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PAULA HAWKINS Into the Water

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PAULA HAWKINSInto the Water

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Paula Hawkins

Into the WaterTraue keinem.

Auch nicht dir selbst.

Deutsch von Christoph Göhler

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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Into the Water« beiDoubleday, an imprint of Transworld Publishers, London.

Das Zitat von Emily Berry auf S. 7 stammt aus »The Numbers Game«,Dear Boy © Emily Berry and reprinted by permission by Faber & Faber.

Das Zitat von Oliver Sacks auf S. 7 stammt aus Hallucinations.Copyright © 2012, Oliver Sacks, used by permission of

The Wylie Agency (UK) Limited.Zitiert nach: Drachen, Doppelgänger und Dämonen.

Über Menschen mit Halluzinationen. Aus dem Englischen von Hainer Kober.Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014.

Das Zitat von JP Harvey auf S. 300 f. stammt aus »Down by the Water«.Reproduced by kind permission of Hot Head Music Ldt. All rights reserved.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten,so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir unsdiese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand

zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

1. AuflageCopyright der Originalausgabe © Paula Hawkins 2017

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvaletin der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkterstr. 28, 81673 MünchenRedaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einerOriginalvorlage von Richard Ogle/TW

Umschlagmotive: © Getty Images: Alex Mustard/Nature Picture Libra-ry; Roberto Machado Noa/LightRocket; Thorsten Henn/Cultura

WR ∙ Herstellung: wagDruck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN 978-3-7341-0052-9

www.blanvalet.de

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Für alle unbequemen Frauen

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Noch ganz jung wurde ich aufgebrochen.

Manches solltest du loslassenAnderes nichtWas jeweils, bleibt strittig.

Emily Berry: The Numbers Game

Wir wissen heute, dass Erinnerungen nicht ein für alle Malfestgelegt oder eingefroren sind – wie in dem Proust’schenBild von den Einweckgläsern in der Speisekammer –, son-dern mit jedem Gedächtnisakt verwandelt, zerlegt, neuzusammengesetzt und rekategorisiert werden.

Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen

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Der Drowning Pool

Libby

»Auf ein Neues! Auf ein Neues!«Die Männer fesseln sie wieder, diesmal aber anders: den

linken Daumen an den rechten Zeh, den rechten Daumenan den linken. Das Seil um die Taille. Diesmal wird sie insWasser getragen.

»Bitte«, beginnt sie zu betteln, weil sie nicht sicher ist,ob sie die Schwärze, die Kälte noch einmal ertragen kann.Sie sehnt sich zurück in ein Heim, das nicht mehr exis-tiert, in eine Zeit, in der sie und ihre Tante am Kaminsaßen und einander Geschichten erzählten. Sie will inihrer Hütte im Bett liegen, sie will wieder klein sein, Holz-rauch und Rosen riechen und die süße, warme Haut ihrerTante.

»Bitte…«Sie taucht unter. Als sie zum zweiten Mal herausgeholt

wird, sind ihre Lippen blau wie von einem Bluterguss, undihr Atem ist endgültig zum Stillstand gekommen.

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Teil eins

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2015

Jules

Du wolltest mir noch was erzählen, oder? Was war dennso wichtig? Ich hab das Gefühl, dass ich schon längernicht mehr bei der Sache bin. Irgendwann hab ich auf-gehört, mich zu konzentrieren, hab an andere Dingegedacht, mich neuen Themen zugewandt, nicht mehrzugehört und so den Faden verloren. Bitte, jetzt hast duwieder meine volle Aufmerksamkeit. Nur werde ich dasGefühl nicht los, dass mir ein paar entscheidende Detailsentgangen sind.

Als sie kamen und es mir erzählten, war ich wütend.Im ersten Moment erleichtert, denn sobald zwei Polizis-ten vor der Tür stehen, während du gerade auf dem Wegzur Arbeit bist und nur noch deine Fahrkarte suchst,bevor du aus dem Haus stürmst, befürchtest du erst maldas Schlimmste. Ich fürchtete um die Menschen, die miretwas bedeuten – meine Freunde, mein Ex, meine Arbeits-kollegen. Aber es gehe nicht um sie, sagten sie, sondernum dich. Deswegen war ich erleichtert, für einen kurzenMoment, bis sie mir erzählten, was passiert war, was duangestellt hattest. Dass du im Wasser gelandet warst. Dakam die Wut. Die Wut – und die Angst.

Ich legte mir zurecht, was ich dir an den Kopf werfenwürde, wenn ich dort ankäme, wie klar mir ist, dass dudas nur getan hast, um mich zu ärgern, um mich aus der

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Fassung zu bringen, um mir Angst einzujagen, mir das Le-ben schwerzumachen. Um wieder von mir beachtet zuwerden, um mich dorthin zurückzuzerren, wo du michimmer haben wolltest. Und ganz ehrlich, Nel, du hast esgeschafft. Jetzt bin ich wieder genau dort, wo ich nie mehrsein wollte, darf mich um deine Tochter kümmern undgeradebiegen, was du verbockt hast.

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Montag, 10. August

Josh

Irgendwas hatte mich geweckt. Ich stand auf, ging aufsKlo und sah, dass die Tür zu Mums und Dads Schlafzim-mer offen stand, und als ich genauer hinschaute, sah ich,dass Mum nicht im Bett lag. Dad schnarchte wie üblich.Der Radiowecker zeigte 4:08 an. Ich dachte noch, sie wäreunten. Sie schläft schlecht. Beide schlafen schlecht, aberer nimmt Pillen, die so stark sind, dass man sich an seinBett stellen und ihm ins Ohr schreien könnte, ohne dasser davon aufwachen würde.

Ich ging ganz leise nach unten, denn meistens schal-tet sie dann den Fernseher ein und schaut sich dieseöden Werbesendungen für irgendwelche Geräte an, diebeim Abnehmen helfen sollen oder beim Bodenwischenoder mit denen man auf unterschiedliche Art und WeiseGemüse hacken kann, bis sie auf dem Sofa einschläft.Aber der Fernseher war aus, und sie lag auch nicht aufdem Sofa, daher wusste ich, dass sie rausgegangen war.

Sie hat das schon ein paarmal gemacht – wenigstenssoweit ich weiß. Ich kann nicht immer Buch führen, werwann wo ist. Beim ersten Mal erzählte sie mir, sie wärenur spazieren gegangen, um den Kopf freizubekommen,aber ein andermal war sie noch weg, als ich morgens auf-wachte, und als ich aus dem Fenster schaute, sah ich, dassihr Wagen nicht wie sonst vor dem Haus stand.

