion und Funktions-verbesserung. Eine weitere unnütze und po-tentiell gefährliche Behandlung.http://dx.doi.org/10.1001/jamainternmed. 2015.0461

Digoxin und Sterblichkeit19 Studien an 235 000 Patienten mit Vorhof-flimmern (VHF) und 91 000 mit Herzinsuffi-zienz (HI) wurden analysiert. 18 davon waren Beobachtungsstudien und eine randomisiert. Resultat: Bei Patienten unter Digoxin mit VHF war das relative Sterberisiko um 29%, bei Pati-enten mit HI um 14% erhöht. Die Autoren for-dern weitere randomisierte und kontrollierte Studien. Für einige ältere Kollegen scheint der Nimbus der Wirksamkeit von Digoxin jedoch unantastbar zu sein!Vamos M, et al. Eur Heart J. 2015 Jul 21;36(28):1831–8.

AnmerkungDie Referenz bei «Digoxin und Sterblichkeit» wurde in der Online-Version des Artikels korrigiert.

UND ANDERSWO …? 807

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(37):807

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ÜBERSICHTSARTIKEL 808

Diagnostische und therapeutische Interventionen

Osteoporose-Update 2015Marius E. Kraenzlin

Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Basel

Diagnostische Intervention

Die Abschätzung des Osteoporoserisikos ohne bereits eingetretene Fraktur ist schwierig. Heute wird eine «Case Finding»-Strategie, die auf Erfassung von Perso-nen mit eindeutig erhöhtem Frakturrisiko ausgerich-tet ist, empfohlen [1–3]. Eine Indikation zur weiteren Abklärung ist bei erhöhtem Frakturrisiko basierend auf klinischen Risikofaktoren (Tab. 1), bei bereits erlit-tener Fraktur nach inadäquatem Trauma und Vorliegen sekundärer Ursachen gegeben.

Frakturrisiko-EvaluationDie Abschätzung des individuellen Frakturrisikos stellt eine zentrale Rolle in der Entscheidung zu dia-gnostischen (Indikation Dual-energy X-ray absorptio-metry, DXA) bzw. therapeutischen Massnahmen dar. Die heute zur Verfügung stehenden epidemiologi-schen Daten erlauben eine multifaktorielle Risikobe-urteilung, die vor allem auf dem Alter, Knochenmine-ralgehaltswerten, bereits erlittenen Frakturen nach inadäquatem Trauma und anderen wichtigen, vonein-ander unabhängigen Risikofaktoren basiert. Die Evalu-ation des individuellen Frakturrisikos kann mit dem WHO Fracture Risk Assessment Tool (FRAX®) erfolgen [1]. Seit 2009 sind Risikoberechnungen basierend auf epide-miologischen Daten der Schweiz verfügbar und erlauben eine Voraussage des absoluten individuellen 10-Jahres-Risikos für die Hauptfrakturen (Wirbel, Hüfte, Radius und Humerus) und Fraktur des proximalen Femurs [2, 4].

Anpassung des FRAX®FRAX® stützt sich auf die Knochenmineraldichte des Schenkelhalses und berücksichtigt diejenige der Len-denwirbelsäule nicht. Es berücksichtigt auch Dosis-effekte nicht: Glukokortikoid-Dosis, Anzahl Frakturen, Schweregrad der Wirbelfrakturen oder konsumierte Mengen von Tabak und Alkohol. Es sollte auch nur bei unbehandelten Patienten (Kalzium und Vitamin-Sup-plementation erlaubt) eingesetzt werden [5]. Die einzige Messregion, die zurzeit validiert ist für die Benutzung des FRAX®, ist der Schenkelhals (nicht der totale Femur, nicht die Wirbelsäule, nicht der Radius). Eine Kritik, die häufig geäussert wird ist, dass man nicht auch die Knochenmineralgehaltswerte der Wir-belsäule verwenden kann, weil doch immer wieder Diskrepanzen zwischen den Mineralgehaltswerten der

Lendenwirbelsäule (LWS) und des proximalen Femurs auftreten oder Patienten eine Endoprothese an beiden Hüften haben und sich damit die Frage stellt, ob nicht ein anderer Messort anstelle des T-Scores des Schenkel-halses benutzt werden könnte. Es gibt aber eine Studie, die aufzeigte, dass keine bessere Frakturrisiko-Prädik-tion erreicht wird, wenn man neben den Knochenmi-neralgehaltswerten des Schenkelhalses zusätzlich die Mineralgehaltswerte der Wirbelsäule einsetzt [6]. Ein weiterer Grund, dass die Mineralgehaltswerte der Wir-belsäule nicht im FRAX® implementiert wurden, ist, dass mit zunehmendem Alter auch die degenerativen Veränderungen zunehmen und damit die Knochen-mineralgehaltswerte verfälscht werden. Dies ist im Bereich des proximalen Femurs nicht der Fall. Es gibt auch Hinweise, dass bei Verwendung der Knochenmi-neralgehaltswerte der Wirbelsäule das absolute Frak-turrisiko überschätzt wird [7, 8]. Es wurde aber auch ge-zeigt, dass der gewichtete Mittelwert zwischen den T-Scores der Wirbelsäule und des Schenkelhalses die Risikoprädiktion leicht verbessert [1, 8, 9]. Jede T-Score-Diskordanz zwischen Wirbelsäule und dem proxima-

Dieser Artikel ist Teil einer Serie, für die Referenten von Hauptvorträgen des 4. SGIM Great Update, der am 25. und 26. September 2014 in Interlaken stattfand, einen Übersichtsartikel zu ihrem Vortragsthema verfasst haben.Marius E. Kraenzlin

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(37):808–813

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ÜBERSICHTSARTIKEL 809

len Femur verändert das Risiko um 10%. Damit kann man das Risiko, das mit dem FRAX® für die Haupt-Os-teoporosefrakturen errechnet wird, für jede T-Score-Differenz von 1 zwischen der Wirbelsäule und dem Schenkelhals um einen Zehntel korrigieren. Auf der anderen Seite sollten bei Diskrepanzen der Mineralge-haltswerte zwischen Wirbelsäule und Schenkelhals – zum Beispiel deutlich niedrigere Mineralgehaltswerte oder T-Scores im Bereich der Wirbelsäule im Vergleich zum Schenkelhals – der gesunde Menschenverstand eingesetzt werden und allenfalls die Entscheidung für eine intensivere medikamentöse Massnahme ohne den FRAX® getroffen werden.Eine Anpassung des FRAX® bei oraler Glukokortikoid-Behandlung ist möglich [7, 10]. Es zeigte sich, dass der FRAX® nicht adjustiert werden muss, wenn eine mitt-lere Dosis von 2,5–7,5 mg Prednison oder äquivalent

täglich eingesetzt wird. Bei einer niedrig dosierten Behandlung (<2,5 mg Prednisolon oder äquivalent täg-lich) kann das Risiko für die Hauptfrakturen um 20% reduziert werden. Bei hochdosierter Gluko kortikoid-Behandlung (≥7,5 mg Prednisolon oder äquivalent täg-lich) muss die Frakturwahrscheinlichkeit um 15% nach oben korrigiert werden (Tab. 2).

Densitometrie mit DXA: mehr als nur Knochendichtemessung

Vertebrale Frakturanalyse (VFA)Die vertebrale Fraktur ist die häufigste Osteoporose-fraktur. Vertebrale Frakturen sind auch einer der Haupt risikofaktoren für Folgebrüche. Das Risiko steigt proportional zur Schwere und Anzahl der Frakturen. Gleichzeitig wird fast die Hälfte der Wirbelfrakturen zum Zeitpunkt des Geschehens nicht erfasst. Nach den meisten internationalen Empfehlungen bedeutet eine vertebrale Fraktur ohne adäquates Trauma eine klinisch manifeste Osteoporose – die Therapieschwelle ist dann erreicht –, allerdings erst nach Ausschluss einer sekun-dären Osteoporose. Es ist also von grosser klinischer Bedeutung, diese Frakturen zu erfassen.Die vertebrale Frakturanalyse (VFA) auf DXA-Geräten kann eine Knochendichtemessung ergänzen und zur Verbesserung der Frakturrisikoabschätzung, der The-rapiekontrolle und der Therapie-Compliance sowie Identifikation neuer noch nicht bekannter Frakturen eingesetzt werden [11, 12]. Mit der VFA-Methode kann die Brust- und Lendenwir-belsäule – idealerweise von Th4 bis L4 – im Rahmen von densitometrischen Untersuchungen mit dem glei-chen Gerät dargestellt werden, ohne dass der Patient be-wegt wird. Wie Abbildung 1 veranschaulicht, dient die-ses bildgebende Verfahren dazu, vertebrale Frakturen zu erfassen. Die Untersuchung ist mit einer geringen Strahlenexposition verbunden. Im Vergleich mit Röntgenaufnahmen ist allerdings auf-grund der schlechteren Bildqualität bei der VFA die Auswertbarkeit von Wirbelkörpern, insbesondere im oberen Bruswirbelsäulen-(BWS-)Bereich, eingeschränkt. Eine Differentialdiagnose von Frakturen ist mit VFA nicht möglich. Zur weiteren Differentialdiagnostik kann neben dem konventionellen Röntgen weiterfüh-

Tabelle 1: Klinische Risikofaktoren, die in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht mit einem signifikant erhöhten Frakturrisiko assoziiert sind [3].

Postmenopausale Frauen, Männer ab dem 60. Lebensjahr:

Niedrigtraumatische Wirbelkörperfrakturen

Niedrigtraumatische nichtvertebrale Frakturen mit Ausnahme von Finger-, Zehen-, Schädel- und Knöchelfrakturen

Bestehende oder geplante Therapie mit oralen Glukokortikoiden >2,5 mg Prednisolon-äquivalent täglich für mehr als drei Monate im Jahr

Epilepsie/Antiepileptika

Billroth-II-Resektion oder Gastrektomie

Cushing-Syndrom oder subklinischer Hyperkortisolismus

Primärer Hyperparathyreoidismus

Diabetes mellitus Typ 1

Wachstumshormonmangel

Hormonablative Therapie oder Hypogonadismus beim Mann als Einzelfallentscheidung

Aromatasehemmertherapie als Einzelfallentscheidung

Rheumatoide Arthritis

Spondylitis ankylosans als Einzelfallentscheidung

Monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz

Frauen ab dem 60. Lebensjahr, Männer ab dem 70. Lebensjahr bei: (bei Vorliegen multipler Risikofaktoren und damit einem mutmasslich höheren Frakturrisiko;

individuell auch bei Frauen ab der Menopause und bei Männern ab dem 60. Lebensjahr)

Hüftfraktur bei Vater und/oder Mutter

Untergewicht

Rauchen und/oder COPD

Multiple intrinsische Stürze oder erhöhte Sturzneigung

Immobilität

Herzinsuffizienz

Protonenpumpeninhibitoren bei chronischer Einnahme

Glukokortikoide hochdosiert inhalativ

Zöliakie

Glitazone

Diabetes mellitus Typ 2

Hyperthyreose oder subklinische Hyperthyreose, sofern persistierend

Aromatasehemmer, hormonablative Therapie oder Hypogonadismus beim Mann

Spondylitis ankylosans

Depression/Antidepressiva

Tabelle 2: Anpassung des FRAX® an die Dosis der Glukokortikoid-Therapie [6, 10].

Anpassung

Glukokortikoid-Dosis «Major fractures» Hüftfrakturen

Niedrig (<2,5 mg) –20% –35%

Mittel (2,5–7,5 mg) 0% 0%

Hoch (≥7,5 mg) +15% +20%

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(37):808–813

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ÜBERSICHTSARTIKEL 810

rende bildgebende Diagnostik erforderlich werden. In der Schweiz ist die VFA weder als medizinische Leis-tung anerkannt noch kassenpflichtig. Folglich liegt keine landesweite Empfehlung vor. Auf internationaler Ebene hat die International Society of Clinical Densito-metry (ISCD) Empfehlungen herausgegeben, die in Ta-belle 3 zusammengefasst sind [12].

