39
SPINOZA

SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

SPINOZA

Page 2: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

SPINOZA

Dreihundert Jahre EwiBkeit

SPINOZA - FESTSCHRIFT

1632-1932

Herausgegeben wn

SIEGFRIED HESSING

2. VERMEHR TE AUFLAGE

II SPRINGER-SCIENCE+BUSINESS MEDIA, B.V. 1962

Page 3: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

Cl Springer Science+Business Media Dordrecht 1962 Ursprünglich erschienen bei Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands 1962

Softcover reprint of the hardcover 2nd edition 1962

ISBN 978-94-017-6485-8 ISBN 978-94-017-6639-5 (eBook) DOI 10.1007/978-94-017-6639-5

All rights reserved, includillß the risht to translate or to reproduce this book or parts thereof in any form

Page 4: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

Zum Gedächtnis meiner setöteten Eltern, die dem Rassenhass zum Opfer fielen, widme ich dieses Buch in ersehener Verehruns der Societas Spinozana Haas und ihrem Gründer Carl Gebhardt, der sich um die Verbreituns und Vertiefuns des Spinozismus unversansliches Verdienst erworben.

Page 5: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

Einleitung zur ersten Auflage Einleitung zur zweiten Auflage Salve Spinoza! Lasset uns nutmachen das Unrecht Spinoza und die Ewinkeit der Seele Das Lamm Benedikt Spinoza Fünf Szenen aus dem Leben Spinozas Die Gestalt Dernotische Jude Die Bedeutunn der Ajfectenlehre Spinozas Der Lebensphilosoph Spinoza

Inhalt

Vber das vermeintlich Unmoralische von Spinozas politischer Theorie

Die Glückselinkeit des freien Menschen Der Missverstandene Der jüdische Charakter der Lehre Spinozas Ein Bekenntnis Spinoza und das Ideal des Menschen Spinozaverehrunn eines Nichtspinozisten Eine Spinozahuldinunn Der Lichtstrahl Spinozas Spinozas Bibelkritik und Gottesbenriff Vom nrundlenenden Dualismus in Spinozas System Der Jude Spinoza Der Schriftsteller Spinoza Äusserunnen von:

Index

xxxüi ix

Siegfried Hessing XXXV

David Ben Gurion I. Brucar 10

Constantin Brunner lj

Fritz Droop 24

Sirnon Dubnow 40

Carl Gebhardt 43

V asile Gherasim 48

Max Grunwald 60

H. F. Hallett 68

Siegfried Hessing 73

Jakob Klatzkin 101

Joseph Klausner 109

Mare Marcianu 134

Ignacy Myslicki 141

I. Niemirower 149

Ion Petrovici ljl

Romain Rolland 156

Karl Sass 164

Carl Siegel 171

Nah um Sokolow 182

Arnold Zweig 193

Alfred Einstein, Sigmund Freud und Jakob Wassermann 196

198

Page 6: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

Einleitung zur zweiten Auflage

cSentimus experimurque nos aeternos (et in.finitos) esse,. Spinoza

Die Spinozafestschrift, die zur Dreijahrhundertfeier von Baruch Spinoza ge­plant war, schickte sich gerade an, Spinoza zu feiern, obgleich diese Ehrung nicht gleich andern zeit- und ortgebunden scheint. Sie wurde damals nur quasi gestört und unterbrochen . . . Unterbrochen von ebendenselben Ele­menten der menschlichen Natur, die wir von Spinoza weder zu verlachen, noch zu beweinen, sondern nur zu verstehen gelernt haben sollten. Von ebendenselben Elementen, die schon Spinoza bei seinen Lebzeiten aus eigener Beobachtung als die ultimi barbarorum zu bezeichnen für wichtig glaubte. Doch die Barbaren scheinen nicht aussterben zu wollen, sondern streben wie Titanen nach Unsterblichkeit ... Ja!- Dass diese unterbrochene Feier nun­mehr fortgesetzt werden kann in ureigentlicher Zeitlosigkeit ohne jeglichen Zeitanlass, nachdem ich jene Schicksalsmetamorphosen in meiner so be­engenden Einzelgegenwart als beendet und in die befreiende, unendlich aus­geweitete Allgegenwart eingehen und vergehen sah - dass ich all dies erleben und mich selber gleichsam dabei auch überleben durfte, wie ein Gnaden­geschenk der Götter, das macht mich so denkbar glücklich und so dankbar froh. Glücklich und froh, dass mir auch dann auch noch eine andere Feier eines andern Zeitlosen in der Zeit zu feiern gegönnt ward: die nach Jahr­tausenden statt nach Jahrhunderten zählende Geburtstagsfeier der urbs sancta, Jerusalem. Auch dieser Feier habe ich eine Huldigung dargebracht wie jener das Spinozabuch. Als das Spinozabuch damals erschien, da konnte niemand jene Ereignisse voraussehen oder gar voraussagen, welche bald das Antlitz von Welt und Geschichte so gewaltsam zu ändern drohten. Weil diese Festschrift einen Jubilar und einen Herausgeber, sowie sehr viele Mit­arbeiter aufwies, die zur Nation des (jüdischen) Heilands und diesem angeb­lich zur Unehre zugerechnet wurden, so war ihr Schicksal so gut wie besiegelt, sie wurde vernichtet. Doch die damalige Aufnahme des Buches, das von der

Page 7: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

X EINLEITUNG

Societas Spinozana im Spinozahaus im Haag ausgestellt war und von dieser sowie von Carl Gebhardt und Dunin v. Borkowski weitgehendst gefördert wurde und schliesslich neuerliche Anregungen von Spinozafreunden er­mutigen mich, dieses so kurzlebige Buch der langlebigen Geschichte wieder­zugeben. Handelt es sich doch hier schlechthin nicht um ein Buch, das schul­oder hochschulmässig einen schul- oder hochschulweisen Zugang zu jenem Philosophen aufzeigt, der nicht die Schulweisen, sondern die Lebensweisen wie den Geheimrat von Weimar, Lessing, Herder, Jakobi, Lichtenberg, Nova­lis, Heine u.a. so grundlegend für Mit- und Nachwelt zu beeinflussen ver­mochte. Nun, nachdem ich jene «gewissen Ereignisse:. zu überdauern im­stande war, um nach verschiedenen Lehr- und Wanderjahren wie Ghetto, Nazi- und Sowjetbesetzung, illegale Flucht aus dem Balkan, Gefangennahme auf einer Insel hinter Stacheldraht, dann Jerusalem, Paris und endlich die Notlandung in dieser welt- und geistentlegenen Masseneinsiedelei wieder aus meiner selbstgewählten Versenkung herauszukommen und alles Durch­dachte und Durchlebte in Büchern niederzulegen, da empfinde ich es sozu­sagen als Ehrenschuld mir und Spinoza gegenüber, zu allererst an eine ver­mehrte Neuauflage dieser vernichteten Schrift zu schreiten, der neue und wertvolle Beiträge wie von Ben Gurion, Constantin Brunner und Hallett hinzugefügt wurden, ihren Erfolg zu bestätigen und um jene Mitarbeiter auch etwas ihren Zeitgenossen über diesen Ewigkeitsgenossen sagen und aus­sagen zu lassen.

In diesem neuen Vorwort will ich entdeckerfreudig darauf hinweisen, dass die ewigen Gedanken dieses genialen Linsenschleifers nicht nur im Westen nachgedacht und nacherlebt, sondern auch im Osten schon sehr lange zuvor vorgedacht und vorerlebt werden konnten. cMan kann Spinozist sein ohne Spinoza zu kennem - wie ich in der Einleitung zur ersten Auflage schrieb. Und man kann auch Buddhist sein ohne Buddha zu kennen. Unwichtig ist das so geringe Suffix «isb, das erst einem Hauptworte angehängt werden muss, um überhaupt «etwas:. zu sein. Kein Suffix und kein Hilfszeitwort «seim, sondern das grossgeschriebene und grossgedachte Ewigkeitswort «Sein:. bildet das Leitmotiv aller Ewigkeitssucher und der so wenigen Ewigkeitsfinder in ihrer diesseitsbejahenden Erkenntnis, die zugleich Erlebnis werden muss, um Sein als Wirken zu erfahren. Wenn wir einmal auch Rabbi Huna sekundieren wollen: «Die Welt ist nicht der Ort Gottes, sondern Gott ist der Ort der Weltb, so sehen wir, dass der geometrische Ort des Universums nicht nur more geometrico, sondern auch von andern meta-geometrico zentrisch und kon­zentrisch gefunden und nicht erfunden wurde. Ja!- In die fades totius uni­versi sollte wie von Angesicht zu Angesicht der Denkende gleich Moses in der unendlichen und ewigen Selbstschau und in der innern Selbstbegegnung

Page 8: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

BINLEITUNG xi

das eine wie das andere Antlitz des Schicksals mit Gleichmut schauen und diesen Anblick ertragen lernen, wie Spinoza anrät, wozu ein gleich kühner wie unbeugsamer Mut gehört. Spinozas Gedanken sind die Gedanken der sanzen Menschheit, wie sie aber nur von sehr wenigen Menschen als denkbar und denkwürdig gesucht und auch gefunden werden wollen. Wenn die Göt­ter mich wirklich mit Gnadengeschenken wie bisher zu verwöhnen und da­mit wie einen Liebling auszuzeichnen vorhaben, so soll ein anderes Buch: Deus sive Natura beredtes Zeugnis aus dem Osten für den Westen dafür ab­legen, dass Göttliches natürlich und Natürliches göttlich sei. Beides gleich wie forma sive essentia bei Spinoza. Wie rupam sunyata, sunyateva rupam d.h. wie Form Leere (oder Formloses) und wie Leere Form ist. In dem Suran gama Sutra wird die Prajnaparamita dies so deutlich hinstdlen wie der Sohar­auf seine Weise darauf zu weisen nicht müde wird. Wie yin und yang und darausfolgend ming und hsing, d.h. Leben und Bewusstsein oder Form und Essenz in der esoterischen chinesischen Ueberlieferung des Tao als eines gelten. Wie Jahwe und Elohim in dem Alten Testament eines sind und wie erst die Einung des Jud Hei mit d~m Waw Hei das ganze Tetragrammaton bilden in der unlösbaren Einheit des Jahwe Echad! - Eines in dieser Einheit trotz der gesondert und so sonderlich getrennt sich darbietenden essentiellen und formalen Auffassung desselben Einen, des einen Selbst - wie das Brahma in den Upanischaden und in der Vedanta als Advaita!- wie sich solche Auffassung vom Unfassbaren, dem En-Soph, dem Jahwe-Echad, dem Hen kai Pan zu manifestieren scheint und solchen Schein als Sein nimmt und an-nimmt. Ja! Parallelen sind es, die sich nur im Unendlichen, aber nie im Endlichen be­gegnen und dort nur finden lassen. Und solche Parallelen drängen sich in Gedanken und sogar in Gedankenformulierungen dem Sucher nach der einen und gleichen Wahrheit: Deus sive veritas im Osten wie im Westen un­bedingt auf. Nicht nur von der philosophia, welche den Ursinn der dies­seitigen und jenseitigen, der allseitigen Ewigkeit, sondern auch von der phi­lousia- einmal die neue Wortprägung eines imprägnierenden Gedankens des Orientalisten Haas zu gebrauchen -, welche nach der brennenden Frage des Seins oder der Göttlichkeit nach Moses und Spinoza die den Seins- und Gottes­durst löschende und erlösende Antwort verheisst.

Es ist für den Spinozafreund gewiss nicht uninteressant zu erfahren, dass Spinoza auch in Peking von Hundhausen in deutschen und chinesischen Huldigungen gefeiert wurde, welche die Affinität und Gemeinsamkeit beider Gedankeninhalte so gründlich betonen. In China wie in Tibet, in Indien wie in Israel, diesem kleinen Judenvölkchen, dass all seine so mächtigen Zeitge­nossen erlebt und auch überlebt hat - damals wie heute und heute wie da­mals. Warum? Um als Wunder der Wunder, als Zeit- und Ewigkeitsgenosse

Page 9: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xii EINLEITUNG

der ganzen Welt und der ganzen Ewigkeit zu bleiben und bleibende Anerken­nung zu geniessen ... Überall das Eine. Überall die eine, die gleiche Wahrheit; Deus sive veritas. Die göttliche Wahrheit. Die wahre Göttlichkeit! Bei Spinoza und bei der Bibel. Ja!- «<ch bin euer Gott in Wahrheit:.! So sagt Jahwe zum Volke Israel. In den Upanischaden wie in der Bhagavad Gita, in den Schriften der Mahayana, den Udanas und in den erst in unseren Tagen durch Evans­Wentz erfolgreichen Ausgrabungen aus dem Geiste Tibets, dessen Volk wie ein ganzer, gemeinsamer Märtyrer seine Seele zu Grabe zu tragen gezwungen wird, nachdem es zuvor in einer bewundernswerten geistigen Traditionskette die Seele aus dem Leib wie aus einem Grabe zu befreien gelernt und gelehrt hatte gleich den Orphikern. Gezwungen wird jetzt, seine Seele zu Grabe zu tragen, poch ehe ihr leibliches Gefängnis für sie vernichtet wird ... Überall, allüberall das Eine Echad!