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Ich nehme an, sie geht dann am Fluss spazieren oderbesucht Katies Grab. Das mach ich auch manchmal, aller-dings nicht mitten in der Nacht. Ich hätte Angst, im Dunk-len rauszugehen, noch dazu käme ich mir komisch dabeivor, denn genau das hat Katie auch getan: Sie ist mitten inder Nacht aufgestanden, zum Fluss gegangen und nichtmehr wiedergekommen. Trotzdem kann ich verstehen,warum Mum das macht: So fühlt sie sich Katie inzwi-schen am nächsten – oder aber wenn sie in ihrem Zim-mer sitzt, was sie auch manchmal tut. Katies Zimmer liegtgleich neben meinem, und ich kann Mum dann weinenhören.

Ich setzte mich aufs Sofa, um auf sie zu warten, aberirgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn alsich die Tür hörte, war es draußen schon hell, und als ichauf die Uhr auf dem Kaminsims schaute, war es Viertelnach sieben. Ich hörte, wie Mum die Tür hinter sich zuzogund dann sofort die Treppe hochlief.

Ich folgte ihr nach oben. Vor dem Schlafzimmer bliebich stehen und spähte durch den Türspalt. Sie knieteneben dem Bett, drüben auf Dads Seite, und ihr Gesichtwar ganz rot, so als wäre sie gerannt. Sie atmete schwerund sagte: »Alec, wach auf. Wach auf!«, und dabei rütteltesie ihn. »Nel Abbott ist tot«, sagte sie. »Sie haben sie imWasser gefunden. Sie ist gesprungen.«

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich was gesagt hätte,aber ich muss wohl irgendein Geräusch gemacht haben,denn sie sah zu mir her und sprang sofort wieder auf.

»Josh«, sagte sie und kam auf mich zu, »oh, Josh!« Tränenliefen ihr übers Gesicht, und sie drückte mich fest an sich.Als ich sie wieder von mir wegschob, weinte sie immernoch, aber sie lächelte auch. »Oh, mein Schatz«, sagte sie.

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Dad setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Erbraucht ewig, um richtig wach zu werden.

»Ich verstehe nicht ganz… Wann… Meinst du, gesternAbend? Woher weißt du das?«

»Ich war Milch holen«, sagte sie. »Alle haben darübergeredet… im Laden. Sie haben sie heute Morgen gefun-den.« Sie setzte sich aufs Bett und fing wieder an zu wei-nen. Dad nahm sie in die Arme, aber er sah dabei zu mirund machte ein eigenartiges Gesicht.

»Wohin bist du gegangen?«, fragte ich sie. »Wo bist dugewesen?«

»Im Laden, Josh. Das hab ich doch gerade gesagt.«Du lügst, hätte ich am liebsten entgegnet. Du warst stun-

denlang weg, du warst nicht bloß Milch holen. Das hätteich am liebsten gesagt, aber das konnte ich nicht, dennmeine Eltern saßen auf dem Bett und schauten sich an,und beide sahen glücklich aus.

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Dienstag, 11. August

Jules

Ich erinnere mich noch gut. Auf der Rückbank des Cam-pers, mit einem Kissenstapel in der Mitte, der die Grenzezwischen deinem und meinem Territorium markierte,unterwegs nach Beckford in die Sommerferien, du ganzzappelig und aufgeregt – du konntest es gar nicht erwar-ten, endlich anzukommen –, ich grün im Gesicht vor Übel-keit. Ich gab mir alle Mühe, mich nicht zu übergeben.

Ich erinnerte mich nicht nur daran, ich spürte es.Heute Nachmittag spürte ich dieselbe Übelkeit, wäh-rend ich übers Lenkrad gebeugt wie eine alte Frau ge-dankenverloren zu viel Gas gab, in den Kurven überdie Straßenmitte zog, zu scharf bremste und das Lenk-rad verzog, sobald mir ein Auto entgegenkam. Da wares wieder, dieses Gefühl, das mich jedes Mal über-kommt, wenn ich auf einer dieser schmalen Straßeneinen weißen Lieferwagen auf mich zuschießen seheund mir denke, diesmal reiß ich das Steuer rum, diesmaltu ich’s, diesmal halt ich direkt darauf zu, nicht weil iches will, sondern weil ich muss. So als würde im letztenMoment mein freier Wille ausgeschaltet. Es ist das glei-che Gefühl, wie wenn man oben auf einer Klippe oderam Rand des Bahnsteigs steht und zu spüren glaubt, wieman von einer unsichtbaren Hand nach vorn geschobenwird. Und wenn? Wenn ich wirklich einen Schritt nach

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vorn machen würde? Wenn ich wirklich kurz das Lenk-rad verziehen würde?

(Du und ich sind gar nicht so verschieden.)Am meisten setzte mir zu, wie gut ich mich erinnerte.

Viel zu gut. Warum kann ich mich perfekt an alles erin-nern, was ich mit acht Jahren erlebt habe, während ich mirbeim besten Willen nicht merken kann, ob ich mit meinenKollegen schon über die Verlegung eines Kliententerminsgesprochen habe? Was ich im Gedächtnis behalten will,vergesse ich, und was ich um jeden Preis vergessen will,drängt sich immer wieder in den Vordergrund. Je näherich Beckford kam, desto weniger konnte ich abstreiten,dass die Vergangenheit hier an allen Ecken aufflatterte wieSpatzen aus einer Hecke, ganz plötzlich und ohne dass ichihr hätte entfliehen können.

