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Herder und der Sprachlaut Erich Funke PMLA, Vol. 67, No. 7. (Dec., 1952), pp. 989-1010. Stable URL: http://links.jstor.org/sici?sici=0030-8129%28195212%2967%3A7%3C989%3AHUDS%3E2.0.CO%3B2-W PMLA is currently published by Modern Language Association. Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of JSTOR's Terms and Conditions of Use, available at http://www.jstor.org/about/terms.html. JSTOR's Terms and Conditions of Use provides, in part, that unless you have obtained prior permission, you may not download an entire issue of a journal or multiple copies of articles, and you may use content in the JSTOR archive only for your personal, non-commercial use. Please contact the publisher regarding any further use of this work. Publisher contact information may be obtained at http://www.jstor.org/journals/mla.html. Each copy of any part of a JSTOR transmission must contain the same copyright notice that appears on the screen or printed page of such transmission. JSTOR is an independent not-for-profit organization dedicated to and preserving a digital archive of scholarly journals. For more information regarding JSTOR, please contact [email protected]. http://www.jstor.org Sat May 26 14:20:49 2007

Herder und der Sprachlaut Erich Funke PMLA, Vol. 67, No. 7 ...hegel.net/articles/Herder/Funke1952-Herder und der Sprachlaut.pdf · Kühnemann, Gillies, und anderen Herderbiographen

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Herder und der Sprachlaut

Erich Funke

PMLA, Vol. 67, No. 7. (Dec., 1952), pp. 989-1010.

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http://www.jstor.orgSat May 26 14:20:49 2007

HERDER UND DER SPRACHLAUT

UNTER den großen deutschen Schriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts hat sich keiner gründlicher und umfassender mit dem

Problem der Sprache befaßt als Herder.' Nicht nur in seiner berühmten Preisschrift vom Ursprung der Sprache, in der er Süi3milchs Wunder- theorie zurückweist und den natürlichen Ursprung der Sprache und ihre organische Entwicklung im Zusammenhang mit der Entwicklung des menschlichen Geistes verficht, sondern auch in zahlreichen anderen seiner Schriften behandelt er das Wesen der Sprache und kommt immer wieder, bald in systematischer Darstellung, bald in eingestreuten geistvollen Bemerkungen, auf dieses ihm am Herzen liegende Problem zurück.

Der allgemeine Charakter der Herderschen Sprachtheorie ist im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner Philosophie von Haym, Kühnemann, Gillies, und anderen Herderbiographen einleuchtend dargestellt worden. Wilhelm Sturm hat den Entwicklungsgang der Herderschen Sprachphilosophie zum Gegenstand einer allerdings sehr einseitigen Sonderuntersuchung gemacht. Auch auf E. Sapirs wertvolle Abhandlung über Herders 'Ursprung der Sprache' sei hingewie~en.~

Es erscheint jedoch notwendig, die Rolle des Sprachlautes an sich in Herders Auffassung von der Sprache näher zu beleuchten und zu zeigen, wie sich gerade von diesem Gesichtspunkt aus wesentliche Einblicke in seine linguistischen, kulturphilosophischen und aesthetischen Ansichten, ja, in das tiefste Wesen seiner Persönlichkeit gewinnen lassen.

Sehr bezeichnend beginnt er seine Abhandlung vom Ursprung der Sprache mit den Worten: "Schon als Tier hat der Mensch Sprache." Freilich besteht diese "Sprache" aus hervorgestoßenen Lauten, die Ausdruck bloßer Gefühle sind, aber schon der Mitteilung dienen und sich nach den Gefühlsarten (Freude, Schmerz) differenzieren. Diese Sprache der Empfindung ist unmittelbares Naturgesetz und besitzt so viele Tonarten, als es Gattungen der Fühlbarkeit gibt. Sehr einfach sind diese Töne und in ihrer Lautform höchst ausdrucksvoll ("Die Töne reden nicht viel aber stark"). Wie schwach aber wirken sie, wenn sie-soweit sie artikulierte Interjektionen sind-"aufs Papier hinbuch-

Die Zitate aus Herders Schriften stammen vorwiegend aus Herders S8mmtliche Werke, hg. von Bemhaid Suphan (1877-1913). Diese Ausgabe wird als W zitiert.

W. Sturm, Herders Sprachphilosophie in ihren Enlwicklungsgängen, 45 Bd. (Breslauer Beiträge, 1915); vgl. auch G. Conrad, Herders Sprachproblern im Zusammenhang der Geistesgeschichte (Berlin, 1929); F. Lauchert, "Die Anschauungen Herders über den Ur-sprung der Sprache," Euphorion, I (1894); E. Sapir, "Herders Ursprlmg der Sprßche,'' MP, V (1907).