Und in dem «Geheimnis der Goldenen Blume:., das uns von Wilhelm 1

und Jung gemeinsam ihren bezaubernden Duft nähergebracht hat und die «Blaue Blume:. der Romantik unendlich überragt: in jener geheimnisvollen Blume aus dem chinesischen Seelengarten dem jüdischen Seelenpardes in seinem esoterischen Reichtum gleichwertig, beginnen wir erst allmählich unseren eigentlichen Ursprung zu ahnen und auch methodisch kennenzu­lernen. Und was Spinoza betrifft, so hat dieser Linsenschleifer in China einen ebenbürtigen Handwerksmann, einen Diamantenschneider gefunden. Es ist hier die Rede von einer herrlich-wertvollen Schrift gleichen Namens, welche auch unter dem Namen: «Kleinod transzendentaler Weisheit» von Diaman­tenliebhabern gern gesucht - und auch geliebt wird. In ihrer Niederschrift wird sie Nagarjuna, einem Weisen und Heiligen zu Beginn der christlichen Zeitrechnung zugeschrieben, doch ihre mündliche Überlieferung geht noch weiter in unabsehbare Zeiten nach einer unerkannten Berechnung des Zeit­losen zurück. Zwei und zwei sind vier. In jeder Sprache, in jeder Zeit und in jedem Ort auf dem ganzen Erdball wird diese mathematische Wahrheit als

1 Noch vor der Drucklegung hatte ich Glück, auf Umwegen Hellmut Willleim aufzu­finden, den Sohn jenes ersten Botschafters vom geistigen China, der die Fusstapfen dieses Wegweisers deutlich und deutbar zu machen bestrebt bleibt. Er hatte von mir in Peking noch durch jenen so wertvollen Hundhausen gehört und wollte jetzt sehr gerne davon hören, dass ich ein Werk plane, die bisher dem Westen so schwer zugänglichen Grund­gedanken Spinozas in ihrer durchaus lebensbezogenen Anwendbarkeit im Lichte der Lehren des Ostens einleuchtender erscheinen und scheinen zu lassen. Selber ein gründ­licher Kenner des Ostens, den er mit Leib und Seele in einer zeitlichen und zeitlosen Affini­tät kennenzulernen Gelegenheit hatte, begrüsst er meine Absicht, weil - wie er sagt -cSpinoza näher zur geistigen Welt des Ostens zu rücken, gewiss zu einem Verständnis seiner Vitalität und Ausweitung beitragen wird.»- Und diese Worte bestärken mich nur in meinem Ahnen und Vorhaben, mit allen Kräften etwas zu cdiesem» lebens- und erlebens­bejahenden Verständnis beizutragen.

Page 10: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG xüi

wahr erkannt und anerkannt: als die einzige und ewig unerschütterliche Grundwahrheit, auf die niemand ein besonderes Monopol beanspruchen darf. Dasselbe gilt auch für die meta-mathematischen Wahrheiten und in jener Rechenkunst geht dieselbe Rechenaufgabe allüberall ganz und restlos auf. Die beiden grossen Unbekannten in der seltsamen, esoterischen Glei­chung Deus sive Natura, Jahwe = Elohim, geben sich als dasselbe Selbst, als das Eine, Namenlose, Wortlose, Unaussprechliche, Unbeschreibliche dem wahren Sucher zu erkennen. Und ganz besonders wurde einem ganzen Volke von seinem göttlichen Lehrer eingeprägt und sogar in die täglichen Gebete auf­genommen jenes: Höre Israel! Jahwe ist Elohim! Gott «isb das Seiende. Gott «heisst» das Seiende. Seiendes und Göttliches ist Eines, Echad! - Jahwe und Sein Name ist Eines mit Seinem Namenlosen. So war es am Anfang und so wird es auch am Ende der Tage sein. Wann? Wenn es in unserem Dunkel zu tagen beginnt: dann wird Jahwe Herrscher sein. König sein, der König der Könige, über die ganze Erde und über alle Irdischen auf ihr, die Ihn als ihr Eigenes, Eigentliches, als ihr Namenloses erkennen und anerkennen werden. Dann wird Jahwe König sein und das Königreich 1 der Himmlichen die alten Rechte geltend machen, denn «voll ist doch die ganze Erde mit Seiner Herr­lichkeit» wie Sein Prophet frohlockt und voll müssen auch alle, vollendet alle Irdischen auf der Erde mit Seiner unirdischen Herrlichkeit werden und zu werden sich sehnen in jener Sehnsucht, die nur die Gottessehnsüchtigen in sich entzündet und entflammt finden zur ewigen Flamme ...

1 Es ist hier die Rede von der Basileia Ton Ouranon oder eigentlich Malkut Haschuma­jim. Dieses himmlische Königreich umschliesst alle irdischen Reiche: Mineralreich, Pflan­zenreich, Tierreich, Menschenreich und Sternenreich, im jeglichem Da-sein das Nicht­Da-seiende und doch eigentlich Seiende und All-Seiende als das göttliche All-bewusst­seiende oder Denkende zu offenbaren. eWeisst du, vor wem du stehstb- So lautet di~ Frage vor dem Allerheiligsten in der Synagoge.- «Vor dem König der Könige, gepriesen sei Erb In Seinem Königreiche BIST du wie das ICH BIN, DAS ICH SEIN WERDE, das du in den andern Reichen nur armselig zu sein SCHEINST und dieses Schein-dasein durch die Maya oder kosmische Täuschung als das Allereigentlichste auffasst. Aus dieser Täuschung und Enttäuschung zur Wahrheit oder Gott (Deus sive veritas) im Bewusstsein zurückzu­kehren zum eigenen Ursprung, das ist das Ziel aller Seher, Weisen und Propheten. Jene Identität und jenes sich wieder mit ihm Identifizieren, mit dem All-Einen und All-Selben, kommt im kabbalistischen Grundaxiom zum Ausdruck: «dass MalkuthistinKether und Kether in Malkuth.~ Die Gnostiker betonen es ebenso, wenn sie von cder Erde sprechen, die im Himmel ist und vom Himmel, der auf der Erde ist. «Und die chinesische Formulie­rung in Chuang-Tzu spricht auch vom Himmel (in der Natur), der sich mit dem Himmel (im Menschen) vereint. Die Gita und die Upanischaden ebenso wie Plotinus im Westen bestätigen es, jenes Dasselbige, so wunderbar und Bewusstseiner weckend und erfrischend!

Das ist das Volle; jenes ist das Volle; Von diesem Vollen kam jenes Volle her. Wenn man das Volle von jenem Vollen nimmt, Verbleibt fürwahr das Volle es selbst.

Shanti zu Ishopanishad

Page 11: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xiv EINLEITUNG

Der Westen hat nicht viel mit seiner modernden, ob modernen oder un­modernen Scholastik aus Spinoza herauszuholen oder in ihn hereinzulegen vermocht. Allein der Osten~ Der Osten, dem es doch stets nur um das Leben und das Erleben des Lebens durch die erfahrbare Lebensweisheit oder Er­lebensweisheit geht, er kennt jenen Weg in die Freiheit, wie er als mukti oder mushin oder Nirvana benannt und bekannt ist. Welche Freiheit denn~ Die Freiheit von der Versklavung durch die menschlichen Affekte. Spinoza spricht doch so deutlich von der wahren, von der deutbaren und deutlichen dies­seitigen Freiheit des Menschen und von der wahren Glückseligkeit des freien Menschen, die daraus folgt. Wenn ich heute meinen damaligen Beitrag zu Spinozas Huldigung zu schreiben hätte, ich hätte diese Glückseligkeit und diese Freiheit nach dem östlichen Rezepte der orientalischen Seelenärzte zu beschreiben versucht - und damit vielleicht Spinoza und den Spinozalieb­habern mehr gedient. Ja!- In der Abhandlung: «Von Gott, dem Menschen und dessen Glück», die noch nicht in der gepanzerten Rüstung der euklidi­schen Form für Gott und das menschliche Glück kämpft, ist jenes Sehnen nach dieser Freiheit so greifbar und nicht nur begreifbar nahe und näher­bringend unser aller Eigenes und Eigentliches, das dabei doch so fern und unerreichbar scheint ... Ein Mönch eines Zen-Klosters fragte seinen Meister, wie man denn die Befreiung erlangen könne, worauf ihm der Meister ganz vorwurfsvoll entgegnete: «Wer hat dich denn je unterjochth Wed Doch nur das eigene Denken, das die grandiose All-Einheit zerfasert und zerstückelt und ihre nur augenscheinliche Polarität in gut und böse seit den paradiesi­schen Tagen der denkenden Menschheit- und wie es soll denn nicht Wunder nehmen, wenn das Zerfaserte und Zerstückelte des unteilbaren Ganzen sich dann bedrohlich und gespensterhaft als eine grinsende Scheinwirklichkeit von gut und böse darstellt und vorstellt, von der sich zu befreien doch nur die Rückkehr in jene Paradiesesfrische des wahren Denkens zu lehren ver­mag. Ja! - Shakespeare sekundiert wie oft so trefflich: «Was ist, ist an sich weder gut noch böse, das Denken erst macht es dazu!» An sich oder in sich, d.h. ohne jede Beziehung zu allem andern und losgelöst und erlöst von jedem Beziehungsmässigen, das wird bei Spinoza wahr genannt.

Spinoza kann viel besser für den Suchenden des Ostens an Deutlichkeit gewinnen genau wie die Weisheitslehren des Ostens dem imprägnierten Spinozisten unbedingt als kongruent und selbstevident, einleuchtend sich offenbaren und enthüllen. Im Osten geht es vor allem und nach allem um das Allereinzigste: ganz ernst. Lebensernst! Nicht worternst, nicht gedanken­ernst, nicht dingernst. Nein, lebensernst und erlebensernst! Ja!- Wichtig ist doch nicht mehr wie einmal bei der Hochkonjunktur der ratio, welche den Glauben entthronte und sich selber zu krönen «verstand:., jenes so viel ge-

Page 12: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG XV

priesene und angepriesene Verstehen oder Verstehenkönnen des Nicht-Ver­standesmässigen. Nein!- Es geht um die Erfahrung. Es geht um die Anwen­dung und das bildet zumeist den Wendepunkt im Leben der Denker ... Die Anwendung, wovon eigentlich? Vom Anwendbaren die Anwendung. Vom Erfahrbaren die Erfahrung in sich, in dem Anwendenden, im Erfahrenden. Die reine Trennung in den Fakultäten des Geistes hat Brunner für den Westen vollzogen und damit die Grenzbezirke dem Begrenzten ganz deutlich ge­macht. Es geht nicht mehr um das hochberühmte und -gerühmte Logische! Die Zeiten der Vorherrschaft oder Alleinherrschaft des tyrannischen Ver­standes, der den Geist zu unterjochen und zu ersetzen sich anmasste, ihn durch den Aber-Glauben zu ersetzen, der allem ein Aber entgegenhält, sie sind endlich vorbei. Vorbei, nachdem uns aus dem Osten die Kunde von dem reinen verstandesfreien Geiste wiedergebracht wurde und damit die erlösende Hoffnung auch für den Westen wieder. Nicht mehr wird uns wie einst be­tören mit ihrer törichten cWeisheih Ontologie, Kosmologie, Psychologie (ohne Psyche dazu). Nicht mehr werden uns diese Logien mit scholastischen, wesensfernen Elementen uns uns selber nahebringen. Das Wesen will nicht mehr Verwesliches als Wesliebes angeboten haben. Das Nouminose hat seit Rudolf Otto die alten Vistas vom Bücherstaub der Scholastik gereinigt. Jung warnt uns, dass der Einfluss der Universitäten auf die lichthungrigen Seelen zu schwinden begonnen hat. Schul- und Kirchenweise mit ihrer Katheder- und Kanzeldogmatik haben nicht den Weg zur Lebensweisheit selber beschritten und daher auch nicht vorbildlich sein können, um Nachfolger zu finden. Und Mayerink warnt noch eindringlicher wie ein Prediger in der Wüste, dass doch nur der Schullehrer daran schuld sei, wenn einem der Geschmack an Spinoza und an dem zweiten Teil des Faust abhandenkommen muss. Warum? Doch nur, weil man uns seit den Jugendtagen mit den Ergüssen griechischer und römischer Feldwebel vergiftet hat und sich dann noch naiv wundert, wenn die Jungen zu Indianer- oder Detektivgeschichten ihre Zuflucht neh­men, wie einer nach Alkohol greift, sich den verdorbenen Magen wieder in Ordnung zu bringen. Eine Statistik würde daher nach Mayerinks Ansicht gewiss sehr leicht ergeben, dass die «vielem Interessierten an Spinoza ganz leicht in einer engen Telefonzelle Platz fänden. Ja! - Dass heute Walter T. Stace in seinem Buche: cDie Lehren der Mystiken jene so berühmten Worte Spinozas am Ende der Ethik von dem cso schwierigen und doch entdeckbaren Wege, dem westlichen Leser vor Auge zu halten für ungemein wichtig findet, wenn er sich gerade anschickt, den unlösbaren Zusammenhang der Lehren der Upanischaden und von Sri Auribondo, der buddhistischen Mystik und Suzuki, Laotse und Plotinus, Dionysus, den Areopagiten und Meister Eckhart, die Sufis neben Abulafia und dem Sohar, sowie schliesslich als zeitgenössi-

Page 13: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xvi EINLEITUNG

sehen Zeugen Arthur Köstler . . . zu bringen, so will all dies besagen, dass Spinoza noch immer und immer und erst eigentlich der ganzen Welt etwas zu sagen hat. Und ganz besonders, dass man sich noch mit Spinoza ausein­anderzusetzen haben wird, wenn man sich mit ihm in der Gesellschaft jener Seher und Weisen erst einmal zusammensetzen will: an einen Tisch. Wozu denn~ Nicht mehr Axiome und Definitionen des Undefinierbaren zur Dis­kussion zu bringen oder gleich den Eranostagungen salonmässig das zu Worte zu bringen, was kathedermässig längst wertlos geworden ist oder wertlos werden soll. Es handelt sich hier doch darum, dass an jenem Tische die so Wenigen unter der Menschheit ihre eigenen Selbsterfahrungen über jenen Pfad vorbringen, von dem Spinoza aus eigenem Erleben spricht und worin ihm noch keine Spinozisten nachzufolgen bereit scheinen als allein in Worten oder in Worten über solche Worte ... Welche Erfahrung denn~ «Sentimus experimurque nos aeternos (et infinitos) esse!)- Wir finden und empfinden, wir machen die Erfahrung, dass wir ewig (und unendlich) sind. Ja! -Der Osten will und kann auch diesen Weg, von dem der Westen nur die vielen Umwege kennt und nennt, vereinfachen und abkürzen. Jenen Pfad den Pfadsuchern gangbar machen, das wird dem Westen sehr schwer fallen, auch wenn er schon die Nachricht aus dem Osten (in der westlichen, d.h. nicht verpflichtenden Art oder Unart) verstümmelt oder entstellt zu vernehmen bereit scheint. Und noch für eine sehr lange Zeit wird der Westen in diesem Kalpa das Erfahrbare durch das allein Wissbare zu ersetzen sich abmühen und sich dabei ganz selbstzufrieden und vergnügt mit Pyrrhussiegen begnügen. Die grössten Aristokraten sind jetzt im Westen die Technokraten, die sich mit solchen Pyrrhussiegen brüsten, denen aber nie ein glücklicher und beglük­kender, sondern eben nur ein Pyrrhusfriede winken kann.

