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Fern – die zweite Lese-Nummer Mit Texten von Ingeborg Kaiser, Stephan Pörtner, Ingrid Noll, Clemens Setz, Lukas Bärfuss, Kristin T. Schnider, Melinda Nadj Abonji und Milena Moser Nr. 254 | 15. bis 28. Juli 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Surprise Strassenmagazin 254/11

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Surprise Strassenmagazin 254/11

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Fern – die zweite Lese-NummerMit Texten von Ingeborg Kaiser, Stephan Pörtner, Ingrid Noll, Clemens Setz, Lukas Bärfuss, Kristin T. Schnider, Melinda Nadj Abonji undMilena Moser

Nr. 254 | 15. bis 28. Juli 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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(Angebot wird laufend erweitert)

www.buchplanet.chWir akzeptieren folgende Karten:

Hier könnte IhreWerbung stehen.Werfen Sie Ihr Werbegeld nicht auf die Strasse.Investieren Sie es dort.Surprise erreicht 120 000 Leserinnen und Leser. Und das in den grössten Städten und Agglomerationen der Deutschschweiz.* Denn dort stehen die 380 Surprise-Verkaufenden für Sie auf der Strasse. Tagtäglich.Ganze 80 Prozent der überdurchschnittlich verdienenden und ausgebildeten Käuferinnen und Käufer lesen die gesamte Ausgabeoder zumindest mehr als die Hälfte aller Artikel.Das Strassenmagazin steht für soziale Verantwortung und gelebte Integration. Mit Ihrem Inserat zeigen Sie Engagement und erzielen eine nachhaltige Wirkung.

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*gemäss MACH Basic 2011-1.

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EditorialDer erste Satz

«Onkel Piri bereitet sich aufs Zeitungslesen vor.» So beginnt die Kurzgeschichte derBuchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji in dieser Ausgabe. Der erste Satz ist immerein besonderer. Besonders auffällig. Besonders wichtig. Und besonders schwierig.Denn nur wenn er einladend wirkt, Atmosphäre vermittelt und Spannung schafft,wird ein Text gelesen. Es lastet viel Druck auf dem ersten Satz, besser gesagt aufdem, der ihn verfasst. Da geht es Schriftstellern und Journalisten gleich – manchmalverzweifelt unsereiner schier beim Ringen um den passenden Einstieg. MelindaNadj Abonji ist ein toller erster Satz gelungen. Sie führt uns nahe an eine Figur ih-rer Geschichte heran und macht uns neugierig: Wer ist Onkel Piri? Warum trägt ereinen seltsamen Namen? Und warum muss er sich aufs Zeitungslesen vorbereiten?

Antworten finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ab Seite 24 dieser Ausgabe. Siehalten unsere zweite Lese-Nummer in den Händen. Nachdem das erste Literatur-heft unter dem Titel «Nah» allerlei (Zwischen-)Menschlichem von Familie über Erotik bis zu Krankheit undTod gewidmet war, folgt nun eine Geschichtensammlung unter der Überschrift «Fern». Manche Geschichtenspielen an entfernten Orten, andere erkunden Entfremdung und Distanz. Zudem haben wir auch zwei Kurz-krimis für Sie.

Sollten Sie nach der Lektüre Lust auf mehr bekommen, fragen Sie Ihre Verkäuferin, Ihren Verkäufer: Viel-leicht hat sie oder er ja noch ein Exemplar der vorherigen Ausgabe in petto. Oder bestellen Sie das Heft 253mit Geschichten von Lukas Hartmann, Tim Krohn, Ina Bruchlos und weiteren Autoren für sechs Franken plusVersandkosten direkt bei uns: [email protected] oder: 061 564 90 61.

Konzipiert hat die beiden Lese-Nummern Redaktorin Mena Kost. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegenvon Strassenmagazinen aus Deutschland und Österreich hat sie eine Vielzahl von Kurzgeschichten zu-sammengetragen, die uns namhafte Autorinnen und Autoren kostenlos zur Verfügung gestellt haben. Mitt-lerweile hat Kollegin Kost ihren Mutterschaftsurlaub angetreten. Wir wünschen ihr für die kommende Zeitviel Kraft und Freude. Und wir begrüssen Diana Frei im Team. Die erfahrene Journalistin wird Mena Kost bisEnde Jahr in der Redaktion vertreten.

Ich hoffe, Sie sind bereit zum Zeitungslesen, und wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.Reto Aschwanden

Ihre Meinung!Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, [email protected]. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3

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RETO ASCHWANDEN

REDAKTOR

4 SURPRISE 254/11

Die Bilder zu den Kurzgeschichten in diesem Heft stammen von PriskaWenger. Die freischaffende Illustratorin beliefert Surprise seit vielen Jah-ren mit Bildern für die Kolumne «Zugerichtet». Priska Wenger studierteVisuelle Kommunikation und Illustration an der Hochschule für Gestal-tung und Kunst in Luzern. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in New York,wo sie 2009 den Master in Fine Arts ablegte.

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KorrigendumIn der letzten Ausgabe ging leider eine Quellenangabe vergessen. Der Text «Todesfälle» erschienmit freundlicher Genehmigung von Roger Willemsen, aus: Der Knacks, S. Fischer, München 2008.

08 Blaue LiebeVON STEPHAN PÖRTNER

12 Das HändchenVON INGRID NOLL

13 Stil und MoralVON LUKAS BÄRFUSS

16 StadtgeschichtenVON MILENA MOSER

18 Ende GutVON INGEBORG KAISER

19 KameleVON KRISTIN T. SCHNIDER

22 SoftwareVON CLEMENS SETZ

24 Aus einem Hund wird kein SpeckVON MELINDA NADJ ABONJI

Inhalt03 Editorial

Ein idealer Einstieg05 Basteln für eine bessere Welt

Leselampe für Krimifans06 Porträt

Die Verlegerin26 Buchtipps

Im Rock auf Kamelrücken28 Verkäuferporträt

Fasziniert von Fossilien29 Projekt Surplus

Eine Chance für alle!30 In eigener Sache

ImpressumINSP

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Basteln für eine bessere WeltLieber Krimifan: Wenn Sie auf der Suche nach dem Mörder im Dunkeln tappen (nein, es ist NICHT immer der Gärtner) – vielleicht hilfteine selbst gebastelte Leselampe?

1. Befreien Sie einen Drahtkleiderbügel von

Hemd oder Mantel.

2. Biegen Sie die zwei Enden nach vorne

und überprüfen Sie den Stand.

3. Kaufen Sie eine Glühbirnenfassung mit Kabel,

Stecker und Schalter (im Hobby-, resp. Do-it-yourself-

Laden erhältlich) und warten Sie, wenn Ihnen Ihr

Leben lieb ist, mit dem Einstecken, bis die Glühbirne

eingeschraubt ist.

5. Drehen Sie eine Glühbirne in die Fassung.

Selbstverständlich kommt für den seriösen Recycling-

Bastler nur eine Energiesparlampe in Frage –

die es noch dazu in vielen originellen Formen gibt.

6. Kippen Sie den Schalter und lesen Sie los.

7. Und sollten Sie einen zweiten Kleiderbügel

entbehren können: Wiederholen Sie Schritte 1

bis 2, kippen Sie den Bügel und legen Sie, kurz

bevor Ihnen die Augen zuklappen, das Surprise

elegant in Ihren neuen Magazinständer.

4. Drehen Sie den Haken so um die Plastikfassung,

dass er diese stabil hält.

6 SURPRISE 254/116

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VON FLORIAN BLUMER (TEXT) UND DAVIDE CAENARO (BILD)

«Du musst schreiben.» Diese drei Wörter lösten eine Wende aus imLeben von Gabriella von Arx. Gelernt hatte sie Arztgehilfin, beschäftigtwar sie zu dieser Zeit, Mitte der 80er-Jahre, als Flight-Attendant bei derSwissair. Heute landet sie mit ihrem Kleinverlag einen Grosserfolg nachdem anderen – jüngst mit «Das volle Leben – Frauen» von SusannaSchwager, das sich sensationelle 55000 Mal verkaufte.

Die Aufforderung zum Schreiben kam nicht von irgendwem. Sondernausgerechnet von Frank Baumann, in der Öffentlichkeit nicht geradebekannt für freundliche Komplimente: Ende der 90er-Jahre wurde erals Moderator der Publikums(beschimpfungs)sendung «Ventil» schweiz -weit gehasst, inklusive Morddrohungen und handfestem Prügel. SeineEmpfehlung hatte allerdings einen Hintergrund: Heute längst ein glück-lich verheiratetes Paar, schrieben sich die Stewardess und der Medien-profi damals glühende Liebesbriefe.

Gabriella Baumann-von Arx holte das Deutschdiplom der DeutschenHandelskammer nach – sie hatte keine Matura – und wurde Journalistin.Sie schrieb für «Annabelle» und «Wir Eltern», später auch für die «Sonn-tagszeitung» und den «Sonntagsblick». So steil ihre Karriere verlief, soschnell waren auch die Neider zur Stelle, die abschätzig meinten, dassnatürlich alles ihrem berühmten Mann zu verdanken sei. Baumann-vonArx’ Antwort darauf: «Franks Frau zu sein hat mir sicher die eine oderandere Tür aufgemacht. Offen halten musste ich sie aber selber.»

«Schon als Journalistin bin ich in erster Linie an Menschen und ihrenSchicksalen interessiert gewesen», erklärt Baumann-von Arx bei einemGlas Apfelschorle im Café des noblen Hotel Storchen in Zürich, «dochirgendwann wurde mir die Länge eines Zeitungsartikels dafür zu knapp.Also begann ich, Bücher zu schreiben.» Das erste war eine Biografie derSchlagersängerin und Stimmungskanone Nella Martinetti, das zweiteschrieb sie über die Extrem-Bergsteigerin Evelyne Binsack. Mit dem drit-ten über die damals noch weitgehend unbekannte Slum-Helferin LottiLatrous landete sie direkt auf Platz eins der Schweizer Bestsellerliste.

Die Geschichte der Frau eines Nestlé-Direk-tors, die das luxuriöse Heim, Mann und Kin-der in der Schweiz zurückliess, um den Men-schen im Slum von Abidjan in der Elfenbein-küste zu helfen, ging Baumann-von Arx so na-he, dass sie gleich ein weiteres Buch über sie verfassen wollte. Der Ver-lag befand jedoch, es sei dazu noch viel zu früh. Also nahm Baumann-von Arx das Heft selbst in die Hand, das finanzielle Risi ko auf sich undbrachte die Fortsetzung im Eigenverlag heraus. Die New comerin bewiesein besseres Gespür als die erfahrenen Verleger: Die Fortsetzung, beflü-gelt durch Latrous’ Wahl zur «Schweizerin des Jahres» 2004, erreichteeine Auflage von 30 000 Stück – zehn Mal mehr als in der Schweiz er-forderlich, um ein Buch zum Bestseller zu machen.

Baumann-von Arx fühlte sich in ihrem Tun bestätigt und wollte sichgleich wieder ans Schreiben machen. Da reiste ein befreundeter Buch-

PorträtFerner und doch näherAls erfolgreiche Buchautorin wurde Gabriella Baumann-von Arx eher zufällig und widerwillig zur Verlegerin – einSchritt, den sie nicht zu bereuen hat.

vertriebsfachmann eigens aus Deutschland an, um sie von etwas an-derem zu überzeugen: Sie müsse weitermachen, auf jeden Fall. Abernicht als Autorin, sondern als Verlegerin. Baumann-von Arx sträubtesich: «Ich verspürte überhaupt keine Lust, das Schreiben aufzugeben.»Schweren Herzens tat sie es dann doch. Seither produziert ihr Klein-verlag Wörterseh, bestehend aus ihr, einem festen und einer Handvollfreier Mitarbeiter, Bestseller in Serie.

Sie sei nun zwar ein Stück weiter entfernt von den Menschen undihren Geschichten, räumt Baumann-von Arx ein. «Dennoch ermöglichtmir die Tätigkeit als Verlegerin, noch mehr Nähe zu erleben», erklärtsie, «da ich nun ja gleichzeitig fünf bis sechs Projekte betreue. Daraufmöchte ich nicht mehr verzichten.» Überhaupt scheint Baumann keineMühe mit grosser Nähe zu ihren Protagonisten zu haben: Zu Lotti La-trous zum Beispiel habe sich eine enge Freundschaft entwickelt, mitdem gestürzten Lotto-König Werner Bruni, dessen Geschichte im No-vember 2010 bei Wörterseh erschien, hält sie immer noch hin und wie-der einen Schwatz am Telefon.

Gabriella Baumann-von Arx legt Wert auf einen sorgsamen Umgangmit der Nähe zu den Porträtierten mit ihren Schicksalen: «Öfter mussteich zu einem Protagonisten sagen: Das ist zwar eine berührende Ge-schichte, aber sie gehört nicht ins Buch.» Sie hebt die Stimme und sagt:«Nur weil über jemanden ein Buch erscheint, muss er sich nicht füdli-blutt ausziehen.» Genau das aber, auch im übertragenen Sinn, warschon immer wichtiger Teil der Erfolgsstrategie der Boulevardpresse.Woher also kommt der Erfolg von Wörterseh?

Die Verlegerin führt ein Beispiel an: «Von mehreren Seiten ist an michherangetragen worden, ein Buch über Shawne Fielding zu verlegen», er-zählt sie. Doch die Geschichte über die Ex-Miss-Texas, die sich mit ih-rem Gatten, Ex-Botschafter Thomas Borer, verkracht hat, sei nichts fürWörterseh: «Das würde ich nie machen», sagt Baumann-von Arx undverdreht zur Bekräftigung die Augen, «da ist viel zu viel negative Ener-gie drin. Wenn sich die beiden eines Tages wieder zusammenraufenwürden, ja, dann wärs vielleicht eine gute Geschichte. Aber ein Rosen-

krieg ohne Happy End? Lieber nicht.» Baumann-von Arx’ Prinzip: «Esmuss Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein, das zeigt den Lesernund Leserinnen, dass es immer eine Lösung gibt.» Zusätzlich müsseman etwas lernen können und die Geschichte müsse Details enthalten,an welche man anknüpfen kann, «und natürlich muss das beschriebeneLeben Höhen und Tiefen enthalten und aussergewöhnlich sein.»

Sich selber in der Rolle der Protagonistin eines ihrer Bücher kannsich Baumann-von Arx nicht vorstellen. Lachend meint sie: «Ein Buchüber mich? Nie im Leben. Warum auch? Für meine Geschichte reichtdie Länge eines Zeitungsartikels absolut.» ■

«Nur weil über jemanden ein Buch erscheint, musser sich nicht füdliblutt ausziehen.»

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Blaue LiebeVON STEPHAN PÖRTNER

Charlie Amok war ein Punkrocker. Seit über dreißig Jahren. Seine Band spielte im Vorprogramm von wiedervereinigten Punkle-

genden, in besetzten Häusern und Jugendzentren weit draußen auf demLand. Die Gagen bewegten sich zwischen Münzen, Freibier und Garnix.Punkrock eben. Charlie liebte es, genau so musste es sein. Er würdeweitermachen, bis er tot umfiel.

Was er dann auch tat. Von einer Kugel in die Stirn getroffen. In sei-ner Wohnung. Er muss dem Mörder die Tür geöffnet haben.

Wenn am Tag seiner Beerdigung auf dem Friedhof eine Bombe ex-plodiert wäre, hätte sie die gesamte Punkerpopulation unserer Stadtausgelöscht. Alle hatten Charlie gern gehabt und fragten sich, wer ihnerschossen haben könnte. Charlie hatte keine Feinde gehabt.

«Wir müssen den Mörder finden!», sagte der dünne Zimmermannbeim anschliessenden Leichenmahl. Darauf stießen wir an, worauf ich,angefeuert von ein paar Chrüterlutz aufstand und in die Runde rief:«Wir finden ihn! Wir schwören es!»

Einen Moment lang war es still. Der dicke Wiener und Heinz Hart-holz, Schlagzeuger von Charlies ungefähr zwölfter Band, sprangenebenfalls auf, wie einst die drei Eidgenossen am Rütli hoben wir unse-re Schwurfinger zusammen, und es sah ziemlich gut aus, wie man sagt,weil irgend so ein Arsch natürlich mit dem Handy ein Foto gemacht undes auf Facebook gestellt hat, aber weil ich nicht bei Facebook bin, weißich nicht, ob das stimmt.

Wir schworen vor versammelter Meute, nicht zu ruhen oder zu ras -ten, bis dass wir ihn dingfest gemacht hätten, den Lumpenhund.

Danach wird die Sache unklar An den Schwur erinnerte ich mich erstwieder, als Hartholz vor der Türe stand.