Trabecular Bone Score (TBS)Der Trabecular Bone Score (TBS) ist ein quantitativer Textur-Index, mit dem die räumliche Inhomogenität

von DXA-Bildern analysiert und parametrisiert wird. Die Analyse wird von den zweidimensionalen Bildern der LWS, die mit DXA gemessen wurden, analysiert (Abb. 2). Der TBS steht in Beziehung zur Mikro architektur des Knochens und kann zusätzliche Informationen lie-fern, die mit der Standard-Knochendichtemessung nicht erfasst werden können. Ein höherer TBS-Score korreliert mit einer besseren Mikrostruktur, ein tiefer ist mit einer schwächeren Knochenmikrostruktur as-soziiert. In verschiedenen Studien wurde der TBS eva-luiert, und mehrere prospektive Frakturstudien zei-gen, dass ein schlechterer TBS-Wert unabhängig von der Knochendichte zum Frakturrisiko von Wirbelfrak-turen, Hüftfrakturen und den sogenannten «major fractures» beiträgt. Der TBS scheint also vielverspre-chend für die in Zukunft bessere Charakterisierung des Frakturrisikos zu sein [13–15].

Therapeutische Intervention

Eine medikamentöse Therapie ist indiziert bei bereits erlittener Fraktur, insbesondere einer Wirbelfraktur oder Hüftfraktur, sowie nach einer peripheren Fraktur nach Bagatelltrauma oder erhöhtem absoluten Fraktur-risiko (FRAX®). Vorbestehende Frakturen, wie beispiels-weise klinisch meist inapparent verlaufende Wirbelkör-perfrakturen, sind wichtige prognostische Faktoren, da diese das Risiko weiterer Wirbelkörperfrakturen wesent-lich erhöhen. Liegen keine Frakturen vor, so wird eine medikamentöse Behandlung auf Basis des geschätzten absoluten Frakturrisikos empfohlen. Hier gibt es prin-zipiell zwei Möglichkeiten: eine medikamentöse Inter-vention einerseits bei einem fixen absoluten Frakturri-siko (geltend für postmenopausale Frauen und Männer ab 50 Jahren), andererseits bei einem altersabhängig definierten absoluten Frakturrisiko. Die Schweizerische Vereinigung gegen Osteoporose (SVGO) hat, ähnlich wie

Abbildung 1: Vertebrale Frakturanalyse: Beispiel mit mehre-

ren Wirbelfrakturen.

Tabelle 3: Empfehlungen zur vertebralen Frakturanalyse (VFA) nach der International Society of Clinical Densitometry ISCD [12].

Postmenopausale Frauen und T-Score < –1,0

Männer >50 Jahre und T-Score < –1,0

Bemerkungen

+1 folgendes Kriterium Alter ≥70 Jahre Alter ≥80 Jahre

Anamnestische Grössenabnahme >4 cm Anamnestische Grössenabnahme >6 cm

Gemessene Grössenabnahme >2 cm Gemessene Grössenabnahme >3 cm

Anamnestisch Wirbelfraktur Anamnestisch Wirbelfraktur Sofern nicht schon dokumentiert

oder ≥2 folgende Kriterien Alter 60–69 Jahre Alter 70–79 Jahre

Anamnestische Grössenabnahme 2–4 cm Anamnestische Grössenabnahme 3–6 cm

Nichtvertebrale Fraktur Nichtvertebrale Fraktur

Chronische Erkrankung mit erhöhtem Frakturrisiko

Chronische Erkrankung mit erhöhtem Frakturrisiko

Polymyalgia rheumatica, M. Crohn, COPD, Anti-Androgen-Therapie

Andere Indikationen Alle Patienten mit Glukokortikoid-Therapie ≥5 mg/d Prednison oder Äquivalent

Postmenopausale Frauen und Männer ≥50 Jahre mit T-Score ≤ –2,5, bei denen das Vorliegeneiner vertebralen Fraktur die Therapieentscheidung beeinflusst

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ÜBERSICHTSARTIKEL 811

die National Osteoporosis Guidelines Group (NOGG) in Grossbritannien und die Groupe de recherche et d’infor-mation sur les ostéoporoses (GRIO) in Frankreich, so-wohl bei einer bereits erlittenen Fraktur als auch bei je-der Person mit einem Frakturrisiko gemäss FRAX® innerhalb zehn Jahren, das mit dem Risiko einer gleich-altrigen Person mit einer vorbestehenden Fraktur gleichzusetzen ist, eine therapeutische Intervention empfohlen (Abb. 3) [2, 16, 17]. Diese Methode schlägt so-mit eine Interventionsschwelle vor, die sich mit dem Alter verändert und einer «Frakturschwelle» entspricht. Diese Vorgehensweise kann vermeiden, dass ältere Personen, die alleine aufgrund ihres Alters (unabhän-gig von anderen Risikofaktoren bzw. der Knochen-dichte) bereits ein über 20%iges absolutes Frakturrisiko haben, automatisch Kandidaten für eine medi kamen-töse Therapie werden. Die Interventionsschwelle der SVGO und NOGG wurde kürzlich angepasst, um dem sich mit dem Alter ändernden Frakturmuster Rech-nung zu tragen [2, 18].Eine andere Vorgehensweise ist diejenige des Dachver-bandes Osteologie (DVO) bzw. der amerikanischen Natio-nal Osteoporosis Foundation (NOF), die sich für eine fixe, altersunabhängige Interventionsschwelle entschieden haben (Abb. 3) [3, 19]. Eine publizierte Analyse basierend auf den altersunabhängigen Kriterien der NOF hat be-stätigt, dass in den USA über 70% der Frauen >65 Jahre und über 80% der Frauen >75 Jahre für eine medikamen-töse Osteoporosetherapie qualifizieren würden [20].

Medikamentöse BehandlungNeben präventiven Massnahmen inklusive einer aus-reichenden Kalziumzufuhr (Gesamtzufuhr inkl. Sup-plement 1000 mg/d) und Sicherstellung einer optimalen Vitamin-D-Versorgung (empfohlene Zufuhr 800–1000 IU/d) ist eine pharmakologische Behandlung bei Patienten mit bereits erlittenen, niedrig-traumati-schen Frakturen oder bei erhöhtem absolutem Frak-turrisiko indiziert. Eine medikamentöse Behandlung sollte individualisiert erfolgen, dies unter Berücksich-tigung der Wirksamkeit und Sicherheit der einzelnen Substanzgruppen, der Komorbidität und nicht zuletzt auch der Patientencompliance und -präferenz. Heute steht uns neben antiresorptiv wirkenden Präparaten (Östro gen, Raloxifen, peroral oder intravenös appli-zierte Bisphosphonate, Denosumab) das knochenana-bol wirkende Teriparatid (Recombinant Human Para-thyroid Hormone, rhPTH 1-34) zur Verfügung [21, 22]. Diese Sub stanzen reduzieren signifkant das vertebrale Frakturrisko, und einige davon das Risiko für nichtver-tebrale Frakturen (Abb. 4) [23]. In der Regel werden bei den meisten Patienten zu-nächst antiresorptiv wirkende Präparate eingesetzt.

Abbildung 3: Interventionsschwelle bei einem fixen absoluten Frakturrisiko (DVO:

Dachverband Osteologie; NOF: National Osteoporosis Foundation, USA) und bei einem

altersabhängig definierten absoluten Frakturrisiko: absolutes 10-Jahres-Risiko für

eine osteoporotische Fraktur, das dem absoluten Risiko einer Person gleichen Alters

mit prävalenter Fraktur entspricht (NOGG: National Osteoporosis Guidelines Group, UK;

GRIO: Groupe de recherche et d’information sur les ostéoporoses, Frankreich;

SVGO: Schweizerische Vereinigung gegen die Osteoporose [2, 3, 16, 17, 19]).

Abbildung 2: Schematische Darstellung der Analyse des Trabecular Bone Scores.

Das DXA-Gerät erzeugt ein Bild zur Bestimmung der Knochendichte. Aus dem gleichen

Bild werden durch einen Algorithmus die räumlichen Veränderungen der Pixelintensität

des Bildes berechnet. Das DXA-Bild einer normalen trabekulären Struktur (TBS1) weist

eine homogenere Verteilung der Pixel sowie geringere Schwankung der Pixel intensität

auf (TBS1). Im Gegensatz dazu zeigt eine alterierte Trabekelstruktur eine inhomogenere

Verteilung der Pixel und grössere Schwankungen der Pixelintensität.

Nachdruck nach «Journal of Clinical Densitometry, 14/3, Didier H, et al. Correlations

Between Trabecular Bone Score, Measured Using Anteroposterior Dual-Energy X-Ray

Absorptiometry Acquisition, and 3-Dimensional Parameters of Bone Microarchitecture:

An Experimental Study on Human Cadaver Vertebrae. 302–12, 2011». Mit freundlicher

Genehmigung von Elsevier.

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Östrogene haben ihren Einsatz primär bei früh-post-menopausalen Patientinnen, vor allem, wenn gleich-zeitig klimakterische Beschwerden bestehen. SERM (Selektive Östrogenrezeptor-Modulatoren) eignen sich in der späteren Postmenopause zur Prävention verte-braler Frakturen. Ist eine Wirksamkeit zur Senkung vertebraler und nichtvertebraler Frakturen gefordert, kommen primär Bisphosphonate bzw. Denosumab zum Einsatz. Eine knochenanabole Behandlung ist an-gezeigt bei progredienter Osteoporose mit Auftreten neuer Wirbelkörperfrakturen unter einer antiresorpti-ven Therapie oder bei Patienten mit steroidinduzierter Osteoporose, wenn ein Bisphosphonat nicht toleriert wird. Gerade bei Patienten mit steroidinduzierter Osteo porose, aber zum Beispiel auch bei Männern mit idiopathischer Osteoporose, steht eine osteoblastäre Funktionsstörung im Vordergrund, weshalb eine se-quentielle Behandlung mit rhPTH (Teriparatid), gefolgt von einem antiresorptiven Therapieprinzip, sinnvoll ist.

Dauer der BehandlungDie Dauer einer Behandlung mit antiresorptiv wirken-den Präparaten hängt einerseits vom Patienten bzw. seinem individuellen Frakturrisiko, andererseits vom Präparat ab. Bedingt durch ihre hohe Knochenaffinität und lange terminale ossäre Halbwertszeit sind Bis-phosphonate durch eine residuelle Wirkung nach ihre m Absetzen gekennzeichnet. In zwei Extensions-studien mit Alendronat bzw. Zoledronat zeigte sich

eine anhaltende ossäre Wirkung bis zu fünf Jahre nach Therapieende. Somit kann für Patienten mit modera-tem Frakturrisiko (max. ein bis zwei vertebrale Fraktu-ren vor Therapiebeginn; keine inzidenten Frakturen bzw. adäquater Knochendichte-Verlauf in der DXA) eine Therapiedauer von drei bis fünf Jahren empfohlen werden. Für Patienten mit hohem Frakturrisiko (multi-ple vertebrale Frakturen vor Therapiebeginn; nach fünfjähriger Behandlung persistent tiefe Knochendich- te am Schenkelhals, T-Score ≤ –2,5 SD) ist eine längere Bisphosphonattherapie (fünf bis acht Jahre) angezeigt [21, 24–27]. Im Gegensatz zur Wirkung von Bisphospho-naten ist der skelettale Effekt der anderen Medikamen te (Östrogene, SERM, Denosumab) und der in Entwicklung stehenden Präparate (Odanacatib, ein Kathepsin-K-In-hibitor, und Sclerostin-Antikörper) reversibel und auf die Dauer der Behandlung begrenzt. Somit ist für eine Erhaltung der Wirkung eine Langzeittherapie erforder-lich. In Langzeitstudien mit einer Behandlungsdauer bis zu acht Jahren zeigte sich eine gute Verträglichkeit und ein kontinuierlich günstiger Effekt von Deno-sumab auf Knochendichte und Frakturinzidenz [22, 28]. Auf Basis dieser Resultate ist eine Behandlung mit Denosumab über mindestens vier bis fünf Jahre, bei Hochrisikopatienten eventuell länger zu empfehlen. Nach Absetzen des Therapeutikums sind regelmässige Nachkontrollen angezeigt. Bei einer Verschlechterung der Knochenmineralgehaltswerte, deutlichem Anstieg der Knochenabbauparameter oder einer neuen Frak-tur ist die Indikation für einen erneuten Therapiezy-klus gegeben.