Die üppige Vegetation, das unglaubliche Grün, dasgrelle, scharfe Gelb des Ginsters auf den Hügeln, all dasbrannte sich in mein Gehirn und weckte ein Kaleidos-kop von Erinnerungen: wie ich mit vier oder fünf Jahrenvor Freude kreischend und zappelnd von Dad ins Was-ser getragen werde; wie du von den Felsen in den Flussspringst und von Mal zu Mal ein bisschen höher kletterst.Picknicks am sandigen Ufer des Drowning Pools, derGeschmack von Sonnencreme. Wie wir im trüben, schlam-migen Wasser flussabwärts vom Mill House fette brauneFische angeln. Wie du mit einer blutenden Wunde amBein nach Hause kommst, nachdem du dich bei einemdeiner Sprünge verschätzt hast, und dir ein Geschirrtuchzwischen die Zähne klemmst, während Dad den Schnittsäubert, weil du auf gar keinen Fall weinen willst. Nichtvor mir. Wie Mum in ihrem hellblauen Sommerkleid bar-fuß in der Küche steht, die Fußsohlen dunkel rostrot, und

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Porridge zum Frühstück macht. Wie Dad am Flussufersitzt und zeichnet. Wie du später, als wir schon älter sind,in Jeansshorts und mit einem Bikinioberteil unter demT-Shirt aus dem Haus schleichst, um dich mit einem Jun-gen zu treffen. Nicht mit irgendeinem Jungen – mit demJungen. Wie Mum, jetzt sichtbar dünner und gebrechlicher,im Lehnsessel im Wohnzimmer schläft; wie Dad mit der di-cken, bleichen Frau des Vikars, die immer einen Sonnenhutträgt, auf lange Spaziergänge verschwindet. Ich erinneremich an ein Fußballspiel. Die heiße Sonne auf dem Was-ser, die vielen Blicke, die auf mich gerichtet sind; wie ich,mit Blut am Schenkel, die Tränen wegblinzle und mir dasGelächter in den Ohren dröhnt. Ich kann es immer nochhören. Und unter allem das Rauschen des Wassers.

Ich war so tief drin in diesem Wasser, dass ich gar nichtmerkte, wie ich mich meinem Ziel näherte. Auf einmalwar ich da, im Herzen des Ortes; ganz plötzlich – als hätteich nur kurz die Augen zugekniffen und mich mit Gedan-kenkraft dorthin versetzt – war ich angekommen, und eheich michs versah, fuhr ich langsam durch enge, mit Gelän-dewagen vollgeparkte Gassen, gesäumt von rosafarbenenMauern, die am Rand meines Blickfelds verschwammen.Erst in Richtung Kirche und von dort, vorsichtiger, weiterzur alten Brücke. Eisern starrte ich auf den Asphalt vormir und versuchte, nicht auf die Bäume, nicht zum Flusszu schauen. Ich versuchte es… aber vergeblich.

Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand und schalteteden Motor aus. Dann sah ich auf. Dort waren die Bäumeund hier die Steinstufen, vermoost und tückisch nachdem Regen. Sämtliche Härchen an meinem Körper stelltensich auf. Woran ich mich erinnerte: an den eisigen Regen,der auf den Asphalt trommelte, die zuckenden Blaulich-

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ter, die im Wettstreit mit den Blitzen den Fluss und denHimmel erhellten, Atemwolken vor verängstigten Gesich-tern und den kleinen Jungen, der bibbernd und weiß wieein Gespenst von einer Polizistin die Stufen zur Straßehinaufgeführt wurde. Daran, wie sie seine Hand um-klammert hielt, wie sie sich mit großen, wilden Augenumschaute und den Kopf hin- und herwandte, währendsie irgendwen rief. Noch heute kann ich fühlen, was ichdamals fühlte, Grauen und Faszination zugleich. In mei-nem Kopf höre ich dich immer noch sagen: Wie das wohlsein muss? Kannst du dir das vorstellen? Zusehen zu müs-sen, wie deine eigene Mutter stirbt?

Ich wandte den Blick ab. Ich ließ den Motor wieder an,fuhr zurück auf die Straße und über die Brücke. Dahin-ter beginnt die Straße sich zu winden. Ich hielt nach derKurve Ausschau – die erste links? Nein, die nicht. Diezweite. Da stand er, der alte braune Steinkoloss, das MillHouse. Ein Prickeln, kalt und feucht, lief mir über denRücken, und mein Herz schlug gefährlich schnell, als ichden Wagen durch das offene Tor in die Einfahrt lenkte.

Dahinter stand ein Mann und sah aufs Handy. Ein uni-formierter Polizist. Schneidig trat er auf den Wagen zu,und ich ließ das Fenster runter.

»Ich bin Jules«, sagte ich. »Jules Abbott? Ich bin… ihreSchwester.«

»Oh.« Er wirkte verlegen. »Ja. Richtig. Natürlich. SehenSie«, er wandte sich zum Haus um, »im Moment ist nie-mand da. Das Mädchen… Ihre Nichte… ist weggefahren.Ich weiß nicht genau, wohin…« Dann zog er das Funk-gerät von seinem Gürtel.

Ich drückte die Tür auf und stieg aus. »Ist es in Ord-nung, wenn ich reingehe?«, fragte ich. Ich sah hoch zu

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dem offenen Fenster, das zu deinem alten Zimmer. Ichkonnte dich immer noch auf dem Fenstersims sitzen undmit den Beinen baumeln sehen. Zum Übelwerden.

Der Polizist wirkte unschlüssig. Er kehrte mir den Rückenzu und sprach leise in sein Funkgerät, dann drehte er sichwieder um. »Ja, in Ordnung. Sie können reingehen.«

Ohne hinzusehen, stieg ich die Stufen hoch, aber da-für hörte ich das Wasser und roch die Erde, die Erde imSchatten des Hauses, unter den Bäumen, an den von derSonne unberührten Flecken, den beißenden Gestank desverrottenden Laubs, und dieser Geruch versetzte mich umJahrzehnte zurück.

Als ich die Haustür aufschob, rechnete ich fast damit,meine Mutter aus der Küche rufen zu hören. Intuitiv warmir klar, dass ich die Tür an der Stelle, wo sie über denBoden schrammt, mit der Hüfte anheben musste. Ich tratin den Flur, schloss die Tür hinter mir und zitterte in derplötzlichen Kälte, während ich versuchte, mich im Halb-dunkel zu orientieren.

In der Küche stand ein Eichentisch direkt vor dem Fens-ter. Derselbe? Er sah fast so aus, aber es konnte nicht der-selbe sein, das Haus hatte zwischen damals und jetzt zuoft den Besitzer gewechselt. Ich hätte mich vergewissernkönnen, wenn ich unter den Tisch gekrabbelt wäre undnach den Markierungen gesucht hätte, die wir dort hinter-lassen hatten, doch allein bei dem Gedanken begann meinHerz, schneller zu schlagen.