Und dass Melamed im Westen bereits in seinem Buche: «Spinoza und Buddha» solche Zusammenhänge aufzuzeigen versucht, das soll dem Denk­und Erfahrungswilligen zum Denken wie zur Erfahrung reichlich Anlass geben. Ja! -Und Almi, ein Autor, den nur wenige deutsch lesende Spino­zisten kennen, hat sich einmal überaus gewundert, dass niemand in der Spinozaforschung Buddha und niemand in der Buddhaliteratur Spinoza zu erwähnen für wichtig und notwendig gefunden hat. Wohl dachte er, der erste und einzige mit dieser grandiosen Entdeckung zu sein, wie auch ich es anfangs ebenso bei mir gedacht hatte und wie es bestimmt jedem so ergehen dürfte, der beide Gebiete gleich ernst und lebenswarm zu bereisen und das Sehenswürdige darin zu beschreiben sich vornimmt. Der Osten rückt uns langsam näher und damit auch das eigentliche Lebensproblem ohne Umwege in der Erfahrbarkeit und Anwendbarkeit des einzig Denkbaren ziemlich näher. Viel näher als es sonst Bücher ohne Selbsterfahrung des Buchschrei-

Page 14: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG xvii

bers im Westen erreichen, gelingt es schon seit Jahrtausenden durch eine erprobte Kette der ununterbrochenen Tradition, niedergelegt bei Shankara, Patanjali, Sri Rama Krischna, Ramana Maharschi, dessen Aschram noch heute die Sphäre und Atmosphäre des Meisters fortsetzt.

Sri Rama Krischna wenigen Spinozisten ausser Romain Rolland vertraut, bringt ein Gleichnis von einem Schatz. Wenn ein Räuber ahnen würde, dass anstossend an das Zimmer, das er bewohnt, ein Schatz sein sollte, so würde es ihm keine Ruhe lassen: Tag und Nacht, unaufhörlich, bis er in dessen Be­sitz gelangt, nach dem er wie besessen ist. Wie kann denn einer davon schwei­gen~ Wie kann denn einer noch dabei schlafen und fast sein ganzes bisschen Leben verschlafen ohne sich doch Mühe zu geben, den Zugang zu jenem fernen und dabei doch so nahen Schatze zu entdecken, von dem die alten Mysterien unter Schweigepflicht dem Eingeweihten die geheime heilige Ueberlieferung anvertrauten~ Wie~ «Dies Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen und nicht fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf und holt es uns und macht es uns kund, dass wir es tun. Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagest: Wer reist für uns jenseits des Meeres und holt es uns und macht es und kund, dass wir es tun. Sondern sehr nahe 1 ist dir die Sache, in deinem Munde und in dei­

nem Herzen, eszu tum. So spricht ein Gottsucher und Gottfinder, Moses und David sekundiert aus eigener Gotteserfahrung: «Sei still und wisse, dass Ich Gott bin!) Sind das sind nicht Aussagen über diesen Schatz und die wun­derbare Erfahrung der Schatzsucher und-findedEs führt zur eigenen dies­seitigen Unsterblichkeit. So wie es Heraklit und Hermes Trismegistos lehren: dass wir sterbliche Unsterbliche und unsterbliche Sterbliche sind. Kein ein­schränkendes quatenus oder tamquam, das unendliche eigene Sein in der eigenen Ewigkeit in seiner Schrankenlosigkeit zu erkennen, sondern esse in se ipso. In se considerata id est vera considerata. Das Gleichnis vom Schat~ wird auch von den Pirke Aboth ähnlich gebracht und unsere Synagogen­väter - als pendant zu den Kirchenvätern - scheinen den alten indischen Rischis zu sekundieren. Es heisst hier: «Unser Meister Moses, er ruhe in Frie­den, schlief überhaupt nicht während der vierzig Tage, die er auf dem Berge Sinai verbrachte. Vergleiche dies mit den Worten eines Königs an seinen Diener: Du zähle die Goldstücke von jetzt angefangen bis an den Morgen. Was du davon zählen wirst, das gehöre din. Wie kann solch ein Mensch schlafen~ Die Zeit, die er mit Schlafen verbracht hat, kann ihn ein Vermögen

1 Im Katha Upanischad und besonders in jenem so wunderbaren Kommentar von Sri Krishna Prem, der dem deutschen Leser leider nicht zugänglich ist, wird all dies in einer ungeahnten Deutlichkeit gebracht, was bisher immer als «Geheimlehre, in den gleichen Andeutungen aller Religionen aller Zeiten vor dem sterilen nur intellektuellen Verstehen wie ein Kleinod gerettet werden konnte.

Page 15: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xvüi EINLEITUNG

verlieren lassen! So sagte Moses: Wenn ich schlafen gehe, wie viele und wie wertvolle Worte der Lehre würde ich dabei verlieren h- Welch ein Schatz ist es und wie nähern sich ihm die Schatzgräber! Wie!- Die eigenen Wurzeln aufgraben und diese gehen ins Unendliche ... Inder und Chinesen geben da ganz erprobte Weisungen, die zu jener Herzensweisheit führen, die mit Kopf­wissen gar nichts zu tun haben, weil dieses durchaus nur auf Ratiodnation ausgeht und dabei vergeht. Wassermann sagt es im Westen ahnend: cSich mit Spinoza zu beschäftigen, hiesse die eigenen Wurzeln aufgrabem und nähert sich dabei demselben Ziel, das mehr in der Andeutung als in der atrophieren­den Deutung sich enthüllt. Ja!- Sojo 1, einem bekannten Mönch wird ein Ausspruch zugeschrieben: «Himmel und Erde und ich sind von der gleichen Wurzel. Die Zehntausend Dinge und ich sind von einer Substanz!) Und wenn man noch den Dichter Tennyson sekundieren lässt:

«Kleine Blume - wenn ich nur verstünde, Was du bist: Wurzel und aHes, und alles in allem, Ich sollte es wissen: was Gott, was Mensch ish.

Spinozas Begriffe: Substanz, Attribute, Modus ... sind denn dies nur einfach wortgebildete Gedankenformen eines Formlosen, dem nur eine Gedanken­wirklichkeit und ein ideenhaftes Wirken zukommt in unabsehbaren Fernen! Wie! Alles, aber was ist, ist in sich oder substanziell oder göttlich. Und die Wurzel ist eben in jenem geheimnisvollen und rätselreichen innenweltliehen Selbst, dem All-Einen, Echad ebenso wie in jenem - scheinbar - aussenweltlichem «Andern», dem Fremden, das sich zersplittert in den zehntausend Dingen oder nach Spinoza, den sogenannten Einzel-dingen. Das eine kann nicht zahlen­mässig zum «einzelnem werden. Das Eine ist ohne Zahl und ohne Mass nicht be-greifbar, sondern greifbar und ergreifbar wie das Allernächste, denn «sehr nah ist die Sache deinem Herzen!» Es ist Sein so sagen wir, weil wir noch vom Unsagbaren mit dem Sagbaren in uns aussagen wollen und es dabei in Sein und Nicht-Sein trennen. Doch auch diese Trennung besteht nicht in dem un­trennbaren unendlichen Zusammenhang unserer, ja unserer selbsteigenen Ewigkeit, weil die Wurzeln überall und nirgendwo wurzeln und verwurzeln, was nur scheinbar wurzellos für sich getrennt ein Da-sein stolz beansprucht. Alles in allem oder Unendliches auf unendliche Weisen sind auch nur Grenz­aussagen unseres Unbegrenzten. Was soll denn was begrenzen, wenn alles dasselbe ist, ewig dasselbe, unendlich dasselbe'? Jenes Selbst jenseits alles Be­ziehenden, das uns viel drohender und versuchungsgewaltiger anzieht wie die Schwerkraft der Erde alle Irdischen und jegliche irdische Auffassung von

1 Seng-chao, der aus Zentralasien stammt (748-834), schrieb sehr wertvolle Arbeiten über Buddhismus, wie diese in Chuang-tzu niedergelegt sind.

Page 16: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG xix

dem Unfassbaren, das weder irdisch, noch himmlisch ist. In jener Rückbe­ziehung auf die eigene Allwurzel, welche keine Leibesanatomie jemals ent­decken und aufdecken wird, weil die Decke, die auf allem ruht, nicht im Sein, sondern im Bewusst-Sein besteht und entsteht, die der Verstand nicht ver­steht, weil er doch nur ein Werk-zeug bleibt und den Werkmeister nie czu Gesicht» bekommt ... dort in der tiefenlosen Tiefe, in dem mystischen Ab­grund, cUnd Jahwe wird auf diesem Berge die Hülle wegtun, damit alle Völker verhüllt sind, und die Decke, damit alle Heiden zugedeckt sind>. Die Hülle hindert uns, uns selber zu sehen: wie von Angesicht zu Angesicht. Uns selber im «Anderm und den «Anderm in demselben Allselbst zu sehen, nicht mehr wie gegenüber, nicht mehr wie einen Gegenstand. Es ist doch ein grosses Angesicht wie die Kabbala sagt, das ebendasselbe wie das kleine Angesicht vom Hüllenlosen enthüllt. Nicht Kern, nicht Schale, sondern beides mit einem Male wie der Geheimrat von Weimar als strebender Schüler Spinozas auf­merksam macht. Diese kernige und schalige Wurzel in eigenen Selbst auf­graben so wie es heute Suzuki lehrt und damit Spinozas Deutlichkeit aus jenem Kerne herausschält, das ist der Weg zu jener Erfahrung und Empfin­dung, dass wir ewig und unendlich sind im scheinbar Zeitlichen und Endli­chen. Diese Ewigkeitserfahrung Spinozas ist als metanoia bei Paulus und als Dharmakaya im Osten bekannt. Bekannt und geübt nicht wie im Westen. Hier spricht Brunner von der Modifizierung des praktischen Verstandes zum unpraktischen Geiste in den Formen von Kunst, Philosophie und Mystik. Diese Modifizierung hat eine sehr Iebens- und erlebensbezogene Methodik im Osten, die kennenzulernen dem Westen unsagbar helfen würde, zu sich selber zu kommen und bei sich zu bleiben: das eigene Bleibende zu erfahren und darin die wahre Glückseligkeit ...