Risiken einer LangzeitbehandlungZu den bei Osteoporose eingesetzten Therapeutika wurde in klinischen Studien eine Vielzahl von Neben-wirkungen beschrieben: gastrointestinale Nebenwir-kungen von oralen Bisphosphonaten, potenzielle Ne-phrotoxizitiät von intravenösen Bisphosphonaten, erhöhtem Throm boserisiko mit selektiven Östrogen-rezeptor-Modulatoren und andere [27]. Eines der Pro-bleme im klinischen Alltag ist, dass die Risiken dieser Nebenwirkungen klein sind, die Perzeption derer bei den Patienten aber sehr hoch ist, im Gegensatz zur Tat-sache, dass bei zu kurzer Behandlung das Frakturrisiko weiterhin erhöht bleibt. Es sind vor allem zwei poten-zielle Nebenwirkungen einer antiresorptiven Thera-pie, die in den letzten Jahren grosse Beachtung fanden: einerseits die Kieferosteonekrose und andererseits die atypische Femurfraktur [29, 30]. Das Risiko einer Kie-fer osteonekrose unter einer Bisphosphonat-Behand-lung der Osteoporose beträgt 1:10 000. Für die atypi-sche Femurfraktur wurde ein Inzidenzanstieg von 2 Fällen pro 100 000 Fälle pro Jahr bei einer zweijäh-

Abbildung 4: Wirksamkeit verschiedener Therapeutika und Reduktion des vertebralen

und nichtvertebralen Frakturrisikos (Ca: Calcium, ViD: Vitamin D, RLX: Raloxifen,

BSX: Basedoxifen, ALN: Alendronat, RIS: Risedronat, IBN: Ibandronat, ZOL: Zoledronat,

DMAB: Denosumab, TPTD: Teriparatide).

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus «Comparative Effectiveness of Drug Treat-

ments to Prevent Fragility Fractures: A Systematic Review and Network Meta-Analysis.

Murad MH, et al., J Clin Endocrinol Metab. 2012;97(6):1871–80». Permission conveyed

through Copyright Clearance Center, Inc.

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rigen Bisphosphonat-Behandlung auf 78 Fälle pro 100 000 Fälle pro Jahr bei einer achtjährigen Therapie-dauer geschätzt.

Zukünftige TherapeutikaDie präklinische Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass in Zukunft weitere therapeutische Ansätze zur Be-handlung der Osteoporose zur Verfügung stehen könn-ten. Neue Einblicke in die Pathophysiologie des Kno-chens mit Erkenntnissen zu Funktionen verschiedener Knochenzellen, der Zell-Zell-Kommunikation und in-tra zellulären Signalübermittlung ergeben neue Ansatz-punkte für die Entwicklung neuer Präparate (für eine Übersicht siehe [21, 22]). Als neues antiresorptives Thera-pieprinizip wird Cathepsin K zur Verfügung stehen, als neue anabol wirkende Therapeutika Sclerostin- bzw. DKK1-Antikörper. Letztere bewirken durch Beeinflus-sung des Wnt-Signaling pathways eine Stimulierung der Osteoblasten-vermittelten Knochenformation (für eine Übersicht siehe [21, 22]).

Disclosure statementDer Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

Titelbild© Steveheap | Dreamstime.com

AnmerkungDie Masseinheit der Kalziumzufuhr wurde in der Online-Version des Artikels korrigiert.Odanacatib ist ein Kathepsin-K-Inhibitor. Dies wurde in der Online-Version des Artikels korrigiert.

Literatur 1 Kanis JA, McCloskey EV, Johansson H, Cooper C, Rizzoli R, Reginster

JY. European guidance for the diagnosis and management of osteo-porosis in postmenopausal women. Osteoporos Int. 2013;24(1):23–57.

2 Osteoporose: Prävention, Diagnostik und Therapie. Empfehlungen 2010 und 2015 Schweizerische Vereinigung gegen Osteoporose (SVGO). www SVGO.ch.

3 DVO. DVO-Leitlinie 2014 zur Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei Männern ab dem 60. Lebensjahr und bei post-menopausalen Frauen. http://www.dv-osteologie.org 2014.

4 Lippuner K, Johansson H, Kanis JA, Rizzoli R. FRAX assessment of osteoporotic fracture probability in Switzerland. Osteoporos Int. 2010;21(3):381–9.

5 Watts NB, Ettinger B, Leboff MS. FRAX facts. J Bone Miner Res. 2009;24(6):975–9.

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7 McCloskey E, Kanis JA. FRAX updates 2012. Curr Opin Rheumatol. 2012;24(5):554–60.

8 Leslie WD, Lix LM. Absolute fracture risk assessment using lumbar spine and femoral neck bone density measurements: derivation and validation of a hybrid system. J Bone Miner Res. 2011;26(3):460–7.

9 Leslie WD, Lix LM, Johansson H, Oden A, McCloskey E, Kanis JA. A comparative study of using non-hip bone density inputs with FRAX(R). Osteoporos Int. 2012;23(3):853–60.

10 Kanis JA, Johansson H, Oden A, McCloskey EV. Guidance for the adjustment of FRAX according to the dose of glucocorticoids. Osteoporos Int. 2011;22(3):809–16.

11 McCloskey EV, Vasireddy S, Threlkeld J, Eastaugh J, Parry A, Bonnet N et al. Vertebral Fracture Assessment (VFA) with a Densitometer Predicts Future Fractures in Elderly Women Unselected for Osteo-porosis. J Bone Miner Res. 2008;(1523–4681 (Electronic)).

12 Rosen HN, Vokes TJ, Malabanan AO, Deal CL, Alele JD, Olenginski TP et al. The Official Positions of the International Society for Clini-cal Densitometry: vertebral fracture assessment. J Clin Densitom. 2013;16(4):482–8.

13 Hans D, Goertzen AL, Krieg MA, Leslie WD. Bone microarchitecture assessed by TBS predicts osteoporotic fractures independent of bone density: the Manitoba study. J Bone Miner Res. 2011;26(11):2762–9.

14 Leslie WD, Johansson H, Kanis JA, Lamy O, Oden A, McCloskey EV et al. Lumbar spine texture enhances 10-year fracture probability assessment. Osteoporos Int. 2014;25(9):2271–7.

15 Silva BC, Leslie WD, Resch H, Lamy O, Lesnyak O, Binkley N et al. Trabecular bone score: a noninvasive analytical method basedupon the DXA image. J Bone Miner Res. 2014;29(3):518–30.

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17 Briot K, Cortet B, Thomas T, Audran M, Blain H, Breuil V et al. 2012 update of French guidelines for the pharmacological treatment of postmenopausal osteoporosis. Joint Bone Spine. 2012;79(3):304–13.

18 McCloskey E, Kanis JA, Johansson H, Harvey N, Oden A, Cooper A et al. FRAX-based assessment and intervention thresholds-an explo-ration of thresholds in women aged 50 years and older in the UK. Osteoporos Int. 2015:epub.

19 National Osteoporosis Foundation (NOF). Clinician’s guide to pre-vention and treatment of osteoporosis. www nof org 2008.

20 Berry SD, Kiel DP, Donaldson MG, Cummings SR, Kanis JA, Johans-son H et al. Application of the National Osteoporosis Foundation Guidelines to postmenopausal women and men: the Framingham Osteoporosis Study. Osteoporos Int. 2010;21(1):53–60.

21 Meier C, Kraenzlin ME. Osteoporose: Therapie-Update 2013, Teil 1. Schweiz Med Forum. 2013;13:811–3.

22 Meier C, Kraenzlin ME. Osteoporose: Therapie-Update 2013, Teil 2. Schweiz Med Forum. 2013;13:835–40.

23 Murad MH, Drake MT, Mullan RJ, Mauck KF, Stuart LM, Lane MA et al. Clinical review. Comparative effectiveness of drug treatments to prevent fragility fractures: a systematic review and network meta-analysis. J Clin Endocrinol Metab. 2012;97(6):1871–80.

24 Meier C, Kraenzlin ME. The influence of gonadal hormones on skeletal health in men. Osteologie. 2013;in print.

25 Black DM, Bauer DC, Schwartz AV, Cummings SR, Rosen CJ. Continuing bisphosphonate treatment for osteoporosis – for whom and for how long? N Engl J Med. 2012;366(22):2051–3.

26 Roux C, Briot K. How long should we treat? Osteoporos Int. 2014;25(6):1659–66.

27 McClung M, Harris ST, Miller PD, Bauer DC, Davison KS, Dian L et al. Bisphosphonate therapy for osteoporosis: benefits, risks, and drug holiday. Am J Med. 2013;126(1):13–20.

28 McClung MR, Lewiecki EM, Geller ML, Bolognese MA, Peacock M, Weinstein RL et al. Effect of denosumab on bone mineral density and biochemical markers of bone turnover: 8-year results of a phase 2 clinical trial. Osteoporos Int 2012.

29 Shane E, Burr D, Abrahamsen B, Adler RA, Brown TD, Cheung AM et al. Atypical subtrochanteric and diaphyseal femoral fractures: second report of a task force of the American Society for Bone and Mineral Research. J Bone Miner Res. 2014;29(1):1–23.

30 Allen MR, Ruggiero SL. A review of pharmaceutical agents and oral bone health: how osteonecrosis of the jaw has affected the field. Int J Oral Maxillofac Implants. 2014;29(1):e45–57.

Korrespondenz: Prof. Dr. med. Marius Kraenzlin Missionsstrasse 24 CH-4055 Basel marius.kraenzlin[at] unibas.ch

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ARTIKELSERIE 814

Therapien, um das Risiko einer straf- oder haftpflichtrechtlichen Verantwortung zu reduzieren

Defensive Medizin – unnötige Medizin?Johann Steurera, Thomas Gächterb

a Horten Zentrum für praxisorientierte Medizin und Wissenstransfer, Universität Zürichb Rechtswissenschaftliches Institut, Universität Zürich

Ein 50-jähriger Schreiner ohne kardiovaskuläre Risiko-faktoren wird wegen Thoraxschmerzen, die nicht durch körperliche Anstrengung ausgelöst wurden, in der Notfallstation eines Spitals abgeklärt; ein Myokard-infarkt als Ursache der Beschwerden wird mit grosser Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Leidet dieser Pa-tient nun trotzdem an einer koronaren Herzkrankheit oder nicht? Wahrscheinlich nicht; aber mit Sicherheit ausschliessen lässt sich eine koronare Herzkrankheit mit den bisher durchgeführten Untersuchungen nicht. Ein Rest Unsicherheit bleibt bestehen. Der Arzt kann den Patienten beruhigen, indem er ihm mitteilt, dass er keinen Myokardinfarkt hat. Der Arzt kann – um dem Patienten «Sicherheit» zu vermitteln und sich selbst abzusichern – dem Patienten eine weitere Unter-suchung, zum Beispiel eine Myokardszintigraphie, empfehlen. Wenn diese Untersuchung negativ ausfällt, das heisst das Myokard normal durchblutet wird, ist die Wahrscheinlichkeit einer koronaren Herzkrank-heit noch geringer.Ein anderes Szenario: Im Jahr 2007, als bereits die glei-chen Diskussionen wie heute um den Wert des PSA-Tests zur Frühdiagnose des Prostatakarzinoms geführt wurden, gab die Hälfte der Ärzte in einer Umfrage an, eine PSA-Screeninguntersuchung sei nicht sinnvoll, da sie die potenziellen Nachteile grösser einschätzten als den potenziellen Nutzen. Aber: Drei Viertel der befrag-ten Ärzte empfahlen den über 50-jährigen Männern eine PSA-Screeninguntersuchung [1]. Den Antrieb, eine entsprechende Untersuchung zu empfehlen, obwohl sie als nicht sinnvoll erachtet wurde, bildete die Angst vor juristischen Konsequenzen, falls in Zukunft beim einen oder anderen Patienten dennoch ein Prostatakar-zinom diagnostiziert würde.Diese Art Medizin wird als «defensive Medizin» be-zeichnet. Defensive Medizin ist eine Methode medizi-nischer Praxis, die allfällige Klagen gegen den behan-delnden Arzt wegen Vernachlässigung der ärztlichen Sorgfaltspflicht, Fahrlässigkeit oder eines Kunstfehlers verhindern soll. Diagnostische Tests oder Therapien werden in erster Linie verordnet und durchgeführt, um das Risiko einer allfälligen straf- oder haftpflicht-rechtlichen Verantwortlichkeit zu reduzieren.