Ich weiß noch, wie morgens die Sonne auf den Tischschien und dass man, wenn man auf der linken Seite mitdem Gesicht zum mächtigen Herd saß, freien Blick auf dieperfekt eingerahmte alte Brücke hatte. Zauberhaft, nann-ten alle den Ausblick, aber niemand sah wirklich hin. Nie-

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mand machte das Fenster auf und beugte sich raus undschaute hinunter auf das festsitzende Mühlrad, das lang-sam verrottete, alle ließen sich von den auf der Wasser-oberfläche spielenden Sonnenstrahlen blenden, keinersah, wie das Wasser tatsächlich war: grünlich schwarzund voller lebender und sterbender Dinge.

Aus der Küche hinaus in den Flur, an der Treppe vor-bei, tiefer ins Haus hinein. Ich stand so unvermitteltdavor, dass ich fast zurücktaumelte: die riesigen Panora-mafenster zum Fluss hin – nein, eher in den Fluss, so alswürde das Wasser über die breite, gepolsterte Fensterbankströmen, sobald man die Flügel öffnete.

Ich erinnere mich noch gut. Sommer für Sommer, Mumund ich auf dieser Fensterbank, mit dicken Kissen im Rü-cken, die Beine angezogen, die Zehen fast aneinander, miteinem Buch auf den Knien. Ein Teller mit Knabberzeug inReichweite, obwohl sie ihn nie anrührte.

Ich musste mich abwenden; der Anblick schnürte mirdie Kehle zu.

Der Putz war von den Wänden geschlagen worden, sodassdie nackten Ziegel freilagen, und alles an der Einrichtungwarst unverkennbar du: Orientteppiche auf dem Boden,schwere Ebenholzmöbel, ausladende Sofas und Ledersesselund zu viele Kerzen. Und überall Zeugnisse deiner Obses-sionen: riesige gerahmte Drucke, Millais’ Ophelia, wunder-schön in ihrer stillen Heiterkeit, Augen und Mund geöff-net, die Blumen fest in der Hand. Blakes Dreifache Hekate,Goyas Hexensabbat, sein ertrinkender Hund. Das ist fürmich von allem das Schlimmste: wie das arme Tier darumkämpft, den Kopf über den ansteigenden Fluten zu halten.

Ich hörte ein Telefon klingeln, anscheinend weiterunten im Haus. Ich folgte dem Geräusch durch das Wohn-

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zimmer und ein paar Stufen abwärts – ich meine, michzu erinnern, dass dort früher ein Lagerraum voller Trödelwar. Irgendwann wurde er überschwemmt, und danachwar alles mit Schlick überzogen, so als würde das Hausallmählich ein Teil des Flussbetts werden.

Ich trat in den Raum, in dem du inzwischen dein Studioeingerichtet hattest. Überall Fotografen-Utensilien: Es gabLeinwände und Leuchtkästen, einen Drucker, Papiere undBücher und stapelweise Unterlagen auf dem Boden, Abla-geschränke, die die Wände säumten. Und Bilder natürlich.Deine Fotos, die jeden freien Zentimeter Wand bedeckten.Für ein ungeübtes Auge mag es so aussehen, als wärst du einBrücken-Fan: die Golden Gate, die Nanjing-Jangtse-Brücke,der Prince-Edward-Viadukt. Aber man muss genau hinse-hen. Es geht dabei nicht um die Brücken an sich, hier drücktsich keine Liebe zu ausgewählten Meisterwerken der Ingeni-eurskunst aus. Erst wenn man genau hinsieht, erkennt mannicht nur Brücken, sondern Beachy Head, den Aokigahara-Wald, Preikestolen. Orte, an die die Verzagten flüchten, umallem ein Ende zu setzen. Kathedralen der Verzweiflung.

Gegenüber der Tür Bilder vom Drowning Pool. Bilderüber Bilder über Bilder, aus jedem erdenklichen Blickwin-kel, in jeder nur vorstellbaren Einstellung: blass und eisigim Winter unter einer schwarzen, kahlen Klippe oder fun-kelnd im Sommer, eine Oase, üppig und grün, oder aberin mattem Schiefergrau unter schweren Gewitterwolken,Bild um Bild um Bild. Die Fotografien verschwammen zueinem einzigen großen Bildnis, einer schwindelerregen-den Attacke auf das Auge. Ich hatte das Gefühl, dort zusein, an jenem Ort, so als stünde ich oben an der Klippe,würde hinabschauen ins Wasser und den schrecklichenKitzel verspüren, die Verlockung des Vergessens.

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Nickie

Manche gingen aus eigenem Entschluss ins Wasser, anderenicht, und wenn man Nickie gefragt hätte – nicht dassirgendwer das getan hätte, Nickie wurde nie gefragt –,dann hatte Nel Abbott sich mit aller Kraft gewehrt. Aberniemand hätte Nickie je gefragt, und keiner würde jemalsauf sie hören, warum also sollte sie irgendwem davonerzählen? Schon gar nicht der Polizei. Selbst wenn sienicht so oft Ärger mit der Polizei gehabt hätte, hätte siedas denen nicht erzählen können. Zu riskant.

Nickie lebte in einer Wohnung über dem Lebensmittel-laden – eigentlich nur ein Zimmer mit Kochnische undeinem so winzigen Bad, dass es den Namen kaum ver-diente. Nicht der Rede wert. Und nicht viel für ein gan-zes Leben. Aber sie hatte ihren gemütlichen Lehnsesselam Fenster mit Blick auf die Straße, in dem sie immer saßund aß und manchmal sogar einnickte. Inzwischen schliefsie praktisch gar nicht mehr, und darum war es ziemlichwitzlos, überhaupt ins Bett zu gehen.

So saß sie da und wachte darüber, wer kam und werging, und wenn sie etwas nicht sah, dann spürte sie es.Noch bevor die ersten blauen Lichter über die Brückegezuckt waren, hatte sie etwas gespürt. Sie hatte nichtgewusst, dass es Nel Abbott war, jedenfalls nicht sofort.Die Leute glaubten immer, sie würde so etwas kristallklar

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sehen, aber so einfach war es nicht. Sie hatte nur gewusst,dass wieder jemand schwimmen gegangen war. Bei aus-geschaltetem Licht hatte sie dagesessen und alles beobach-tet: Erst rannte ein Mann mit seinen Hunden die Treppehoch, dann kam ein Auto, kein richtiges Polizeiauto, einganz normales, dunkelblaues. Detective Inspector SeanTownsend, hatte sie noch gedacht – und recht behalten.Er und der Mann mit den Hunden liefen die Treppe wie-der runter, und kurz darauf rückte die gesamte Kavalleriean, mit blinkenden Blaulichtern, aber ohne Sirenen. Wozuauch? Es eilte ja nicht mehr.