Ja, was den Westen betrifft, so haben dieselben Schwätzer und Schreier dies­mal auch einen lebendigen Denker totgeschwiegen, genau wie sie damals Spinoza dem ewigen Tode durch Mundtotmachen ohne jeden Anspruch auf Auferstehung zu überliefern versuchten. Diesmal haben sie einen totgeschwie­gen, der das Schweigen und Totschweigen um Spinoza so neuartig und be­lebend zu brechen und zu unterbrechen erfolgreich üben konnte. Im Westen muss unbedingt in einem Atem mit Spinoza jener Denker genannt werden, der bis zu seinem letzten Atemzug sich als berechtigten Erben des spinoza­nischen Vermächtnis erklärte und Spinozas Gedanken in einem neuen Ge­wande auf die neue Bühne der Geistwelt brachte. Es ist hier die Rede von Con­stantin Brunner, mit dem ich glücklicherweise dieselbe eine Ewigkeit wie die­selbe eine Zeit zu geniessen die seltene Ehre hatte. Und wenn Spinoza in diesem Buche nur aus einem so denk- und erlebnisreichen Anlass gefeiert

Page 17: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

XX EINLEITUNG

wird, so darf auch ganz gewiss ein Beitrag von Brunner nicht fehlen, der, wie Klausner in seinem Beitrag unterstreicht, «Spinoza nahezu vergöttert,. Kann man denn anders von den wahren Gottesdenkern sagen~ Wie~ Es ist hier die Rede von Brunner, der ohne Anlass und ohne Unterlass dazu beigetragen hat, Spinozas Welt als die eigentliche und dabei so eigentümliche Gedanken­welt der ganzen Menschheit darzubieten. Die Menschheit hat sich aber ganz bequem und gewohnheitsträge damit vertraut gemacht, nur den Weg der Schul- und Hochschulweisen als allein gangbar anzusehen und- anzupreisen um jeden Preis so. Genau so wie man aus gleicher Gewohnheitsepidemie an­nimmt, dass nur die professionellen Murmel-Tiere mit ihrer eigenen Theo­Logik den schulmässigen Zugang zu Gott schulhaft und-mässig ermöglichen und so als Geistliche die Geistigen völlig überflüssig zu machen sich einreden wollen. Ja! - Das Internationaal Brunner Instituut im Haag befasst sich jetzt mit der Neuausgabe seiner Werke, die von der Gestapo unter den allerersten Büchern auf dem Index vernichtet wurden. Reine wusste sich damit zu trösten, dass es besser sei, wenn die Verse brennen als der V ersifex. Ich schrieb einmal an Jung und wollte von ihm so gern die Ursache jenes Mundtot­machens von Spinoza wie von Brunner durch seine Zeitgenossen erfahren, doch er scheint selber zu den «verschämtem 1 Spinozisten zu gehören. Zu jenen, die sich schämen, offen oder heimlich zu Spinoza zu bekennen, auch wenn ihnen seine Grundgedanken wie z.B. das Detachieren oder Loslösen von den äussern Ursachen so geläufig wird, weil es im Osten so erfahrüngs­mässig geübt und ausgeübt wird. Ueber jenes Lösen der Knoten finden wir im Katha Upanischad wie auch in buddhistischen Schriften und bei unserem Abulafia sehr Erfahrenswertes, das uns noch immer vorenthalten wird und nur als Lesegut Geltung besitzt. Ich schrieb Jung über Brunners Schicksal, dem er geschickt auswich. Brunner selbst floh mit der Familie nach Holland, wo er gleich Spinoza so schicksalsähnlich Zuflucht fand. Dort starb er bald,, doch seine Familie wurde vor ein Deutsches Kammergericht gebracht: ich will sagen, vor das berühmte Gas-Kammer-GerichtundderGeruchgeschmor­ter Juden drang bis in den Himmel selber zum Allerhöchsten Richter, der die Sache in die Hand nahm und nimmt . . . Doch warum waren diese denn eigentlich vor jenes Gericht beordert~ Warum~- Ja, weil sie angeblich nicht würdig gefunden wurden, die gewöhnlich prosaische Luft gemeinsam mit andern gewöhnlichen und dabei doch so ungewöhnlichen Menschen laut den damals bestehenden übermenschlichen Gesetzen zu atmen. Diese Luft enthielt damals angeblich noch immer zuviel Sauerstoff und noch immer zu

1 Die Bewusstseinstotalität, von der Jung spricht, erinnert Spinozisten an das Omnia animata (das sich an Nehemia anlehnt) und Brunnerianer an die Pneumatologie.

Page 18: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG xxi

wenig Stickstoff. Für wen 1 Für jene, die als Schandfleck für die noch immer nachweisbare Abstammung des jüdischen Heilands angesehen wurden und aus diesem Grunde nie mehr «gesehen" werden sollten. Ja!- Jene spezifische Vorliebe, positive indische Zeichen als arische d.h. teutonische wie das Haken­kreuz zu verwerten (oder eigentlich zu entwerten), scheint auch zu einer ebenso verkehrten Auslegung des Katha Upanischads verleitet zu haben. Dort heisst es: «Der Mensch lebt nicht vom Atem allein, sondern von dem, in dem die Kraft des Atems liegt:.. Und dies klingt wie eine Paraphrase zum mosaischen Upanischad: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes kommh. -Nicht Atem, nicht Brot und nicht Lunge, noch Magen bilden die einzige Verbindung zum Lebensquell, sondern immer das Jenseitige von dem nur «diesseitig, Scheinenden. Zur Auslegung des mosaischen Upanischads wurden die Juden von Moses selber ausgezeichnet, dahingegen zu jener zwangsweisen Bekeh­rung des indischen Upanischads in der teutonischen Auffassung wurden sie ganz besonders gezeichnet. Gezeichnet mit einem Zeichen, das wie ein Kains­zeichen auf dem Zeichnenden und nicht auf dem Gezeichneten lasten wird. Solange lasten wird bis Abel versöhnt wird. Versöhnt und gesühnt zugleich ...

Was Grillparzer am Grabe Beethovens über diesen grossen Titanen gesagt hat, das gilt auch für den andern Titanen in der Welt der Gedanken: für Spinoza. Hören wir auf Grillparzer!

Ein Künstler war er und wer steht auf neben ihm? Der nach ihm kommt, wird nicht fortsetzen, er wird anfangen müssen, denn sein Vorgänger hörte nur auf, wo die Kunst aufhört.

Gilt das denn nicht auch von Spinoza? Wie?- Wer nach Spinoza kommt, der muss dort anfangen, wo dieser aufgehört hat. Und aufgehört hat er bei dem Hinweis auf jenen so seltenen und zugleich so erhabenen Weg. Auf jenem Wege, auf dem der Geist zur diesseitigen Ruhe kommt, die ihm sonst angeblich nur in der letzten Ruhestätte des Körpers gegönnt wird. Wenn der Geist endlich zu sich kommt oder wenn er daraufkommt, dass er in sich ist; wenn er alles in sich betrachtet, das heisst doch nach Spinoza, als wahr be­trachtet, weil doch alles in sich ist und wahr ist . . . dann wird er seines Seins bewusst und erkennt im Bewusst-Sein sein Sein oder sein Selbst. «Wer das Selbst in allen Wesen und alle Wesen im Selbst sieht, der geht zu Brahma, wie es im Kaivalya Upanischad heisst. Der geht zum Urselbst, zum Allselbst. Das ist der Weg ... Welch ein Weg? Der Mensch geht den Weg herauf: zu Gott. Gott geht den Weg herunter: zum Menschen. Der Weg heraufund der Weg herunter sind einundderselbe wie Heraklit lehrt und weiss. Jesaias sagt: cDer

Page 19: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xxii EINLEITUNG

Gottlose lasse von «seinem» Wege und der Uebeltäter seine Gedanken und bekehre sich zu Gott, so wird Er sich seiner erbarmen und zu unserem Gott, denn bei Ihm ist viel Vergebung. Denn Meine Gedanken sind nicht Eure Gedanken und Eure Wese sind nicht Meine Wese spricht Jahwe, sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch Meine Wese höher denn Eure Wese und MeineGedankendenn EureGe­dankenf» Und unsere Pfadsucher wurden zu Pfadfindern, weil sie Gott baten, sie Seine Wege zu lehren. Und einer von diesen Pfadfindern, der kommen wollte, die Lehre von Moses zu erfüllen, weil sie doch erfüllbar ist und erfül­lend alle Verheissungen, die an diesen Weg geknüpft sind, der zum Ziele führt, er wurde gegen seinen Willen von Fremden sich selber und uns ent­fremdet und derselbe Weg als ein Umweg gezeigt. Als ein Umweg und Ab­weg, auf dem die Millionen bequemer als auf jenem engen und schmalen Pfade wandeln können, auf dem nur ganz wenige wandeln. Der von Moses entfremdete Christus sagte von sich: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben! Und Moses ging denselben Weg, auf dem ihn sein göttliches ich bin, das ich sein werde leitete. Und Jahwe sagte zu Moses: cSehet jetzt, dass ich, ich es bin und kein Gott mit mir!» Ich bin ist Es, ist All-Es, das All-Eine, Jahwe-Echad. So soll es ganz Israel hören, wenn es diesen Weg zurückgeht, von dem es doch gekommen war ...

Der wahre Spinozist muss erst dort anfangen, wo Spinoza in seiner Ethik das Lehrbare des Ethischen fussend auf der Lehre des ewig Seienden beschliesst. Manche Einsichtige unter den Spinozafreunden verbinden daher stets mit Liebe und Vorliebe das Präludium von der «Vervollkommung des Verstan­des» mit dem Finale der Ethik. Genau so wie manche Bibelforscher die zwei esoterischen Buchstaben der Heiligen Sprache, welche die Heilige Schrift ein­leiten und abschliessen: Beit und Lamed als Abbreviatur für Leiv, d.h. Herz ausgeben. Warum~ Weil darin nicht Kopfwissen, sondern Herzensweisheit der Gnade - Chen = (Chochma Nistara)- enthalten und behalten liegt. Und darin folgen sie den alten Lehren des Ostens, wie dies in der «Stimme des Schwei­gens», in jenen tibetanischen Praecepta ebenso deutlich zum Ausdruck kommt. Spinozas Lehre ist daher nicht an die salon- oder kathedermässig Geschulten gerichtet, sondern an jene, die sich darnach im Leben auch wirk­lich und wirksam «richtem wollen. An jene, die sich versucht fühlen, Anfang und Ende in Spinozas Lehre nur auf die Anwendung und Erfahrung im Leben zu beziehen, worunter doch immer und immer nur die Selbsterfahrung und Selbstanwendung gemeint bleibt, welcher allein Wirksamkeit zugeschrieben werden kann. Wenn heute schon im Westen leise auf den Uebergang von der philosophia contemplativa zur philosophia activa hingewiesen wird, so ge­hört dieser «Aktivismus» noch immer wie jeder andere Ismus in die Sphäre des Kontemplativen, wenn ihm nicht sofort die Selbstanwendung beispiel-

Page 20: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG xxüi

gebend folgt. Vielleicht kommt noch jemand im Westen, der jenen leider unvollkommen gebliebenen Traktat, «Von der Vollkommnung des Ver­standes» fortsetzt, um aus dem rein Verstandesmässigen in das rein Ethische alles als Iebens- und erlebensbeziehend hinüberzuleiten ~ Im Osten bietet der Radscha-Yoga oder die Königliche Kunst eine anleitende und leitende Metho­dik, sich vom eigenen Geist leiten und anleiten zu lassen. Dieser Traktat bei Spinoza hebt mit der «Erfahrung» an und die Ethik endigt mit derselben Erfahrung. Der ernste Leser mag beide Stellen genau nachlesen und über sie meditieren, um daraufzukommen, dass doch nur das Erfahrbare das Aller­wichtigste ist. Ist und bleibt. Ja!- Mit der Erfahrung beginnt er, den Verstand zu vervollkommen und mit der Erfahrung beendet er alles Anzuwendende im Leben bis an die Grenze des Erfahrbaren. Wenn ein Leser ernst genommen werden will, so muss er auch einen Autor wie Spinoza ganz ernst nehmen. Es ist dort die Rede von «jenem Wege, der übersteil ist und sich entdecken lässt. Und sicher muss das steil sein, was so selten sich findet. Wie könnte es denn sonst geschehen, wenn das Heil vor Augen läge und ohne grosse Mühe ge­funden werden könnte, dass es von allen fast missachtet würde~ Doch alles Herrliche ist so schwer wie seltem ... Das sind Spinozas letzte Worte in seiner herrlichen und seltenen Ethik. Und dieser Weg ist doch gefunden worden. Gefunden und auch siegesgewiss beschritten bis zum erfolgreichen Ende. Von wem~ Doch nur von dem, der ihn so beharrlich gesucht hat als das Ziel seiner Sehn-sucht. Und ganz beharrlich hat Spinoza dieses Suchen und diese Sehn­sucht bei seinen jüdischen Vorbildern gehabt, von denen man ihn nur dann entfernen kann und will, wenn man jene Vorbilder nicht so gern und nicht so ernst nimmt. Bei diesen Vorbildern und bei dem Ebenbilde zu ihnen: bei dem Gotte von Abraham, Isak und Jakob, der Moses und die Propheten und alle andern Seher und Künder so begottet und so begeistet hat. «So ihr Mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will Ich Mich auch von ganzem Herzen finden lassen!» Wer von Gott geliebt werden will mit dem Amor Dei, der im Amor Dei intellectualis ebenso wie im Amor Dei corporeus dieselbe Liebe offenbart, der muss Gott und Liebe ein sich», d.h. spinozanisch wahr betrach­ten und auch wahr nach ihm trachten als das Ziel seines Lebens und Er­lebens. Trachten lernen in der Erfahrung des Erfahrbaren, nicht nur im Lernen des Lehrbaren allein. Wer von Gott geliebt werden will, muss Ihn auch von ganzem Herzen lieben, mit ganzer Seele lieben, mit ganzem Vermögen lieben. Ganz und ohne Aufhören, wie Gott in uns selber ganz und ohne Auf­hören ist. Und er muss auf Ihn hören, wenn ihm zugerufen wird: Höre Israel! Höre und lass dich nicht betäuben durch andere Stimmen! Höre Israel; Jahwe ist unser Elohim! Jahwe ist Echad! Und er muss Ihn hören in sich und Ihn suchen in sich ohne Unterlass mit jenen Mantras wie sie auch unseren