Unterschiedliche Motivation für medizinisches Handeln

Unnötige Untersuchungen oder medizinisch nicht in-dizierte Therapien steigern nicht nur die Kosten, son-dern setzen Patienten einem unnötigen Risiko aus. Radiologische Untersuchungen sind eine Strahlenbe-lastung – eine Computertomographie entspricht der Strahlenbelastung von 50 Thorax-Röntgenbildern –, bei Angiographien können lebensbedrohliche Gefäss-verletzungen oder Embolien auftreten, und therapeu-tische Interventionen haben häufig Nebenwirkungen.Für die Durchführung von Untersuchungen und medi-zinischen Interventionen gibt es mehrere Gründe und Motive, wobei bei vielen Untersuchungen oder Thera-pien nicht ein Grund allein ausschlaggebend ist.Der Arzt will in der Regel «das Beste» für den Patien-ten, also eine korrekte Diagnose stellen und ihm die bestmögliche Therapie verschreiben. Das ist das, was der Patient vom Arzt eigentlich erwartet. Der Arzt will aber auch seine Reputation und das Ver-trauen in ihn nicht aufs Spiel setzen. Jedem Arzt ist es unangenehm, wenn er bei einem Patienten mit Hus-Johann Steurer

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ten, im guten Glauben, der Patient habe eine akute Bronchitis, auf ein Thoraxröntgenbild verzichtet, drei Tage später beim Patienten aber eine Pneumonie dia-gnostiziert wird. Obwohl der Patient am Tag der Erst-untersuchung mit grosser Wahrscheinlichkeit keine Pneumonie hatte, glaubt er – oder zumindest jemand aus seinem Umfeld –, dass der Arzt, wenn er sorgfälti-ger untersucht hätte, die Lungenentzündung hätte dia-gnostizieren können. Ein weiteres Motiv kann das Geld sein. Der Arzt oder das Spital verdient in der Regel an den Untersuchun-gen und Behandlungen, die sie durchführen.Ein weiterer Grund für die Durchführung von Unter-suchungen oder Therapien ist, sich vor einer Anklage oder Klage durch den Patienten oder seine Angehöri-gen zu schützen. Ein Test oder eine Therapie wird ge-macht, obwohl kein direkter Nutzen für den Patienten erwartet wird, sondern weil der behandelnde Arzt sich «absichern» möchte, um vor allfälligen rechtlichen Schritten geschützt zu sein.

Eine verführerische Kombination

Oft ist nicht nur ein einzelner Grund für eine Unter-suchung ausschlaggebend. Mit einer weiteren Untersu-chung, zum Beispiel einer Ultraschalluntersuchung oder einem MRI, sinkt die diagnostische Unsicherheit, der Arzt sichert sich damit gegen Reputationsverlust und juristische Konsequenzen ab und verbessert dabei noch sein Einkommen. Das könnte eine verführerische Kombination sein; und ist es wahrscheinlich auch.

Laut Schätzungen werden in den USA jährlich etwa 55 bis 60 Milliarden Dollar Kosten im Gesundheitssystem durch defensive Medizin verursacht. Das entspricht etwa 2% der gesamten Ausgaben für das Gesundheits-system [2]. Prozentual scheint das nicht viel zu sein, die Mittel könnten wahrscheinlich aber vernünftiger ein-gesetzt werden. In einer Umfrage in drei Spitälern in den USA beurteilten die Ärzte 28% – also fast ein Drittel – ihrer Verordnungen im weitesten Sinne als defensive Medizin [3]. Der Anteil medizinischer Interventionen aus rein juristischen Gründen liegt nach den Angaben der Ärzte bei bildgebenden Verfahren bei 2% und 6% bei Laboruntersuchungen. Diese Verordnungen betra-fen in erster Linie diagnostische Tests, weniger thera-peutische Interventionen oder Hospitalisationen. Die aus medizinischer Sicht unnötigen Hospitalisationen machten aber den grössten Teil der Kosten aus: Insge-samt wurden 13% der Behandlungskosten durch die

defensive Medizin verursacht. In einer anderen Studie gaben die Ärzte an, dass 27% der Computertomogra-phien, 16% der Laboruntersuchungen und 14% der Hos-pitalisationen verordnet wurden, um eine allfällige Haftpflicht abzuwenden [4].

Defensive Medizin auch in der Schweiz ein Thema

Mangels entsprechender übergreifender Studien lässt sich für die Schweiz nicht belegen, in welchem Aus-mass defensive Medizin betrieben wird; immerhin lässt sich aber mit der angeführten (schweizerischen) Studie zur PSA-Screeninguntersuchung verdeutlichen, dass defensive Medizin auch in der Schweiz ein Thema ist [1]. Im individuellen Gespräch mit Ärztinnen und Ärzten zeigt sich, dass durchaus auch in der Schweiz die Befürchtung besteht, man könne für jede noch so geringfügige Abweichung vom medizinischen Stan-dard haftungs- und strafrechtlich zur Rechenschaft ge-zogen werden. Diese Befürchtung beruht nicht selten auf Berichten über spektakuläre Arzthaftungsfälle aus dem Ausland, insbesondere aus den USA.Die im Bereich der ärztlichen Haftung sehr zurückhal-tende schweizerische Praxis gibt jedoch wenig Anlass für die letztgenannten Befürchtungen: Eher selten wird im Prozess eine ärztliche Verantwortlichkeit we-gen einer sorgfaltswidrigen Tätigkeit bejaht. Dies liegt einerseits daran, dass – im Gegensatz etwa zu Deutsch-land – hinsichtlich der Anzahl weniger verbindliche medizinische Richtlinien bestehen, und anderseits am System, in dem die Einhaltung der ärztlichen Sorgfalt zwar objektiv anhand des wissenschaftlichen Stan-dards geprüft wird, die entsprechende Prüfung in der Regel jedoch für den Einzelfall durch ein medizini-sches Fachgutachten festgestellt werden muss. In ein solches Gutachten fliessen auch die Besonderheiten des Einzelfalls ein. Es wird berücksichtigt, welche Handlungsoptionen vernünftigerweise zur Verfügung standen und medizinisch sinnvoll erschienen [5, Rz. 834f]. Vor allem aber erfolgt die Beurteilung der Sorg-faltspflicht, wie in allen Rechtsordnungen, ex ante, das heisst aus der Perspektive zum Zeitpunkt der Unter-suchungssituation, und nicht ex post, wenn sich be-stimmte Annahmen als falsch erwiesen haben [5, Rz. 780ff, 6]. Ein markanter Anstieg der Arzthaftungsfälle lässt sich in der Schweiz denn auch nicht beobachten. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die weit überwiegende Mehrzahl der allfälligen Streitigkeiten in diesem Bereich aussergerichtlich durch Vergleich erledigt wird und die Zahlen der gerichtlich entschie-denen Fälle deshalb nur einen unzuverlässigen Indika-tor bilden.

In einer Umfrage beurteilten die Ärzte fast ein Drittel ihrer Verordnungen im weitesten Sinne als defensive Medizin

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Juristisch zentral: der informed consent

Juristisch zentral ist auch in diesem Zusammenhang das Konzept des informed consent: Ein gut aufgeklärter und beratener Patient, der um die Vor- und Nachteile zusätzlicher (defensiver) Massnahmen weiss und die Risikoeinschätzung der behandelnden Ärzte kennt, wird sich häufig gegen rein defensive Massnahmen entscheiden. Dies setzt freilich voraus, dass die Aufklä-rung und Beratung im Hinblick auf das Patientenwohl und nicht (auch) mit einem Seitenblick auf die zusätz-liche Honorierung einer weiteren Massnahme erfolgt. Der Patient kann dann abwägen, ob die Massnahmen für ihn eine sichere Belastung mit lediglich unsiche-rem medizinischem Nutzen bedeuten oder ihm einen Vorteil bringen könnten. Selbstverständlich ist diese Information und Zustimmung des Patienten zum weite ren Diagnose- und Behandlungsverlauf zu doku-mentieren, und es muss auch dargelegt werden kön-nen, dass der Patient der Unterlassung einer weiteren medizinischen Massnahme im Hinblick auf das all-fällige Risiko zugestimmt hat.

Wie die Studie zum PSA-Screening nahelegt, kann auch in der Schweiz nicht ausgeschlossen werden, dass ein nicht unwesentlicher Teil der medizinischen Massnah-men «defensiv» motiviert ist. Die geltende Rechtslage bietet indes nur wenige Anhaltspunkte und Anreize für ein solches Verhalten. Diese ist weit von amerikani-schen Verhältnissen entfernt, und auch im Vergleich zum Beispiel zu Deutschland, das im Arztrecht etwas andere und zusätzliche Regulierungen kennt, sind die Umstände in der Schweiz für ein rein sachorientiertes medizinisches Handeln durchaus günstig.Da, wie oben beschrieben, medizinische Handlungen sehr unterschiedlich motiviert sein können, vermi-schen sich allenfalls die Risikovermeidungs- und Ge-winnmaximierungsstrategie im Einzelfall. Insbeson-dere im ambulanten Bereich, in dem Einzelleistungen abgerechnet werden können, wird eine defensive Pra-xis zusätzlich honoriert. Verstärkt wird das defensive Element gelegentlich wohl auch durch individuelle Wünsche von Patienten, die für sich selbst jedes medi-zinische Restrisiko ausschliessen wollen. Hierbei ist es jedoch Aufgabe der behandelnden Ärzte, sie auch über die Risiken und Gefahren zusätzlicher Interventionen aufzuklären.

Wo liegt die Grenze zwischen «vorsichti-ger Medizin» und «defensiver Medizin»?

Im stationären Bereich, der seit der Einführung der neuen Spitalfinanzierung, das heisst seit 2012, durch-gehend mit Fallpauschalen (Swiss Diagnosis Related Groups, SwissDRG) arbeitet, besteht die Motivation der Leistungsausweitung zur Gewinnmaximierung indes nicht mehr; oder zumindest nicht mehr in gleicher Weise. Viel eher ist dort zu befürchten, dass allenfalls zu knapp bemessene Fallpauschalen zu einer wirt-schaftlich motivierten Fehlversorgung (Unterversor-gung) einzelner Patienten führen [7, 8], was dann gege-benenfalls haftpflichtrechtliche oder gar strafrechtliche Folgen nach sich ziehen könnte; doch zeigen die ersten Studien zu den Auswirkungen des neuen Spitalfinan-zierungsmodells und der DRG (noch) keine entspre-chende Tendenz zur Unterversorgung. Feststellbar ist bislang nur eine gewisse Verlagerung vom ambulanten in den stationären Bereich [9].Im Einzelfall lässt sich damit nicht klar definieren, wo die gebotene «vorsichtige Medizin» aufhört und die medizinisch nicht mehr gebotene «defensive Medizin» beginnt. Es erscheint auch nicht zielführend, diese Grenze mit messerscharf formulierten Richtlinien zie-hen zu wollen. Vielmehr müssen die Rahmenbedin-gungen des Systems so gestaltet sein, dass medizinisch sinnvolle Massnahmen nicht aus budgetären Erwä-gungen unterlassen und rein defensive (und medizi-nisch nicht mehr sinnvolle) Massnahmen dagegen aus Furcht vor rechtlichen Konsequenzen ergriffen wer-den. Die geltenden Rahmenbedingungen sind in der Schweiz nicht ungünstig für diese Art von Medizin. Den Schlüssel zur sinnvollen Grenzziehung zwischen nützlicher und rein defensiver Medizin bildet aber auch hier eine offene und vertrauensvolle Arzt-Patien-ten-Beziehung, die eine Diskussion und Abwägung von Nutzen und Risiken zulässt. Wurde ein solcher Aus-tausch gepflegt und kann dies aufgrund der entspre-chenden Aufzeichnungen auch nachvollzogen werden, ist man als Ärztin oder Arzt zwar nicht vor Klagen ge-schützt, steht aber hinsichtlich der Chancen, am Ende zur Verantwortung gezogen zu werden, auf der güns-tigeren Seite.