«Wo fangen wir an?», fragte er. Es war eine gute Frage. Wir wälztensie zusammen mit dem Wiener in einer gemütlichen Beiz. Hier hattenwir vor einem Vierteljahrhundert oft gesessen, jung, durstig und vollerElan. Der Durst war geblieben.

Zwei Stunden später läuteten wir an der Wohnung von CharlieAmok. Die Tür war mit einem Polizeisiegel versehen. Wir öffneten trotz-dem, wir wussten wo der Schlüssel lag. Die Wohnung war nicht groß.Auf dem Boden des Wohnzimmers war noch immer eingetrocknetesBlut zu sehen. Es war von oben bis unten mit Platten vollgestopft. Ichstand, im schwarz gestrichenen Schlafzimmer, als ich Stimmen hörte.

«Wir sind von der Polizei, und Sie?»«Wir nicht», sagte der Wiener.Wir wurden verhaftet. Ich war seit Jahrzehnten nicht mehr verhaftet

worden. Früher wurde man ständig verhaftet. Ein Punker auf einem Mo-fa, das war für die Bullen so etwas wie ein Freispiel. Da war immer et-was. Ein Klumpen Hasch, eine Spraydose, ein Flugblatt, kein Ausweis,Mofa frisiert. Oder geklaut. Oder beides. Und wenn nicht, auch egal:

«Was heißt das hier auf deiner Jacke: Bullenschweine?»

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«Das ist eine Band.»«Soso, und hier: Schweizerland verrecke?»«Hm, ich weiß auch nicht. Die Jacke gehört meinem Bruder.»

Diesmal behandelten sie uns ganz anständig. Weil das Türschlossnicht beschädigt war, hatten sie nichts in der Hand.

«Und das Siegel?», fragte einer der Bullen, der aussah, als sei er frü-her mal ein Ted gewesen.

«Welches Siegel?»Sie glaubten uns nichts, aber was sollten sie machen? Wir redeten mit-

einander. Sie wussten so wenig wie wir. Sie ließen uns schließlich laufen. Aber zwei Tage später rief mich der

Teddybulle wieder an.«Sie waren doch ein Freund des Toten. Er hat keine Verwandten. Wir

müssen die Wohnung räumen lassen. Vielleicht könnten Sie und IhreKumpels das übernehmen? Mal etwas tun für den Staat. Statt immer nurreklamieren.»

Ich seufzte. «Also gut», sagte ich. «Den Schlüssel können Sie bei mir abholen.»

Ich traf den Wiener und Hartholz um halb zwei bei der Wohnung vonCharlie Amok. Es war natürlich nicht die Staatstreue gewesen, die unshergelockt hatte. Erstens, der Schwur.Zweitens, die Platten. Amoks Sammlungwar legendär. L-E-G-E-N-D-Ä-R. Es wardie Höhle Ali Babas für Punker. Der Wie-ner hatte Bier mitgebracht, wir schwelg-ten in den alten Scherben, hörten Singleum Single, und es war fast wie ganz früher, als man die neuen Plattenim Beisein von Freunden hörte, weil nicht alle dasselbe kauften, für wasauch?

Wir stapelten um, wir staunten, wir wussten gar nicht so genau, waswir suchten. Einen Mörder schlussendlich.

«Schau hier!», rief der eine.«Das gibt es nicht», der andere.«Wahnsinn!», der Dritte. «Eine Goldene!» Das war der Wiener.«Goldene Pressung? Goldene Zitronen?», fragte Hartholz.«Nein, eine echte. Der Amok hatte ja schon einen Zacken ab.»Er reichte uns die Goldene Schallplatte. Eine Single. Ein volkstüm-

licher Schlager, von dem es später mal eine erfolgreiche Techno-Versiongegeben hat. Wir fanden noch ein paar Goldene und Silberne.

Offenbar hatte Charlie Amok auch Goldene Schallplatten gesam-melt. Wenn einer tot ist, dann kommen die Geheimnisse ans Licht.

Es fand sich aber kein Hinweis auf einen Mörder oder ein Motiv. Spä-ter saß ich allein in meinem Zimmer und dachte nach. Es fruchtete we-nig, und darum wollte ich mit einem gepflegten Flaschenbier nachhel-fen. Auf dem Weg in die Küche stolperte ich über eine der Goldenen. Ichzerbrach die Glasscheibe, mit der sie geschützt war, und hätte mir fastdie große Zehe abgesäbelt, wäre verblutet und elend gestorben. Fast.

Beim Wegräumen des gemeingefährlichen Gegenstands schaute ichihn mir genauer an. «Blaue Liebe» von Julie September, Musik P. Gründ-gers/Text K. Ammon.

Wieso sammelt Charlie Amok so einen Scheißdreck?, dachte ich,während ich humpelnd mein wohlverdientes Bier aus dem Kühlschrankholte. Ich setzte mich an den Küchentisch, trank einen Schluck, schau-te auf die Unterlagen, die dort herumlagen. Adressiert an Karl Ammon.Scheiße. Ich schaute zwischen Goldener und Briefumschlag hin undher. Charlie Amok hieß mit richtigem Namen Karl Ammon.

Nach einigem Blättern in den Unterlagen, etwas Googeln stand fest:Karl Ammon alias Charlie Amok hatte Texte für volkstümliche Schlagergeschrieben. Aber deswegen wurde man doch nicht umgebracht. Leider.

Ich wagte es nicht, den Wiener und Hartholz über meine Erkennt-nisse zu informieren. Ich rief bei der Plattenfirma an.

«Hier spricht die Anwaltskanzlei Hartholz und Wiener», improvisier-te ich. «Wir vertreten die Nachkommen von Karl Ammon.»

Ich wurde ein paarmal weiterverbunden.«Herr Ammon? Ja, haben Sie sich jetzt endlich entschieden? Seit ei-

ner Woche warten wir auf den Vertrag. Nur Ihre Unterschrift fehlt noch,dann sind die digitalen Rechte geregelt.»

Ich hängte auf, durchwühlte Charlies Papiere und fand den Vertrag.Es ging um die digitalen Rechte von volkstümlichen Schlagern. Die vonden Goldenen Schallplatten.

«Ach du Scheiße», entfuhr es mir, als ich den Betrag las, der für dieRechte geboten wurde.

Charlie hatte nicht unterschrieben. Aber Peter Gründgers, der Kom-ponist, hatte unterschrieben.

Seine Adresse stand oben im Vertrag. Ich schellte am Tor, das den Zugang zu der Terrassensiedlung ver-

sperrte.«Wir kaufen nichts!», schnarrte der kleine Lautsprecher unter dem

Fischauge in der Torsäule.«Herr Gründgers, ich muss Sie sprechen.»«Was wollen Sie?»

«Es geht um Charlie Amok?« «Um wen?««Karl Ammon. Den Texter Ihrer Hits.»Das Tor öffnete sich wie von Geisterhand. Ich ging die Einfahrt und

die Treppe zur Wohnung hinauf. Ein braun gebrannter Mann mit blonden Haaren öffnete die Tür. Er

sah aus wie Hansi Hinterseer. Wenn Hansi Hinterseer in seiner Jugendnicht Ski gefahren wäre, sondern professionell Speed geschnupft hätte.

«Was ist mit Karl?», fragte der Mann.«Er ist tot», sagte ich.«Kommen Sie herein», sagt er.Er führte mich durch eine Art Salon, der weiß war. Weißer Marmor, weißes Sofa, weiße Teppiche, weiße Leuchten, weiß,

weiß, alles weiß. Es blendete. Gründgers führte mich auf die Terrasse. Ein Betonplatz mit Teak -

holzmöbeln. In einem Liegestuhl eine Blondine. Ich hätte beinahe gefragt, ob es hier oben Rabatt gebe fürs Klischee-

Erfüllen. Es wirkte alles teuer, lieblos und etwas heruntergekommen.Dieter Bohlen für Arme halt.

Ein braun gebrannter Mann mit blonden Haaren öffnetedie Tür. Er sah aus wie Hansi Hinterseer.

10 SURPRISE 254/11

«Was ist passiert?», fragte Gründgers. «Karl wurde am vorletzten Mittwochabend erschossen.»Gründgers schwieg.«Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?»«Den Karl? Nie. Wir haben uns nie gesehen. Er hat mir die Texte im-

mer geschickt.» Gründgers seufzte. «In den letzten zwanzig Jahren kamnicht mehr viel, aber in den Achtzigern, da waren wir die Stock, Aitkenund Dingsbums des volkstümlichen Schlagers. Die Größten. Die Hit-Lie-feranten. Bum Tschak!»

Die Blonde auf dem Liegestuhl hatte dieSonnenbrille abgenommen und schielte mitdem linken Auge träge herüber.

«Ich hatte ganz früh einen kleinen Hit, undeines Tages hab ich einen Text dazu bekommen,per Post. Der Text war super. Ich hab das Stück umgeschrieben, auf denText. Es wurde unser erster Hit: ‹Blaue Liebe›. Danach fand ich regel-mäßig Texte in meinem Briefkasten, wir telefonierten und besprachendie Sachen, die Plattenfirma schickte ihm die Honorare. Wir lebten gut.»

«Sie leben immer noch gut», sagte ich.Gründgers lachte bitter, und die Blondine zog die Mundwinkel ver-

ächtlich nach unten. «Sie wollten die digitalen Rechte verkaufen.««Ja, der Vertrag stand vor dem Abschluss. Das schenkt noch einmal

ein.» Er rieb sich die Hände. Unbewusst wahrscheinlich.«Charlie wollte nicht.»«Doch, doch, er wollte den Vertrag zurückschicken. Alles kein Pro-

blem», sagte er.«Und jetzt?»«Fallen die Rechte wohl an mich. So steht es im Vertrag.»«Aha», sagte ich.«Ich habe ihn nicht umgebracht. Ich hab ein Alibi. Ich war an einer

Talentshow auf dem Land, steht in der Zeitung. Im Lokalblatt», sagteGründgers und brachte mich zur Tür.

Ich traf mich mit dem Wiener und Hartholz. Es war eine schwereStunde. Ich zeigte ihnen den Vertrag. Sie mussten mir glauben.

«In dem Fall können wir aufhören», sagte der Wiener bitter.«Warum?», fragte Hartholz.«Weil Charlie Amok gar nie gelebt hat. Er war ein … ein Schlager-

fuzzi, der den Punker macht. Ich könnte kotzen.»«Jetzt sei aber nicht so. Charlie Amok war einer uns. Von irgendwas

musste er ja leben. Außerdem ist ‹Blaue Liebe› kein so schlechtes Lied.Textlich meine ich», wandte Hartholz ein.

Wir sahen ihn stumm an. «Auf Charlie», sagte ich und bestellte eine Runde. Wir stießen an.

Am nächsten Morgen meldete ich mich bei der Plattenfirma. «Was war denn das Problem mit dem Vertrag?», fragte ich ihn, nach-

dem ich mich fadenscheinig als Nachlassverwalter ausgegeben hatte. «Er wollte nicht. Können Sie sich das vorstellen? So viel Kohle für die-

sen alten Kram, und er will nicht.»«Wieso denn nicht?»«Weil er gegen digitale Musik war.»«Sogar bei dem Scheiß?»,«Genau. Aus Prinzip. So hat er es gesagt, aus Prinzip. Er habe schon

CDs gehasst, aber mit diesem Mp3-Pipapo, da wolle er nichts zu tun ha-ben, nur über seine Leiche.»

«So ist es ja auch gekommen.»«Tragisch, so etwas.»Ich hängte auf und rief den Wiener an.«Charlie Amok ist als Held gestorben», sagte ich und erklärte ihm,

wie der Vinylfan Amok sich geweigert hatte, sein zweifelhaftes Werk di-gital zu rezyklieren.

Der Wiener weinte. «Ein echter Punk», schluchzte er. «Ich wusste esdoch. Einer von uns.»

Zwei Tage später, nach der Abgabe von Charlies Wohnung, ging imersten Stock die Tür auf. Ein älterer Herr trat heraus.

«Sie waren sein Freund, nicht wahr? Der arme Mann. So ein netter.Er hat mir immer das Altglas entsorgt.»

«Ja», sagte ich, «es ist eine Schande.»

«Was wird nun aus seiner Freundin? Sie war doch auch so eine liebe?»Ich runzelte die Stirn. Soviel ich mitbekommen hatte, war Charlie

Amok mit seiner Musik verheiratet gewesen.«Ja. Man hat sie nicht oft gesehen. Nie eigentlich. Aber einmal war

sie hier. Sie hatte ihren Schlüssel vergessen und hat auf ihn gewartet. Ichhabe ihr einen Tee gekocht.»

Er beugte sich vertrauensvoll zu mir hinüber.«Eine Rassige war das, und wissen Sie was, ich glaube, die war mal

berühmt. Eine Schlagersängerin.»«Wann war das?»«Warten Sie, am Mittwoch vor einer Woche, würde ich sagen.»«Der Tag, an dem er umgebracht wurde?»«Jetzt, wo Sie es sagen, stimmt.»«Haben Sie denn nichts gehört? Nachdem sie weggegangen war?»Er schüttelte den Kopf und wandte mir sein Ohr zu. Darin steckte ein

winziges Gerät. «Wenn ich das abschalte, bin ich mehr oder weniger taub. Wissen

Sie, darum schätzte mich Charlie so als Nachbarn. Ich höre nichts. Dakonnte er lärmen, wie er wollte.»

«Aber einen Schuss hätten Sie schon gehört?»Er zuckte mit den Schultern.«Wie hieß Sie denn, die Schlagersängerin?» «Julie September. Ihr erster Hit war ‹Blaue Liebe› gewesen.»

Zuhause klemmte ich mich an den Computer. Natürlich kannte ichkeine Julie September. Aber ich fand bald heraus, wer sie war. Nicht dieFrau von Charlie Amok. Sondern die Frau von Peter Gründgers. Die auf-getakelte Blonde. Ihre Karriere war schon lange dahin.

Ich rief meine Verschwörer zusammen, und wir machten uns auf zuGründgers.

«Sie schon wieder?», fragte er.«Ist Julie September hier?»«Was wollen Sie von meiner Frau?»«Der Herr hier», ich deutete auf den Wiener, «ist Festival-Veranstalter.

Es geht um ihre Comeback-Tournee. Jetzt, wo ihre Hits digital heraus-kommen. Eine interaktive Tour, übers Internet, mit Facebook und Twit-ter, voll iPad-kompatibel und alles», improvisierte ich. Der Wiener sahmich böse an.

Wir wurden hereingelassen. «Meine Frau kommt gleich.»Als sie endlich kam, hatte sie sich in einen roten Pailletten-Overall

gezwängt, um die Taille einen Gürtel mit einer goldenen Schnalle, sogroß wie ein Sportlenkrad. Dazu Plateaustiefel von schwindelerregen-der Höhe. Wahrscheinlich ein altes Bühnenoutfit, das zu eng gewordenwar. Sie konnte sich nicht setzen.

«Sie wollten mich sprechen?» «Genau, ich möchte wissen, warum Sie Charlie Amok umgebracht

haben.»Ich trat entschlossen vor sie hin.

Er war ein … ein Schlagerfuzzi, der den Punker macht.Ich könnte kotzen.

11SURPRISE 254/11

«Sie waren am Mittwoch in seinem Haus und haben bei seinemNachbarn Kaffee getrunken.»

«Tee», sagte sie.«Ha», sagte ich. «Sie geben es also zu.»Sie sah Gründgers an. »Lässt du es zu, dass man so mit mir umgeht?

In meinen eigenen vier Wänden?»Gründgers schaute weg. «Du bist ein Feigling!», schrie sie und trat nach ihm. Auf ihren Plate-

auschuhen verlor sie das Gleichgewicht und krachte auf ihn. Er flogvom Sofa, sie rappelte sich auf und trat weiter nach ihm.

«Alles muss ich selber machen. Du feige Sau. Du hättest natürlich zu-geschaut, wie dieser sture Bock unsere Zukunft verdirbt. Weißt du, wieviele Schulden wir haben?»

Gründgers brachte sich unter dem Salontisch in Sicherheit. «Sie waren das!», schrie Hartholz . «Sie, die Charlie alles verdanken.

‹Blaue Liebe›, verdammte Scheiße, ich hab den Song jahrelang heimlichgehört. Wenn ich besoffen heimgekommen bin. Allein. Wie der Mannim Lied.»