Page 21: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xxiv EINLEITUNG

jüdischen Gottsuchern und Gottliebenden bekannt sind. Wenigstens zu suchen ver-suchen muss derjenige, der den Weg in sich zu sich selbst ent­decken oder aufdecken will. Jenen sonderbaren Weg; «Suchet Jahwe in dem, worin Er gefunden wird. Rufet Ihn in dem, worin Er nahe istb Suchet mit dem M-ens das Ens, das Ens constans infinitis attributis! Und dann müssen Ens und Mens auch zum Mens-ch führen. Dem forschenden Sucher wird versichert, jenen Weg zu betreten, der mit absoluter Sicherheit zum Ziele bringen muss. Derselbe Weg ist schon seit Urgedenken gekannt und bekannt. Heisst doch Gott Tao oder Weg im Fernen Osten, wo die Gottheit in uns uns selber viel näher ist als bei uns im Westen. In den chinesischen Lehren heisst es zu Beginn fast genau wie zu Beginn der Ethik: cDer Meister Lü Tzu sagte: Das, was durch sich selbst existiert, wird Meinung genannt>. Meinung ist dasselbe wie Tao, Sinn. Das will andeuten jenes für uns so Undeutliche und scheinbar Undeut­bare als einen Weg zu sich selber: ihn zu wandeln, wenn wir wirklich ver­wandelt werden wollen. Die östlichen Lehren überliefern alle einstimmig in ihrer für den Westen wegen seiner Verstandeshypertrophie so schwer zu­gänglichen Esoterik jene Kunde vom Pfad, von dem Spinoza so lakonisch am Ende der Ethik spricht. Wenige Pfadsucher und noch weniger Pfadfinder sind es, die über Länder und Meere durch alle Zeiten dieselbe Botschaft den Menschen bringen wollen. Die Mahayana Schriften nennen sich sogar cDer grosse Pfad). Und Sri Rama Krischna, der letzte grosse indische Avatar beklagt es, dass die Pfade verschüttet sind. Es gilt, sie aufzugraben und die verschüttete Seele aus dem Körper und (dem Gedanken) der Körperlichkeit wie aus einem Grabe auszugraben. Die Orphiker haben dafür ein Wortspiel geprägt: soma =

sema und es so den sehnsüchtigen und freiheitsdurstigen Seelen eingeprägt. Und einer unserer jüdischen Weisen, Rabbi Moses aus Burgos warnt in diesem Zusammenhang, dass reines Philosophieren allein durchaus nicht genüge. Nein. «Wir fangen erst dort an, wo die Philosophen aufhören». Ganz wunder­bar, nicht wahd- Das Ende der Lehre ist der Anfang des Lebens. Das Wort Aktivismus wie jeder andere Ismus, womit sich die Wortfabrikanten für den Mangel an Tun trösten, zaubert nur Wortwirklichkeiten, sogenannte entia verbalia, welche uns unseres Allereigentlichsten berauben, uns ganz beraubt, arm und armselig im Leben ohne Erleben dastehen lassen, bis uns dann der Tod noch dieses wenige bisschen Aermlichkeit trostreich abnimmt. Moses, der grosse Lehrer, nach dem wirklich kein zweiter mehr in Israel bis heute aufstand, wie wir doch aufrichtig zugeben müssen und wie die Bibel so rich­tig voraussieht und - sagt, Moses fordert immer nur zur Tat auf. Und ganz besonders in seinem so grandiosen, geistigen Vermächtnis, wie es in jenem herrlichen Alten Testament zu finden ist, dessen Erbschaft wir noch immer nicht anzutreten berechtigt sind, weil uns das Neue lockt und verlockt und

Page 22: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG XXV

weswegen wir wie Enterbte, enterbt unseres eigenen göttlichen Erbgutes in solch schrecklicher Selbstverbannung leben müssen ohne diese dabei als solche zu empfinden. Ein grausiges Urteil fürwahr! Moses fordert· zur Tat. Zur faustischen Tat. Nicht zur Tat des Wortes. Zur Tat, die aus der Ur-Sache des Lebens die eigentliche Ur-Tat-Sache des Erlebens enthüllt.

Nun einige Worte über dieses so rätselhafte und unverständliche Tun. Der Verstand cverstehh doch nur am liebsten, was «die Anderm tun müssen und was niemand cselben zu tun bereit scheint. Ja!- In Pirke Aboth ist davon sehr deutlich die Rede, wenn jemand diese wie an sich selber gerichtet fühlt, wie der, der sie gesprochen, sie zuerst sicher bei sich als anwendbar erprobt, um sie auch als anwendbar zu lehren. Rabbi Tarfon sagt: «Das Heute ist kurz, die Arbeit ist reichlich, die Arbeiter träge - und der Lohn in Ueberfluss. Der Meister des Hauses drängt. Nicht liegt es an dir, die Arbeit zu beenden, noch bist du ein Sohn eines Freien, dich von mir loszusagen. Wahrhaftig er ist der Meister deiner Arbeit, welcher dir den Lohn für deine Arbeit bezahlen wird:.. -Und welch ein Lohn ist es, der angeblich in einem Jenseits aufuns wartet! Die Antwort lautet: cDer Lohn der Tugend ist eine Tugend,, Wenn jemand das Vermögen besitzt, eine Tugend auszüben, so wird ihm bald Gelegenheit geboten, dieses Vermögen zu bereichern und weitere Tugenden zu üben und dann auszüben, solange bis alle seine Handlungen tugendreiche werden. Darin wurzelt Spinozas Auffassung vom Tun. Die Realität eines Wesens liegt in seinem Wirken, das heisst in seiner tätigen Potenz, wie uns Hallett in seinem Beitrag in diesem Buche versichert. Und Spinoza selber, wie spricht er von diesem Lohn! Und wie von dieser Tugend! «Die Seligkeit ist nicht der Tugend Lohn, sondern eben die Tugend selbst und wir erfreuen uns ihrer nicht, weil wir die Gelüste hemmen, sondern umgekehrt, weil wir uns ihrer erfreuen, darum können wir die Gelüste hemmen. Die Seligkeit besteht in der Liebe zu Gott und diese Liebe entsteht aus der dritten Erkenntnisgattung (die in­tuitio) und so muss diese Liebe auf den Geist bezogen werden, sofern er han­delt. Und daher ist sie, weil Tugend und Vermögen dasselbe ist, die Tugend selbstb-Undwas sagt die Gita dazu! cDein Anrecht ist nur zur Arbeit, aber nie zu ihren Früchten. Lass nicht die Frucht deiner Arbeit für dich Beweg­grund sein, noch flüchte in die Lossagung von der Arbeit! In Vereinigung mit der Seele führe dein Werk aus und tue jegliches Anhaften hinweg, o du Er­oberer von Wohlstand! Gleich im Erfolge wie in dessen Ausbleiben, denn Gleichheit wird die Vereinigung mit der Seele geheissem.- Die Gita stimmt da mit den Pirke Aboth wie auch mit Spinoza überein. Der Lohn, der dem arbeitswilligen und pflichtbewussten Arbeiter winkt und der nicht erst auf das Drängen des Meisters vom Hause warten muss, an die Pßicht gemahnt zu werden, er wird gewiss nicht ausbleiben. Der Lohn ist eigentlich kein solcher

Page 23: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xxvi EINLEITUNG

Lohn für Arbeit, wie ihn die Arbeitsträgen ohne Arbeit ersehnen und erwarten, um sich in Untätigkeit ergiebig vergnügen zu dürfen. Nein! -Der Klassiker sekundiert hier wunderbar und klassisch: «Der Lohn, der aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reichlich lohnet». Wer ist dieser Arbeitsgeber und wer der Ar­beitsnehmer? Wie? Wer ist der Bewohner des Hauses und wer sein Meister? Wer?- Wenn der Lehrling die Meisterschaft erringt, so wird er nach glücklich bestandener Reifeprüfung das ewige Geheimnis enträtseln können, dass es doch keinen Zwiespalt und kein Zwiespältiges gibt, nur weil es doch keine Zwei (advaita) gibt, was wie Zweierlei scheint. Die scheinbare Zwei sind Eines.

Das scheinbar Viele ist Eines. Echad! Ja!- Der Meister des Hauses, das er selber durch dich bewohnt, weiss, dass du nur zum Essen und Schlafen sowie mach Hause» kommst und «zu Hause» bleibst, wenn du eine Absicht im Sinne hast. Er weiss, dass Krankheit oder Sterben dich an das Haus fesseln und es nicht aufzugeben veranlassen. Du bist doch nur ein Mieter und nicht der Eigen­tümer dieses Hauses. Und das erscheint dir gewiss so «eigentümlich», nicht wahr? Der Meister des Hauses ist auch zugleich dein Arbeitsgeber, mit dem du einen Arbeitsvertrag gemacht hast. Doch du in deinem Grössenwahn wähnst dich ganz ungebunden und ohne jede Aufsicht. Was sagt Jahwe zu Israel? «<ch will in eurer Mitte wohnen». Hast du es vergessen? Wie? Hast du denn vergessen, dass du und jeder einzelne in Israel dasselbe ist wie ganz Israel und dasselbe hören muss, was Jahwe Israel unaufhörlich zuruft: Höre Israel! Du musst deine Arbeit verrichten, wie das Atmen verrichtet wird und sogar beim Atmen musst du nach jenem wunderbaren Upanischad an das denken, worin die Kraft des Atman, des All-Odem liegt. Ja!- Hören wir auf Spinoza, dessen Ideen alle damit von den Pirke Abot vollgesogen sind! «Das menschliche Vermögen ist sehr beschränkt und wird von dem Vermögen der äussern Ursachen unendlich übertroffen und so haben wir keine Macht schlechthin, die Aussendinge unserem Gebrauche anzupassen. Trotzdem werden wir alles mit Gleichmut ertragen, was uns begegnet entgegen den Forderungen der Rücksicht auf unsern Nutzen, in dem Bewusstsein, dass wir

unsere Pflicht erfüllt haben und dass auch das Vermögen, das wir besitzen, nicht soweit sich ausdehnen lässt, um jenes zu vermeiden. In dem Bewusstsein dessen, dass wir eben nur ein Teil der Natur sind, deren Ordnung wir folgen. Wenn wir das klar und unterschieden verstehen, wird der Teil unseres Selbst, der durch das Verständnis bestimmt wird, das heisst, es wird der bessere Teil unseres Selbst darin sich völlig beruhigen und in dieser Beruhigung zu ver­harren streben. Denn sofern wir verstehen, können wir nach nichts verlangen, es sei denn nach dem, was notwendig ist und schlechthin in nichts uns be­ruhigen, es sei denn im Wahren und sofern wir das recht verstehen, stimmt das Bestreben des bessern Teil unseres Selbst mit der Ordnung der ganzen

Page 24: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG xxvii

Natur übereim. Wenn wir der Einsicht unseres Propheten folgen, so verstehen wir, dass wir <wie:. Ton in der Hand des Töpfers sind: dem einen zur Ehre, dem andern zur Unehre. Und wenn ein Tongefäss zerbricht, so vermengt sich derselbe Inhalt des einzelnen Gefässes mit dem Inhalt aller Gefässe und alles Fassbaren. Es ist Brauch bei den Juden, dem Toten Scherben auf die Augen zu legen, weil er bei Lebzeiten sehr oft daran vergessen hat, dass alles aus Ton ge­macht und alles Gemachte in der Hand des Töpfers liegt, der uns die Gebrech­lichkeit der Form und die Unzerbrechlichkeit des Formlosen lehrt, welche beide nur Auffassungen desselben Einen sind. Wer diese Lehre befolgt und an­wendet, dem enthüllt sich jene geheimnisvolle göttliche Ebenbildlichkeit des Bildlichen und Bildlosen, worin der Schöpfer mit dem Geschaffenen eines ist wie natura naturans und natura naturata, wie Denkendes und Gedachtes. Er gehört zu den Rechtschaffenen. Es gibt ihrer auf der ganzen Welt nur jene sechsunddreissig Stillen und Verborgenen im Lande, wie sie noch in den Psalmen erwähnt werden. Spinoza sagt es klar, dass die Rechtschaffenen be­wusst dienen und im Dienen vollendeter werden, während die andern, weil sie Gott nicht erkennen (und nicht anerkennen!) nichts anderes sind als ein Werkzeug in der Hand des Künstlers, das unbewusst dient und im Dienen verbraucht wird ...