Disclosure statementDie Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

Titelbild© levgenii Tryfonov | Dreamstime.com

LiteraturDie vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch.

Korrespondenz: Prof. Dr. med. Johann Steurer Horten Zentrum für praxis-orientierte Forschung und Wissenstransfer Universität Zürich Pestalozzistrasse 24 CH-8092 Zürich Johann.steurer[at]usz.ch

Ein gut aufgeklärter Patient, der um die Vor- und Nachteile zusätzlicher Massnahmen weiss, wird sich häufig gegen rein defensive Massnah-men entscheiden

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LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix

Literatur / Références

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SWISS MEDICAL FORUM

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Hypoglossus-Nervenstimulation

Eine Alternative zur Behandlung des Schlafapnoe-SyndromsKurt Tschoppa, Ramin Khatamib

a HNO-Klinik, Kantonsspital Baselland, Liestalb Zentrum für Schlafmedizin, Klinik Barmelweid AG, Barmelweid

Die Hypoglossus-Nervenstimulation ist eine neue Alternative zur Behandlung der obstruktiven Schlafapnoe. Sie ist eine vielversprechende Hoffnung für diejenigen Pa tienten, die mit einer CPAP-Therapie nicht zurechtkommen. Der Artikel zeigt, welche Patienten dafür in Frage kommen und welche Voraussetzungen für eine er-folgreiche Implantation nötig sind.

Einleitung

Das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) hat eine Prävalenz von 3–7% in der erwachsenen Bevölkerung der westlichen Welt [1]. Die klinische Bedeutung als metabolischer und kardiovaskulärer Risikofaktor [2] sowie als Ursache von vermehrter Tagesschläfrigkeit [3] ist den meisten Hausärzten bekannt. Die Diagnose-stellung erfolgt mit einer respiratorischen Polygraphie oder einer Polysomnographie. Bei der Behandlung des obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms sollte immer eine Empfehlung zur Lifestyle- Modifikation mit Gewichtsreduktion bei Übergewicht, Alkoholverzicht und Nikotinstopp erfolgen. Als Gold-standard gilt die nächtliche Überdrucktherapie, wie die Continuous Positive Airway Pressure-(CPAP-) oder Automatic Positive Airway Pressure-(APAP-)Therapie. Alternative Therapieformen sind Unterkieferprotrusi-onsschienen, eine Rückenlageverhinderung bei Rücken-lage-abhängigem obstruktivem Schlafapnoe-Syndrom und HNO-Eingriffe. Bei Letzteren ist der Langzeiter-folg, abgesehen von der Tonsillektomie bei vergrösser-ten Tonsillen, jedoch oft unbefriedigend [4]. Die Langzeit-Compliance der CPAP-Therapie liegt bei ca. 60–70%, es bleiben also 30–40% der Patienten län-gerfristig unbehandelt [5]. Die Hypoglossus-Nervensti-mulation bietet hier, nach Versagen der oben erwähnten Behandlungen, eine neue, vielversprechende Alterna-tive. Das Therapieprinzip besteht darin, dass der Ner-vus hypoglossus während des Schlafs aktiviert wird und es so zu einer Tonisierung der Zungenmuskulatur und kommt, wodurch die Atemwege geöffnet werden.

Die dafür notwendigen gerätetechnischen Grundlagen wurden aus der Herzschrittmacher-Technologie der Kardiologie übernommen und weiterentwickelt. Der-zeit führend auf diesem Gebiet ist das Inspire™-System, das in Europa zunehmend in die klinische Routine ein-geführt wird. In der Schweiz wurden am Kantonsspital Baselland Liestal, in Zusammenarbeit mit dem Zen-trum für Schlafmedizin Barmelweid, 2014 die ersten beiden Patienten damit behandelt.

Beschreibung des Prinzips der Hypoglossus-Nervenstimulation

Das Prinzip der Hypoglossus-Nervenstimulation ist in Abbildung 1 dargestellt. Mit einem piezoelektrischen Sensor, der im Interkostalraum zwischen der 4. und 6. Rippe liegt, wird die Inspiration detektiert. Ein Pulsgene-rator, der subkutan auf der rechten Brustseite zu liegen kommt, gibt einen elektrischen Impuls an eine Stimu-lationselektrode weiter. Der Cuff der Stimulations-elektrode liegt um den distalen Teil des Nervus hypo-glossus, der für die Protrusion der Zunge und des Mundbodens verantwortlich ist (Abb. 2). Die Stimulation des Nervus hypoglossus führt nicht nur zu einer Protrusion des Zungengrundes und Mund-bodens auf der implantierten Seite, sondern auch zu einer Anteriorbewegung des Weichgaumens durch die Aktivierung des Musculus palatoglossus (Abb. 3).Die Implantation des Systems benötigt einen opera-tiven Eingriff von ca. 120 Minuten Dauer und ist für die Patienten wenig belastend. Der Eingriff ist kaum schmerzhaft, und die Entlassung der Patienten ist in

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der Regel nach ein bis zwei Tagen möglich. Während dreier Wochen postoperativ sollte der Patient keine Fitness übungen machen und insbesondere den rech-ten Arm schonen, damit das Implantat optimal ein-heilen kann. Danach sind alle Sportarten möglich bis auf Kampfsportarten mit direkten Schlägen auf den Pulsgenerator. Die Implantation des Pulsgenerators erfol gt immer auf der rechten Seite, um die Implanta-tion eine s später allenfalls notwendigen kardiologi-schen Herzschrittmachers nicht zu kompromittieren (Abb. 4). Der Pulsgenerator enthält eine Batterie mit ein er Lebensdauer von acht Jahren. Danach muss er ausgewechselt werden, was mit einem Eingriff in Lokal-anästhesie mög lich ist.Das Inspire™-System ist nicht MR-kompatibel. Dies sollte bei Patienten berücksichtigt werden, die zukünftig oder regelmässig ein MRI benötigen.

Ergebnisse der STAR-Studie

Anfang 2014 wurden die Ergebnisse der STAR-(Sti­mulation Therapy for Apnea Reduction­)Studie im New England Journal of Medicine publiziert [6]. In die Studie eingeschlossen wurden 126 Patienten mit einem mitt-leren BMI von 28,4 kg/m2. Einschlusskriterium war ein BMI unter 32 kg/m2. Der Ausgangs-Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI) betrug im Mittel 29,3/h und konnte nach zwölf Monaten im Mittel auf 9,0/h reduziert werden. Die schlafbezogene Lebensqualität wurde signifikant verbessert. Bei den Vorstudien hat sich in einer medikamentenin-duzierten Schlafvideoendoskopie herausgestellt, dass das Verschlussmuster des velopharyngealen Sphink-ters für die Prognose entscheidend ist (Abb. 5). Bei Pati-enten mit einem konzentrischen und vollständigen Kollaps auf Höhe des Weichgaumens war der Erfolg der Hypoglossus-Nervenstimulation gering bis fehlend. Lag hingegen überwiegend ein a.p.-Kollapsmuster vor, waren die Ergebnisse sehr gut. Für die STAR-Studie

Abbildung 1: Funktionsprinizip der Hypoglossus-Nervenstimulation mit dem Inspire™-

System. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Inspire Medical Systems.

Abbildung 2: Stimulationselektrode mit Cuff um den Nervus hypoglossus

beim ersten Patienten in der Schweiz.

Abbildung 3: Bei der medikamentös induzierten Schlafvideoendoskopie kann der Effekt der Stimulation beobachtet werden.

Zungengrund (A) ohne Stimulation und (B) mit Stimulation und Protrusion des Zungengrundes rechts. Gaumen (C) ohne Stimulation

und (D) mit Stimulation. Die Aktivierung des Musculus palatoglossus führt zu einer Öffnung auf der rechten Seite.

A B C D

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wurden deshalb nur Patienten rekrutiert, die diesen schlafvideoendoskopischen Kriterien entsprachen. Ein konzentrisches Verschlussmuster auf Höhe des Weichgaumens kommt vor allem bei Patienten mit er-höhten BMI-Werten vor, während schlankere Patien-ten in der Regel ein a.p.-Kollapsmuster aufweisen.Die Inspire™-Therapie wurde 2014 zur Behandlung des obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms von der FDA zugelassen. Eine obere AHI-Limite gibt es nicht. Viel wichtiger ist die Beachtung der Einschlusskriterien, die aufgrund der Schlafvideoendoskopie erhoben werden.

Kasuistik der eigenen Patienten

Patient 145-jähriger Patient mit einem AHI nativ von 23/h (in Rücken-

lage 52/h) und einem BMI von 29 kg/m2. Alkoholgenuss selten

und kein Nikotinabusus. Klinisch im Vordergrund stand die

ausgeprägte Tagesschläfrigkeit (Epworth Sleepiness Scale, ESS 20/24), die sich mit einer sehr kurzen Einschlaflatenz

(2,9 min) in Vigilanztests (Multipler Schlaflatenztest, MSLT) ob-

jektivieren liess. Eine Radiofrequenz-Operation von Gaumense-

gel und Zungengrund 2013 blieb ohne Erfolg, Nebenwirkungen

sind nicht aufgetreten. Eine CPAP-Adaption wurde wegen

mangelnder Toleranz und fehlenden Erfolgs in Bezug auf

die Tagesschläfrigkeit abgebrochen, ebenso das Tragen einer

Unter kieferprotrusionsschiene, die schlecht toleriert wurde.

Zusätzlich lag ein periodic limb movement-Syndrom vor

(PLMS-Index: 43/h), das mit Rotigotin bis 3 mg/24 h erfolgreich

behandelt wurde, ansonsten keine Medikamenteneinnahme.

Die Einstellung der Stimulationsparameter postoperativ ge-

staltete sich als schwierig, weil eine verstärkte Stimulation zu

vermehrten Aufweckreaktionen führte. Die obstruktive Kom-

ponente konnte jedoch unter Kontrolle gebracht werden mit

ein em AHI-Wert von 9/h. Trotz erfolgreicher Behandlung der

Atemwegsobstruktion und des PLMS blieb die Tagesschläfrig-

keit unverändert stark ausgeprägt. Eine Ursache dafür konnte

bisher nicht gefunden werden. Die somnologisch relevanten

Daten sind in Tabelle 1 dargestellt.

Patient 2Der zweite Fall war ein 63-jähriger, schlanker Patient mit einem

BMI von 22 kg/m2 und einer negativen Anamnese für Nikotin-

abu sus und Alkoholkonsum. Medikamente nahm er keine ein.

Mit einem nativen Gesamt-AHI von 13/h (akzentuiert in

Rücken lage auf 34/h) lag formal ein lediglich leichtgradiges ob-

struktives Schlafapnoe-Syndrom vor, das jedoch mit sehr lan-

gen Desaturationen (bis 60 Sekunden) einherging. Klinisch im

Vordergrund stand die Tagesschläfrigkeit (ESS 13/24). Mit

ein er Velumount®-Gaumenspange und einer Unterkieferpro-

trusionsschiene hatte der Patient keinen Erfolg, ebenso wurde

eine CPAP-Therapie abgebrochen, da sich darunter keine Ver-

besserung der Tagesschläfrigkeit einstellte. Sieben Monate

nach Hypoglossus-Nervenstimulation mit 2,3 V betrug der Ge-

samt-AHI noch 10/h, es traten aber kaum noch Apnoen (AI 1/h)

auf, und die Desaturationsdauer verkürzte sich auf max. 26 Se-

kunden. Klinisch entscheidend war eine vollständig rückläu-

fige Tagesschläfrigkeit (ESS 2/24). Das Schnarchen ist unter

Hypoglossus-Nervenstimulation deutlich geringer, sozial teil-

weise aber noch störend. Der Patient ist mit dem Erfolg der

Therapie sehr zufrieden. Die somnologisch relevanten Daten

sind in Tabelle 2 dargestellt.