Julie September hatte sich erstaunlich behände aufgerappelt.«Wir rufen jetzt die Polizei», sagte ich ruhig. «Nein! Pfoten hoch!» Sie hatte sich in den Ausschnitt gefasst und ei-

nen Revolver hervorgezogen. Der Wiener stürzte sich auf sie. Sie schoss.Die Kugel riss ihm ein Stück des linken Ohrs ab. Wir warfen uns alle aufden Boden.

«Elende Memmen. Ich werde euch alle umlegen. Es ist kein Verlustfür die Menschheit. Setzt euch aufs Sofa. Schön in eine Reihe.»

Wir gehorchten. Da hämmerte es gegen die Haustür.«Aufmachen! Polizei!», jemand warf sich gegen die Tür. «Machen Sie auf! Das Spiel ist aus.»Julie September lachte. Dann hechtete sie zur Terrassentür und

schwang sich über das Geländer. Wir hörten ein Platschen. Dann ein

Stephan PörtnerStephan Pörtner, geboren 1965, lebt in Zürich,wo seine vier Krimis um Köbi Robert, den De-tektiv wider Willen, spielen. Im Frühling 2011erschien der fünfte Band «Stirb, schöner En-gel». Pörtner schreibt zudem Fortsetzungskri-mis, Hörspiele sowie Kolumnen für Surpriseund die WoZ.

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Schreien. Dann ein Röcheln. Dann ein Splittern. Der Teddybulle standmit gezogener Waffe in der weißen Stube.

«Wo ist sie?»Vier Köpfe drehten sich zur Terrasse. Der Bulle stürzte hinaus. Wir

hörten ihn fluchen und eilten ihm nach. Er stand am Rand des Pools, der sich unterhalb der Terrasse befand.

Julie September lag am Boden des Pools. Ihr schweres Paillettenoutfitund der Goldgürtel hatten sie nach unten gezogen. Sie war ertrunken.

«Wo kommen Sie auf einmal her?», fragte ich den Bullen.«Der Nachbar des Opfers hat mich angerufen. Er hat sich an etwas

erinnert. Die Frau, die in der Mordnacht bei ihm Kaffee getrunken hat.»«Tee», sagte ich.An diesem Abend saßen wir lange unter Charlie Amoks Lederjacke

in unserer Stammkneipe. Er konnte nun in Frieden ruhen. Wir würdensein Geheimnis bewahren. Wir schworen es. Dann sangen Hartholz undder Wiener «Blaue Liebe», und man warf uns alle hinaus.

Mit freundlicher Genehmigung von Stephan Pörtner. Gekürzte Fassung aus Pört-

ners Beitrag für «He shot me down – Rock’n’Crime Stories», Rotbuch Krimi 2011.

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So müsste man wohnen, sage ich mir, wenn ich bei anderen Leutenin weite leere Räume trete: Lichtdurchflutet, von hohen Fenstern we-hende weiße Gardinen, nur wenig Farben in Naturtönen und null Nip-pes. Bei uns ist alles voller Sachen, was Wunder, wenn man seit übervierzig Jahren verheiratet ist und seitdem oft und gern im In- und Aus-land Flohmärkte besucht hat.

Also wäre es nicht schwer, irgendeinen halbantiken Gegenstand ausunserem vollgestopften Haus zu selektieren und über Herkunft undWerdegang zu berichten. Uhren, Dosen, Kästchen, Vasen, Kunst undKitsch – alles da. Suchend wandern meine Augen über Schätze, die fürPuristen wahrscheinlich unsäglicher Plunder sind, und entdecke dabeieinmal wieder das Händchen. Niemand mag es, trotzdem fristet esschon lange sein beklagenswertes Dasein zwischen Hüten und Mützenauf dem Dielenschrank.

Als ich vor Jahren durch die Fußgängerzo-ne einer fremden Stadt schlenderte und keinepassenden Schuhe fand, wurde meine Frustra-tion durch ein lustiges kleines Mädchen gemil-dert, das vor einem Laden stand und mit gro-ßer Energie immer wieder auf eine Fußmatte sprang. Auf der Matte warein Pferdekopf abgebildet, und bei jedem Hopser ertönte aus einem un-sichtbaren Lautsprecher ein vitales Wiehern. Erst auf den dritten Blickerkannte ich, daß es ein Geschäft für Scherzartikel war. In meiner Ju-gend wurde ich einmal auf eine Party eingeladen, wo man mit Senf oderSalz gefüllte Pralinen herumreichte. Ich biß herzhaft hinein und hasseseitdem Objekte dieser Art.

Eigentlich wollte ich damals auf der Stelle weitergehen, aber der In-haber kam heraus und lockte wie eine Knusperhexe. «Gleich gibt es Re-gen, treten Sie doch unverbindlich ein! Sie werden sich wundern, wasman alles bei mir kaufen kann!» Tatsächlich fing es an zu tröpfeln, undich stolperte ergeben in den kleinen Laden.

Da gab es Gartenzwerge, die exhibitionistisch den Mantel aufhieltenoder mit dem Dolch im Rücken am Boden lagen; ich erinnere mich anAschenbecher, die gräßlich zu husten anfingen, sobald jemand darandie Zigarette abstreifte, und sehe vor allem die vielen Händchen vor mir,die an einer Leine baumelten. Er habe beim Einkauf falsch kalkuliert,sagte der unglückliche Verkäufer, und bei weitem zu viele Hände ausWeichplastik geordert; jetzt müsse er sie unter Wert verramschen. Umdie Sache auf den Punkt zu bringen: Zur Überraschung meines Manneskam ich nicht mit neuen Schuhen, sondern mit einer ekligen und völligüberflüssigen Gummihand nach Hause.

Wer mochte Modell dafür gestanden haben? Die Hand sieht so echtaus, daß man wegen ihrer mangelnden Wärme zusammenzuckt. Ichordne sie einem taiwanischen Programmierer oder einem japanischenPianisten zu, denn es ist sicherlich eine Männerhand, allerdings einesehr feine, elfenbeinfarbene, mit langen Fingern.

Am Tag nach diesem peinlichen Einkauf konnte ich es nicht lassen,das Händchen im Ärmel eines aufgehängten Mantels zu fixieren und da-mit eine Besucherin zu erschrecken. Auch mein Mann wurde kreativ,ließ die gelblichen Finger unter meiner Bettdecke herausgucken, vondraußen ins Klofenster greifen oder, zwischen die Schiebetür geklemmt,eine Zigarette rauchen. Allerdings gelobten wir, das Händchen niemalsunter ein Auto zu legen. Freunde baten darum, die Hand mit in den Ski-urlaub nehmen zu dürfen, um dort Schabernack damit zu treiben.

Nach einer Weile geriet mein Händchen in Vergessenheit. Aber einesTages ist es wieder zu Ehren gekommen, weil es vielleicht eine Lungen-entzündung verhindert hat. Als ein Fernsehteam einen kleinen Film beiuns drehte, wollte man mich im herbstlichen Garten Blätter zu-sammenharken lassen, um ganz nonchalant eine Leiche damit abzu-decken. Redakteurin und Kameramann sagten einstimmig zum Ton-techniker: «Und du machst jetzt die Leiche!»

Der Rasen war naß, die Blätter schmutzig, die Erde ausgekühlt, derarme Mann dauerte mich. Als mir die Erleuchtung kam, waren alle zu-frieden: Pars pro toto. Das Händchen ragte täuschend echt unterm Blät-terhaufen hervor, und ich ließ es dort liegen. Der Frühlingswind brachtees leider wie neugeboren wieder an die Oberfläche, denn es gibt Dingeim Leben, die trotzen dem natürlichen Verfall und werden niemals derErde gleich.

Mit freundlicher Genehmigung von Ingrid Noll, aus: «Falsche Zungen» (Diogenes),

Zürich 2005.

Das Händchen

Ingrid NollIngrid Noll kam 1935 in Shanghai zur Welt undstudierte in Bonn Germanistik und Kunstge-schichte. Sie ist dreifache Mutter und Groß-mutter. Mit 55 Jahren begann sie, Kriminalge-schichten zu schreiben, die allesamt sofort zuBestsellern wurden. «Die Häupter meiner Lie-ben» wurde mit dem Glauser-Preis ausgezeich-net und, wie andere ihrer Romane, erfolgreichverfilmt. B

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Auch mein Mann wurde kreativ, ließ die gelblichen Fingerunter meiner Bettdecke herausgucken.

VON INGRID NOLL

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Stil und MoralVON LUKAS BÄRFUSS

Dies, verehrte Lesende, hätte ein gescheiter, stilistisch fein ziselierterkleiner Essay werden sollen, eine kultur kritische Erörterung mit weni-gen, ausgewählten und überraschenden Zitaten aus der Literaturge-schichte, ohne den üblichen Bildungsballast, den man leider in dieserGattung sehr oft findet. Es wäre hier um die Frage gegangen, wie der Stilmit der Moral zusammenhängt, und ich hatte bereits eine These, nochnicht sehr tragfähig, aber ausbaubar; ich hatte recherchiert, hatte michumgehört, und es war alles vorbereitet, um Ihnen etwas zu bieten, dasman allgemein als geistreich bezeichnet.

Aber dann tat ich etwas, was man in einer solchen Phase besser nichttun sollte. Ich ging nämlich Ski laufen.

Es war der erste Sonnentag nach dem großen Schnee fall; die äußer-liche Erscheinung der versammelten Winter sportler quer durch die Al-tersgruppen ziemlich homogen. Die meisten trugen Helme, dazu dunkleoder verspiegelte Skibrillen, eher weite Hosen und Jacken in getragenenFarben. Die aktuelle Mode, nicht etwa die Funktionalität, diktierte dieGarderobe.

Dann aber, mitten im Gedränge, eine junge Frau von vielleicht fünf-zehn, sechzehn Jahren, in einer Ausrüstung, wie ich sie seit vielen Jah-

ren nicht gesehen hatte. Ihre Skier waren Modelle von vor zwanzig Jah-ren, lang, nicht tailliert, mit schmaler Spitze; ihre Hosen enganliegend,dazu trug sie einen crèmefarbenen, taillierten Anorak, alles sehr weib-lich und äußerst stilvoll.

Dies war ein sehr schönes Beispiel für jene These, die auszubreitenich mir zur Aufgabe gemacht hatte. Den individuellen Stil kann mannämlich definieren als das Erkennen der Ansprüche einer bestimmtenSituation, verbunden mit dem Willen und der Fähigkeit, eben diese An-sprüche zu ignorieren. Stil ist nie pragmatisch. Trotz der vollständigenpraktischen Unterlegenheit auf die Verwendung von Taschentüchernaus Stoff zu bestehen, zeugt von Stil. Wer in einem Kochbuch ein Haut-karzinom abbildet, oder umgekehrt in einem anatomischen Atlas einKuchenrezept abdruckt, beweist ebenfalls Stil, einfach einen etwas selt-samen.

Allerdings, das war das Seltsame an der Sache, die Garderobe, so sehrsie auch aus der Mode war, erschien neu und ungebraucht. Die Skierwiesen keine Kratzer und die Hosen weder abgescheuerte Stellen nochFlecken auf, was mich irritierte, zumal ihre etwas ältere Begleiterin dieüblichen weiten Hosen und die kurzen bulligen Skier mit stumpfer Spit-

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ze trug. Ich schaute mich um. Gab es vielleicht noch mehr von diesenentzückenden Zeitreisenden? War dies ein neuer Trend auf den Pisten,eine Verweigerung des modischen Diktates?

Nein, sie war die Einzige, was mich nun vollständig für sie einnahm.Ich fühlte mich auf der Stelle wieder siebzehn, verliebte mich in diesesaparte Wesen, das sich keinen Deut um den modischen Zwang küm-merte und stattdessen ihren Stil lebte, und wie damals in der Schuleüberlegte ich mir, an wem ich mich vorbeidrücken müsste, um den Platzneben ihr auf dem Sessellift zu ergattern.

Kurzum, ich regredierte, der stilistische Ausdruck dieser Frau betör-te und verzauberte mich, und ich war plötzlich nicht mehr der ver-nünftige Familienvater im besten Alter, der seinen Sohn in die Penibi-litäten der schweizerischen Tourismusindu-strie einführte. Ein verkeilter Skistock wardann der Grund, weshalb ich das Mädchen ausden Augen verlor.

Doch als ob ein gütiger Gott uns geleitethätte, kam ich tatsächlich neben der geheim-nisvollen Frau zu sitzen, und mein zweites, et-was zweifelhafteres Glück war, dass ihre Be-gleiterin ebenfalls mit uns im Vierersessel saß und ich nun also in dennächsten Minuten die Gründe für ihre entzückende Garderobe erfuhr, danämlich die junge Frau alsbald begann, der Begleiterin, die sich als ih-re Betreuerin entpuppte, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Früh sei ihrVater gestorben. Die Mutter habe sich darauf einen neuen Freund ge-nommen, dem sie in eine andere Stadt gefolgt sei. Der Mann trank. DieMutter verließ ihn, fand einen Neuen, der die Kinder schlug. Worauf siewiederum in eine andere Stadt gezogen, krank und arbeitslos gewordensei. Sie selbst, die junge Frau, habe vier Geschwister, und es sei das er-ste Mal, dass sie einen Skiurlaub machen könne.

Ein traurige Geschichte, so unpassend zu diesem blau en Tag, dengleißenden Schneekristallen in der Luft, den verschneiten Tannen, demGedudel aus den Alphütten, dass keiner auf dem Sessellift irgendeinWort sagte, die Begleiterin bloß bei jeder geschilderten Scheußlichkeitmit der Zunge schnalzte und wir alle die Bergstation her beisehnten.

Die Erklärung für die aparte Garderobe war also nichts anderes alsArmut. Die junge Frau trug die altmodischen Kleider nicht freiwillig,sondern weil sie keine andere Wahl hatte. Sie war mit ihrer Klasse in ei-nem Skilager, und Wintersport, ich kann es Ihnen als Familienvater ver-sichern, ist eine geradezu unanständig teure Angelegenheit. Ihre Muttermusste vor vielen Jahren, wahrscheinlich noch vor dem Tod ihres Gat-ten, in eine Skiausrüstung investiert haben, in die Hoffnung, an den ge-sellschaftlichen Vergnügungen teilnehmen zu können, doch der Todmachte ihr einen Strich durch die Rechnung. Die Ausrüstung ist derkleinste Teil der Auslagen. Die Anreise, die Fahrkarten für die Skilifte,die Petitessen, die sich summieren, das geht nicht, wenn man kleine

Kinder und keinen Ernährer hat, und so blieb die Ausrüstung über Jah-re im Keller stehen, bis die Tochter alt genug war, um sie tragen zu kön-nen, oder, besser gesagt, um sie tragen zu müssen. Denn warum sollman eine neue Skiausrüstung kaufen, wenn eine ungebrauchte im Kel-ler steht, zwanzig Jahre alt, natürlich, aber tadellos in Schuss?

Ich war froh, als wir an der Bergstation ankamen. Das Mädchen hat-te mein Mitleid gewonnen, aber meine Be wunderung verloren. Es mussschrecklich sein, in einer aus der Mode gekommenen Ausrüstung zumersten Mal auf den Skiern zu stehen, und ich verfolge gewiss nicht dieAbsicht, hier auf die Tränendrüse zu drücken, aber ich muss Ihnen lei-der gestehen, dass mich dieses Erlebnis zum Umdenken gezwungen hat.

Das Elend wird niemals zum Stil, und Opfer sind jeder Verfeinerung

enthoben, und ich habe mich nach diesem Erlebnis gefragt, wie mansich in dieser scheußlichen Welt überhaupt noch mit Nebensächlichkei-ten wie Stilfragen aufhalten kann, die einem dazu noch eine verlogene,geschönte Ansicht der Welt vermitteln, eine Schönheit in der Verweige-rung sehen lassen, wo nichts anderes ist als Not und Lächerlichkeit.

Denn die Weltlage, verehrte Lesende, also alles, was in diesem Au-genblick geschieht, oder nicht geschieht, ist, man kann es leider nichtanders sagen, zum Kotzen, und ich weiß natürlich, dass in der verfei-nerten Umgebung eines kulturkritischen Essays die Begriffe Emesis undVomitus angebrachter wären, weil sie nämlich einerseits meine Bildungunterstreichen würden, andererseits die Grenze zu jenen zöge, die sicheinen Dreck für Fremdwörter interessieren und auch für Synonymenichts übrighaben. Aber ich hoffe, dass Sie mittlerweile verstanden ha-ben, worum es mir hier tatsächlich geht, um das unangepasste Verhal-ten nämlich, um Stil und Unmoral eben.