Bei Sonnenaufgang ging sie runter, um Milch und dieZeitung zu holen, und da waren alle schon am Redengewesen, alle meinten, schon wieder eine, schon dieZweite in diesem Jahr, doch als sie erzählten, wer es war,als sie sagten, dass es Nel Abbott war, begriff Nickie so-fort, dass die Zweite ganz und gar nicht wie die Erste war.

Sie spielte schon mit dem Gedanken, direkt zu SeanTownsend rüberzugehen und es ihm zu erklären. Aber auchwenn er ein netter, höflicher junger Mann war, war er dochimmer noch ein Polizist und der Sohn seines Vaters, unddarum war ihm nicht zu trauen. Nickie wäre gar nicht aufden Gedanken gekommen, wenn sie nicht eine heimlicheSchwäche für Sean gehabt hätte. Auch er hatte eine Tragö-die durchlebt und weiß der Himmel was danach, und erwar nett zu ihr gewesen… Er war der Einzige, der nett zuihr gewesen war, als man sie damals angezeigt hatte.

Zum zweiten Mal, wenn sie ehrlich war. Es war schoneine ganze Weile her, sechs oder sieben Jahre. Sie hatteihr Geschäft mehr oder weniger aufgegeben, nachdem siezum ersten Mal wegen Betrugs verurteilt worden war, nurein paar Stammkunden hatte sie behalten und die Hexe-

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rei-Leute, die hin und wieder vorbeikamen, um Libby undMay und all den Frauen des Wassers Ehre zu erweisen. Hinund wieder hatte sie noch Tarot gelegt und den Sommerüber ein paar Séancen veranstaltet; gelegentlich hatte mansie auch gebeten, Kontakt mit einem Verwandten oder einerder Schwimmerinnen aufzunehmen. Aber sie hatte keineNeukunden mehr akquiriert, schon lange nicht mehr.

Doch dann war ihr zum zweiten Mal die Sozialhilfegekürzt worden, und Nickie war aus ihrem provisorischenRuhestand zurückgekehrt. Mithilfe eines der jungen Män-ner, die in der Bibliothek aushalfen, hatte sie eine Web-seite erstellt, auf der sie Sitzungen für fünfzehn Pfund prohalbe Stunde anbot. Ein ziemlich guter Preis – diese SusieMorgan aus dem Fernsehen, die ungefähr so gut hellsehenkonnte wie Nickie mit dem Arsch, verlangte immerhin29,99 für zwanzig Minuten, und dabei durfte man nichtmal mit ihr persönlich sprechen, sondern nur mit jeman-dem aus ihrem »Seher-Team«.

Ihre Webseite war gerade erst ein paar Wochen onlinegewesen, als sie von der Verbraucherschutzbehörde wegen»Unterlassung erforderlicher Widerrufsbelehrungen ge-mäß der Verordnung zum Verbraucherschutz im Internet«angezeigt wurde. Verordnung zum Verbraucherschutz!Nickie hatte erklärt, sie habe nicht gewusst, dass sie ihreKunden hätte belehren müssen, und die Polizisten hattenihr erklärt, dass das ein neues Gesetz sei. Woher, hatte siegefragt, hätte sie das denn bitte wissen sollen? Natürlichhatte sie damit große Heiterkeit ausgelöst. Hätte sie dasnicht vorhersehen müssen? Können Sie wirklich nur indie Zukunft sehen? Und gar nicht in die Vergangenheit?

Nur Detective Inspector Townsend – damals noch eineinfacher Constable – hatte nicht gelacht. Er hatte ihr

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freundlich erklärt, dass das mit neuen EU-Regulierun-gen zusammenhänge. EU-Regulierungen! Kundenschutz!In früheren Zeiten hatte man Frauen wie Nickie mitHexerei-Erlassen und Gesetzen gegen Hellseherei ver-folgt… verfemt. Und jetzt waren sie europäischen Büro-kraten ein Dorn im Auge. Wie tief die Mächtigen dochgesunken waren.

Darum hatte Nickie ihre Webseite geschlossen, dermodernen Technik abgeschworen und sich wieder aufihre alte Arbeitsweise besonnen, doch inzwischen kamkaum noch jemand zu ihr.

Dass die Frau im Wasser Nel war, hatte ihr einen ziem-lichen Schrecken eingejagt, musste sie zugeben. Sie fühltesich schlecht. Nicht direkt schuldig, es war schließlichnicht Nickies Schuld. Trotzdem fragte sie sich, ob sievielleicht zu viel gesagt, zu viel verraten hatte. Aber manwürde ihr nicht vorwerfen können, dass sie dies alles aus-gelöst hatte. Nel Abbott hatte schon lange mit dem Feuergespielt – sie war besessen vom Fluss und seinen Geheim-nissen gewesen, und diese Art von Besessenheit nimmtnie ein gutes Ende. Nein, Nickie hatte Nel ganz gewissnicht dazu gedrängt, Ärger zu suchen, sie hatte ihr nurgezeigt, wo er zu finden war. Und es war auch nicht so,als hätte sie Nel nicht gewarnt, oder? Das Problem warnur, dass niemand ihr wirklich zuhörte. Nickie hatte Nelerklärt, dass es an diesem Ort schon immer Menschengegeben hätte, die dich vom ersten Blick an verdammen.Doch die Menschen stellten sich blind, oder nicht? Kei-nem gefiel der Gedanke, dass das Wasser in diesem Flussmit dem Blut und der Galle verfemter Frauen, unglück-seliger Frauen getränkt war. Trotzdem tranken sie es alle,Tag für Tag.

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Jules

Du hast dich kein bisschen verändert. Das hätte ich wis-sen müssen. Ich habe es gewusst. Du hast das Mill Houseund das Wasser geliebt, und du warst besessen von diesenFrauen, von dem, was sie getan und wen sie zurückgelas-sen hatten. Und jetzt das. Ganz ehrlich, Nel. Du bist echtso weit gegangen?

Vor dem großen Schlafzimmer oben zögerte ich. Mit derHand auf der Türklinke atmete ich noch einmal tief durch.Ich hatte noch im Ohr, was sie mir erzählt hatten, aber ichkannte dich immerhin, und darum konnte ich ihnen nichtglauben. Ich hatte das bestimmte Gefühl, dass ich nur dieTür zu öffnen bräuchte, und du würdest vor mir stehen,groß und dünn und ganz und gar nicht erfreut, mich zusehen.