DiskussionDie Hypoglossus-Nervenstimulation ist eine neue und vielversprechende Therapie des obstruktiven Schlaf-apnoe-Syndroms. Sie ist indiziert, wenn eine CPAP-Therapie nicht toleriert wird und andere konservative Massnahmen, wie zum Beispiel eine Unterkieferprotru-sionsschiene, nicht erfolgreich waren oder aufgrund des Zahnstatus nicht möglich sind.

Abbildung 5: Patient zwei Wochen postoperativ.

Bei schlanken Patienten ist der Pulsgenerator als leichte

Vorwölbung zu erkennen.

Abbildung 4: Auf Höhe des Gaumens kann bei der medikamentös induzierten Schlaf-

videoendoskopie das Verschlussmuster beurteilt werden. (A) anterio-posteriorer Ver-

schluss, (B) konzentrischer vollständiger Verschluss.

A B

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AblaufNach einer Verdachtsdiagnose durch den Hausarzt er-folgt die Diagnosestellung obstruktives Schlafapnoe­Syndrom durch eine respiratorische Polygraphie. Bei Versagen der konservativen Therapien wird eine Schlaf videoendoskopie durchgeführt. Eine Erst-Akti-vierung des Systems erfolgt einen Monat nach Implan-tation. Eine Stimulationstitration unter Polysomno-graphiekontrolle findet im Schlaflabor zwei Monate postoperativ statt. Daraufhin erfolgen regelmässige Therapieüberprüfungen mittels Bestimmung der Sti-mulationsstärke und der Nutzungszeiten. Die Indika-tion und Voraussetzungen für eine erfolgreiche Im-plantation sind in Tabelle 3 zusammengefasst.

Implantation an einer HNO-Klinik, Einstellung an einem Zentrum für SchlafmedizinDie somnologischen Abklärungen und die postopera-tive Einstellung der Stimulationsparameter erfolgen in einem Zentrum für Schlafmedizin. Die Operation sollte an einer HNO-Klinik vorgenommen werden, an der die entsprechende Erfahrung mit der Hypoglossus-

Nervenstimulation vorliegt. Zur Sicherung der Qualität liefert die Firma Inspire Medical Systems das Stimulati-onssystem nur an HNO-Kliniken und Schlaflaborato-rien, die über einen entsprechenden Schulungsnach-weis verfügen.Die Ergebnisse der STAR-Studie zeigen, dass bei strikter Beachtung der Einschlusskriterien die obstruktive Kom-ponente des Schlafapnoe-Syndroms recht zuverlässig beseitigt werden kann. 66% der Patienten erfüllten die Sher-Kriterien, wonach der initiale AHI-Wert durch die Therapie halbiert wird und unter 20/h liegt. Etwas weniger berechenbar ist die Auswirkung auf die Tages-schläfrigkeit, wie unsere beiden Fälle eindrücklich illu-s trieren. Die subjektive Tagesschläfrigkeit besserte sich in den Studien statistisch zwar signifikant, kann jedoch individuell nicht wirklich zuverlässig voraus gesagt werden. Dies trifft für alle derzeit bekannten Therapie-formen zu, wie beispielsweise auch für die CPAP-Thera-pie und Unterkieferprotrusionsschienen. Die Com-pliance der Hypoglossus-Nervenstimulation war mit 86% täglichem Gebrauch sehr hoch, was die hohe Ak-zeptanz und ausgezeichnete Verträglichkeit belegt.

Tabelle 1: Schlafmedizinische Parameter von Patient 1 mit Ausgangsbefund und unter stabiler Stimulation mit dem Hypoglossus-Nervenstimulator acht Monate postoperativ.

Ausgangsbefund Stimulation

AHI 23 9

AHI in RL 52 24

AI 6 2

HI 17 7

mSaO2 94 93

Nadir SaO2 89 88

ODI 22 11

SE in % 84 88

wake in % 15 12

N1 in % 31 13

N2 in % 23 40

N3 in % 22 22

REM in % 9 13

SL in min 6 8

REML in min 203 282

Arousal/h 41 25

– respiratorisch 22 7

– motor 6 11

– spontan 13 7

PLMS/h 32 11

Stimulationsstärke in Volt 2,4

Mittlere Stimulationsdauer pro Woche (h) 28

Tabelle 2: Schlafmedizinische Parameter von Patient 2 mit Ausgangsbefund und unter stabiler Stimulation mit dem Hypoglossus-Nervenstimulator sechs Monate postoperativ.

Ausgangsbefund Stimulation

AHI 13 9

AHI in RL 35 47

AI 9 3

HI 4 4

mSaO2 94 93

Nadir SaO2 81 81

ODI 13 8

SE in % 92 89

wake in % 8 12

N1 in % 23 21

N2 in % 30 29

N3 in % 17 26

REM in % 23 13

SL in min 4 11

REML in min 62 64

Arousal/h 15 20

– respiratorisch 9 6

– motor 2 5

– spontan 5 9

PLMS/h 19 5

Stimulationsstärke in Volt 2,3

Mittlere Stimulationsdauer pro Woche (h) 33

AHI = Apnoe-Hypopnoe-Index pro Stunde; AI = Apnoe-Index pro Stunde; HI = Hypopnoe-Index pro Stunde; mSaO2 = mittlere Sauerstoffsättigung; ODI = Oxygen Desaturationsindex pro Stunde; SE = Schlafeffizienz in Prozent; wake = Wachzeit in Prozent; N1 = NREM-Stadium 1 (Leichtschlaf); N2 = NREM-Stadium 2 (mittlere Schlafstadien); N3 = NREM-Stadium 3 (Tiefschlaf); SL = Einschlaflatenz in Minuten; REML = REM-Schlaf-Latenz in Minuten; Arousal/h = Arousal-Index pro Stunde; PLMS = periodische Beinbewegungen im Schlaf.

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Die Stärke der Hypoglossus-Nervenstimulation muss individuell titriert werden, ähnlich wie der Beatmungs-druck bei CPAP-Therapie oder der Vorschub des Unter-kiefers bei Protrusionsschienen. Diese Titration erfolgt primär in einem dafür spezialisierten Zentrum für Schlafmedizin unter polysomnographischer Kontrolle. Eine erste Einschätzung des Stimulationsbedarfs ist in einer medikamentös induzierten Schlafvideoendosko-pie möglich. Dabei kann der Effekt verschiedener Sti-mulationsstärken auf die Öffnung der oberen Atem-wege direkt beobachtet werden.Das von uns implantierte System Inspire™ hat in Eu-ropa und den USA bereits Einzug in die klinische Rou-tine erhalten. Weltweit sind mehr als 300 Patienten

implantiert worden. Ein weiteres System (ImThera™) ist derzeit in klinischer Erprobung, die Publikation der Studienresultate wird Ende 2017 erwartet.

Fazit

Hausärzte und Pneumologen sollten sich der neuen Therapieoption der Hypoglossus-Nervenstimulation bewusst sein. Sie bereichert zweifellos die Möglichkei-ten der erfolgreichen Behandlung des obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms. Voraussetzung ist eine sorgfäl-tige Patientenselektion unter Beachtung der Ein- und Ausschlusskriterien (Tab. 3). Falls diese Voraussetzun-gen erfüllt sind, ist die Hypoglossus-Nervenstimula-tion ebenso effektiv wie eine CPAP-Therapie. Weiteren Forschungsbedarf sehen wir in der Identifikation von prädiktiven Markern, die ein besseres Ansprechen der Hypoglossus-Nervenstimulation auf die Tagesschläf-rigkeit ermöglichen. Zudem fehlen Daten zur Quantifi-zierung der objektiven Tagesschläfrigkeit unter Thera-pie, was für Fahreignung im Strassenverkehr wesent lich sein wird sowie zur Senkung des Schlaf apnoe-asso-ziierten kardiovaskulären Risikos.

Disclosure statementEin Vortrag von KT am Barmelweidsymposium vom 5.3.2015 wurde von Inspire Medical Systems mit einem Referentenhonorar unter-stützt. RK hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

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Tabelle 3: Indikationen und Voraussetzungen für eine Hypoglossus-Nervenstimulation.

– Obstruktive Schlafapnoe

– Unverträglichkeit der CPAP-Therapie

– Unterkieferprotrusionsschiene nicht toleriert oder zu wenig wirksam

– Anteroposteriorer Kollaps auf Höhe Weichgaumen in der medikamentös induzierten Schlafendoskopie

– BMI <32 kg/m2

– Keine weiteren MRI-Untersuchungen ab Implantation notwendig

Das Wichtigste für die Praxis• Die Hypoglossus-Nervenstimulation ist eine neue Alternative zur Behand-

lung von obstruktiver Schlafapnoe bei CPAP-Unverträglichkeit.

• Bei sorgfältiger Patientenselektion ist die Behandlung hoch effektiv.

• Die Untersuchung im medikamentös induzierten Schlaf ist die wichtigs-

te Vorabklärung.

• Die Evaluation einer Hypoglossus-Nervenstimulation ist nur bei opera-

blen und nicht multimorbiden Patienten angezeigt.

• Der Eingriff dauert ca. zwei Stunden, ist wenig schmerzhaft und be-

nötigt eine Hospitalisation von zwei bis drei Tagen.

• Die Hypoglossus-Nervenstimulation sollte von einem dafür spezialisier-

ten interdisziplinären Team von ORL-Ärzten und Schlafmedizinern durch-

geführt werden.

Korrespondenz: Prof. Dr. med. Kurt Tschopp Chefarzt HNO-Klinik Kantonsspital Baselland Mühlemattstrasse 11 CH-4410 Liestal Kurt.tschopp[at]ksbl.ch

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WAS IST IHRE DIAGNOSE? 822

Wiederholt blutiger Stuhlgang

Gewöhnliche Rektalblutung mündet in exotischer Diagnose Hannah Wozniaka, Laure Aebya, Montserrat Fragab, Olivier Lamya, Nathalie Wengera

a Service de médecine interne, CHUV Lausanneb Service de gastro-entérologie, CHUV Lausanne

Bei einem 61-jährigen Patienten kongolesischer Her-kunft, seit mehreren Jahren in der Schweiz lebend, sind eine Hypertonie und Hyperlipidämie unter Behand-lung sowie eine pankolische Divertikulose bekannt, die nach zwei Hämatochezie-Episoden in den Jahren 2011 und 2012 festgestellt worden war.Im März 2015 wird er wegen eines erneuten Ereignisses mit ausgeprägten Rektalblutungen hospitalisiert. Er hat keine abdominalen Schmerzen, stellte keine Änderung der Stuhlgewohnheiten fest, fühlt sich nicht fiebrig und hat nicht an Gewicht verloren. Laut seinen Angaben war der Stuhl vor diesem Ereignis unauffällig, weder Schleim- oder Blutbeimischung noch Diarrhoe. Der Patient reist jährlich etwa zweimal in sein Heimat-land Kongo und präzisiert, vor Ort alle Vorsichtsmass-nahmen bezüglich Nahrungsmittel und Wasser ein-zuhalten. Insbesondere betont er, dort nur gekochtes/geschältes Obst und Gemüse zu essen und nur Mineral-wasser oder mit Micropur® aufbereitetes Wasser zu trinken. Seine letzte Reise liegt zehn Monate zurück. Anamnestisch liegen keine Lungen- oder Herzbe-schwerden und auch keinerlei Harnsymptome vor.Beim Aufnahmestatus hat der Patient einen normalen Blutdruck, einen beschleunigten Herzschlag von 110/Minute und kein Fieber. Frequenz und Klang der

Bauchgeräusche sind normal, das Abdomen ist weich und indolent. Der sonstige Status zeigt keine Auffällig-keiten. Die Laboruntersuchungen zeigen eine schwere normo-chrome normozytäre Anämie mit 60 g/l sowie eine leichte Leukozytose von 11,9 G/l bei einer diskreten Eosinophilie von 0,4 G/l. Der CRP-Wert liegt bei 14 mg/l. Die sonstigen Laborwerte einschliesslich Hepatitistests sind im Normbereich.Es werden drei Erythrozytentransfusionen verabreicht.