Wie nicht wenige unter Ihnen war auch ich bisher der unausgespro-chenen Ansicht, die Lektüre eines kulturkritischen Essays sei dem Welt-frieden zumindest nicht abträglich, aber ich habe eben die Seite ge-wechselt. In der Zeit, die Sie jetzt gerade mit Lesen vergeuden, nimmtdas Elend in der Welt zu, während Sie nicht das Geringste dagegen tunund sich an der Gespreiztheit der Sätze delektieren.

Manche werden nun vielleicht argumentieren: Alles zu seiner Zeit. Eswar niemals meine Absicht, gerade jetzt die Weltlage zu verbessern.Jetzt lese ich, und ohne Zweifel haben die gescheiten, gebildeten, fein-sinnigen Texte dieses gescheiten, gebildeten und feinsinnigen Schrift-stellers zur Folge, dass auch ich gescheiter und feinsinniger werde. Die

Ich war froh, als wir an der Bergstation ankamen.Das Mädchen hatte mein Mitleid gewonnen, abermeine Be wunderung verloren.

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Auseinandersetzung mit einer komplizierten Thematik wie dieser ver-ringert meine naturgegebene Ignoranz, vertieft meine Einsicht in denwahren Kern der menschlichen Existenz, in meine eigene Geworfenheit,und ein geschärftes Bewusstsein ist doch ohne Frage die Voraussetzung,um diese Welt ein bisschen besser zu hinterlassen, als man sie vorge-funden hat.

Das ist klug argumentiert, aber leider ignoriert dieser Gedankengangdie Zeit. Das Elend ist in erster Linie eine zeitliche Erscheinung, dasheißt, es misst sich in Stunden, Tagen, Wochen, Jahren. Je länger einMensch im Elend lebt, umso kürzer fällt sein Glück aus. Und deshalb istder Kampf gegen die Ungerechtigkeit ein Rennen gegen die Zeit. JedeMinute, die Sie mit der Lektüre von feinsinnigen, die Geworfenheit dermenschlichen Existenz beleuchten den Essays verbringen, tun sie nichtnur nichts gegen das Elend, in Wahrheit lassen Sie es sich vergrößern,einem Menschen in Not wertvolle Lebenszeit rauben.

Aber, höre ich nun schon den Einwand aus den hinteren Reihen, wirbrauchen doch eine Initialzündung, einen Auslöser, ein Signal, das unsaus der Lethargie reißt, und was, wenn nicht die Literatur, kann uns aufdie Aktion vorbereiten? Unsinn, liebe Freunde, Sie lügen sich damitselbst in die Tasche, und natürlich wissen Sie das auch.

Gemäß Brockhaus ist Apathie definiert als «ein bis zur völligen Un-ansprechbarkeit reichender Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber ei-genen Belangen und der Umwelt», und ich finde, diese Beschreibungtrifft ziemlich genau den Zustand, in dem Sie sich in diesem Augen blickbefinden. In Ihre Lektüre vertieft, kaum ansprechbar, bemerken Sienicht, was links und rechts vor sich geht. Man kann sagen: Je größer derKunstgenuss, umso tiefer die Apathie, umso größer die Absonderungvon den Bedürfnissen Ihrer Umwelt.

Doch, winseln Sie jetzt vielleicht, wie steht es denn um die Produk-tion der Werke? Das ist eine Tat, eine schöpferische Tat, und ist es nichtdieses Schöpferische, das die Welt verändert, und, da ich lese, habe ichnicht teil an diesem Akt eines Demiurgen?

Nun, die Verfassung eines Textes ist tat-sächlich eine Tat, aber keine, die etwas verän-dert. Es ist ja nun gerade nicht so, dass einSchriftsteller die bestehenden Werke überarbeitet, im Sinne von: «DieBuddenbrooks» – jetzt ohne die langweiligen Passagen! Oder: «Anna Ka-renina» – endlich mit Happy End! Oder: «Ulysses» – korrigiert und füralle verständlich! Gottfried Keller hat Goethe nicht widerlegt, und ob-wohl Sophokles den dritten Schauspieler in das Drama einführte, be-halten die Stücke von Aischylos, der mit zwei Mimen auskam, ihrenWert. Wer ein Bild von Tizian übermalt, den nennen wir einen Barba-ren und stecken ihn ins Gefängnis, und es ist ganz egal, ob dieserMensch Picasso oder Müller heißt.

So etwas wie Fortschritt ist der Kunst unbekannt, und man muss ein-gestehen, dass die Gesetze der Literatur in der Politik eine äußerstschädliche Wirkung entfalten. Nehmen wir den Satz: «So etwas wie ei-ne Gesellschaft gibt es nicht. Ich kenne nur Individuen.» Zwei Men-schen haben sich zu ihm bekannt, ein Schriftsteller namens VladimirNabokov und eine britische Politikerin mit Namen Margaret Thatcher.Für ihn bedeutete diese Absage, sich dem Kern der Persönlichkeit zu nä-hern, unabhängig vom System, in dem diese lebt, und ob man seine Po-etik nun mag oder nicht, Nabokovs Figuren – Pnin, Humbert Humbert,Sebastian Knight – bleiben unvergessen. Er sah in ihre Herzen, zeich-nete ihre Seelen und gab ihnen, in ihrer ganzen Verworfenheit, eineWürde. Und sie, die Politikerin? Ihr diente der Satz dazu, die gesell-schaftliche Solidarität zu zerstören, die Gewerkschaften zu schwächen,das Individuum aus der gesellschaftlichen Einbettung zu lösen und esals loses Teilchen den Bewegungen des Marktes schutzlos auszusetzen.

Aber, werden die Letzten jetzt noch einwenden, es ist doch unbe-stritten, dass gewisse Werke unser Bewusstsein verändert haben. Doch,das wird bestritten, und zwar von mir. Flauberts «Madame Bovary» et-wa hat das Bewusst sein für die menschenverachtende Trostlosigkeit der

Provinz geschaffen, und es ist ein großer Unterschied, ob man ein Be-wusstsein schafft oder es verändert.

Aber muss man nicht zuerst ein Bewusstsein haben, bevor man esverändern kann? Ja, das mag sein, aber die Betrachtung von Goyas Ra-dierungen «Die Schrecken des Krieges» schafft im Betrachter erst inzweiter Linie ein Bewusstsein für die Gräuel eines bewaffneten Konflik-tes. Zuallererst schaffen Kunstwerke ein Bewusstsein für die Möglich-keiten der Kunst. Kunst ruft zur Kunst auf, und wer einen Roman zu En-de gelesen hat, fragt sich nicht, wie er die Welt verändern kann, sondernwelches Buch er als nächstes lesen soll.

Falls Sie jetzt noch immer nicht eingesehen haben, welche morali-sche Sauerei Ihre Lektüre darstellt, dann stellen Sie sich bitte folgendeSituation vor. Eine gutgenährte, wohlhabende Person, Ihnen gar nichtunähnlich, verschlägt es in ein, sagen wir, afrikanisches Flüchtlingsla-ger, wo gerade die Cholera ausgebrochen ist. Menschen schreien, ster-

ben, doch statt zu helfen, sucht sich unser fiktives Ich eine einigerma-ßen ruhige Ecke und beginnt, sich an der Lektüre von Rilkes «Sonette anOrpheus» zu erfreuen. Sie müssen zugeben, dass dieses Verhalten mo-ralisch zumindest fragwürdig ist, und Sie müssen auch zugeben, dassim Grunde wir alle in einer etwas ruhigen Ecke eines Flüchtlingslagersleben. Die Entfernung macht das Elend bloß perspektivisch kleiner, undnur Idioten glauben, das sich entfernende Auto werde tatsächlich zumPunkt.

Sie sehen, die Lektüre literarischer Essays ist in dieser Zeit moralischnicht zu rechtfertigen, und deshalb gehe ich mit gutem Beispiel voran,und höre hier nun auf.

Erstveröffentlichung in der Anthologie «Zur Zeit», Wallstein Verlag 2010.

Lukas BärfussLukas Bärfuss ist 1971 in Thun geboren und ar-beitet seit 1997 als Schriftsteller in Zürich. Erschreibt Prosatexte («Hundert Tage», 2008),Hörspiele und vor allem Theaterstücke («Diesexuellen Neurosen unserer Eltern», «DerBus», «Die Probe», «Öl» u.a.). Seit der Spielzeit2009/10 arbeitet Lukas Bärfuss als Autor undDramaturg am Schauspielhaus Zürich. Dort or-

ganisiert und moderiert er auch die Gesprächsreihe «Weisse Flecken» so-wie, gemeinsam mit Peer Teuwsen («DIE ZEIT»), die monatlichen Streit-gespräche «Wer hat das Sagen? Zum Stand der Demokratie».

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Die Entfernung macht das Elend bloß perspektivisch kleiner.

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StadtgeschichtenVON MILENA MOSER

«Bitte einsteigen und Türen schliessen, der Zug fährt ab.» Corinnesteht vor dem letzten Wagen zweiter Klasse, ganz am Ende des Zuges,schon nicht mehr im Bahnhofsgebäude, sondern sozusagen auf freierWildbahn. Mitten in der Stadt. Der Schaffner pfeift einmal, den Blickfragend auf Corinne gerichtet, Corinne gibt den Blick an ihre Füsse wei-ter. Die Füsse rühren sich nicht. Der Schaffner pfeift ein letztes Mal. DieZugtür seufzt theatralisch und schliesst sich dann automatisch. «Nimmden 16 Uhr 48 ab HB», hat ihre Mutter gesagt, «dann hol ich dich ab.»«Ja, jetzt», sagt der Schaffner, der nicht mitgefahren ist, der auf dennächsten Zug wartet. «Ja, jetzt aber!» Corinne trägt fünf oder sechs Pa-piertüten mit Proviant in den Armen. Seit sie Paris verlassen hat, hat sienicht aufgehört zu essen. Eine der Tüten fällt ihr jetzt herunter und einhalb gegessenes Schinkensandwich rollt auf den Boden. Ihre Füsse rea-gieren immer noch nicht. Der Schaffner hebt das Brot auf, dreht es inder Hand, schaut es von allen Seiten an und wirft es dann weg. Corin-ne drückt die restlichen Tüten an sich. Sie hat damals nichts nach Parismitgenommen und jetzt nichts dort zurückgelassen. Die Agentur hat sieohne Umstände entlassen, von einer Geldstrafe würde man absehen.Corinnes Karriere ist zu Ende, da besteht kein Zweifel. Bevor sie über-haupt angefangen hat. Siebzehn und am Ende, denkt Corinne, der Filmzum Buch. Ein Nervenzusammenbruch, auf diesen Begriff hatte mansich geeinigt, ein Nervenzusammenbruch macht sich nun mal nie gut.«Ach was, Humbug», hat ihre Mutter gesagt, «Kate Moss war doch auchschon in der Klinik! Naomi Campbell!» Corinne nimmt einen Nussgip-

fel aus einer anderen Tüte und beisst ab. Nie mehr hungern, denkt sie.Egal, was sonst kommt. «Kommt ja jede Stunde einer», sagt der Schaff-ner und erst versteht sie nicht, was er meint. Hat sie laut gedacht? JedeStunde was? Ein Nussgipfel? Ein Zug natürlich. «17.48 der nächste», sagtder Schaffner etwas lauter. Das löst die Starre. Corinnes Füsse setzensich in Bewegung. Tragen sie aus dem Bahnhofsgebäude hinaus und aufdie Strasse. Da ist ein Fluss. Eine Brücke. Corinne kennt Zürich nicht.Nur Paris und das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist.

Vielleicht ist das das Problem, denkt sie. Dass ich Zürich nicht ken-ne. Und sie heftet ihren Blick auf den schmutzigen Gehsteig, als bilde-ten die Flecken der ausgespuckten, flachgetretenen Kaugummis eineKarte. Eine Karte für ihre Zukunft.

Er geht quer über den Platz auf den Hauptbahnhof zu, sie schaut ihmnach. Sie möchte sich aus dem Fenster lehnen, ihm nachwinken, rufen,alle sollen es sehen. Es ist kurz nach fünf, er reiht sich in die Masse derPendler ein, die Aktentasche in der einen, die ungelesene Zeitung in deranderen Hand. Als käme er von der Arbeit. Ganz normal. Wenn da nichtim dritten Fenster von links in der obersten Etage des Hotels Steigerhofeine nackte Frau wäre, eine nackte Frau, die da nicht hingehört. DasFenster des Hotelzimmers lässt sich nicht öffnen.

Er bleibt am Kiosk stehen, kauft eine Flasche Wasser, eine SchachtelZigaretten, einen Plüschelefanten. Elefanten liebe ich am meisten, hatsie gesagt. Andere Männer bringen ihren Frauen Blumen, wenn sie sie

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betrogen haben, oder Pralinen, er bringt seiner Tochter Elefanten. Meistschläft sie schon, wenn er nach Hause kommt, er beugt sich über sie,atmet ihr Haar, legt das Tier neben sie, das Zimmer füllt sich, auf demBett ist längst kein Platz mehr, die Regale, der Fussboden, das ganzeKinderzimmer ist voll grauem Plüsch und rosa Ohren.

Als ob er sich freikaufen könnte. Als ob der Elefant sie auslöschenwürde. Sie schaut ihm nach aus dem Hotelzimmer, er geht quer überden Platz, nicht über den Fussgängerstreifen, auf den Hauptbahnhof zuund sie schaut ihm nach, verzerrt durch die Fensterscheibe, die sichnicht öffnen lässt. Sie wünschte, sie hätte ein Gewehr und könnte ihnvon hinten erschiessen. Ein roter Fleck breitet sich auf seinem Rückenaus, die Mappe fällt aus seiner Hand, der Plüschelefant rollt auf dieStrasse, vielleicht fährt ein Taxi drüber. Überden Elefanten. Stattdessen tritt sie zurück insZimmer, der Fernseher ist an und zeigt immernoch die automatische Anzeige, Willkommenim Hotel Steigerhof, Herr und Frau Dr. Fank-hauser. Sie setzt sich auf den Bettrand, greift nach der Fernbedienung,schaltet um, sie hat ja Zeit, sie wird nirgends erwartet. «Nutz’ doch dasZimmer», hat er gesagt, «teuer genug war es ja.» Auf dem Nachttischnoch ein halbvolles Glas, im Zweiten beginnt der Krimi.

Das muss aufhören, denkt er. Das mit den Elefanten. Das war dasletzte Mal, morgen mach ich Schluss, gleich als Erstes morgen früh. Kei-ne Elefanten mehr, ich schwör’s.

Vielleicht noch einen. Ganz kleinen.

Der Lift hält in der 28. Etage, die Türe öffnet sich mit einem leisen Zi-schen, noch im Gehen wirft sie einen letzten Blick zurück, in den Spie-gel, einen Kontrollblick, glänzt die Nase, sitzen die Haare, hat sie Spinatauf den Zähnen. Da sieht sie es erst: Das Rot ihrer neuen Jacke beisstsich mit dem Rot ihrer Tasche.

Warum sie das nicht vorher gemerkt hat? Es muss am Licht liegen.Die Lifttür schliesst sich zögernd wieder, als wolle sie ihr noch eineChance geben. Sonja reagiert nicht. Sie wird zu spät zur Sitzung kom-men, was ihr in zehn Jahren nicht einmal passiert ist, nicht, seit sie dieFirma übernommen hat. Am Tag nach der Beerdigung. So hat sie um ih-ren Vater getrauert: Jeder, der auch nur eine Minute zu spät kam, wur-de entlassen. «Es herrscht ein neuer Wind», hat sie damals gesagt undihre Manager haben genickt. Haben sich geduckt. Ducken sich heutenoch. Seit zehn Jahren. Die rote Tasche ist seit diesem ersten Tag ihrMarkenzeichen. Damals hat sie sich keine Aktentasche kaufen können,keine Zeit gehabt, kein Geld, damals hat sie eine Strandtasche genom-men, heute ist es ein teures Modell aus Leder. Fröhlich, arglos, baumeltsie an ihrer Schulter, als wolle sie nur eben mal ins Strandbad oder zumStadtbummel. Dabei birgt sie sämtliche Akten, die Sonja gerade bear-beitet, das Schicksal jeder kleineren Firma in der Umgebung, das Lebenihrer Angestellten. Die Tasche jagt Angst ein. Ebenso wie ihr Name, Son-ja Huber, ein an sich harmloser, hübscher, weiblicher Name. Synonymfür Entlassungen, Nervenzusammenbrüche, skrupellose Firmenüber-nahmen. Sonja Huber drückt auf den Knopf, die Lifttür öffnet sich wie-der. Doch Sonja rührt sich nicht. Die Jacke ist neu. Sie kann sie nichtausziehen. Japanisches Kunstleder, direkt auf der Haut zu tragen. «Jakeine Bluse drunter», hatte ihr der Designer eingeschärft, «das gibt nurwieder Rümpfe!» Als mache sie absichtlich Rümpfe. Als ruiniere sie dasModell nur dadurch, dass sie es trug. Modeschöpfer und Verkäuferinnenin teuren Boutiquen sind die einzigen Menschen, von denen Sonja sichBefehle erteilen lässt. Männer, die zu viel Macht haben, lassen sich vonProstituierten demütigen. Sonja besucht teure Boutiquen, probiert Klei-der an, die ihr nicht passen und lässt sich von gehobenen Brauen, vonKopfschütteln und bedauerndem Zungenschnalzen klein und kleinermachen. «Naja, man könnte die Hose eventuell noch etwas auslassen,aber Ihre Schuhe verderben natürlich alles. – Rot? Sie wollen rot? Wirk-lich? – Unsere Entwürfe richten sich nun mal an die zierliche Kundin,

verstehen Sie.» Sie geniesst diese perfiden, exakt gesetzten Stiche wieein Mann den Peitschenhieb seiner Domina geniesst. Sie spürt, wie derDruck aus ihr entweicht, mit einem leisen Zischen, wie das der Lifttür,die sich wieder schliesst. Und sie drückt den Knopf: Erdgeschoss.