Das Vorwort droht bald, zu einem Vorbuch zu werden und ich muss mich bis zum nächsten Buch für eine Weile von dir, lieber Leser, verabschieden. Sieht dir Spinoza bei mir vielleicht etwas zu jüdisch aus in dem, was andern als nichtjüdisch umwegig auf den Märkten des Geistes feilgeboten wird~ Wie~ -Dann müsste dir auch der Zimmermannssohn aus Nazareth zu jüdisch aus­sehen, wenn du ihn von all dem Beiwerk entkleidest, in dem er aufzutreten verpflichtet wird. Wenn er heute wiederkäme, er fände ohnehin den Weg in die Synagoge leichter als in die fremde Kirche, die ihn von sich selber und von uns entfremdet hat: von alledem, was ihm so teuer ... Er fände den Weg leichter zu den Synagogenvätern als zu den Kirchenvätern wieder. Kann das auch von Spinoza gesagt werden, auch wenn Ben Gurion und Klausner, beide den Bann als zeitgebunden in der freien Zeitlosigkeit aufgehoben haben~ Bei einem Besuche in Holland soll sich Ben Gurion vergeblich beim Oberrabbiner von Amsterdam, Rodrigo Pereira, persönlich um die Aufhebung des seiner­zeitigen Bannfluches bemüht haben, der seiner Meinung nach - wie er in seinem Beitrage in diesem Buche ausführt - ebenso hinfä,llig erscheinen muss vor Israel und der ganzen Welt wie das damalige Todesurteil an Sokrates vor Griechenland und der ganzen Weh ... Mit demselben Recht proklamiert

Page 25: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xxvili EINLEITUNG

Ben Gurion 1 Spinoza für Israel, mit dem Sokrates für Griechenland rehabili­tiert wurde. Ja! -Die Allzuängstlichen in Israel mögen sich beruhigen. Auch unserem Propheten Elias wurde von seinem Könige damals vorgeworfen, dass er das Volk verwirre, das doch nur unter jener königlicher Führung königlich zufrieden sein müsse. Und doch ist der in seiner Zeit so ungeliebte und so hart verfolgte Prophet Elias von Gott in aller Zeitlosigkeit geliebt wor­den. So sehr geliebt mit der göttlichen Liebe, dass er als Gottes Botschafter für die Letzten Tage der Menschheit auserkoren ward, wie uns Maleachi ver­heisst, dieselbe Botschaft zu bringen, die in den Ersten Tagen der Menschheit von Gott selber kam und vom Menschen aber nicht befolgt wurde. Ja! -Und den sein König zu töten versuchte, um solche Vergeblichkeit einzusehen, den befreite der König der Könige, gepriesen sei Er!, von dem Gesetze des Sterbens und liess ihn vor den Augen seines würdigen Jüngers Elisa die Unsterblichkeit auch diesseits kosten. So wie Hiob und Daniel und David die eigene Ver­wesung nicht zu schauen begehrten, weil sie das Unverwesliche im Wesen aller Wesen zu erkennen bereit blieben bis zur Grenze alles scheinbar Dies­seitigen ... Und Spinoza, hat er denn nicht von dieser selben, diesseitigen Ewigkeitserfahrung gekündet~ «Wir empfinden und machen die Erfahrung, dass wir ewig (und unendlich) sind b - Um Spinoza in seiner Lehre zu folgen, muss man alles befolgen, was er selber befolgt hat in jenem unbeugsamen Gehorsam vor dem göttlichen und vergöttlichenden Geiste. Muss man alles auslöschen, was zuvor mit gleichen Worten und ungleichem Gedankenge­halt gesagt worden. Was gesagt, aber nie selber angewendet worden. Dieser ersten Konsequenz des Denkens und der Lehre des Denkens muss auch die letzte Konsequenz des Lebens und Erlebens, d.h. die Selbsterfahrung des Er­fahrbaren und die Selbstanwendung des Anwendbaren sich unbedingt an­schliessen. Ja!- Und dieses Auslöschen wird erleichtert von einer Methodik der Beharrlichkeit, wie sie Abulafia und seine Schüler von der östlichen Tra­dition gekannt und erfolgreich geübt hatten. Wer sich Spinoza nähert und durch ihn seinem Ureigentlichsten nahezukommen begehrt, der muss den alten Ballast über Bord werfen. Der indische Dichter Bhai Vir Singh weiss über den richtigen Zugang zum richtigen Denken und Leben in der richtigen Anwendung desselben. Was du denkst, das musst du auch leben. Denkst du

1 Es muss daher etwas seltsam befremden, wie ich von meinem Jugend- und Gedanken­freunde Eli aus Jerusalem höre, dass man trotz der so positiven Einstellung des israelischen Staatsoberhauptes, doch einer gewissen Spinozaphobie in Jsrael begegnet. Diese gründet sich auf Hermann Cohen und seinen durchgreifenden Einfluss in den nur hochschulge­lehrten und nur synagogenfrommen Kreisen des Landes. Es erscheint daher paradox, wenn Spinoza sich erst in Jsrael durchsetzen muss, dessen Fortbestand er so einsichtig und weit­sichtig voraussagt. Noch bleibt aber der Eindruck des bodenständigen Sabra abzuwarten, dem Spinoza erst durch Uebersetzung ins Hebräische zugänglich gemacht werden muss.

Page 26: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG xxix

es richtig, so wirst du auch richtig leben und das Richtige, das Wahre in dir erleben. Diese untrennbare Einheit von Denken und Leben, muss Wirklich­keit werden wie Gott als ens realissimum auch «realisiert:. werden kann: wirk­sam nicht nur in Worten und in Worten über Worte, die nicht glaubhaft und real bleiben, weil doch nie ihre Anwendbarkeit erprobt worden. «Der Ge­danke ist wahrhaft die Welt. Und deshalb sollte er geläutert werden mit Sorg­falt. Wie eines Menschen Gedanken sind, so wird er: dies ist das das ewige Mys­terium,. So weist der Maitri Upanischad den wahren Lebensweisen auf die lebendige Tat, auf die erlebnisreiche Erfahrung, von der Spinoza spricht. Das Tun macht es. Das Wohldenken allein bringt schon in Wahrheit zum Wohl­tun, sonst ist es arm und armselig und versucht, dies mit aufdringlichen Gaben ohne Gedanken dabei, zu verheimlichen und zu beschönigen. Die Hand hand-elt nicht wie der Kopf denkt, wie das Haupt be-hauptet. Und daher die zerrissene Einheit in sich und dann aus sich herausprojiziert, um wieder dann zurückreflektiert zu werden als unser eigenes Schicksal wie es Brunner eindringlich betont, der so gründlich die Maske vom menschlichen, maskierten Charakter herunterreisst, weil der Verstand nur sein Ich als das richtige erkennt und anerkennt. Das andere, das fremde Ich wird ihm zum Du und das Du zum Dual. Die Einheit zur Dualität und diese dann zur ein­gebildeten Indivi-dualität (wenn diese eigenmächtige Wortformung unseren Sprachlehrern bekömmlich ist, die in steter Zwietracht mit den Denklehrern leben!): eben nur durch Dividieren. Durch Teilen des Unteilbaren, an dem jeder ohne Ausnahme gleich teil hat und teil nimmt, aber nur sehr selten der Kongruenz des eigenen Ganzen mit dem fremden selben Ganzen bewusst zu werden vermag. Doch der Geistige 1 Doch der Lebensweise, den die Schul- und Kirchenweisen ebenso wie die Synagogenweisen als gottlos in Verruf bringen und den Novalis als gott-trunken preist1 Wie 1 Nur der Gleiche kann den Gleichen begreifen. Von welcher Trunkenheit und von welchem Durste ist hier denn die Rede 1

Wasser heisst in verschiedenen Sprachen verschieden. Manche gar wundern sich darüber, dass der .flüssige Aggregatzustand des Wassers eigentlichausgas­förmigen Stoffen zusammengesetzt sei, weil ihnen die Einheit alles Aggregieren den und Aggregierten fremd bleibt. Doch warum denn darüber grübeln und diskuttieren 1 Warum 1 Wichtig allein ist doch zu wissen, wozu denn Wasser da ist. Es ist da, den Durst zu stillen und kein Getränk in der Welt, noch so erfinderisch in der Geschmacksphantasie zubereitet, vermag das Natürliche durch das Künstliche zu ersetzen. Und dasselbe gilt von Gott undallden vielen verschiedenen Gottesnamen des einen und selben, göttlichen Namen­losen. Ja!- Warum dogmatische Kasuistik von Haarsp~ltern bewundern, die doch keine Atomspalter sind. Nur wer den Durst nach Gott in sich trägt, er

Page 27: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

XXX EINLEITUNG

weiss, dass Gott wie das Wasser des Lebens die Leblosen erquickt und lebendig hält. Wen nach Gott dürstet, wie den Hirsch, der in den Psalmen lechzend diesen unsagbaren Durst stillen will, er weiss, dass Gott in der unendlichen Stille 1 der eigenen Ewigkeit solchen Durst ebenso stillen wie erwecken kann. Nur das reine Wasser kann diesen Durst stillen. Nur die reine, lautere Gottes­sehnsucht kann erfüllt werden. Wer diese durch Begriffe analysieren und gleichsam destillieren will, der findet den destillierten Gott wie destilliertes Wasser nicht geniessbar. Wenn dürstet nach aqua destillata~ Wen dürstet nach einem Deus destillatus ~ Wie viele und viele haben schon Gott begriffen? Aber wie wenige und wenige waren von Gott ergriffen~ Ergriffen und zu Gott erhoben, um in die alten paradiesischen Rechte wieder eingesetzt zu werden dank der menschlich-göttlichen Ebenbildlichkeit~ Wird jemand von einem Gottesbegriff denn gott-trunken~ Und kann dem jemand nach einem Gottes­begriff dürsten und lechzen ... ~ Wie? Gott ist doch der Quell des Lebens, von dem ein Trank verewigt und belebt. Und Spinoza schreibt an einen höllän­dischen Getreidemakler einmal: «Es könnte sein, dass Gott dir so klar seine Idee aufgeprägt hätte, dass du aus Liebe zu ihm die Welt vergässest und die andern Menschen liebtest wie dich selbst». Es kann sein, dass Gott uns selber diesen Durst nach der eigenen innenweltliehen Göttlichkeit einpflanzt, den die meisten Menschen aber nur im Fortpflanzen zu stillen hoffen und hoff­nungslos von Menschenpflanze zu Menschenpflanze diesen Durst weiter­geben ohne zu ahnen, dass er anders gestillt werden will- und kann. In dem Buche Chuang-tzu, das uns Suzuki so verbeissend nahebringt, lesen wir: .:Wenn ein Trunkenbold von dem Wagen fällt, mag er verletzt werden, aber nicht verhängnisvoll. Seine Knochen und Gelenke sind wie bei jedem andern sonst, aber die Art, wie er die Verletzungen erträgt, sind verschiedentlich. Dies ist dem Umstand zuzuschreiben, dass seine Seele integriert ist. Wenn er fährt, so ist er dessen nicht bewusst. Wenn er fällt, so ist er dessen nicht bewusst. Der Gedanke von Leben und Tod, das Gefühl von Alarm und Furcht, dringt nicht in sein Herz ein. Er ist daher überhaupt nicht verstört, wenn er vor einer Ge­fahr steht. Solche Integrität erringt er durch Alkohol. Wenn dem so ist, wir

1 Spinoza nennt die Beruhigung in dem Selbst- acquiescentia in se ipso- als das höchste, erstrebenswerte Ziel. Und darin stimmt er völlig wie auch in andern wichtigen Elementen mit den Lehren des Ostens überein, die von der «Ruhe des Geistes> sprechen, welche durch Meditation, Konzentration und Kontemplation zu Samadhi führt. Zum Eins-werden, das heisst: Eins-Bewusstwerden mit dem All-Eins-Seienden. In jener Stille, wo das wälzende Rad der Bewegung wie aufgehalten wird und die res motae et periturae sozusagen zu res fixae et aeternae werden. In jener Stille, wo der Denkende in seiner unendlichen Bewegung der Gedanken inne-hält. In jener Stille, welche jeglichen Wunsch, jegliche Gier: Alt-gier und Neu-gier mit ihren Eitelkeiten «stillt> und vergangene Gegenwart und vergehende Zukunft dabei ver-allgegenwärtigt zur Zeitlosigkeit. Samadhi, Nirvana, Mushin, Satori in Japan und Debekuth in Jsrael.

Page 28: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

EINLEITUNG xxxi

könnten nicht sagen, um wieviel mehr Integrität er vom Himmel gewinnen würde. Der weise Mensch verbirgt sich im Himmel und erleidet daher keine Verletzung». - Solche Integrität und solches Integrieren kommt von einer andern «Differential und Integral Rechenkunsh. Von jener Kunst, sich eines mit allem zu fühlen und nie darunter zu leiden, was diese Einheit und dieses innewohnende Einheitsgefühl zu stören oder zu verletzen droht. Ja! -Solches Gefühl kann nur jener Sehnsucht nach ihr entspringen. Solche Trunkenheit kann nur solchem Durst nach der eigenen und alleigenen Göttlichkeit ent­springen und auch darin ihr Ziel finden, wie die Quelle im Meere, wohin sie mündet . . . Solcher Durst kann schon trunken machen ohne zu trinken und alle die Mystiker, waren sie nicht wie trunken, wenn sie taumelnd die Kunde brachten von dem gefundenen Gott, den die Verstandesakrobaten nur als erfunden erklären. Ist Gott erfunden~ Ist Göttlichkeit erfunden~ Oder kann beides gesucht und beides auch gefunden werden mit jenem unend­lichen Durst, der durch das Unendliche in uns selber gestillt wird~ Wie?

Alles, was ist, ist in Gott und nichts kann ohne Gott weder sein, noch begriffen werden.

Nichts, absolut nichts! Und dazu dann die Paraphrasen:

Alles, was ist, ist in sich und nichts kann ohne sich weder sein, noch begriffen werden.

Nichts, absolut nichts! Alles, was ist, ist in der Substanz und nichts kann ohne die Substanz

weder sein, noch begriffen werden. Nichts, absolut nichts! Alles, was ist, ist im Selbst und nichts kann ohne das Selbst weder sein,

noch begriffen werden. Nichts, absolut nichts! Alles, was ist, ist in der Natur und nichts kann ohne die Natur weder

sein, noch begriffen werden. Nichts, absolut nichts! Alles, was ist, ist in der Wahrheit und nichts kann ohne die Wahrheit

weder sein, noch begriffen werden. Nichts, absolut nichts! Alles, was ist, ist in der Essenz und nicht kann ohne die Essenz weder

sein, noch begriffen werden. Nichts, absolut nichts! Alles, was ist, ist in dem Einen und nichts kann ohne das Eine weder

sein, noch begriffen werden. Nichts, absolut nichts!

Page 29: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xxxii EINLEITUNG

Alles, was ist, ist in der Ur-Sache und nichts kann ohne die Ur-Sache weder sein, noch begriffen werden.

Nichts, absolut nichts! Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: Gott zu finden. Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: sich zu finden. Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: die Substanz zu

finden. Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: das Selbst zu finden: Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: die Natur zu finden. Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: die Wahrheit zu

finden. Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: die Essenz zu finden. Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: das Eine zu finden. Und darum muss alles ausgelöscht werden, alles: die Ur-Sache zu

finden. Ja!