Frage 1:

Welche weitere(n) Untersuchung(en) würden Sie

als Erstes durchführen?

a) Abdomen-Sonographie

b) Koloskopie

c) Abdomen-CT

d) Stuhlkultur

Eine erste Koloskopie zeigt multiple Ulzera im rechten Kolon (Abb. 1), darunter ein grosses Ulkus auf Höhe des Zäkums mit Gefässstumpf, die das Setzen hämosta-tischer Clips (Abb. 2) erforderlich machen. In sämt-lichen Dick- und Dünndarmabschnitten werden Biop-sien entnommen, um die Proben mittels PCR auf Mikroorganismen und Parasiten zu untersuchen.

Abbildung 1: Multiple diffuse Ulzera im Bereich

des rechten Kolons.

Abbildung 2: Hämostatische Clips an einem Ulkus

mit Gefässstumpf als Ursache der Blutstühle.

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(37):822–825

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WAS IST IHRE DIAGNOSE? 823

Ultraschall oder CT-Bildgebung sind angesichts des hämorrhagischen Notfalls nicht die Untersuchungen erster Wahl. Anzumerken ist, dass bei akuten Blutungen des unteren Verdauungstrakts auch eine Gastroskopie empfohlen wird. In unserem Fall wurde diese Untersu-chung nicht vorgenommen, da die Koloskopie klar eine Blutungsquelle identifizieren konnte und die Blutungen subakut auftraten. In einem zweiten Schritt sind Stuhlkulturen anzulegen. 48 Stunden nach der Endoskopie geben rezidivierende Blutungen bei signifikantem Abfall des Hämoglobins Anlass zu einer zweiten Koloskopie. Diese zeigt gut posi-tionierte Clips und abheilende Ulzera. Der infolge rezi-divierender Hämatochezien mehrfach transfundierte Patient bleibt hämodynamisch stabil.Die Biopsien belegen eine akute, unspezifische, fokal erosive Kolitis. Die PAS-Reaktion und die Grocott- Färbung geben keine Hinweise auf ein Pathogen. Da bei den Biopsien keine Granulome gefunden wurden, ist eine intestinale Tuberkulose wenig wahrscheinlich. Malignitätszeichen liegen nicht vor.Die PCR-Suche nach Amöben erfolgt aus einer Biopsie auf Höhe des Zäkums und ist auf Entamoeba histolytica positiv.

Frage 2:

Welche Therapie schlagen Sie vor?

a) Gar keine, denn die zweite Koloskopie zeigt eine Abheilung

der Ulzera

b) Metronidazol i.v., danach Metronidazol p.o.

c) Ausschliesslich Paromomycin p.o.

d) Kombinationsbehandlung mit Metronidazol p.o. und Paro-

momycin p.o.

In Anbetracht des positiven Resultats bezüglich dieser Amöbe wird gemäss den internationalen Empfehlun-gen eine Behandlung mit Metronidazol 500 mg 1×/Tag per os über insgesamt zehn Tage eingeleitet, gefolgt von einer Therapie mit Paromomycin 500 mg 3×/Tag über sieben Tage.Metronidazol bekämpft die trophozoite Form, während Paromomycin gegen die zystische Form des Protozoons wirksam ist.

Frage 3:

Welche zusätzliche Massnahme sollten Sie angesichts

der Diagnose durchführen?

a) Röntgen-Thorax

b) Sonographie des Abdomens

c) Thorax-CT

d) Prüfung auf Amöbiasis der Harnwege

Sobald die Diagnose intestinale Amöbiasis gestellt ist, muss nach einer Beteiligung weiterer Organe gesucht werden. Die Amöbiasis hat ihren Ausgangspunkt stets

im Bereich des Darmsystems; in der Folge können sich die Trophozoiten durch Infiltration der Darmschleim-haut hämatogen auf andere Organe ausbreiten. Am häufigsten betroffen sind Leber und Lungen. Seltener sind neurologische Beteiligungen zu beobachten. Die weiterführende Diagnostik umfasst somit eine Echographie der Leber zwecks Suche eines Abszesses, der sich meist im Bereich des rechten Leberlappens be-findet [4], und einen Röntgen-Thorax.Bei unserem Patienten zeigen die beiden Untersuchun-gen keine Abszesse.Die klinische Entwicklung ist günstig, und die Rektal-blutungen kommen unter antiparasitärer Therapie spontan zum Stillstand. Der Patient verlässt das Spital mit der entsprechenden Medikation und in gutem All-gemeinzustand.

Frage 4:

Welche Kontrolluntersuchung schlagen Sie nach Abschluss

der Therapie vor?

a) Stuhluntersuchung auf Parasiten

b) Koloskopie

c) Blutuntersuchung zum Nachweis von E. histolytica-DNA

d) Test auf okkultes Blut im Stuhl

Eine Kontrollkoloskopie wird in der Fachliteratur nicht empfohlen. Einen Monat nach abgeschlossener Thera-pie ist eine Stuhluntersuchung auf Amöben durchzu-führen.

Diskussion

Die intestinale Amöbiasis durch Entamoeba histolytica ist eine verbreitete parasitäre Erkrankung und rangiert in der weltweiten Mortalität auf den vorderen Plätzen. Mit 70 000 Todesfällen jährlich stellt sie nach Malaria, Morbus Chagas und Leishmaniose die vierthäufigste Todesursache durch Protozoeninfektionen dar [1]. Die Krankheit wird fäkal-oral übertragen und tritt gehäuft in Entwicklungsländern auf (Abb. 3). Auch bei homo-sexuellen Personen ist eine erhöhte Inzidenz zu ver-zeichnen. Von Entamoeba existieren zwei weitere Spezies (E. dispar und E. moshkovskii), die aber nur selten pathogen sind und den Darm besiedeln können, ohne zu Symptomen zu führen [2].E. histolytica tritt in zwei Formen auf: 1) vegetative Form (Trophozoit), 2) zystische Form. Die zystische Form ist für die Krankheitsübertragung verantwortlich. Die Zysten sind im Stuhl der Erkrankten nachweisbar und gegenüber äusseren Einflüssen sehr widerstandsfähig, wodurch sie in Lebensmitteln und kontaminiertem Wasser überleben können. Sind die Zysten einmal vom Körper aufgenommen, heften sie sich an die Darmwand

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an und verwandeln sich in Trophozoiten. Diese vegeta-tive Form ist nicht ansteckend, da die sehr empfind-lichen Trophozoiten im Stuhl nicht überleben können. Lediglich 10% der Amöbenträger entwickeln eine sym-ptomatische Form (Abb. 4) [3].

Eine Amöbiasis durch E. histolytica hat vier klinische Manifestationsformen: Dysenterie mit Rektalblutungen (grosse Mehrzahl der Fälle), fulminante Kolitis, Appen-dizitis und Amöbenzyste des Dickdarms [1]. Bei der dysenterischen Form sind rezidivierende blutige Stühle (Himbergelee-artig) zu beobachten; die Patienten haben zumeist eher moderate Bauchschmerzen und zeigen keine systemischen Symptome (oder nur äusserst selten). Dies erlaubt im Allgemeinen die Entkräftung des Verdachts auf eine bakterielle Ursache der Dysen-terie, die häufiger mit Fieber einhergeht.Die Diagnosestellung erfolgt entweder durch den Nach-weis von E. histolytica-DNA oder -Antigenen aus Stuhl-proben, oder von Serum-Antikörpern [4]. Die Poly-merase-Kettenreaktion (PCR) kann aus frischem Stuhl oder, bei diagnostischen Zweifeln, aus Darmbiopsien durchgeführt werden. Die Stuhlmikroskopie ist zurück-haltend zu bewerten, denn sie erlaubt infolge geringer Sensitivität und zahlreicher falsch-positiver Befunde keine sichere Differenzierung zwischen E. histolytica und E. dispar [4, 5].Bei Durchführung einer endoskopischen Untersuchung können häufig Blutungen, Ulzerationen, Nekrosen, etwa ige Intestinalperforationen oder auch fokale Ver-dickungen der Darmwand beobachtet werden.Die Therapie der intestinalen Amöbiasis durch E. histo-lytica besteht zunächst in einer sieben bis zehntägigen Behandlung mit Metronidazol per os (auf die tropho-zoite Form abzielend), gefolgt von einer Paromomycin-Behandlung über sieben bis zehn Tage, um die zystische Form des Protozoons abzutöten.

Abbildung 3: Weltkarte mit Amöbiasis-Endemiegebieten.

Abbildung 4: Parasitärer Zyklus der Amöbiasis.

Endemiegebiete der Amöbiasis

Orale Aufnahme der Zysten

Die Zysten transformieren sich zu Tropho-zoiten und dringen in die Darmmukosa ein

Hämatogene Dissemination

<1% der Fälle

Extraintestinaler Befall

Ausscheidung der Zysten mit dem Stuhl

90% asymptomatisch

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Zu erwähnen ist, dass mehrere Jahre vergehen können, bis das Protozoon pathogen wird. Im Falle einer zufälli-gen Entdeckung von E. histolytica bei einem asymptoma-tischen Patienten ist eine Behandlung dennoch ratsam. Hinsichtlich der Art und Weise gehen die Meinungen in der Fachliteratur jedoch auseinander: Einige Experten schlagen eine Einzeldosis Metronidazol vor, während andere eine ausschliessliche Behandlung mit Paromo-mycin empfehlen.Die Differentialdiagnose bei akuter Dysenterie mit blu-tigem Stuhl und Abdominalschmerzen ist also breit gefächert. Sie muss eine mögliche bakterielle Ursache wie die Infektion mit Shigella, Campylobacter, Salmonel-len oder auch enteroinvasiven Escherichia coli berück-sichtigen [4]. In Abhängigkeit der medizinisch-chirur-

gischen Vorgeschichte und der Familienanamnese des Patienten ist auch an chronisch-entzündliche Darm-erkrankungen, ischämische Kolitis oder in selteneren Fällen aorto-enterale Fisteln (vor allem bei anamnes-tisch aortalen Eingriffen) zu denken.Trotz einer niedrigen Prävalenz in unseren Breitengra-den sind Darmparasitosen bei akuter Dysenterie in Ab-hängigkeit von der Patientenvorgeschichte in Betracht zu ziehen.

DanksagungWir danken Professor G. Waeber für die sorgfältige Durchsicht.

Disclosure statementDie Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

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5 Gétaz L, Chappuis F, Loutan L. Parasitoses intestinales et hépatiques: diagnostic et traitement. Rev Med Suisse. 2007 May 16;3(111):1254–8.

Korrespondenz: Doctoresse Nathalie Wenger Cheffe de clinique FMH médecine interne Département de Médecine Interne BH 17-100 CHUV – Lausanne Av du Bugnon 46 CH-1011 Lausanne Nathalie.Wenger[at]chuv.ch

Antworten auf die Fragen

Frage 1: b, d. Frage 2: d. Frage 3: a, b. Frage 4: a.

Das Wichtigste für die Praxis

Eine Infektion mit E. histolytica verläuft in 90% der Fälle asymptomatisch.

Bei 10% der infizierten Patienten indes kann E. histolytica zu Dysenterie

und Hämatochezie führen. In selteneren Fällen kann es zu einer hämato-

genen Dissemination kommen. Bei Verdacht auf intestinale Amöbiasis er-

folgt die diagnostische Absicherung durch DNA-Untersuchung mittels

PCR, durch E. histolytica-spezifische Antigene im Stuhl oder aber durch

Nachweis von Serum-Antikörpern. Steht die Diagnose fest, ist eine Leber-

und Lungenbeteiligung auszuschliessen. Die Behandlung erfolgt mit Metro-

nidazol per os (sieben bis zehn Tage) und anschlies send mit Paromomycin

über sieben bis zehn Tage.