Die Tür zum Atelier ist verschlossen und über dem Schloss klebt dasSiegel des Betreibungsamtes. Darauf ist er vorbereitet. Trotzdem. Wasnun? Der Hund zerrt an seinem Knöchel. Genauer, am Hosenbein, diescharfen Zähne in dem sauteuren japanischen Kunststoff verbissen, derwie Leder aussieht, aber maschinenwaschbar sein soll. Nichts für schar-fe Hundezähne. Er bückt sich und dabei rutscht die Hose und er denktan sein Rheuma, er denkt nicht an den Anblick, den er allenfalls bietet,

den oberen Teil seines weissen Hinterns der Stadtluft ausgesetzt, nein,er denkt an sein Rheuma und er seufzt. Der Hund heisst Yves. NachYves Saint Laurent. Der genau so einen Hund gehabt hat, eine französi-sche Bulldogge, oder auch zwei, das Bild aus der französischen Voguehat ihn inspiriert, ein Bild aus den siebziger Jahren, der Meister am Bo-den kauernd über überlebensgrossen Skizzen, die Hunde respektlosdarüber hinweg tapsend, Fussspuren hinterlassend. Er hat den Hund. Erhat die Zigarettenspitze. Die getönte Brille. Was er nicht hat, sind über-lebensgrosse Skizzen. Oder einen Atelierboden, auf dem er die Skizzenhätte ausbreiten können. «Komm schon, Yve-i», sagt er und klickt dieLeine an das Nietenhalsband des kleinen Hundes, der diese Ge-schmacklosigkeit mit Fassung trägt. «Gehen wir halt.» Unterwegs kaufter eine gekühlte Flasche Champagner und eine Rose in Zellophan. Eröffnet die Flasche auf der Strasse und nimmt gleich einen Schluck unddann noch einen.Yves zerrt an der Leine und zieht ihn weiter. Als sie an-kommen, ist die Flasche beinahe leer. Das stört sie nicht. «Liebling! Duhast es nicht vergessen!» «Vergessen?» Da hat Yves ihn schon in die Kü-che gezerrt, wo ihre Freundinnen sitzen, um den Tisch herum, auf demleere Flaschen stehen und ein angeschnittener Kuchen. «Happy Birth-day, Mama!» Die Damen rutschen, und er lässt sich auf den Hocker sin-ken, Frau Zuberbühler von oben hat ihm schon den Hinterkopf zuge-wandt, er beginnt ihr Haar zu kämmen, wie er es früher immer getanhat, als es noch lang und dunkelbraun war. Frau Messaui von gegenü-ber fährt in ihrer Erzählung fort – «ich hätte es ja wissen müssen, einMann in seinem Alter» – seine Mutter füllt die Gläser auf und schaut ihnüber den Tisch hinweg an. «Bleibst ein bisschen?»

Er nickt. Er ist zu Hause.

Milena Moser Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, veröf-fentlichte 1990 ihre erste Kurzgeschichten-sammlung, «Gebrochene Herzen oder Meiners ter bis elfter Mord». Mit «Die Putzfrauenin-sel» landete sie 1991 ihren ersten Bestseller. Esfolgten weitere erfolgreiche Romane und Er-zählungen sowie Sachbücher. Milena Moserlebt nun mit ihrer Familie, nachdem sie achtJahre in San Francisco gewohnt hat, wieder in der Schweiz. Ihr aktuel-ler Roman heisst «Möchtegern», erschienen im Februar 2010 beim Ver-lag Nagel & Kimche. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin schreibt MilenaMoser regelmässig Kolumnen und hat zusammen mit der Autorin Sibyl-le Berg und der Agentin Anne Wieser eine Schreibschule gegründet:www.die-schreibschule.com

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Sie geniesst diese perfiden, exakt gesetzten Stiche wie einMann den Peitschenhieb seiner Domina geniesst.

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Ende GutVON INGEBORG KAISER

Die Künstlergarderobe, über eine Wendeltreppe zu erklettern, schienihr ein sicherer Horst vor der Lesung auf der Provinzbühne. AmSchminktisch ein freundliches Stillleben, widergespiegelt wie ihre Per-son und der schlauchartige Raum, rasch zu erkunden. Rechtsseitig dietiefgezogene Fensterfront, die an ein Aquarium erinnerte, sie wäre derFisch und im Kunstlicht zu beäugen, aber dem Fisch nicht verwehrt das-selbe zu tun. Ihr gefiel die Sicht auf Geleisstränge, den Bahnsteig, aufdie Reisenden im Nahzug, zu beobachten, bis die Wagen in Bewegungkamen, die Köpfe, Körper mit zunehmender Geschwindigkeit zu ver-fliessen schienen. Das Donnern eines Fernzugs im Raum, rasende Licht-pfeile in der frühen Nacht, dann das Nachbeben.

Plötzlich der Vierkantmensch auf dem Bahnsteig, wie aus dem Bo-den gestampft, angewachsen, starrte auf das lichthelle Fensterbild mitder Frau am Tisch, holte sie mit dem Fernglas näher. Sie drehte den Kopfund sah den ruhigen Beobachter, eine Szene, die ihr bekannt vorkam,ohne weiter nachzurätseln. Doch sass er in der letzten Reihe des Thea-ters, ein Schattenriese, der die Lesende im Bühnenlicht unbemerkt fi-xierte. Eine Geschichte über Opfer und Täter, die Austauschbarkeit ih-rer Rollen, Gewalt wie Gegengewalt die gleiche Münze, und keine derSeiten ein Glückswurf. Der Text im Wechsel mit der artistischen Flöte,tönende Haikus, ein Tanz um den Tod, ein Requiem?, periodisch vomRollen der Fernzüge unterlegt. Eine lähmende Ruhe lag über dem Raumund war von der Lesenden nicht aufzuheben, als würde ihre Stimmevon Schatten aufgesaugt. Endlich das lockere Fortplaudern bei Zopf,Wein und Käse, vielleicht ein Leichenschmaus, wo man sein Überlebenfeiert, vielleicht auch nichts dergleichen.

Während sie auf den letzten Bummler wartete, ihr Gedanke, den Ab-gang verpasst zu haben, der Vorhang gefallen, und ihre Person ohneStichwort, nur die Bilder des Abends hinter den Augen, auch ihr Beo -bachter vom leeren Bahnsteig. Es schien ihr, dass sie als Einzige nochunterwegs sei, als der Mann breit wie gross ihr gegenüber Platz nahm.Das geschwärzte Fenster zeigte sie als gemeinsam Reisende, dazwi-schen die hellen Stationen, ein kurzer Halt, der fremde Blick auf raschePassanten, rasch zerstreut. Und ihr alter Schrecken, sobald der Zug inden Tunnel tauchte, angespannt horchte sie hinaus, und erwartete dasAusklicken, Auftauchen, aber der Zug verlangsamte und blieb stehen.Stecken, dachte sie, in dieser Betonröhre stecken, ihr Horror war dies-mal Wirklichkeit.

Sie habe wohl Angst, sagte der Mann in die Leere, bestens, das habeer ihr gewünscht, denn sie sei auch nicht gerade zimperlich mit ihrenMordgeschichten, grabe aus, was längst vermodert sei, und wecke die

Gespenster. Aber was sie sich da aus den Fingern gesogen habe, sei ein-fach daneben. Der Täter erschlagen, gelyncht? Das wisse er besser, denner lebe in ihrer Stadt und schätze seinen Ruhestand.

Seine Hände zwischen den gegrätschten Schenkeln ständig am Rei-ben, Kneten, als wolle er sie einüben, geschmeidig machen, Mordwerk-zeuge, dachte sie, und dass ihr Gegenüber vielleicht ein Spinner sei,dachte an die seltsamen Anrufe, seltsamen Nachgeschichten, seit dasBuch in einem Massenblatt vorgestellt worden war, an die Verquickungvon Fiktion und Wirklichkeit.

Wer als Putzer im Aufzugskorb an den Glasfassaden von Bankhäu-sern und Versicherungen lebenslang raufrunterrauf fahre, sagte er dann,sei näher dran, habe den Einblick in die Chefetagen und lerne von de-nen im Massanzug das Killen ohne Risiko, und was ihn angehe, habe essich gelohnt. Sie habe ja auch keine Skrupel, aus einer Bluttat Kapitalzu schlagen, sie seien also Partner, aber diesmal wolle er nicht abkas-sieren. Der Fernzug auf dem Nachbargeleise überdröhnte seine Stimme,sekundenlang meinte sie, der Wagen bewege sich mit, spürte die wach-sende Kälte, knöpfte sich ein. «Ein Schaden an der Lok», sagte der Zug-schaffner im Eilschritt, «alles sitzen bleiben», und verschwand.

Verjährt und vorbei, sagte der Mann, kapiert? Er wolle nicht wiederdas verdammte Zeitungsgeschmier und jede Nacht den Fahnder amBett. Kurzum, ihr Buch müsse vom Tisch, alles in den Reisswolf, ausdem Verkehr. Und bis dann würden sie und ihr schöner Verlag massivviel Terror erleben, sie habe keine Chance gegen den Profi, er sei nichtumzubringen. Auch das Buch nicht, sagte sie, aber er müsse womöglichaus dem Verkehr. Sie ging zur Abteiltür, die sich nicht mehr selbsttätigöffnete, zog sie auf. Die Reisenden im Nachbarwaggon ferne Inseln fürsie. Seine Hände verschlossen ihren Mund, der losschreien wollte, seineArme wie Klammern. Keine Panik, sagte er. Sie meinte zu ersticken,wand sich, schlug aus. Er liess los, ein Katzemausspiel, lehnte sich lo -cker gegen die Tür, Arme verschränkt, aber sein Blick hielt sie fest, auchnoch, als die entsicherte Wagentür aufging und er wuchtig in dieSchwärze fiel. Sekundengleich der Ruck, die Räder am Rollen, währendsich die Türseiten mechanisch schlossen. Der neue abrupte Halt kamnach ihrer Notbremsung. Ins Quietschen der Räder das Donnern desGegenzuges.

Nachtrag: Kurz vor meiner Lesung aus meinem Roman «Mord derAngst», der mit einer fiktiven Täterfigur den Schweizer Mordfall Seewenthematisiert, wurde nach 20 Jahren die Mordwaffe, eine Winchester, vomviel bemühten Kommissar Zufall aufgespürt. Schlagartig war der ver-jährte Mordfall wieder Mediengegenwart, hatte meine Fiktion als schein-bare Rivalin die Realität.Und ich wurde gefragt, ob ich nicht Angst vor dem Täter hätte, denn esgab überraschend viele Übereinstimmungen zwischen meiner FigurDOLL und dem nun international gesuchten, vermutlichen Täter DO-SER. Daraus wurde ein Kurzkrimi, der das Thema der möglichen Begeg-nung aufgreift. Ingeborg Kaiser

Ingeborg KaiserIngeborg Kaiser wurde 1930 in Neuburg an derDonau geboren, studierte und arbeitete in Augs -burg. 1960 übersiedelte sie in die Schweiz,nach Basel, wo sie heute lebt. Ab 1968 veröf-fentlichte sie dramaturgische Texte, Prosa undLyrik. Ihr bisher letzter Roman «Alvas Gesich-ter» erschien 2008. Ingeborg Kaisers Arbeitwurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

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KameleVON KRISTIN T. SCHNIDER

Wie gestern schon erwachte er mit dem Bild einer langen Reihe vonKamelen vor Augen, die eins hinter dem anderen in Richtung Horizontmarschierten und aus seinem Blickfeld – das Fenster der Kantine – ver-schwanden, als fielen sie aus der Welt. Noch einmal meinte er, ihr lang-gezogenes, melancholisches «Brüüüaaaa», die Rufe der Kameltreiber zuhören. Doch an jenem Tag hatten das nervöse Reden der Menge, die inZwei- oder Dreierreihen zu den als Notausgängen bezeichneten Türentrotteten, und die Rufe der Sicherheitsleute alle anderen Geräuscheüberdeckt.

Er lag auf der unteren Pritsche eines Kajütenbettes, es war stockfins -ter, nichts wahrzunehmen ausser den Atemzügen seiner zwei Bunker-genossen. Von draussen war – klar – nichts zu hören, das Donnern vonDüsenjets, das Krachen von Explosionen, vor allem aber die unendlicheStille davor und danach, das Schweigen der Kamele und ihrer Treiber,stellte er sich nur vor.

Er war furchtbar erschrocken, als plötzlich Sirenen losgeheult hat-ten, hatte sich aber schnell beruhigt. Es war nichts Gefährliches zu se-hen gewesen. Das Gelände. Weissglühender Himmel. Sand. Aus denLautsprechern, die überall angebracht waren, kam die Aufforderung –auf Englisch, Spanisch und in einer ihm unbekannten slawischen Spra-che –, alles liegen- und stehen zu lassen, die Befehle der Sicherheits-crew zu befolgen. Er war aufgestanden und hatte sich eingereiht. DieSicherheitsleute, die sonst nur breitbeinig herumstanden und dafürsorgten, dass jeder an seinem Platz und innerhalb der nach Arbeitsartzugeteilten Areale des unüberschaubaren Geländes blieb, steuerten sieentsprechend sortiert zu den Notausgängen, die nicht hinaus, sondernhinunter in Schutzräume führten.

Er wusste nicht, was los war. Kein Feueralarm, Wasseralarm schongar nicht, keine Übung. Die Bedrohung schien, wenn auch damals undjetzt erst recht unsicht- und unhörbar von ausserhalb des Geländes zukommen. Hier unten waren die Abteilungen durch ausgeklügelteSchleusentüren – neben jeder ein Dekontami-nationsraum – voneinander getrennt. Was hat-ten die hier erwartet? Mitten in der Wüste?

Er wälzte sich unruhig auf seiner schmalenPritsche und gestand sich ein, dass er, seitdemer den Job hier angetreten hatte, wenig gedacht, sich für nichts interes-siert hatte. Aussenkontakt gab es keinen, ausserhalb des Geländes warWüste. Keine Zeitungen, im Aufenthaltsraum seiner Arbeitseinheit gabes nur erbauliche Literatur, Filme à la «Ben Hur» und «Die Chroniken vonNarnia» auf DVD, die Fernseher hatten nur US-amerikanische Sender imAngebot, Internetverbindung gab es keine für die Angestellten, Laptopsund Handys – Geräte, die er schon lange nicht mehr gehabt hatte – wa-ren nicht erlaubt. Ihm war das egal gewesen. Er hatte es hingenommen.Hauptsache, er hatte, nachdem er schon eine Weile ausgesteuert gewe-sen war, endlich wieder Arbeit gefunden. Irgendwo. Irgendwas.

Aus den Lautsprechern kamen ab und zu erbauliche Sprüche, die ste-te Berieselung mit beruhigender Musik – meist Gesang zu Gitarrenge-schrammel, ab und zu sogar Harfenklänge – sanft unterbrechend. Am

ersten Tag hier unten war es still geblieben. Seit gestern wurde jedochpünktlich zum Einschalten der Lichter wieder Musik gespielt, bis zumLichterlöschen begleitet von Predigten oder Lesungen von Bibelsprü-chen, auf Englisch, einmal pro Tag auf Spanisch und auch in einer sla-wischen Sprache. «Russisch», hatte Sascha leicht verächtlich gesagt,und die Augenbrauen hochgezogen. Sascha hatte in der Kantine gear-beitet. Es war ihnen allen dreien komisch erschienen, Chris schimpfteüber die Belästigung. Thomas verbarg seine Erleichterung. Er hoffte, eshiess, dass da draussen jemand war, der Entwarnung geben würde, dasssie bald wieder an die Oberfläche zurückkehren könnten.