Das Zimmer war leer. Es fühlte sich an wie frisch ver-lassen, so als wärst du eben erst aus der Tür gehuscht undnach unten gelaufen, um Kaffee zu machen. Als müsstestdu jeden Moment zurückkommen. Ich konnte immer nochdein Parfüm in der Luft riechen, schwer und süß undaltmodisch, genau wie die Düfte, die Mum immer trug,Opium oder Yvresse.

»Nel?« Ich sprach deinen Namen leise aus, als könnteich dich heraufbeschwören wie einen Teufel. Schweigenantwortete mir.

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Ein Stück weiter den Flur hinunter lag »mein« Zimmer,in dem ich immer geschlafen hatte: das kleinste im Haus,so wie es der Jüngsten zukommt. Es sah noch kleiner ausals in meiner Erinnerung, dunkler, trauriger. Es war leerbis auf das ungemachte Bett, und es roch dampfig, wieErde. Ich hatte in diesem Zimmer nie gut geschlafen, michnie wohl darin gefühlt. Nicht besonders überraschend,wenn man bedenkt, wie gern du mir Angst eingejagt hast.Wie du auf der anderen Seite der Wand mit den Finger-nägeln über den Putz gekratzt, mit blutrotem NagellackSymbole hinten auf meine Tür geschmiert, die Namentoter Frauen auf die beschlagenen Fensterscheiben in mei-nem Zimmer geschrieben hast. Und dazu die ganzen Ge-schichten, die du mir erzählt hast: von Hexen, die insWasser gezerrt worden waren, von verzweifelten Frauen,die sich von der Klippe auf die Felsen in der Tiefe gewor-fen hatten, von einem verängstigten kleinen Jungen, deraus seinem Versteck im Wald hatte zusehen müssen, wieseine Mutter in den Tod sprang.

Ich kann mich nicht daran erinnern. Natürlich nicht.Wenn ich mein Gedächtnis nach dem kleinen verängstig-ten Jungen durchforste, ergibt das Bild keinen Sinn: Esbleibt aus dem Zusammenhang gerissen wie ein Traum.Wie du in mein Ohr geflüstert hast – das war nicht aneiner eisigen Nacht am Wasser. Wir waren überhaupt nieim Winter hier, es gab keine eisigen Nächte am Wasser.Ich habe nie mitten in der Nacht ein verängstigtes Kindauf der Brücke stehen sehen – was hätte ich, selbst nochein kleines Kind, dort auch zu suchen gehabt? Nein, daswar deine Geschichte, du hast mir erzählt, wie der Jungezwischen den Bäumen gekauert und hochgeschaut undsie gesehen hätte – das Gesicht im Mondschein weiß wie

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ihr Nachthemd, wie er aufschaute und sie springen sah,die Arme in der stillen Luft ausgebreitet wie Schwingen,wie der Schrei auf ihren Lippen erstarb, als sie auf demschwarzen Wasser aufschlug.

Ich weiß nicht mal, ob es wirklich einen Jungen gab, derseine Mutter sterben sah, oder ob du dir das alles nur aus-gedacht hast.

Ich verließ mein altes Zimmer und ging weiter zu dei-nem, jenem Zimmer, das früher deins war und in deminzwischen, so wie es aussieht, deine Tochter lebt. Einchaotisches Durcheinander von Kleidern und Büchern,ein nasses Handtuch auf dem Boden, schmutzige Becherauf dem Nachttisch, ein schaler Mief nach kaltem Rauchin der Luft und über allem der erstickende Duft verblüh-ter Lilien, die in einer Vase neben dem Fenster vor sichhin welkten.

Ohne nachzudenken, begann ich aufzuräumen. Ichzog das Bettzeug gerade und hängte das Handtuch überden Halter im angrenzenden Bad. Ich war gerade auf denKnien und drauf und dran, einen schmutzigen Teller unterdem Bett hervorzuziehen, als ich deine Stimme hörte: einDolch in meiner Brust.

»Verfluchte Scheiße, was soll das hier werden?«

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Ich rappelte mich auf, ein triumphierendes Lächeln aufden Lippen, denn ich hatte es gewusst – ich hatte ge-nau gewusst, dass sie sich täuschten, ich hatte gewusst,dass du nicht wirklich gegangen warst. Und tatsächlichstandest du dort in der Tür und blafftest mich an, ich solleaus deinem Zimmer verschwinden, SCHEISSE NOCH MAL.Sechzehn, siebzehn Jahre alt, die Hand um mein Hand-gelenk gekrallt, die lackierten Nägel tief in mein Fleischgebohrt. RAUS HIER, hab ich gesagt, Julia! Fette Kuh!

Das Lächeln erstarb, denn natürlich warst das keines-wegs du, es war deine Tochter, die fast exakt so aussieht,wie du als Teenager ausgesehen hast. Sie stand in der Türund hatte die Hand in die Hüfte gestemmt. »Was soll daswerden?«, fragte sie noch mal.

»Entschuldige«, sagte ich. »Ich bin Jules. Wir kennenuns nicht, aber ich bin deine Tante.«

»Ich hab nicht gefragt, wer du bist«, sagte sie undsah mich an, als wäre ich blöde. »Was das werden soll,will ich wissen. Was hast du hier zu suchen?« Ihr Blickhuschte von meinem Gesicht zur Badezimmertür. Nochehe ich antworten konnte, sagte sie: »Die Polizei ist un-ten«, und dann stakste sie den Flur entlang, mit langenBeinen und schlendernden Schritten, bei denen ihre Flip-flops auf den gefliesten Boden klatschten.

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Ich lief ihr hinterher.»Lena«, rief ich und legte ihr die Hand auf den Arm.Sie riss sich los, als hätte ich sie verbrüht, drehte sich

zu mir um und sah mich wutentbrannt an.»Es tut mir leid…«Sie schlug kurz die Augen nieder und massierte mit den

Fingern die Stelle, an der ich sie berührt hatte. Ihre Nägeltrugen Spuren von altem blauem Lack, ihre Fingerspitzensahen aus wie die einer Leiche. Sie nickte, ohne mir indie Augen zu sehen. »Die Polizei will mit dir sprechen«,sagte sie.