990 Herder und der Sprachlaut

stabiert" werden. Die entgegengesetztesten Empfindungen sind dann ununterscheidbar: "das matte Ach! (zerschmelzende Liebe, sinkende Verzweiflung), das feurige O! (Ausbruch plötzlicher Freude, auftretender Wut, steigender Bewunderung, zuwallendes Jammern) werden zum gemalten, willkürlichen Buchstaben,'' der jeden Zusammenhang mit der lebendig wirkenden Natur verloren hat.

Schon hier zeigt sich die tief organische Auffassung Herders vom Wesen der Sprache, von ihrem lebendigen Sein im Sprachlaut und von dem tötenden Einfluß des geschriebenen Wortes.

Die Laute des Tieres-und "alle Tiere fast bis auf den stummen Fisch, tönen ihre Empfindungen"-sind freilich noch nicht menschliche Sprache, selbst in ihren (der Sprache) einfachsten Anfängen. Erst wo der Laut Ausdruck eines Begriffs wird, wo dieser Laut mit Absicht gebraucht wird, können wir von menschlicher Sprache reden, und diese vernunftbestimmte Sprache ist dem Menschen so wesentlich als er ein Mensch ist.

Nicht die bessere Artikulationsfähigkeit der Sprachwerkzeuge, die auch der Orang-Utan besitzt, befähigt ihn zur Sprache. Auch die leeren Wortschälle des Stares und Papageis sind nicht Sprache. Erst der Mensch, "in den Zustand der Besinnung gesetzt," hat Sprache e r f ~ n d e n . ~

Wiederholt betont Herder die Wichtigkeit des Ohres für die Sprachent- wicklung. Das Ohr ist ihm der erste Lehrmeister der Sprache. Das Auge ist das Organ des Sehens, des kältesten Sinns, das Ohr der Sitz des Hörens, des warmen, dunklen, dem Gefühl nahen Sinnes.' Durch das Gehör empfängt der Mensch die Sprache der lehrenden Natur, es ist der mittlere seiner Sinne, wie die grüne Farbe, die Mittelfarbe des Gesichts ist. Das Gehör ist die eigentliche Tür zur Seele und das Ver- bindungsband der übrigen Sinne geworden, und nichts ist stärker, ewiger, schneller und feiner als die Gewohnheit des O h r e ~ . ~

Die große Bedeutung, die Herder dem Gehör im Entwicklungsgange der menschlichen Sprache zuweist, unterstreicht die Wichtigkeit des Lautes in seiner Sprachphilosophie.

Die tönende Natur, die der Mensch durch das Ohr wahrnimmt und

Ablmndlung &ber den Ursprung der Sprache (W, V, 66). Das Auge nennt Herder den äußerlichsten und oberflächlichsten Sinn, es ist ihm aber

auch der schnellste umfassendste und hellste. Es umschreibt, teilt, bezirkt und mißt für alle anderen Sinne. Das Ohr dagegen ist ihm ein zwar tiefdringender, mächtig erschüt- ternder aber auch sehr abergläubiger Sinn. In seinen Schwingungen empfindet er etwas Unzählbares, Unermeßliches, das die Seele in süße Verzückung versetzt, in welcher es kein Ende findet. Briefe zur Beförderung der Humanaet, 83 (W, x m ,27).

6 Über Ossian (W,V, 165),vgl. auch Joh. Brändle, Das Problem der Innerlichkeit-Ha- mann, Herder, Goethe (Bern, 1950), S . 60-62.

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deren Töne er als Merkmale der Wesen unterscheiden lernt, wird ihm Sprachmeisterin. Er hört das Schaf blöken, er erkennt es wieder am Blöken, und es wird ihm das Blökende. Der Baum wird ihm der Rauscher, der West der Säusler, die Quelle der Riesler. I n Nachahmung dieser Schälle und mit Hilfe seiner Sprachwerkzeuge schafft er sich ein erstes li7örterbuch, das aus den Lauten der Welt gesammelt ist.

Eine Sprache in ihrer Kindheit bringt, wie ein Kind, einsilbige, rauhe und hohe Töne hervor. Ein Volk in seinem ursprünglichen Zustande starrt die Welt in Furcht und Schrecken an und drückt diese Empfin- dungen durch Töne und Gebärden aus. Seine Sprachwerkzeuge sind noch ungebraucht, deshalb sind die Töne des frühen Menschen mächtig an Akzenten, d.h. heftig und stark; seine Sprache ist für Auge und Ohr, für Sinne und Leiden~chaften.~

Auch das Auge lehrt den Menschen Sprache, doch in geringerem Maße als das Ohr, und die Gebärde gesellt sich zum Laut oder ersetzt ihn, wo das akustische Symbol nicht ausreicht, das Erlebnis zu ver-mitteln. So sind Laut und Gebärde die Bestandteile der ursprünglichen Sprache.