Natürlich waren die Zellen in den Bunkerabteilungen streng nach Ge-schlecht getrennt wie die Schlafeinheiten für das Personal, das ohne Fa-milie hier war. Die mit Familie bewohnten die eingeschossigen Häus-chen der hinter einer Düne knapp sichtbaren Reihensiedlung am Randedes weitläufigen Geländes. Er hatte gedacht, dass nur die «Oberen» ihreFamilien dabei hatten. Die, die er für Wissenschaftler, und die, die er fürdie Bosse hielt. Er fragte sich, wo sie die Kamele untergebracht hatten.

Die Räume im Bunker waren riesig, wie alles hier. Er hatte sichschnell abgesetzt und eine Viererzelle am Rande des seiner Abteilungzugeteilten Raumes ausgesucht, sich hingelegt und war eingedöst. Lan-ge war er nicht alleine geblieben. Ein untersetzter Mann, etwas jüngerals er, kam herein und weckte ihn. Zu seinem Erstaunen trug er anders-farbige Kleidung, ein derbes Ensemble aus Kittel und Hose in dunklemBeige, ein T-Shirt anstelle des Hemdes, das er unter dem schlicht ge-schnittenen dezentgrauen Anzug trug, den er bei der Ankunft erhaltenhatte. Ja, es war etwas schiefgegangen mit der sonst so strengen Zutei-lung und Separierung der Angestellten. Der Mann, der sich als «Chris»vorgestellt hatte – und ihn zu seinem Ärger Tomi nannte, obwohl erThomas vorzog – und nun auf dem Bett oben an ihm kaum hörbar at-mete, hatte herausgefunden, dass die Schleusentüren zwischen den Ab-teilungen gar nicht verschlossen waren. Thomas, halbwach, hatte sich

dazu überreden lassen, sich mit ihm etwas umzusehen. Sie waren in ei-ner mehrstöckigen unterirdischen Schutzanlage. Er hätte sich gerne mitden anderen unterhalten, vor allem denjenigen aus anderen Abteilun-gen – er sah dunkelbraune Uniformen, blaue, eher herkömmliche Ar-beitskittel, grüne, die wieder an Anzüge erinnerten. Im zweiten Unter-geschoss waren die Frauen und auf dem untersten Stockwerk standenein paar auffallend junge Männer in weissen Laborkitteln herum. AberChris winkte ab, bedeutete ihm, hinter ihm zu bleiben und leise denWänden entlang zu schleichen. Sicherheitsleute waren zwar keine zusehen. Zurück auf «ihrem» Stockwerk liess sich Thomas am Ärmel in ei-nen etwas versteckten Raum ziehen, in dem sechs bequeme Betten stan-den, Tische mit verkabelten Displays, Garderobenschränke, wuchtigeverschlossene Kästen. Atemgeräte hingen hinter Glas. Sie setzten sich

Aus den Lautsprechern kamen erbauliche Sprüche, die steteBerieselung mit beruhigender Musik sanft unterbrechend.

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und Chris zog ein Päckchen Zigaretten hervor. «Von den Kollegen», sag-te er. «Und auf Vorrat habe ich noch Shishatabak und Papierchen.» «Un-glaublich!», dachte Thomas. Aber Nervosität liess ihn zugreifen, er wardoch Raucher gewesen, bevor ihm das Geld auch dafür gefehlt hatte.Unter dem Einfluss von Chris und nach den überaus tugendhaften Wo-chen hier war ihm gerade jetzt danach, etwas zu tun, das ihm sündhaftvorkam. Raucher wären gar nicht eingestellt worden. Im Anstellungs-vertrag gab es auch eine Klausel, die das Fluchen verbot, erinnerte ersich plötzlich.

Chris war Kamelpfleger gewesen, als einziger Europäer, und daherals Chef einer Gruppe von Einheimischen oder, das hatte er nicht he -rausfinden können, Arabern aus umliegenden Ländern. Trampeltierehatte er betreut. Die zweihöckrigen. Also wurden auch die Kamelestreng in Gruppen aufgeteilt. Thomas sog den Rauch gierig ein und ver-spürte ein Schwindelgefühl, das zu allem anderen passte. Er hatteAngst, dass der Geruch sie trotz geschlossenerTüre verraten würde. Und so war es. Nachkaum fünf Minuten trat eine Frau vorsichtig inden Raum. Er war zusammengezuckt. Sie waruniformiert wie sie, Kittel, Bluse, und natürlichein Rock, der weit bis über die Knie reichte,deutlich körperunbetont geschnitten. Sie war dem Rauchgeruch gefolgt,sagte sie, sehnsüchtig geradezu. «Ich bin Alexandra. Nennt mich Sa-scha.» Aus dem zweiten Stock heraufgekommen, berichtete sie, dass einTrupp Sicherheitsleute, nachdem sie Bibeln auf die Zellen verteilt hät-ten, sang-, klang- und wortlos wieder verschwunden sei. «Bibeln!», sag-te Chris. «So schlimm steht es! Bis auf die Musik, die Sprüche und diedummen Fragen im Einstellungsgespräch haben die sich bis jetzt ja zu-rückgehalten.» Thomas war verwirrt. «Ich denke, wir werden bombar-diert», hatte Sascha gesagt. «Ich kenn’ das.» Jetzt schlief sie oben, aufdem anderen Kajütenbett in der Schlafzelle, die die drei seit ihrer erstenBegegnung teilten. Thomas seufzte und dachte, dass er nicht glaubenkonnte, dass draussen Bomben fielen. Und die Kamele? «Brüüüaaa»,machte er leise ins Kissen hinein, um niemanden zu wecken. Saschaschnaufte schwer, japste. Thomas merkte, dass auch ihm das Atmenschwerer fiel, schob es auf das Rauchen, auf Bunkerstress. Ob doch et-was Illegales vor sich gegangen war in diesem, wie sollte er es nennen:«Industriekomplex?» Die Gebäude auf der anderen Seite der Kantine wa-ren Laboratorien. Von den Kamelen hatte er nichts gewusst, bis er siegesehen hatte. Und bei den Bestellungen, den Warenlisten, Lieferschei-nen und Abrechnungen, die zu kontrollieren seine Aufgabe gewesenwar, hatte er nichts Alarmierendes festgestellt. Chemikalien, elektroni-sches Zeugs, Sensoren, Dioden, Transistoren. Und wer experimentiertschon mit Kamelen? Einzig auffällig waren die grossen Lieferungen vonNadeln gewesen. Nähnadeln, Stricknadeln, Maschinennadeln, Nadelnaller Grösse, aller Art, aus aller Welt. Er hatte einfach nicht darübernachgedacht. Nur – was machten die eigentlich mit all dem Zeug? Vonseiner früheren Stelle als Prokurist einer kleinen Maschinenbaufirmawusste er doch, dass Wareneingänge mit Warenausgängen korrespon-dierten. Und, jetzt fiel es ihm ein: Nadeln. Aber keine Nadel, kein ein-ziger spitzer Holz-, Metall-, Plastikstift ohne ein Öhr.

Ihm war schwindlig, er schwitzte. «Ein paar Schritte tun», dachte er.«Dann kann ich wieder einschlafen.» Aber beim Aufstehen wurde ihmübel, er schaffte es nicht einmal bis zur Tür. Er hatte weiche Knie. Erhielt sich am anderen Bett fest und plumpste zurück auf seins. «Mist»,dachte er. «Schlechte Kondition. Ob sie recht hatten, als sie mich ent-liessen. Einfach zu alt.» Ihm war plötzlich kalt. Er mummelte sich ein,dankbar, als er wegzudriften begann. Mit halbgeschlossenen Augen saher deutlich, dass die Kamele tatsächlich vom Rand der Welt fielen. «Brü-üüaaa …» Sie schaukelten hintereinander her, schauten mit diesem un-nachahmlich hochmütigen Blick einen Moment ins Leere und fielenlautlos aus der Wüste ins Nichts. Aber, er lächelte, schlaftrunken jetzt:Da waren sie wieder, winzig klein und munter schwebten sie auf den

Klängen leiser Musik aus den Lautsprechern auf ihn herab. «Morgen.Musik. Die singen. Was heisst ‹nearer to thee› denn», dachte er, «Ent-warnung … Erlösung von diesem Bunkerdasein …»

Hoch oben in der verglasten Aussichtsplattform des Stratosphere To-wer setzten sich nach einem delikaten Essen vier Gäste etwas abseits indie Sessel vor den Fenstern und blickten nachdenklich über Sin City.«Ein langer Flug», sagte Franklin zu Joyce. «Sogar in deinem bequemenJet.» «Das war», sagte Reinhard, «… ungut. Wir haben eine Menge Geldwortwörtlich in den Sand gesetzt.» «Ach was», erwiderte Joyce. «Wirmachen weiter. Die Gebäude waren versichert, unsere Wissenschafterhaben wir rechtzeitig ausgeflogen. Neue Kamele aufzutreiben ist keinProblem. Nadeln gibt’s überall.» «Und all die Seelen, die wir zurücklas-sen mussten, ruhen im Herrn», fügte Franklin hinzu. «Ein gutes Werk.»«Ausserdem», sagte Warren, «ein minimer Verlust. Es ist ja so schwierig,ab einer bestimmten Vermögensgrösse sein Geld überhaupt loszuwer-den.» «Stimmt», sagte Franklin. «Und wir können nichts dafür, dass unsso viel gespendet wird.» «Tja», sagte Joyce, «so ist das. ‹Gib und du wirstempfangen›. Wir haben eben die Liebe.» «Und Berge bewegen könnenwir auch», meinte Reinhard. «Lasst uns gehen.» Sie wurden vom Hotel-sicherheitsdienst zu den Liften begleitet, die solange gesperrt waren, bisdie vier in den bereitstehenden Humvee gestiegen waren. «Das passen-de Gelände haben wir hier gefunden», sagte Joyce. «Und die Gebäudewerden ideal sein.» «Das Pentagon muss sparen», sagte Reinhard. «Undder Neue ist eh fast einer von uns.» «Ach ja», meinte Warren, als sie end-lich die Strasse erreichten, die sie in die Wüste Nevadas bringen würde:«Es gibt mehr als einen Weg, in den Himmel zu kommen, aber was wirhier tun, ist einfach grossartig.»

Kristin T. SchniderKristin T. Schnider wurde 1960 in London ge-boren und wuchs in Zürich auf. Nebst Textenin Literaturmagazinen, die sie seit 1982 regel-mässig veröffentlichte, hat sie drei Bücher pu-bliziert und dafür einige Auszeichnungen erhal-ten. Nebst verschiedenen Brotberufen arbeitetesie auch für das Deutschschweizer PEN-Zen-trum als Präsidentin, ab 2010 als Geschäftsfüh-rerin. Seit 1998 lebt sie als freie Schriftstellerin in Wassen im Kanton Uri.

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Mit halbgeschlossenen Augen sah er deutlich, dass dieKamele tatsächlich vom Rand der Welt fielen.

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SoftwareVON CLEMENS SETZ

Christian hatte die Idee gehabt, die neue SimulAged-Software, die ichihm installiert hatte, mit dem Bild eines vor mehr als achtzig Jahren ver-schwundenen Kindes zu füttern. Der Junge hatte bis zum Dezember1927 in dem kleinen niederösterreichischen Städtchen Gillingen gelebt.Kurz vor seinem siebten Geburtstag war er eines Tages auf einem Tanz-fest, bei dem auch seine Eltern anwesend waren, mitten in einer Men-schenmenge einfach verschwunden. Die Eltern berichteten, dass sie ihngesehen hätten, wie er seelenruhig in die wild ineinanderwirbelndentanzenden Körper hineingegangen sei. Ziemlich geradlinig sei er gegan-gen, so wie es Menschen tun, die zum ersten Mal das Meer sehen undwie ferngesteuert, von uraltem Magnetismus angezogen, auf die sicham Ufer brechenden Wellen zumarschieren. Und wirklich gespenstischsei es gewesen, mit anzusehen, wie die herumgeworfenen Gliedmaßender Tanzenden ihn immer nur ganz knapp verfehlten – und wie er dannplötzlich nicht mehr da war, verdeckt von Musik und Bewegung undbunter Kleidung. Der Vater habe die Kapelle gebeten, für einen Augen-blick mit dem Spielen aufzuhören, sein Sohn sei da irgendwo auf derTanzfläche. Verständnisvoll und amüsiert habe der Kapellmeister aufdiese Bitte reagiert, heißt es. Man begann zu suchen, aber der Junge warnirgends, schließlich schlossen sich mehrere Menschen an, man schau-te überall nach, unter jedem Tisch, sogar die Bodenplatten untersuchteman, ob eine davon vielleicht locker war. Aber man fand nichts. DerJunge blieb verschwunden. Einige Jahre spätererklärte man ihn für tot und ein leerer Kinder-sarg, den statt sechs nur zwei Männer trugen,wurde in ein Grab gelegt.

Christian hatte den Zeitungsartikel mit demunscharfen Porträtfoto des Jungen durch Zufall in einer Sammlung alterZeitungen entdeckt. Wir standen daneben, während er das Bild ein-scannte. Die leisen Seufzer des Scanners erinnerten an die angenehmenGeräusche auseinander gleitender Lifttüren in exquisiten Hotels. DieSoftware, für die Christian fast dreitausend Euro hingeblättert hatte, umsie den verzweifelten, nach jedem Strohhalm greifenden Kunden seinerPrivatagentur zur Verfügung stellen zu können, brauchte nur wenige Se-kunden, bis sie das Ergebnis berechnet hatte. Auf dem Bildschirm er-schien das Gesicht eines alten Mannes. Christian probierte einige Frisu-ren und Barttrachten aus, entschied sich schließlich für eine ArtZwischenlösung, einen sehr lichten Bart, unter dem man sich das glat-te Kinn relativ leicht denken konnte.

- Sieht aus wie Tolstoj, sagte ich. - Ehrlich? - Ja, irgendwie. - Ich weiß gar nicht genau, wie Tolstoj aussieht, sagte Christian.

- So wie sich die Leute Gott vorstellen, sagte ich. Christian lachte. Er druckte das Bild aus und heftete es über seinem

Schreibtisch an die Wand. - Das könnte wirklich jeder sein, sagte er schließlich, nachdem er das

Gesicht länger studiert hatte. Alte Leute sehen irgendwie alle gleich aus. - Er ist einfach in eine Menschenmenge hineingegangen und ver-

schwunden, sagte Paul, Christians Kollege in der Agentur. Glaubst dudie Geschichte?

- Na ja, das Erste ist immer die Geschichte, sagte Christian achsel-zuckend. Von ihr muss man ausgehen.

- Hm, sagte Paul. Wenn er nicht von den Leuten zertrampelt wordenist, lebt er vielleicht noch immer irgendwo, wohnt in einem Altersheim,ohne Angehörige, neunzig Jahre alt, blind, senil.

- Pfff, machte Christian. Auch von solchen gibt es unendlich viele ...- Ja, sagte Paul, da hast du recht. - Die Software funktioniert jedenfalls wunderbar, stellte ich fest. - Hm?Beide Männer drehten sich gleichzeitig zu mir um. Sie sahen mich

an, als hätte ich eine höchst ungewöhnliche Bemerkung gemacht. - Die Software funktioniert, wiederholte ich. Und das bei einem so al-

ten Bild. Das ist doch erstaunlich, oder? - Ach so, ja, sagte Paul.

Christian sagte nichts, er nickte nur kurz und wandte sich dann wie-der dem ausgedruckten Bild an der Wand zu.

- Nach so langer Zeit, sagte er leise. - Wir könnten ihm vielleicht eine Brille verpassen, meinte Paul. Oder

eine Frisur so wie Einstein. Oder Beckett. - Wer?, fragte Christian. - Samuel Beckett. - Ich weiß nicht, wie der aussieht. Auch wie Gott? - Nein, eher weniger, sagte ich. Er hatte irgendwie kraftvolles Haar.

Die ganze Energie seiner Erscheinung war im Haarschopf konzentriert. - Ts, machte Christian. Paul tippte auf dem Laptop herum und zauberte auf das alte Gesicht

eine dichte Wolke ungebändigten Greisenhaars, schneeweiß und flack -ernd. Als er sah, wie Christian herüberblickte, trat er einen Schritt zu-rück und deutete auf den Bildschirm. Christian lächelte nur und blicktewieder zum Bild.

Ich weiß gar nicht genau, wie Tolstoj aussieht, sagte Chris -tian. So wie sich die Leute Gott vorstellen, sagte ich.