Sie ist nicht so, wie ich erwartet habe. Irgendwie hatteich mir ein Kind vorgestellt, verstört, verzweifelt Trostsuchend. Aber das ist sie nicht, natürlich nicht, sie istkein Kind mehr, sie ist fünfzehn und fast erwachsen, undwas das Trostsuchen betrifft – Trost schien sie keineswegszu brauchen, zumindest nicht von mir. Sie ist und bleibtdeine Tochter.

Die Detectives warteten am Küchentisch und schautenhinaus auf die Brücke: ein großer Mann mit ersten grauenStoppeln am Kinn, an seiner Seite eine Frau, ungefähreinen Kopf kleiner als er.

Er richtete seine hellgrauen Augen forschend auf mich,trat auf mich zu und streckte die Hand aus. »DetectiveInspector Sean Townsend«, sagte er. Als er mir die Handgab, fiel mir auf, dass sie leicht zitterte. Seine Haut fühltesich kalt an, wie Papier, wie bei einem viel älteren Mann.»Mein tiefes Beileid zu Ihrem Verlust.«

Es ist so befremdlich, diese Worte zu hören. Ich habsie gestern schon gehört, als ich benachrichtigt wurde.Ich hätte sie beinahe selbst zu Lena gesagt, aber diesmalempfand ich sie anders. Ihr Verlust. Am liebsten hätte ich

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ihnen erklärt, du seist nicht verloren. Auf gar keinen Fall.Sie kennen Nel nicht, Sie wissen nicht, wie sie ist.

Detective Townsend sah mir ins Gesicht, wartete darauf,dass ich irgendetwas sagte. Dünn und irgendwie scharf-kantig ragte er über mir auf, fast als könnte man sich anihm schneiden, wenn man ihm zu nahe käme. Ich starrteihn immer noch an, bis mir aufging, dass die Frau nebenihm mich mit einer Miene ansah, die einer Studie in Mit-gefühl gleichkam.

»Detective Sergeant Erin Morgan«, sagte sie. »Mein Bei-leid.« Sie hatte olivfarbene Haut, dunkle Augen, und ihrHaar war vom bläulichen Schwarz einer Krähenschwinge.Sie hatte es sich streng aus dem Gesicht gekämmt, dochan der Schläfe und hinter den Ohren hatten sich einzelneLocken gelöst, was sie irgendwie zerrauft aussehen ließ.

»DS Morgan ist Ihre Kontaktperson«, erklärte DetectiveTownsend. »Sie wird Sie auf dem Laufenden halten, wowir mit unseren Ermittlungen stehen.«

»Es gibt Ermittlungen?«, fragte ich.Die Frau nickte und bedeutete mir lächelnd, mich an

den Küchentisch zu setzen, was ich auch tat. Die Detec-tives nahmen mir gegenüber Platz. DI Townsend senkteden Blick und rieb mit dem rechten Handballen kurz undruckartig über sein linkes Handgelenk: einmal, zweimal,dreimal.

Mit besonnener, beruhigender Stimme, die ganz und garnicht zu den Worten passte, die aus ihrem Mund kamen,wandte DS Morgan sich an mich. »Gestern am frühenMorgen hat ein Mann, während er seine Hunde ausführte,den Leichnam Ihrer Schwester im Fluss entdeckt«, sagtesie. Dem Akzent nach aus London, die Stimme weich wieRauch. »Soweit wir bis jetzt feststellen konnten, lag sie

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nur ein paar Stunden im Wasser.« Sie sah kurz den DI an,dann wieder mich. »Sie war voll bekleidet, und ihre Ver-letzungen lassen auf einen Sturz von der Klippe über demFluss schließen.«

»Sie glauben, sie wäre gestürzt?«, fragte ich. Ich sah vonden Detectives zu Lena, die mir nach unten gefolgt warund jetzt am anderen Ende des Raums an der Küchenthekelehnte. Barfuß in schwarzen Leggings und grauer Weste,die straff über den kantigen Schlüsselbeinknochen undihren winzigen, knospenden Brüsten saß, schien sie unsgar nicht zu beachten, so als wäre das alles hier vollkom-men normal, banal. Als würde so was jeden Tag passieren.Den linken Arm – der Oberarm hatte in etwa den Umfangmeines Handgelenks – hatte sie sich um den schmalenLeib geschlungen, und mit der Rechten hielt sie ihr Handyumklammert und scrollte mit dem Daumen nach unten.Breiter Schmollmund, dunkle Brauen, aschblondes Haar,das ihr ins Gesicht fiel.

Offenbar spürte sie meinen Blick, denn auf einmal sahsie mich an und riss dabei kurz die Augen auf, sodassich unwillkürlich wegschaute. Sie sprach mich an. »Duglaubst nicht, dass sie gefallen ist, oder?«, fragte sie undverzog die Lippen. »Du weißt es besser.«

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Alle schauten mich an. Am liebsten hätte ich sie ange-brüllt, dass sie aus meinem Haus verschwinden sollen.Aus meinem Haus. Es ist mein Haus, unser Haus, es wirdniemals ihres sein. Tante Julia. Ich hab sie in meinemZimmer erwischt, wo sie in meinen Sachen gewühlt hat,bevor sie mich auch nur kennengelernt hat. Dann hat sieauf nett getan und mir erklärt, dass es ihr leidtäte, so alssollte ich ihr abkaufen, dass sie sich nicht einen feuchtenDreck für uns interessiert.

Ich hab seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen, und ichwill weder mit ihr noch mit sonst irgendwem reden. Ichbrauche ihre Hilfe nicht und auch nicht ihre verlogenenBeileidsbekundungen, und ich will mir auch keine lahmenTheorien darüber anhören, was mit Mum passiert ist, schongar nicht von Leuten, die sie nicht mal gekannt haben.

Ich hab versucht, die Klappe zu halten, aber als siesagten, dass sie wohl abgestürzt wäre, wurde ich echtsauer, denn natürlich ist sie das nicht. Das ist sie nicht.Sie kapieren das nicht. Das war kein dummer Unfall, siehat das absichtlich getan. Ich meine, wahrscheinlich tutdas jetzt nichts mehr zur Sache, aber ich finde, man solltewenigstens bei der Wahrheit bleiben.