Und dann werden wir erst jenen indischen Dichter verstehen. Verstehen und auch seinem Rate folgen wollen.

Meinen Geist machte ich zur Bettlerschale, Bettelte an den Türen ums Brot der Gelehrsamkeit. Füllte sie mit Krumen von den Häusern des Wissens. Randvoll wurde sie und schwer. Stolz war ich - ein gelehrter Mann! In Himmelshöhen wollte ich wandern, Aber auf Erden ging ich fehl. Da suchte ich einen Guru, Legte meine Schale als Gabe vor ihn hin. «Schmutz:., rief er, «Schmutz:.! Drehte die Schale um, Schüttelte die Krumen aus, Scheuerte sie mit Sand, Spülte sie mit Wasser, Säuberte sie vom Unrat der Gelehrsamkeit.

OM MANI PAD-ME HUM!

K?lK !'l"TK c71:u? ,:U Ml"'K

Sydney, Pessach 1962. Siegfried Hessing

Page 30: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

Einleituns zur ersten Auflase

Daß in unsren seelisch und oekonomisch krisenschweren Tagen die dreihun­dertste Wiederkehr des Geburtstages Baruch Spinozas mit solcher Weihe und Begeisterung in aller Welt gefeiert wird, wie es im September bei dem von der Sodetas Spinozana einberufenen Kongress im Haag und in einer neuen anwachsenden Literatur um Spinoza zutagetritt, ist allerdeutlichstes Zeichen für die unermessliche Wirkung dieses Geistesheroen, der nicht auf die ge­schichtliche Vergangenheit der gelebten Zeitepoche beschränkt geblieben.

In diesem Jahre waren Spinoza und Goethe Gegenstand zahlreicher Ehrun­gen, aber der Meister wird den Jünger überdauern und überragen. Das Inter­esse für Spinoza hat nicht allein die dritte Saekularfeier zum Anlasse genom­men, denn all jene, die misstrauisch den prahlenden Errungenschaften der Technik und ihrem schädlichen, mechanisierenden, schablonisierenden Ein­flusse gegenüberstehen, weil diese dem Alltagsleben die Erhabenheit und den Zauber des Oberzeitlichen geraubt und der sehnsüchtigen Seele die letzte Stütze und Befriedigung versagte ... alljene haben Wege zu Spinoza gesucht und gefunden.

Ober das Gemüt des Einzelnen und der ganzen Welt ist eine Depressions­stimmung gekommen, die von der Zeitliteratur und -Wissenschaft nicht auf­gehoben wird. Das Sehnen der Lebenshungrigen sucht neuen Lebensmut: die Leuchtwarte, die den finstern Weg des Alltags beleuchten und die dichten Nebelschleier von Vorurteil, Hass und Skepsis zerreissen soll. Auf der Suche nach einem Führer, der das für sich gefundene 7tOtV tpOtp(LOtKov auch den Mit­menschen darzureichen imstande wäre, muss man unbedingt auf den im Werk und Leben vorbildlichen Spinoza zurückgreifen, denn er hat das Denk­rezept entdeckt, das uns vom Weltpessimismus zu heilen vermag.

Es ist daher vornehmlieber Zweck dieser Festschrift, auf Spinoza hinzu­weisen und die Sehnsucht nach diesem Führer zu stärken, was auch Regel

Page 31: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xxxiv EINLEITUNG

zum Ausdruck gebracht: «Entweder Spinozismus oder keine Philosophieh und was auch bei Lichtenberg deutlich: «Wenn die Welt noch eine unzähl­bare Reihe von Jahren steht, so wird die Universalreligion geläuterter Spino­zismus sein».

Ich kann es mir zum bedeutsamen Glücke anrechnen, jahrelang intimen Umgang mit Spinoza gepflogen zu haben und meine Freude ward bestärkt, als ich wahrnahm, dass meinem Rufe zur Ehrung Spinozas bedeutende Män­ner gefolgt sind, denen ich an dieser Stelle für ihre Mitarbeit danke und ins­besondere meinem Freunde WININGER, der mir getreu mit Rat zur Seite stand.

Möge daher dieser Schrift ein Platz in der Spinozaliteratur mit aktiver Lebens­tendenz beschieden sein. Möge sie die Wahrheits- und Lebensforscher auf Baruch Spinoza aufmerksam machen, um durch ihn zu Gott, dem Men­schen und dessen Glückseligkeit zu gelangen.

Schliesslich ist es mir angenehme Pflicht, jenen Dank zu sagen, die sich in anerkennenswerter Weise um die Herausgabe des Buches bemühten. Es sind dies: der holländische Konsul EDMUND LUTTINGER, Generalinspektor MARe MARCIANU und Grassindustrieller STANISLAUS PonsunEK.

Czernowitz im Dezember 1932. Siegfried Hessing

Page 32: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

Sll!GFIUED HESSING

Salve Spinoza!

cNon praesumo, me optimam invenire philosophiam; sed veram me intelligere scioJ.

SpiiiDZII

Man kann Spinozist sein, ohne sogar Spinoza zu kennen, aber dennoch jene gewisse Kommunikation des Geistes mit dem Leben und jener grösseren un­sichtbaren Wirklichkeit haben, wo das Geschehen eigentlich geschieht, wie sie auch Spinoza gehabt und worin die sichtbare Realität, genannt: Alltag eingeschlossen liegt, welche sich nur der Erkenntnissehnsucht und -fähigkeit erschliesst. Denn die Wissenschaft, welche nur dem Kopfe entspringt, leuchtet wohl in vieles Dunkel, aber mit dem kalten erborgten Mondeslicht, während die Erkenntnis, die aus dem Herzen kommt, wahrhaft wärmt und erleuchtet, die Erleuchtung der sonst blinden Wirklichkeit bringt, indem sie mit den all­mächtigen Sonnenstrahlen die Majaschleier des Lebensgeheimnisses durch­dringt, es ohne Säumnis begreifen und davon Besitz ergreifen lässt. Gedanken können nicht mumifiziert und solcherart der Geschichte einverleibt werden, welche immer nur auf die Vergangenheit Bezug nimmt. Was ist die vielge­priesene Kultud Kultur heisst auch Verehrung und Anbetung. Was ist davon beim dogmatisierenden Einfluss geblieben 1 Wir wollen nicht dem Götzen Kultur unser Bestes opfern, der nur das Aussenleben, die Aussenseite des Lebens darstellt, sondern auch dem Gotte uns weihen, der das Innenleben, die Innen­seite des Lebens erschliesst und jene restlose Verehrung verdient, wie sie noch in den uralten Mysterien gekannt und geübt worden, welche uns Fortschritt und Zivilisation in der Entzauberung des Alltags geraubt haben.

Darum feiern wir dich, Baruch Spinoza nicht im Sinne der toten Geschich­te, die dich den Scholastikern zuzählt, als Menschen einer gewesenen Zeite­poche. der es zu Gedanken- und Lebensvollkommenheit gebracht, sondern verehren in dir jenes gewaltige Grundprinzip des Lebens, das sich in dir auf solch herrliche Weise manifestiert, dass wir ihm unbedingt unsre restlose Hingabe und Liebe zuerkennen müssen wie Christus, Buddha, Moses, So­krates ...

Page 33: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xxxvi SIEGFR.IED HBSSING

Wenn man bedenkt, dass so vieles und so viele unter uns ehrgeizigen Men­schen gefeiert werden (lobe, damit du gelobt wirst) und dabei lange Lobes­tiraden im Superlativ erhalten, bleibt nichts andres und bessres übrig, als eben dich auf eine andre, auf jene Weise zu grüssen wie du sie selbst geschätzt und anerkannt - durch die einfache und unübertriebene Natürlichkeit, die leider so selten anzutreffen, jene Konkordanz wie sie Paracelsus so oft preist. Nur solche suchen die Höhe des Superlativs, welche die Tiefe des Positivs nicht er­ahnen.

Und die dich mit dem grässlichsten Bannfluch belegten und belegen-

Alle, welche dich verfluchen, Können Gott nicht suchen!

die aus dem Benedictus den Maledictus machen möchten . . . alle müssen wir zu dir kommen, nicht um dir, dem Exkommunizierten die Absolution zu sehen, den der Bannfluch mehr geehrt als uns, sondern um sie vielmehr von dir zu erhalten. Von dir das Erkenntnisschlüsselwort fürs Leben zu besitzen. Absolve nos peccatum! Nicht wie der Papst des Gottesreiches auf Erden, son­dern wie der Ritter des geistigen Grals, der du uns von der Sünde befreitest durch die Möglichkeit deren Erkenntnis.

Du Baruch, du allein bist absolut, hast das Absolute, das. ens constans infinitis attributis in der geistigen und körperlichen Wirklichkeit gelebt und erlebt. Du allein hast das Absolute ganz und vollkommen wie kaum je ein Mensch von Stückwerk und Unvollkommenheit, weil du dich ihm ganz und vollkommen hingegeben. Dein Opfer ward angenommen und fand Erhö­rung. Du allein hast uns gezeigt, uns mit den Dingen zu sotten, um das Gött­liche in und mit ihnen zu «schmeckem, nicht aber uns nur mit den Dingen zu satten, um weiter Dinge und diese Gattung zu bleiben. Du hast uns befreit von den Dingen als Beziehungswesen (Relativdinge) und sie losgelöst, be­ziehungslos absolut für sich, in sich (in se considerata id est vera considerata!) erfassen gelehrt.

Die Menschen wollen dich durch papierne und steinerne Denkmäler lebeo­dig, durch vergängliche Werke ewig machen als ob du nicht schon bei Leb­zeiten in die Ewigkeit eingegangen. Tot bist du geblieben in den Köpfen der herzlosen Toten, lebendig aber in den Herzen der Lebendigen, die dich lieben, die der Erkenntnis und Liebe sich hingeben. Ewig bist du nur den Ewigen, welche die Welt überwinden.

Du liessest uns das Attributengewand der seienden Gottheit abheben und zeigtest uns die Herrlichkeit des

Ens constans infinitis attributis, Idem von extensio und cogitatio, Omnia lmimata quamvis diversis gradibus.

Page 34: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

SALVE S'PINOZA! xxxvii

Du führtest uns durch imaginatio, ratio und intuitio ins Herz des Geschehens, um uns in allen Dingen und alle Dinge in uns zu begreifen. Du wiesest uns, dass Unendliches auf unendlichen Weisen geschieht und dem Lebendigen sich offenbart: dort wo Wesen gleich ist Existenz, damit alle unsre Existenzmodifi­kation durch das Wesen Gottes in uns, d.h. durch uns selbst erfasst werde von jenem bessren Teil in uns, der als Erkenntnis definiert wird. Denn - Gott, so­fern er modifiziert erscheint, ist Mensch und umgekehrt - Mensch, sofern er als spezielle Modifikation der Substanz unter einem gewissen Attribut unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit erschaut wird, ist Gott selber-als besonderes ausgedehntes und denkendes Ding ... So gestaltet sich unser enges, begrenz­tes Leben aus dem Unermesslichen.

Du glücklicher Baruch liessest uns in die Wesensseite einkehren, stürz­test den Himmelsgott, dass wir uns selber krönen, das Göttliche in um mit der Krone des Lebens. Wir lassen die Götter fahren und erfassen das Göttliche im Diesseits und Jenseits - in allen Seiten des unerschöpflichen Lebens ...

Du grosser Gott! Du Namenloses, dem wir alle Namen unsrer Sprache bei­legen- Gott, Natur, Liebe, All, Wahrheit, Licht, Leben.

Alles ist nur Gleichnis für dich! Die Philosophie Spinozas befreit uns aus den Ketten der Bildhaftigkeit des Anthropomorphismus und lässt uns der Wahrhaftigkeit teilwerden.

Du Namenloses! Du bist die Wahrheit, du bist die Liebe! Alles bist du! Alles bist du! Du bist das All und das Sein! Alles bist du, darum leihen wir dir un­endliche Attribute. Alles ist Wegweiser zu dir. Der ganze Lebenslauf in der Unendlichkeit und Mannigfaltigkeit des Existenzgebietes ist die Siegesbahn, die du herrlich in mir beschreitest, wodurch ich teilhabe und -nehme an deiner Herrlichkeit. Geburt ist dir Sieg und Tod ist dir Sieg! Alle Existenz ist Sieg der Essenz! Sieg ist das Vergängliche, das nur ein Kleid des Ewigen. Du ohne An­fang und Ende gibst dem Blicke das Bild von Begrenztheit. Du umgibst dich mit dem Schein und zeigst dich als ob du wahrhaft seist und bist doch die siegreiche Wahrheit. Bist doch das Licht, die Wahrheit und das Leben, wie dein Sohn Christus es bewiesen. Du schenkst uns den ekstatischen Glückstaumel, wie er ein Kind befällt, das den Reichtum seiner Spielzeuge bewundert, die sein Glück ausmachen. Sind wir doch deine Kinder, Gottes Kinder, utoL -rou onoc; die der Reichtum deiner Innen- und Aussennatur zur Bewunderung zwingt. Du holst uns wieder unsre paradiesische, unsre eigentliche, unsre adäquate Kindheit- in der Wiedergeburt des Wesens, wo für uns das Leben neu beginnt und der Alltag uns so erscheint, dass wir ihn feiern und deine ewige Schönheit in ihm. Denn call deine Werke sind herrlich wie am ersten Tag,.