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- Weißt du, was wirklich merkwürdig ist?, sagte er nach einer Weile.Ich hab das Gefühl, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Irgendwo.

- Wo?, fragte Paul. - Weiß nicht. Aber ich könnte schwören ... Er trat ganz nahe an das alte Gesicht heran und tippte mit seinem Zei-

gefinger auf dessen Stirn. - Sollen wir noch einen Probelauf machen?, fragte ich. Vielleicht hat

einer von euch einen Lichtbild-Ausweis mit, den wir einscannen könn-ten. Oder wir machen ein Webcam-Foto, oder –

- Nein, sagte Christian. Nein. Paul hob die Arme, als wollte er sagen: Ich hätte ja nichts dagegen,

aber er hat nun mal Nein gesagt. Er ist der Boss. - Okay, dann werde ich mal gehen, sagte ich. Mein Zug ... - Ja, wir sollten auch wieder langsam zurück an die Arbeit, sagte

Paul. - Wenn überhaupt, sagte Christian, dann ... Er schien sich zu besinnen, dass das, was er sagen wollte, überhaupt

nicht zu dem passte, was wir gerade gesagt hatten. Er hatte gar nichtmehr auf uns geachtet. Eine leichte Röte zog über sein Gesicht und ertat so, als räusperte er sich.

- Ja, wir sollten wirklich wieder, sagte er. Also dann, komm gut nachHause.

Ich nahm meinen Mantel vom Kleiderständer, gab beiden die Handund verabschiedete mich.

Während ich durch die frühmorgendliche Stadt zum Bahnhof ging,dachte ich an Tolstoj und versuchte mir vorzustellen, wie die Welt aus-sehen würde, wäre er anstatt des Jungen aus Gillingen kurz vor seinemsiebten Geburtstag auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Irgendwoin Russland, auf einer Tanzveranstaltung, von denen es ja zu allen Zei-ten und in jedem Land der Welt genug gibt. Die Eltern des Jungen aus

Gillingen hätten ihrem Kind beim Aufwachsen zusehen können, hättenin einsamen Stunden andere Schriftsteller als Tolstoj gelesen und derJunge wäre zu einem erwachsenen Mann, später zu einem Greis ge-worden. Söhne, Töchter, Enkelkinder. Schließlich wäre er gestorben undin einem gewöhnlichen Grab beigesetzt worden. Und die Welt hätte dienie geschriebenen Werke von Tolstoj genauso wenig vermisst wie siejetzt den Jungen vermisste.

Verunsichert und eingeschüchtert von dieser Erkenntnis stand ichauf dem Bahnsteig herum und fing mich erst wieder ein wenig, als einpaar Männer mit großen Musikinstrumenten sich zu mir gesellten. BeimEinsteigen bat mich einer von ihnen, ihm mit dem Kontrabass zu hel-fen, was ich auch sofort tat, glücklich und erleichtert über das fette, sat-te Gewicht des großen, mit verschiedenen Reiseaufklebern verziertenKoffers in meinen Händen.

Clemens SetzNoch heute lebt der 29-jährige Autor in seinerGeburtsstadt Graz. Neben dem Lehramtsstu-dium der Mathematik und Germanistik arbei-tete er als Übersetzer, veröffentlichte Gedichteund Erzählungen. 2007 erschien sein Debütro-man «Söhne und Planeten». Für seinen Erzähl-band «Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kin-des» erhielt Setz 2011 den Preis der LeipzigerBuchmesse im Bereich Belletristik.

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Aus einem Hund wird kein Speck

Onkel Piri bereitet sich aufs Zeitungslesen vor. Er sagt, ich backe Ku-chen für den St. Nimmerleinstag, was soviel heisst wie, diesen ge-druckten Scheiss kannst du dir eigentlich schenken. Er platziert seineBrille auf der schmalen Nase, schiebt die Mütze nach hinten, sonst hatder Kopf nicht genügend Platz zum Denken, streicht die Zeitung aufdem Küchentisch glatt, damit sie mich nicht anlügt, und er blinzelt mirzu, mit Augen, die Sie noch in keinem Kusturica gesehen haben, er ziehtmit dem Zeigefinger Linien, folgt also denBuchstaben, diesen verruchten Kindern, Kin-der, die es faustdick hinter den Ohren haben,und zwischendurch schlürft er seinen schwar-zen, türkischen Kaffee, lacht aus seinen Zahn-lücken zu mir, kratzt mit seinen schweren Händen seinen Hinterkopf,lass dir nur nie sagen, dass du etwas nicht weisst, und Onkel Piri sprichtmit seinen Eckzähnen, gleich werde ich dir etwas zeigen, sagt er, unddas steht nirgends geschrieben, und seine Augen üben sich im Seilzie-hen, er weiss, dass er mich auf die Folter spannt, er weiss, dass ich ihnbeobachte, er aber lässt sich durch meine Ungeduld nicht drängen, fährtmit seinem Zeigefinger weiter Linien, ruhig, aufmerksam, ausserdemmuss ich die Schweine noch füttern, sagt er, und hinter ihm wartetGrossvater auf dem Sofa, liegt rücklings bereit für seinen Verdauungs-schlaf, in der Küche schwitzen die Vorhänge, der Kalender, auf dem dieNamenstage eingetragen sind, der hellgrüne Korb mit den Plastikfrüch-ten, und Opas Zähne liegen frisch im Wasserglas, und mein Onkel trägtein kariertes Hemd, ich versteh das nicht, dass dein Grossväterchen sei-ne Beisser zum Schlafen nicht braucht, was machst du, wenn du imTraum mal zubeissen musst, stichelt Onkel Piri ohne aufzublicken,Grossvater, der nach dem Essen logischerweise die Zeitung als Erster be-kommt, der sich auf dem Sofa ausstreckt, als sei er ein Glückspilz, dersich seine Zeitung beim Kartenspiel verdient, keiner bescheisst so gutwie dein Grossvater, behauptet mein Onkel, du hättest früher damit an-fangen sollen, dann würden wir jetzt im Geld schwimmen, Grossvater,der das mit dem Bescheissen nicht gern hört, pure Intelligenz, so ver-teidigt er sich, was aus seinem zahnlosen Mund witzig klingt, ich hättenichts dagegen, Grossväterchen, irgendwann einmal von dir in der Zei-tung zu lesen, was meinst du dazu, lass dir das mal durch den Kopf ge-hen, und mein Onkel schiebt seine fleischige Unterlippe nach vorn, was

er nur tut, wenn er etwas Wichtiges gesagt hat, die Ohrringe meinerTante Icu glitzern vor Aufregung, ich hol’ gleich die grosse Fliegenklat-sche, die reicht für euch beide, und ich muss auch deshalb lachen, weildie Stimme meiner Tante so durchs Zimmer saust, als hätte sie die Klat-sche bereits in der Hand, doch ihr Unterrock zittert beim Abwaschtrog,ihre Hände tauchen rasch und gleichmässig ins milchige Wasser, die ab-gewaschenen Teller, an deren Rändern die Seife runterrutscht, ich binmir gar nicht sicher, ob dein Mann wirklich lesen kann, sagt Grossvaterund gähnt ausgiebig, lies doch vor, sagt er gelangweilt und legt seinenrechten Unterarm über die Augen, und diese Geste verrät, dass seineGleichgültigkeit gespielt ist, dass er viel eher gierig auf ein kleines, auf-regendes Spektakel lauert, und ich sitze auf dem mit einem roten Kissengepolsterten Küchenstuhl, nippe am süssen Kaffee von Onkel Piri, undwenn Sie nun an eine Mittagshitze denken, die für einen Western ty-pisch ist, an eine unerbittliche Sonne, deren flirrendes Licht die berühmtberüchtigten Duelle ankündigt, wenn Sie also daran denken, dann ha-ben Sie mit Sicherheit vergessen, dass wir uns in der Küche meiner Tan-te befinden, in einem südosteuropäischen Kaff, Onkel Piri und Grossva-ter, die zwar in einem schrägen Western die herrlichsten Protagonistenabgeben würden, wenn man zumindest bereit wäre, das prototypischeDuell so abzuwandeln, dass die beiden Helden sich nicht unbedingt ste-hend duellieren müssten.

Meine Tante Icu bedeckt das abgewaschene Geschirr mit einem Kü-chentuch, die Fliegen haben nämlich die Vorliebe, ihre Kacke auf dem

Porzellan zu platzieren, sagt sie, aber nicht zu den Fliegen und ver-schwindet dann energisch in der Speisekammer, Grossväterchen, ichwerde dir eine unvergessliche Kostprobe meines Könnens geben, undOnkel Piri schiebt seine Mütze noch weiter nach hinten, so dass sichsein borstiges Haar wie kräftige Sprossen zeigt, und ich verkneife mirdas Lachen, als er die Zeitung ein wenig anhebt, um sie so zu halten,wie es mein Grossvater tut, nämlich ein bisschen überheblich, ich wer-de dir eine dieser schönen Geschichten vorlesen, die in deiner Zeitungstehen, sagt Onkel Piri und zwinkert mir zu, und Sie müssen wissen,

VON MELINDA NADJ ABONJI

Lies vor, sagt Tante Icu, und dann wollen wir sehen,ob unsere Leber noch was aushält!

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dass er zu jenen Menschen gehört, deren Augen so betörend sind, weilsie einem alles erzählen können, das Lügen hast du mit den Augen ge-lernt, sagt mein Grossvater, wenn er nicht mehr weiter weiss, wenn ihndie schillernden Schätze meines Onkels wieder einmal hinters Licht ge-führt haben. Und es ist wahr, man sollte, wenn man ein vernünftigerMensch ist, den Augen von Onkel Piri alle nur erdenklichen Fähigkeitenzutrauen, schon allein deswegen wäre mein Onkel der ideale Held, soeinen Blick, der durch den Schatten eines breitkrempigen Hutes nochdurchdringender, noch verführerischer zur Geltung käme, hat die Weltbis anhin nicht gesehen, glauben Sie mir. Erinnert mich daran, dass ichdie Schweine noch füttern muss, sagt Onkel Piri, ja ja, sagt mein Gross-vater, lenk jetzt nicht ab, hat keinen Sinn, und er schnalzt mit der Zun-ge, man spricht nicht mit leerem Mund, sagt mein Onkel, hebt die Stim-me an, spuckt die Wörter durch seine Zahnlücken, hast du gehört Gross-väterchen?

Und ich liebe meine beiden Helden, der eine sitzend, der andere lie-gend, und natürlich meine Tante, die mit einer Hand die Tür zur Spei-sekammer wieder schliesst, mit der anderen die Torte balanciert, Süss-speisen, wie sie alle Leckereien nennt, die die Fähigkeit haben, erregteGemüter etwas zu besänftigen, und wenn Tante Icu das kunstvoll ge-schichtete Gebilde aus Biskuit und Creme elegant beiläufig auf denTisch stellt, dann könnten Sie sich möglicherweise an Mujeres al bordede un ataque de nervios erinnert fühlen, meine Tante Icu, die mit Si-cherheit die Gabe besitzt, sowohl Grossvater wie auch Onkel Piri imGlauben zu lassen, sie hätten es allein ihrer eigenen Grosszügigkeit undNachgiebigkeit zuzuschreiben, wenn ihre Sticheleien nicht im be-schworenen Duell zwischen Mistgabel und Beil ihren Höhepunkt fin-den, sondern darin, dass man gemeinsam eine herrliche Torte verspeist.Lies vor, sagt Tante Icu, und dann wollen wir sehen, ob unsere Lebernoch was aushält! Onkel Piri schaut sichtlich überrascht zu ihr, sagtdann aber, schenk mir vorher noch was ein, mein Herzchen, und er legtdie Zeitung auf den Tisch, um seine karierten Ärmel hochzukrempeln,und Tante Icu nickt mir zu, weil ich flink auf meinen Beinen bin undweiss, wo die durchsichtige Flasche steht und Onkel Piris Lieblingsglasmit der venezianischen Gondel, und ich schenke ein, nicht zu knapp,und Onkel Piris Hals muss noch seufzen, husten, nachdem er denSchnaps geschluckt hat, und ich könnte ihn mir nicht nur in einem Filmgut vorstellen, sondern auch in der Manege, als Feuerschlucker bei-spielsweise. Aus einem Hund wird kein Speck, flucht mein Grossvater,was soviel heisst wie, ein Taugenichts bleibt ein Taugenichts, lies end-lich vor, sagt Tante Icu, während sie die Torte im Uhrzeigersinn dreht,und Onkel Piri streicht die Zeitung noch einmal glatt, bevor er schliess-lich zu lesen anfängt.

Und man kann sich durchaus fragen, ob die gedruckten Buchstabendie Fähigkeit haben, Onkel Piri zu beschreiben, wie sein Gesicht falten-los wird, seine Stimme sich zu einer Grösse aufschwingt, die mögli-

Melinda Nadj AbonjiMelinda Nadj Abonji wurde 1968 in Becsej inder Vojvodina geboren, kam als Kind in dieSchweiz und studierte in Zürich Germanistikund Geschichte. Melinda Nadj Abonji arbeitetals Autorin, Musikerin (Geige und Gesang) so-wie als Textperformerin, seit 1998 zusammenmit dem Raplyriker Jurczok 1001. Sie ist Leite-rin einer freien Schreibwerkstatt in Zürich.2004 erschien ihr erster Roman «Im Schaufenster im Frühling». Derzweite Roman «Tauben fliegen auf» erschien 2010 und erhielt den Deut-schen wie auch den Schweizer Buchpreis. Melinda Nadj Abonji lebt inZürich.

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cherweise mit den ausgestreckten Flügeln eines Riesenvogels vergleich-bar ist, seine Sätze, die wie Sahne schmecken, die man morgens fettaufs Brot streicht und die Lippen so angenehm kühlt, und wenn Sie sichnun fragen, was dieser Analphabet tut, dass auch die schönsten Ver-gleiche nicht gelingen wollen, dann gibt es darauf eine einfache Ant-wort: In regelmässigen Abständen senkt und hebt sich Onkel Piris Kopf,er schaut in die Zeitung, um zu sehen, was sie ihm preisgibt, man habevon einem raffinierten Betrüger gehört, so fängt Onkel Piri an, und Tan-te Icu dreht weiter an ihrer Torte, schneidet mit dem scharfen Messerperfekte Stücke, und Onkel Piri erzählt, erzählt so, dass er Ihnen, könn-ten Sie ihn hören, den Kopf verdrehen würde, und Grossvater liegt mitseiner abgewetzten Hose auf dem Sofa, Onkel Piri sei ein Hund, sagt ernochmals und lächelt, und bald wird Grossvater mit einem seligen Ge-sicht einschlafen, zufrieden schnarchen und Onkel Piri, dieser versoffe-ne Analphabet, wird ihm seine Träume versüssen, Grossväterchen wirdvon einem zahnlosen Helden träumen, der mit seinen raffinierten Tricksim Pensionistenheim allen das Ersparte abknöpft, und manchmal könn-te man wirklich daran verzweifeln, dass die Buchstaben zum Leben er-weckt werden müssen, möglicherweise von einem Analphabeten, der soschön zwischen den Zeilen liest, dass man sich fragen muss, woher On-kel Piri seine Buchstaben hernimmt, wo seine Geschichten verstecktsind, aber auch jede noch so feinfühlige Kameraführung müsste amNacheinander der Bilder scheitern, kein noch so ausgeklügelter Schnittkönnte die aussergewöhnliche, alltägliche Choreographie des Lebenswiedergeben, vier Menschen, die plötzlich in einer schwebenden Ruhemiteinander verbunden sind, Grossvater, der leise vor sich hinpfeift,Tante Icu, ich und die Torte, die zuhören, wie Onkel Piri in der Mittags-hitze in einer unbegreiflich schönen Leichtigkeit über sich hinaus-wächst.