»Sie ist nicht gestürzt«, erklärte ich ihnen. »Sie istgesprungen.«

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Die Detective fing daraufhin an, dumme Fragen zu stel-len, warum ich so was sagen würde und ob sie Depres-sionen gehabt hätte und ob sie so was früher schon malversucht hätte, und die ganze Zeit über starrte Tante Juliamich mit ihren traurigen braunen Augen an, als wäre ichder totale Freak.

»Sie wissen doch selbst«, erklärte ich ihnen, »dass siebesessen war von diesem Fluss, von allem, was dort pas-siert ist, von den vielen Menschen, die darin gestorbensind. Sie wissen das. Selbst sie weiß das«, sagte ich undsah Julia demonstrativ an.

Sie klappte den Mund auf und wieder zu wie ein Fisch.Fast hatte ich Lust, ihnen alles zu erzählen, ihnen alleshaarklein aufzuschlüsseln, aber was hätte das gebracht?Ich glaube nicht, dass sie es kapiert hätten.

Sean – Detective Townsend, wie ich ihn nennen soll,wenn wir offiziell miteinander zu tun haben – fing an,Julia Fragen zu stellen: Wann sie das letzte Mal mit meinerMutter gesprochen hätte. In welcher Verfassung Mum dagewesen wäre. Ob irgendetwas sie beschäftigt hätte. UndTante Julia saß nur da und log.

»Ich hab seit Jahren nicht mit ihr gesprochen«, sagtesie, und ihr Gesicht wurde dabei knallrot. »Wir hatten unsauseinandergelebt.«

Sie merkte, dass ich sie anschaute. Ihr war klar, dassich wusste, dass das alles Mist war, und sie wurde immerröter und röter, und dann versuchte sie, von sich abzu-lenken, indem sie mich ansprach: »Warum, Lena? Warumbehauptest du, dass sie gesprungen wäre?«

Ich sah sie lange an, bevor ich antwortete. Sie sollteruhig wissen, dass ich sie durchschaut hatte. »Ich binwirklich überrascht, dass du das fragst«, sagte ich. »Hast

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du ihr nicht selbst erklärt, dass sie an Todessehnsucht lei-den würde?«

Sie schüttelte den Kopf und stammelte: »Nein, nein,das hab ich nicht, nicht so…« Lügnerin.

Die Detective meinte daraufhin, es gäbe »zu diesemZeitpunkt noch keine Hinweise darauf, dass es ein vor-sätzlicher Akt gewesen sein könnte«, und dass sie nichtsSchriftliches gefunden hätten.

Da musste ich echt lachen. »Sie glauben, sie würde wasSchriftliches hinterlassen? Meine Mutter würde doch kei-nen verfickten Abschiedsbrief schreiben. Das wäre ihrecht… was weiß ich… zu prosaisch.«

Julia nickte. »Das ist… Das stimmt. Ich kann mir gutvorstellen, dass Nel uns alle vor ein großes Rätsel stellenwollte… Sie liebte Geheimnisse. Und sie hätte zu gern imMittelpunkt eines Geheimnisses gestanden.«

Am liebsten hätte ich ihr eine runtergehauen. DummeZiege, hätte ich gern zu ihr gesagt, das ist auch deineSchuld.

Die Detective begann herumzuhantieren, schenktejedem ein Glas Wasser ein und versuchte, mir eins in dieHand zu drücken, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus.Mir war klar, dass ich gleich losheulen würde, und daswollte ich auf keinen Fall vor ihnen tun.

Ich lief in mein Zimmer und schloss die Tür und fingerst da an zu weinen. Ich wickelte mich in meinen breitenSchal und weinte, so leise ich konnte. Ich hab mich so be-müht, standhaft zu bleiben, auf keinen Fall wollte ich ein-knicken und mich gehen lassen und die Fassung verlie-ren, weil mir klar war, dass es nie wieder aufhören würde,wenn es erst mal angefangen hätte.

Ich hab versucht, die Worte wegzudrücken, aber sie

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kreisen endlos in meinem Kopf: Verzeih mir verzeih mirverzeih mir, es war alles meine Schuld. Ich starrte immerweiter auf die Zimmertür und durchlebte dabei immerwieder den Augenblick am Sonntagabend, als Mum inmein Zimmer kam und mir eine gute Nacht wünschte.»Was auch passiert«, sagte sie, »du weißt, wie sehr ichdich lieb hab, Lena, das weißt du doch?« Ich drehte michum und drückte mir die Kopfhörer in die Ohren, aber ichwusste genau, dass sie immer noch dastand, ich konntespüren, wie sie dastand und mich ansah, es war, alskönnte ich ihre Trauer spüren und als würde ich michdarüber freuen, weil ich das Gefühl hatte, sie hätte dieseTrauer verdient. Ich würde alles, einfach alles tun, nur umnoch einmal aufstehen und sie umarmen und ihr sagenzu können, dass ich sie auch liebe und dass es nicht ihreSchuld gewesen ist, dass ich nie hätte sagen dürfen, dassalles ihre Schuld wäre. Wenn sie an irgendetwas schuldwar, dann war ich es ebenfalls.

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Mark

Es war der heißeste Tag des Jahres bisher, und nachdemder Drowning Pool aus naheliegenden Gründen tabu war,ging Mark ein Stück weiter flussaufwärts schwimmen.Direkt vor Wards’ Cottage gab es einen Abschnitt, wo sichder Fluss verbreiterte, wo das Wasser am Rand schnellund kühl über die rostfarbenen Kiesel plätscherte, in derMitte aber tief und so kalt war, dass einem kurz der Atemstockte und die Haut brannte; die Art von Kälte, bei derman vor Schreck laut auflacht.

Und tatsächlich lachte er laut auf – es war seit Mo-naten das erste Mal, dass ihm zum Lachen zumute war.Und seit Monaten das erste Mal, dass er im Wasser war.Für ihn hatte sich der Fluss von einem Ort des Ver-gnügens in einen Ort des Grauens verwandelt, dochheute war der Schalter wieder in die andere Richtunggekippt. Heute fühlte sich das Wasser wieder gut an.Schon als er aufgewacht war, mit leichterem, klareremKopf und fühlbar weniger angespannt, hatte er gewusst,dass heute ein guter Tag sein würde, um schwimmenzu gehen. Gestern hatten sie Nel Abbott tot im Wassergefunden. Heute war ein guter Tag. Es war weniger, alswäre ihm eine Last von den Schultern genommen wor-den; es war eher so, als hätte sich ein Schraubstock – dergegen seine Schläfen gedrückt und seine geistige Ge-

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