Page 35: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xxxviii SIEGFB.IED HESSING

Wir freuen uns dessen, dass du glücklicher Baruch gesegnet warst in der mensch-dinglichen Form mit den Augen des Geistes (oculi mentis) und wenn wir dich auch nicht als Menschen unsrer Zeit lieben können, so wollen wir doch mit Inbrunst nachfolgen deinen Pfaden der Erkenntnis-Liebe und als Selbsterkennende und Andreerkennende einander lieben. Denn gleich­wie es eine Gemeinschaft in Christo gibt, wo mehr die Liebe, weniger die Erkenntnis und am wenigsten die Einheit von beidem angetroffen wird, ebenso besteht auch eine Gemeinschaft in dir, in Spinoza. Gleichwie von den Brüdern in Christo eine Nachfolge Christi anerkannt wird, ebenso wollen wir Brüder in Spinoza deiner Erkenntnis und Liebe Gefolgschaft leisten.

Selig bist du, weil reinen Herzens. Und weil reinen Herzens, konntest du Gott schauen.

Selig bist du, Verfolgungen um der Wahrheitwillen erleidend, denn dein ist das himmlische Ideenreich ...

Alle Seligpreisungen des Evangeliums rühmen auch dich, deine Seligkeit, die du nicht erst nach dem Tode zu erlangen nötig hattest. Du Baruch wiesest uns den Weg zu Freiheit und Glück und wir wollen auf dich hören.

Du warfst die Fackel der wahren Erkenntnis und Liebe in unsre Seele und riefst uns zum ethischen Befreiungskriege auf. Grösser als alle andren Kriege ist der ethische Krieg- er ist der Krieg des Geistigen gegen das Weltliche, um dieses sich tributar zu machen. Nicht Weltflucht ist die Losung, sondern Welt­überwinduns. «Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet' die Welt. Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet». Dieser Krieg, 'der zur weissen, unblutigen Revolution führt, soll uns Entrechtete aufrichten und wieder unsren Besitz herstellen, unsren absoluten Besitz, den Anteil am Absoluten, Ewigen, der uns verloren gegangen als wir aus dem Paradies vertrieben wur­den, weil wir die Erkenntnis von gut und böse, vom Relativen höher schätz­ten und der Erkenntnis des Ewigen vorgezogen. Wir wollen dich lieben mit dem Amor Dei, den du entdeckt.

cWer nicht lieb hat, erkennt nicht Gott, denn Gott ist Liebe. Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm».

Die Philosophie hat sehr unter den grundlosen Vorurteilen gelitten, die man ihr gemeiniglich entgegengebracht, weil man das Wortklauberturn und die Helden im Verstümmeln der Sprache für Wahrheitskünder hielt und folgerichtig Reissaus nehmen musste vor solch abschreckendem Medusen­haupte. Es kam soweit, dass das Formale mit dem Inhalt um die Hegemonie rang und die Vorzugstellung behauptete und dass die alt-neue Wahrheit be­scheiden nur dem Menschen sich offenbarte, der nicht den Weg des Kopfes, sondern des Herzens beschritt, während die meisten den Weg des Bauches

Page 36: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

SALVE SPINOZA! xxxix

gehen und so ein Lebensfragment zu erschauen bekommen. Deshalb hat Novalis Recht: cNur der vollkommenste Mensch kann die vollkommenste Philosophie entwerfem. Das Erhabene muss sich im Einfachen kundtun wie bei dir, Baruch Spinoza, und die Identität zwischen Eindruck und Aus­druck, Denkendem und Gedachten festhalten. Hegel hat ein Kriterium ge­schaffen für die Definition der Wahrheit: ein der Obereinstimmung eines In­halts mit sich selbst,.

Dies trifft in allen Linien bei dir Baruch zu. Du vermutetest nicht, die beste Philosophie gefunden zu haben, sondern

wusstest, hattest die Gewissheit, die wahre erkannt zu haben. Und daher ist Philo-sophie die Liebe zur Wahrheit. Und bei wem ist Liebe zur Wahrheit, ist Liebe und Wahrheit so herrlich zu finden als bei dirH

Wer Wahrheit sucht, muss lieben. Wer Wahrheit und Liebe sucht, gehe zu dir, Baruch Spinoza auf jenen Wegen, die du dem menschlich sehnsüch­tigen Herzen gangbar gemacht. Aber wem ist heute oder sonstwann die Wahr­heit und wer sucht je die Liebe~! Die Quantität will die Qualität beherrschen, sodass die Wahrheitssucher die Flachheit und Oberflächlichkeit der Millionen­menschen verlassen und die steilen Berggipfel der Erhabenheit erklimmen müssen, um auf dem geistigen Sinai die Offenbarung von Wahrheit und Liebe auf der Höhe des Menschlichen zu erleben. Und darum ist Wahrheit und Liebe bei so wenigen anzutreffen. <Allerdings muss eine Sache schwierig sein, die so selten angetroffen wird, denn wenn das Heil so bequem wäre und ohne grosse Mühe von jedermann gefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich, dass es fast von jedem vernachlässigt wird. Alles Erhabene ist ebenso schwierig wie seltem.

Dein Werk, die Ethik, sättigt mit den überschweren, bittersüssenFrüchten, des Lebensbaumes, der im Paradies des menschlichen Innern wächst. Speise ist sie, die den Hungrigen labt. Wunderbare Speise, die der Menge gar bitter schmeckt, weshalb sie bald die Hand davon lässt oder sie reichlich versüsst.

Du Baruch söhnst uns aus, die wir mit uns selbst, in unsrem Selbst ent­zweit sind und bringst uns die Kindschaft des Vaters wieder. Du bringst uns Feuer und Odem in die geistkalten und liebesarmen Herzen, dass wir den Winter überdauern, der unsre Seele befallen. Wenn die Liebe von Mensch zu Mensch in Kunst und Literatur so gepriesen wird, darf von dieser ungleich grösseren Liebe, darf vom Amor Dei nicht geschwiegen werden. Die Liebe zum Unermesslichen ruft eine unendlich konstante Glut hervor und ist der Liebe zum Geschlecht weit voraus. Was heisst Liebe~ Shakespeare antwortet:

Liebe ist Sonnenschein. Wollust ist Sonnenschein Mit Regen hinterdrein.

Page 37: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xl SIEG FR t BD HESSING

Du Lustjäger, Mensch genannt, du Opfer von Lust und Begierde, willst du jene Lust erfahren, die im Obergang zu grösserer Vollendung besteht oder willst du die wahre Glückseligkeit kosten, die deinen Geist der Vollendung selbst teilhaftsein lässt~ Willst du nicht erst den Riesenleib des Alls begreifen und lieben lernen, wie Baruch es zeigt, ehe du dem Frauenleib dich würdig nähern darfst~ Wenn sich dir die fades totius universi entschleiert, so wirst du das gleiche Glücksgefühl empfinden, welches das Antlitz deiner Geliebten verschönt.

Wer die Liebe nicht nur durch das Weib- nicht nur aus der sexuellen Form allein kennt. Wer sie wahrzunehmen vermag: in der Blume, im Tier, in der Musik, im Gemälde, im Gedicht - in der ganzen Natur unsrer Innen- und Aussenwelt, der wird sie am schönsten im Weibe zu würdigen wissen.

Auf Liebeleien muss Verzicht leisten, wem die Kraft erwachsen soll, zur Vollendung beider Attribute zu gelangen und die Weihen ihres doppelten Segens: des Amor Dei intellectualis U1ld Amor Dei corporeus (Eros) zu emp­fangen, auf dass wir fähig werden. auf beide Arten (Attribute) Gott zu lieben und menschlich-göttlich, zeitlich-ewig zu sein!

Lasset uns doch das Ewige lieben und unsren Urbesitz, den Besitz am ur­haften Teil, in uns ergreifen, auf dass wir nicht Fremdlinge bleiben uns und unsren Brüdern! cDu sollst Gott lieben über alles in der Welt und deinen Nächsten als dich selbstb

Der Amor Dei trifft dein Herz und wandelt dir alles in Herzlichkeit, indem er dich den Herzweg beschreiten lässt, weil alle andren Wege nicht den Kern­punkt jeglichen Lebens erreichen. cEs könnte sein, dass Gott dir so klar seine Idee aufgeprägt hätte, dass du aus Liebe zu ihm die Welt vergässest und die andren Menschen liebtest wie dich selbstb

Du Baruch predigst den Weg zum Herzen aller Dinge, da es sonst öde bleibt in der grossen Wüste der Wissenschaft, die ohne Oasen ist, die viel Sand in die schwachen Augen streuen will, welche das Ewige schauen möchten und die die Wahrheit als Fata Morgana hinstellt. Der eisernfeste· Gedanke des Kopfes muss in der Glut des Herzens verarbeitet werden, soll er dem Leben dienen. Und wen hat heute die Wissenschaft entflammt oder gar glücklich gemacht t! Zur Abstraktionshärte die Herzensglut des Amor Dei, der unsre toten Gebeine lebendig macht!

Wir wollen den Herzweg der Menschheit gehen, der noch von so wenigen beschritten und das Ewig-Menschliche, das Einzig-Göttliche in seiner ganzen Schönheit und Grösse entfalten und entwirken im Herzen aller edlen Men­schen, im Herzen aller, die das Edle suchen und ersehnen.

cDu sollst Gott lieben über alles in der Welt und deinen Nächsten als dich selbstb

Page 38: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

SALVE SPINOZA! xli

Kommet alle zu Spinoza, dass er euch segne mit den ewigen Gedanken und dem glücklichen Leben! Er wird euch geben wie er allen gegeben, die von ihm nehmen konnten. Was die meisten genommen, waren die Worte, die Gewän­der, aber die ewigen Gedanken sind geblieben.

Kommet zu diesen ewigen Gedanken, auf dass auch ihr ewig werdet! Wenn Parteiführer und Volksbeglücker, die immer nur sich undnieandere glücklich zu machen imstande sind, euch zu kleinlichen, egoistischen Zielen aufrufen und anspornen mit Hurrageschrei, das bald verstummt und die Seele davon betäubt nicht den Herold der Idee wahrzunehmen vermag ... so folget ihr ihnen gar rasch. Was seid ihr diesen 1! Material-Dinge-Nichts-Dünger ihres Egoismus. Aber was ist der Mensch, der denkende Mensch dem Menschen 1 Denn im Sanskrit heisst Mensch sein Denker sein!

Ihr seid verbannten Königen gleich, die aus ihrem Reiche vertrieben. Euer Reich ist nicht von dieser Welt, nicht von dieser Welt wie sie jetzt ist, sondern von jener Welt, über welcher der Geisthimmel sich ausbreitet. Suchet die im Schmutze und der Vergesslichkeit des Lebens verlorene Krone des Erhabenen, auf dass ihr wieder das lebendige Zeichen der Ewigkeit - der Erkenntnis und Liebe traget!

In dir eine Sklave ist, Dem du die Freiheit schuldig bist!

Claudius

Euch soll Denken sein, was Harnlet Kunst und Gefühl. Darum fragt auch Harnlet den Schauspieler, der ihm Symbol für Oberflächlichkeit und Scha­blone bedeutet:

Was ist ihm Hekuba, was er ihr, Dass er um sie weinen sollte? Hätte er das Merkwort und den Ruf zur Leidenschaft Wie ich, was würd' er tun1

Dort ruft Harnlet nicht den leiblichen Vater- es ist das Joch des Geistes und Harnlets Dänemark ist das Land des Undenkens, wo Mord umi Gift an einer Tafel sitzen. Nicht nur in Harnlets Dänemark, in jedem Menschen ist Fäulnis und Verweslichkeit, die von der Erkenntnis des Ewigen überwunden und aufgehoben wird .

. . . Darum vereinigt euch in Wiedergeburt der Idee und Liebe! «Begebet eure Leiber zum Opfer des Geistes, das wohlgefällig ist. Seid nicht dieser Welt gleich, sondern erneuert euch im Geiste b Das ist die ewige Jugend und Schön­heit. Diese ewige Jugend wird zu Gericht sitzen über die Schicksale des Men­schen von Geist und Ungeist, von Liebe und Hass - beim ]tinßsten Gericht, das

Page 39: SPINOZA - link.springer.com978-94-017-6639-5/1.pdf · SPINOZA Dreihundert Jahre EwiBkeit SPINOZA - FESTSCHRIFT 1632-1932 Herausgegeben wn SIEGFRIED HESSING 2. VERMEHR TE AUFLAGE II

xlii SIEGFB.IED HESSING

immer tagt, wenn ein Denker, ein Lebendiger zur Entscheidung reif wird durch die Erneuerung und Wiedergeburt zum wahren eigentlichen Leben.

Lasset uns finden durch alle Irrwege den Pfad, den Spinoza uns gezeigt zum Leben, zum Erleben und zur Lebendigkeit!

Amen! Es soll wahr sein! Amen! Und dann wird es kommen wie-dein Jünger Goethe dir singt:

... und die Flüsse von der Ebene Und die Bäche von den Bergen Jauchzen ihm und rufen: Bruder! Bruder, nimm die Brüder mit, Mit zu Deinem alten Vater, Zu dem ewigen Ozean! Der mit ausgespannten Armen Unser wartet, Die sich ach! vergebens öffnen, Seine Sehnenden zu fassen. Denn uns frisst in öder Wüste Gier' ger Sand. Die Sonne droben Saugt an uns'rem Blut, ein Hügel Hemmet uns zum Teich. Bruder! Nimm die Brüder von der Ebene, Nimm die Brüder von der Bergen Mit, zu deinem Vater mit! ... Und so trägt er seine Brüder, Seine Schätze, seine Kinder Dem erwartenden Erzeuger Freudebrausend an das Herz.