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Buchtipps

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GenderstorysWeltenbummlerinnenReisen war lange Zeit Männersache. Doch gab es auch Frauen,die die Ferne eroberten und sich dabei von gesellschaftlichen Rol-lenzwängen befreiten.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

1839 erschien der erste Baedeker. 1841 eröffnete Thomas Cook sein er-stes Reisebüro. Nach 1900 entwickelte sich der Tourismus schliesslichsprunghaft, bis zum heutigen Zerrbild von Last-Minute, Ballermannund Co.In früheren Jahrhunderten aber war jede Reise ein Wagnis. Wer in dieFremde aufbrach, tat gut daran, sein Testament zu machen. Das galt fürdas rechtsunsichere, krisengeschüttelte Europa der Kleinstaaten nichtweniger als für die neu entdeckten und kolonialisierten fernen Länder.Wegelagerer, korrupte Zöllner, betrügerische Wirte, Piraten markiertendie Reiserouten, Flöhe, Wanzen und Kakerlaken bevölkerten selbst Lu-xushotels, und die Liste der Krankheiten liest sich wie der Pschyrembel(der medizinische Lexikon-Klassiker). Lebend zurückzukehren, grenz-te an ein Wunder. Dass sich damals aber nur Männer diesem russischenReiseroulette aussetzten, ist ein blosses Vorurteil. Dem widersprechenallzu viele Reiseberichte, die von Frauen verfasst wurden. Die Gründe weiblicher Reiselust sind vielfältig. Manche flohen vorMännern, andere begleiteten sie. Einige waren politisch Vertriebene,andere Spioninnen. Nicht wenige aber waren auch Wissenschaftlerin-nen oder reisten um des Reisens willen. Mal waren es reiche Erbinnen,die allein für ihr Gepäck eine Karawane benötigten. Dann wieder Wiss-begierige, die sich mit ihren Berichten die Reisen finanzierten. Manchelegten einen kolonialen Hochmut an den Tag, andere wagten denSprung in die fremde Kultur. Die Palette ist bunt und reicht von derHochstaplerin und Tänzerin Lola Montez bis zur Pflanzen- und Insek-tenmalerin Maria Sibylla Merian.Die Männerwelt reagierte mit Abscheu und Lüsternheit auf diese weib-lichen Auf- und Ausbrüche. Waren es doch nur Frauen, die so begehrteOrte wie einen Harem betreten durften. Nicht wenige von ihnen kleide-ten sich zudem wie ein Mann und sahen – wie schockierend – nackteMänner bei den «Wilden». Das machte sie so interessant wie verdäch-tig. Die Schicksale und Beweggründe dieser Wegbereiterinnen derGleichberechtigung hat die Autorin Barbara Hodgson in einem geogra-phisch gegliederten Buch versammelt. Viel Stoff für so manchen Aben-teuerinnenroman!Barbara Hodgson: Die Krinoline bleibt in Kairo. Reisende Frauen 1650 bis 1900.

Gerstenberg 2007. CHF 23.50.

ReiseromanDurch die wilde WalacheiIn seinem Roman «Tschick» erzählt Wolfgang Herrndorf von einerschrägen Odyssee durch den Osten Deutschlands – und einerwunderbaren Freundschaft.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Gegen den 14-jährigen Maik Klingenberg scheint sich alles verschworenzu haben: Die Mutter, eine Alkoholikerin, ist wieder mal im Entzug. DerVater mit der Assistentin auf «Geschäftsreise». Und vor allem lädt die an-gehimmelte Tatjana Maik nicht zu ihrer Geburtstagsparty ein, weil Rus-sen, Nazis und Idioten nicht in Frage kommen. Maik, die Schlaftablette,gehört eindeutig zu den letzteren. So wie Tschick, der eigentlich Ale-xander Tschichatschow heisst, Schlitzaugen hat und des Öfteren hacke-voll in die Schule kommt, eben der Russe ist. Schlimmer können Som-merferien nicht beginnen.Doch dann kommt alles anders. Weil Tschick plötzlich mit einem ge-stohlenen Lada vor der Tür steht und Maik zu einem Trip in die Wala-chei überredet. Und weil damit eine karten- und planlose Fahrt kreuzund quer durch den wilden Osten Deutschlands beginnt, wie sie aben-teuerlicher kaum sein könnte. Jederzeit in Gefahr, als Minderjährige amSteuer ertappt zu werden, schlagen sie sich durch das deutsche Hinter-land, zum Soundtrack einer im Lada gefundenen Richard-Clayderman-Kassette. Auf ihrer Odyssee begegnen sie verschrobenen, aber auch unerwartethilfsbereiten Menschen. Zum Beispiel Isa, die sie auf einer Müllkippekennen lernen und die ihre Superfigur so ungeniert enthüllt, dass MaiksBlut in Wallung gerät, Tatjana hin oder her. Zu guter Letzt bauen die bei-den Anti-Helden zwei Unfälle, die sie Kopf und Kragen hätten kostenkönnen. Wenn sie nicht, buchstäblich, Schwein hätten. Zwar ist der Wa-gen Schrott, für Maik hagelt es zu Hause Schläge, Tschick landet imHeim und beide vor dem Kadi, doch niemand kann ihnen das nehmen,was ihnen dieser Sommer geschenkt hat: neues Selbstbewusstsein undeine aussergewöhnliche Freundschaft.Wolfgang Herrndorf erzählt diese moderne Tom-Sawyer-und-Huckle-berry-Finn-Geschichte einfühlsam und klug, ohne zu moralisieren, hu-morvoll und ganz aus der Sicht und in der Sprache der Protagonisten.Damit ist ihm ein Buch gelungen, das fesselt und berührt, und das manvon der ersten bis zur letzten Seite nur ungern aus der Hand legt.Wolfgang Herrndorf: Tschick. Roman. Rowohlt 2010. Fr. 25.90.

Der Idiot und der Russe on the road –

unterwegs ins Erwachsenwerden.

Die Sphinx oder nackte «Wilde»: Reisenden

Frauen blieb nichts verborgen.

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KlassikerReisen, um die Welt zu erfahrenSeine erste ausgedehnte Reise von Genf nach Afghanistan 1953/54 verarbeitete Nicolas Bouvier zu einem grossartigen Bericht,der Fernweh und Lesehunger ebenso stillt wie nährt.

VON FLORIAN BLUMER

Kennen Sie das Gefühl, wenn das Reisefieber in einem hochsteigt? Undalsbald die Vernunft kühlend eingreift, indem sie nach dem Warum ei-ner aufwendigen Unternehmung fragt? In seinem Reisebericht «Die Er-fahrung der Welt» hält Nicolas Bouvier gleich zu Beginn fest: «Eine Rei-se braucht keine Beweggründe. Sie beweist sehr rasch, dass sie sichselbst genug ist.»Was er damit meint, wird schnell klar: Von der ersten Zeile an spürt mandie Lust am Entdecken, mit welcher sich der damals 23-jährige Genferin die Reise stürzte. Sein Bericht sprüht vor Lebensfreude, Poesie undSprachwitz. Die mit wenigen Strichen gezeichneten Beschreibungenvon Menschen und Orten sind unverblümt bis unverschämt und den-noch immer liebevoll; seine Erzählungen sind temporeich und äusserstkurzweilig. Das Schmunzeln wird einem zum Dauerbegleiter durch dieLektüre.Vor der Reise war mit seinen Jugendfreund Thierry Vernet ausgemacht,dass sie mit seinem Fiat Topolino in Richtung Indien fahren werden. Ge-danken an die Rückkehr machten sie sich laut Bouvier keine: «Wir sag-ten uns: Vielleicht endet die Reise in Kalifornien, wir hören auf, wennwir genug haben.» Dazu wollten sie auf dem Weg Musikaufnahmen ma-chen und versuchen, Texte, Fotos und Zeichnungen zu verkaufen. Letz-teres war keine Spielerei, sondern pure Notwendigkeit. Denn Geld hat-ten die zwei gerade mal für die ersten vier Monate. Dies bot ihnen dieChance, Armut am eigenen Leib zu erleben: Zum Beispiel im eisigenWinter von Tabriz im Nordiran, den sie mit einigen wenigen Toman amTag überstehen mussten. Dafür fand Bouvier auf der Reise seine Be-stimmung. Im französischsprachigen Raum wurde er zum Kultautor ei-ner ganzen Generation von Reisenden und Reiseschriftstellern.«L’Usage du Monde», «Der Gebrauch der Welt», nannte Bouvier seinenBericht im Original. Der Ausdruck deutet auf eine Gebrauchsanweisunghin – eine grobe Untertreibung und Tiefstapelei, was Stil wie Inhalt desWerks anbelangt. Als eine Anleitung zum Reisen lässt sich sein Berichtdennoch lesen: Als Aufforderung, das nächste Mal auf den «Lonely Pla-net» mit seinen Geheimtipps für die Massen zu verzichten. Und sichstattdessen von Bouvier verführen zu lassen, abseits der ausgetretenenPfade die Poesie des Reisens zu entdecken.Nicolas Bouvier: Die Erfahrung der Welt. Lenos Verlag 2010. CHF 18.00.

Lebenslustig und poetisch: Reiseschrift-

steller Nicolas Bouvier.

Die 25 positiven FirmenDiese Rubrik ruft Firmen und Institutionenauf, soziale Verantwortung zu übernehmen.Einige haben dies schon getan, in dem siedem Strassenmagazin Surprise mindestens500 Franken gespendet haben. Damit helfensie, Menschen in pre kären Lebensumstän-den eine Arbeitsmöglichkeit zu geben undsie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zube g leiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? DieSpielregeln sind einfach: 25 Firmen werdenjeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jenerBetrieb heraus, der am längsten dabei ist.

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sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3,

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VerkäuferporträtMit Hammer und Meissel

AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN

«Ich stehe um etwa halb neun auf. Dafürbrauche ich den Wecker. Entweder erwache ichin meinem Zimmer beim Betreuten Wohnenoder bei meiner Freundin. Wir sind seit letztemJahr zusammen und diese Liebe gab mir neuenSchub. Wenn man sich gut fühlt, mag manauch eher arbeiten. Diese Beziehung hat mirgeholfen, wieder bei Surprise einzusteigen. Ichhabe schon vor ein paar Jahren eine Zeit langHefte verkauft, dann aber wieder aufgehört.

Nach dem Zmorge gehe ich ins Vertriebsbü-ro und so gegen halb elf beginne ich mit demVerkauf. Momentan mache ich Stellvertretungvor der Migros am Limmatplatz, aber eigent-lich liegt mein Verkaufsplatz beim Rathaus ander Gemüsebrücke. Dort stehe ich seit letztemDezember. Am Anfang lief es ein wenig harzig.Es verkehren viele Touristen dort, die kaufenkaum mal ein Heft. Unterdessen aber verkaufeich je länger, je besser und habe einige Stamm-kunden gewinnen können. Freundlichkeit istdas Wichtigste beim Verkaufen. Eine gute Aus-strahlung hilft enorm. Ich habe auch schonvon Kunden gehört: ‹Bei Ihrem Lachen kannich nicht widerstehen.›

Um drei mache ich Mittag, danach biete ichnoch mal ein paar Stunden das Magazin an.Nach dem Feierabend gehe ich jetzt im Som-

Daniel Stutz (38) nimmt die Kundschaft auf der Zürcher Gemüsebrücke mit seinem Lachen für sich ein. SeineLeidenschaft gehört nicht den aktuellen Themen, sondern Fossilien aus uralten Zeiten.

mer gern im See baden. Dann mit dem Velozur Freundin, wo wir Znacht kochen. Spätersitzen wir zusammen, manchmal schauen wirein bisschen fern, aber das ist für mich nur einZeitvertreib. Was mich wirklich interessiert,sind Fossilien.

Deshalb besuchte ich nach der Kindheit inSchwamendingen das Gymnasium: Ich wolltean die Uni, um Paläontologie zu studieren,denn Fossilien und Saurier haben mich schonals Kind fasziniert. Leider habe ich die Schulevor der Matura abgebrochen. Dann rutschteich in die Spielsucht, konnte an keinem Auto-maten vorbeigehen. Vor ein paar Jahren wur-den die zum Glück verboten. Es hat mir beimLoskommen geholfen, dass ich die Kästennicht mehr dauernd vor Augen hatte. Währendder Spielsucht arbeitete ich in verschiedenenTemporärjobs. Besonders motiviert war ich da-bei nicht, denn ich fragte mich dauernd: Wo-zu, wenn das Geld sowieso wieder im Auto-maten landet?

In meiner Freizeit mache ich in einem geo-logisch-paläontologischen Arbeitskreis mit.Das sind interessierte Laien, die ehrenamtlichbei Ausgrabungen mithelfen. Da rutschen wirdann auf den Knien mit Pinseln in der Handüber den Boden und legen Fossilien frei. Dabeikomme ich in Kontakt mit Forschern und lerneimmer wieder etwas dazu. Ich gehe auch ger-

ne alleine auf Steinsuche. Ideal dafür ist derJura, doch liegt das Bahnbillet finanziell mei-stens nicht drin. Im Jura findet man viele Ver-steinerungen, besonders in alten Steinbrü-chen. Im Rucksack habe ich Hammer undMeissel dabei und wenn eine Stelle vielver-sprechend ausschaut, fange ich an, die Schich-ten zu spalten. Das ist erlaubt, sofern man dasvorher abklärt. Früher habe ich jeden Fundheimgetragen, heute bin ich wählerischer. Ammeisten Freude habe ich an versteinerten Fi-schen und Ammoniten. Das waren Kopffüssermit einem schneckenartigen Gehäuse. Die sindschon lange ausgestorben, allerdings gibt esheute den Nautilus, den man als Verwandtender Ammoniten betrachten kann.

Die Funde bearbeite ich daheim weiter mitkleineren Hämmern und Meisseln oder bei derFeinarbeit auch mit Nadeln. Das braucht vielGeduld, aber für diese Beschäftigung bringeich die problemlos auf. Die schönsten Stückestelle ich in die Vitrine, andere landen inSchachteln und Schubladen.

Im Moment bin ich recht zufrieden mitmeinem Leben. Ich habe zurück in den Alltaggefunden, gewöhne mich wieder an eine Tages -struktur. Ich könnte mir vorstellen, irgend-wann die Matura nachzuholen. Vielleicht wirdes ja doch noch was mit dem Paläontologie-studium.» ■

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Impressum

HerausgeberStrassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Baselwww.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9–12 Uhr, Mo–DoT +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 [email protected]äftsführungPaola Gallo, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) AnzeigenverkaufT +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 [email protected] T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99Reto Aschwanden, Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost (Nummernverantwortliche) [email protected]ändige MitarbeitAlexander Jungo (Korrektorat), Delia Lenoir, Irene Meier,Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher ZimmerMitarbeitende dieser AusgabeDavide Caenaro sowie Melinda Nadj Abonji, Lukas Bärfuss, Ingeborg Kaiser, Milena Moser, Ingrid Noll, Stephan Pörtner, Kristin T. Schnider, Clemens SetzGestaltung WOMM Werbeagentur AG, BaselDruck AVD GoldachAuflage29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./JahrMarketing, Fundraising T +41 61 564 90 61Theres Burgdorfer, [email protected]

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27Zoë Kamermans, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, [email protected]üro ZürichT +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, [email protected]üro BernT +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02Andrea Blaser, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, [email protected] T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99Paloma Selma, [email protected] T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller [email protected], www.strassensport.chTrägerverein Strassen magazin Surprise Präsident: Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugs weiseoder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird vonder Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Post-sendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeich-nete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag vonCHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehendeBeträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oderdem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

Surprise ist:

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialenSchwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit.Surprise hilft bei der Integration in den Ar-beitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsitua-tion, bei den ersten Schritten raus aus derSchuldenfalle und entlastet so die SchweizerSozialwerke.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Be-nachteiligung betroffenen Menschen eineStimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellungfür soziale Gerechtigkeit.

Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinen-de Strassenmagazin Surprise heraus. Dieseswird von einer professionellen Redaktion pro-duziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illu-stratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft.Rund dreihundert Menschen in der deutschenSchweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlos-sen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur,verdienen eigenes Geld und gewinnen neuesSelbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport.In der Surprise Strassenfussball-Liga trainierenund spielen Teams aus der ganzen deutschenSchweiz regelmässig Fussball und kämpfenum den Schweizermeister-Titel sowie um dieTeilnahme an den Weltmeisterschaften für so-zial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hatSurprise einen eigenen Chor. GemeinsamesSingen und öffentliche Auftritte ermöglichenKontakte, Glücksmomente und Erfolgserleb-nisse für Menschen, denen der gesellschaft-liche Anschluss sonst erschwert ist.

Finanzierung, Organisation und internatio-nale VernetzungSurprise ist unabhängig und erhält keine staat-lichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mitdem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inse-raten finanziert. Für alle anderen Angebotewie die Betreuung der Verkaufenden, die Sport-und Kulturprogramme ist Surprise auf Spen-den, auf Sponsoren und Zuwendungen vonStiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte sozi-ale Institution. Die Geschäfte werden von derStrassenmagazin Surprise GmbH geführt, dievom gemeinnützigen Verein StrassenmagazinSurprise kontrolliert wird. Surprise ist führen-des Mitglied des Internationalen Netzwerkesder Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glas-gow, Schottland. Derzeit gehören dem Ver-band über 100 Strassenzeitungen in 40 Län-dern an.

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