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FALLBERICHTE 826

Enthüllung einer aussergewöhnlichen Diagnose

Heterotoper Lymphknoten in der MagenwandSylvan Lötschera *, Sergio Cogliattib *, Urs Lüthia, Julia Pilzc, d, Peter Netzerc

a Pathologie Länggasse Bernb Institut für Pathologie, Kantonsspital St. Gallenc GastroZentrum Netzer AG, Praxis am Lindenhofspital Bernd Universitätsspital Basel, Departement für Gastroenterologie und Hepatologie*SL und SC haben gleichermassen zum Manuskript beigetragen

Fallbericht

Bei einem 48-jährigen Patienten wird in der Routine-untersuchung durch seinen Hausarzt eine normo-chrome, normozytäre Anämie festgestellt. In der klini-schen Untersuchung finden sich ansonsten keine relevanten pathologischen Befunde. Die persönliche Anamnese ist bis auf ein Wolf-Parkin-son-White-Syndrom unauffällig.In der Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD) im Rah-men der Anämieabklärung findet sich im Magenant-rum eine ca. 3–4 cm messende, die Schleimhaut vorwöl-bende Raumforderung mit zentraler Einziehung (Abb. 1). Die zusätzlich durchgeführte endosonographische Un-tersuchung wie auch die Magnetresonanztomographie erhärten den Verdacht auf einen submukosal gelege-nen Tumor, beschränkt auf die Mukosa und Submu-kosa, ohne sicheren Hinweis auf eine Infiltration der Muscularis propria. Differentialdiagnostisch wird vor allem ein gastrointestinaler Stromatumor (GIST), ein Leiomyom oder ektopes Pankreasgewebe in Betracht gezogen, neben weiteren möglichen selteneren Ursa-chen wie unter anderem einem Schwannom, Glomustu-mor, inflammatorischem fibroidem Polyp oder auch in-flammatorischem myofibroblastärem Tumor. Schliesslich wird dem Patienten unter stationären Be-dingungen mittels endoskopischer Submukosadissek-tion (Abb. 2 und 3) der «Magenwand»-Tumor in toto komplikationslos reseziert. Zur feingeweblichen Unter-suchung gelangt ein 7 g schweres, 3,5 × 2,5 cm messen-des und 1 cm dickes Schleimhautpräparat mit einem solitären, intramuralen, max. 2,5 cm messenden scharf begrenzten soliden Tumorknoten mit makroskopisch homogen weiss-grauer Schnittfläche.Mikroskopisch zeigt sich, etwas überraschend, ein ar-chitektonisch weitgehend umgebauter Lymphknoten mit diffuser lymphoproliferativer Infiltration (Abb. 4). Histologisch wächst das Tumorinfiltrat betont parafol-likulär und interfollikulär unter weitgehender Ausspa-rung von reaktiven, zum Teil hyperaktiven Lymph-

follikeln (Abb. 5 und 6). Zytomorphologisch sind die kleinen bis mittelgrossen gekerbtkernigen Tumorzellen von wechselnder zentrozytoider und monozytoider Ge-stalt und typischerweise von hellzelligem Aspekt mit Zeichen der plasmazytoiden Differenzierung (Abb. 7). Untermischt finden sich einzelne blastäre Zellen vom Typ Zentroblasten. Gestützt auf das morphologische Erscheinungsbild kann nach immunhistologischer Ab-grenzung gegen andere niedrigmaligne B-Zell-Lym-phome schliesslich die Diagnose eines Marginalzonen-B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphoms gestellt werden.Zum Ausschluss einer nodalen Mitbeteiligung eines primär extranodalen gastrischen Marginalzonen-B-Zell-Lymphoms vom Mukosa-assoziierten lymphoiden Gewebe-(MALT-)Typ wird im Rahmen einer anschlies-senden Kontrollgastroskopie ein bioptisches «Map-ping» der Magenschleimhaut durchgeführt, ohne his-tologischen Tumornachweis oder Anhalt für eine Helicobacter-Gastritis. Auch in einer Computertomo-graphie findet sich keine anderweitige Lymphomma-nifestation, so dass bei asymptomatischem Patienten abschliessend von einem nodalen Marginalzonen-Lym-phom im Tumorstadium IA ausgegangen werden kann.Aufgrund des zu erwartenden indolenten Verlaufs und fehlenden Anhalts für eine Tumordissemination sowie Symptomfreiheit des Patienten mit komplikations-losem postoperativem Verlauf wird vorerst auf weiter-führende therapeutische Massnahmen verzichtet.

Abbildung 1: Endoskopiebefund des Tumors im Magenantrum.

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FALLBERICHTE 827

Die hier vorliegende Konstellation einer Lymphomma-nifestation in einem innerhalb der Magenwand gelege-nen solitären Lymphknoten in Form eines primär noda-len Marginalzonen-B-Zell-Lymphoms ohne simultanes oder vorausgegangenes gastrisches MALT-Lymphom kommt einer Exklusivität gleich. Die Besonderheit die-ses Falls ist eine doppelte und liegt einerseits darin, dass die Lymphknotenektopie innerhalb der Magen-wand eine absolute Rarität darstellt und andererseits in der isolierten, rein nodalen Manifestation eines Lymphoms, wie es erfahrungsgemäss viel wahrschein-licher und auch viel häufiger in der Magenschleimhaut selbst auftritt, was einer wahren Kuriosität, um nicht zu sagen einer einzigartigen Trouvaille, gleichkommt.

DiskussionMarginalzonen-Lymphome sind niedrigmaligne B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphome, die sich in drei Subtypen gliedern lassen [1]: – Extranodaler (MALT-)Typ (70%);– Nodaler Typ (10%); – Splenischer Typ (20%).Das MALT-Lymphom ist das bekannteste und mit Ab-stand am häufigsten auftretende Marginalzonen-Lym-phom. MALT-Lymphome können sich in unterschiedli-chem Mukosa-assoziiertem Gewebe, beispielsweise im Magen-Darm-Trakt, in Speicheldrüsen, in der Lunge, im HNO-Bereich und im Urogenitaltrakt wie auch in der Schilddrüse, manifestieren und entstehen auf dem Boden einer chronischen Antigen-Stimulation, entwe-der als Folge einer Infektion, wie zum Beispiel der Heli-cobacter-Gastritis im Magen, oder aber einer Auto-immunerkrankung wie der Hashimoto-Thyreoiditis in der Schilddrüse oder der Immunsialadenitis in den Speicheldrüsen im Rahmen eines Sjögren-Syndroms.Das häufigste MALT-Lymphom ist jenes im Magen, das den Prototyp eines malignen Lymphoms, getriggert durch einen erregerassoziierten chronisch-entzündli-chen Stimulus, darstellt [2]. In über 90% der Fälle entste-hen MALT-Lymphome im Magen vor dem Hintergrund einer chronischen Helicobacter pylori-assoziierten Gas-tritis. Hier führt die langandauernde Präsenz der nied-rig-virulenten Helicobacter-Bakterien (ohne Helicobac-ter-Elimination) zu einem chronisch-entzündlichen, nicht oder nur gering destruktiven Infiltrat in der Ma-genschleimhaut und somit zum Startschuss in der Lymphomentwicklung. Dies im Gegensatz zur organ-spezifischen autoimmunen MALT-Lymphomgenese in der Schilddrüse und den Speicheldrüsen. Helicobacter-assoziierte MALT-Lymphome zeigen ei-nen indolenten klinischen Verlauf und ein gutes An-sprechen auf eine Helicobacter-Eradikationstherapie mit kompletter Remission in etwa 80% der Patienten im Frühstadium und einer Fünf-Jahres-Überlebensrate von >90%. Interessanterweise scheint sich die Über-lebensprognose von Patienten mit disseminiertem Tumor leiden – gastrischen als auch extragastrischen Ursprungs – nicht zu verschlechtern [3–5].Mit einem Anteil von lediglich 1,5 bis 2% [6] an allen Lymphomen sind primär nodale Marginalzonen-Lym-phome seltene B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphome unkla-rer Ätiologie, die morphologisch von einem sekundären Lymphknotenbefall durch ein primär extranodales Marginalzonen-Lymphom vom MALT-Typ oder ein splenisches Marginalzonen-Lymphom nicht unter-schieden werden können. Daher musste in unserem Fall die sehr viel wahrscheinlichere Option eines vor-erst unerkannt gebliebenen MALT-Lymphoms des Ma-

Abbildung 2: Tumorentfernung mittels endoskopischer Sub-

mukosadissektion (ESD).

Abbildung 3: Einsicht ins Magenantrum nach Tumorentfernung.

Abbildung 4: Übersichtsvergrösserung mit unauffälliger Magenschleimhaut (links)

und Anschnitt des heterotopen Lymphknotens in der Magenwand (rechts).

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FALLBERICHTE 828

len oder splenischen Typ, und eine Transformation in ein High-grade-Lymphom ist möglich.Zu guter Letzt gibt es noch Marginalzonen-Lymphome vom splenischen Typ. Patienten mit splenischem Mar-ginalzonen-Lymphom präsentieren klinisch typischer-weise eine Splenomegalie und die daraus folgenden Zei-chen des Hypersplenismus. Daneben sind sie häufig vergesellschaftet mit einem Knochenmarksbefall und einem leukämischen Verlauf, mit oder ohne Nachweis von villösen Lymphozyten. Ätiopathogenetisch wird eine Assoziation mit einer Hepatitis-C-Virus-Infektion beschrieben. Therapeutisch führt die Splenektomie häufig zu kompletter oder partieller Remission. Es sind unterschiedliche maligne Lymphome im Ma-gen bekannt, bei denen gilt, die primären von den sekun dären Magenlymphomen abzugrenzen. Mit bis zu 50% aller primären Magenlymphome ist das MALT-Lymphom häufigstes Lymphom. Ca. 85% aller im Gastro intestinaltrakt lokalisierten MALT-Lymphome finden sich zudem im Magen [3]. Die Liste anderer pri-märer Magenlymphome beinhaltet das diffuse gross-zellige B-Zell-Lymphom, das Mantelzelllymphom und das Burkitt-Lymphom, ganz selten auch das follikuläre Lymphom sowie das T-Zell-Lymphom [8, 9]. Bei den meisten «Nicht»-MALT-Lymphomen im Magen, so auch beim Hodgkin-Lymphom, handelt es sich aller-dings um eine sekundäre Magenbeteiligung im Rah-men disseminierter Tumorerkrankungen [9].

Disclosure statementDie Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

LiteraturDie vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch.

Abbildung 5: Mikroskopie (Giemsa, Vergrösserung ×200):

Einsicht in das Wachstumsmuster des Tumors.

Abbildung 6: Mikroskopie (Immuninkubation mit bcl-2,

Vergrös serung ×200): Die Tumorzellen exprimieren das

anti-Apoptose-Protein bcl-2 (braun), daneben ausgesparte

bcl-2-negative reaktive Lymphfollikel.

Abbildung 7: Mikroskopie (Giemsa, Vergrösserung ×630):

Detailaufnahme des Tumorinfiltrats.

gens mit sekundärem Lymphknotenbefall soweit mög-lich ausgeschlossen werden [7]. Der Immunphänotyp des nodalen Marginalzonen-Lymphoms entspricht dem des MALT-Lymphoms.Die Patienten (Altersmedian 60 Jahre, etwas mehr Frauen als Männer) zeigen klinisch eine lokalisierte, regionale oder auch generalisiere Lymphadenopathie unter anderem der Hals-, Axilla- oder Femoralregion mit oder ohne B-Symptome. Der klinische Verlauf ist indolent, aber etwas aggressiver als beim extranoda-

Schlussfolgerung für die PraxisDie hier dokumentierte Manifestation eines primär nodalen Marginal-

zonen-B-Zell-Lymphoms mit Befall eines solitären in der Magenwand ge-

legenen ektopen Lymphknotens soll zeigen, dass die nodale Variante eines

Marginalzonen-Lymphoms auch im Magen primär extramukosal auftreten

kann. Die vorliegende Fallbeschreibung soll damit das differentialdiagnos-

tische Spektrum von isolierten, submukosal gelegenen Tumoren im Ma-

gen bzw. im Gastrointestinaltrakt um eine weitere interessante, wenn auch

sehr seltene Diagnose bereichern.

Korrespondenz: PD Dr. med. Peter Netzer Facharzt FMH für Gastroen-terologie und Innere Medizin GastroZentrum Netzer AG Praxis am Lindenhofspital Bern Bremgartenstrasse 115 CH-3012 Bern praxis.netzer[at]hin.ch

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LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix

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8 WHO Classification of Tumours of the Digestive System,

4th Edition, Lyon, 2010 9 Chan J K C 1996 Gastrointestinal Lymphomas: an overview

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