Der Mensch der Erde ist noch ein Zögling des Ohrs, durch welches er die Sprache des Lichts erst allmählig verstehen lernt (und höhere Geschöpfe müssen es sein, deren Vernunft durch das Auge erwacht, weil ihnen ein gesehenes Merkmal schon genug ist, Ideen zu bilden und sie unterscheidend zu fixieren) .'

Der Sprechapparat mit seinen zarten und komplizierten Teilen, der das Phänomen der gelauteten Sprache erzeugt und dem Gedanken lebendigen Ausdruck verleiht, erregt Herders Bewunderung. "Man kann und muß also die feinen Sprechwerkzeuge als den Himmelsfunken ansehen, der unsre Sinne und Gedanken allmählig in Flammen brachte.''

Stimme und Sprache werden durch kleine Werkzeuge, den Kopf der Luftröhre, einige Knorpel und Muskeln, endlich durch das einfache Glied der Zunge hervorgebracht. "In der schlichtesten Gestalt erscheint diese Tausendkünstlerin aller göttlichen Gedanken und Worte, die mit ein wenig Luft durch eine enge Spalte nicht nur das ganze Reich der Ideen des Menschen in Bewegung setzt, sondern auch alles ausgerichtet hat, was Menschen auf Erden getan haben."

Die Zunge also ist ihm die eigentliche Schöpferin des Ideenreiches des Menschen, ja, aller menschlichen K u l t ~ r . ~

Über die verschiedenen Lebensalter einer Sprache, Fragmertte zur neueren Detdschen Litkratur (W, I , 152) .

Über die Fähigkeit zu sprechen und zu hören (W, xnr, 142). Der Mensch ist zu feineren Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisiert: Ideen zur

GeschicWe der Menscizheit, Viertes Buch, III (W, XIII,140).

Herder und der Sprachlaut

An einer anderen Stelle ist es ihm der schwingende Luftstrom des Mundes, der den Menschen zur Zivilisation geführt hat: "Von einem bewegten Lüftchen hängt alles ab, was Menschen je auf der Erde Menschliches dachten, wollten, taten, tun werden: denn alle liefen wir noch in Wäldern umher, wenn nicht dieser göttliche Athem uns ange- haucht hätte, und wie ein Zauberton auf unsern Lippen s~hwebte ."~

Auch den einzelnen Lauten der Sprache wendet Herder seine Auf- merksamkeit zu; er differenziert sie im rein phonetischen Sinne und wir finden bei ihm schon Ansätze zu einer phonemischen Auffassung. Auch ist er sich der Unzulänglichkeit der Schrift für die Wiedergabe des Sprachlautes wohl bewußt. Er analysiert den Lautstand seiner eigenen Muttersprache und vergleicht ihn mit gewissen Lauteigentümlichkeiten der klassischen Sprachen, des Hebräischen, der romanischen und slavischen Sprachen, ja, des Chinesischen. Auch Tonstärke (respira- torischer Akzent), Tonhöhe (Intonation) und Silbenlänge finden seine Beachtung.

Außer den fünf einfachen Vokalen, die wir gewöhnlich unterscheiden, finden sich nach Herder zahlreiche Übergangslaute, die durch die all- mählige Veränderung der Artikulationsstellungen der Sprechwerkzeuge entstehen. So ergibt sich eine ganze Skala von Vokalen, die außerdem durch Höhe und Tiefe, Länge und Kürze unterschieden sind, und für deren Bezeichnung unsere Buchstabenschrift völlig unzureichend ist. So hört "das stolze, eigensinnige Ohr" denselben Vokal weit seltener wieder- kommen, als ihn das Auge in der Schrift erkennt. Diese Fülle von Vokalschattierungen mildert die ungeheuren Verbindungen unserer Konsonanten ('und bringt reiche Abwechslung der Rede, die der bar- barischen Monotonie entgegenwirkt."

Besonders die e- und i- Laute weisen "reiche Modifikationen der Aussprache'' auf, die unsere Orthographie vergebens auszudrücken versucht, indem sie sie bald als Doppellaute schreibt, wo es sich in Wirklichkeit um einen einheitlichen Laut handelt (ae, Oe, ie) bald durch Hinzufügung eines Konsonanten in ihrer Eigenart zu bezeichnen versucht (eh, ih) und dabei doch der lebenden Aussprache nicht gerecht wird. Er klagt, daß die Schreibungen Meer und mehr, zehn, Zehen, Zähn, zähe in ihrer Aussprache für einen Ausländer schwer zu bestimmen seien.10 Unzulängliche Schreibung verführt "die deutschen Ionier," ein j statt des U zu sprechen. Für die Aussprache des griechischen y, die er als zwischen i und z2 liegend vermutet, sei unsere Zunge zu schwer.

Die zahlreichen Hauchlaute des Deutschen empfindet er als einen

Das sonderbare Mittel zur Bildung des Menschen ist Sprache: Ideen s.C.d.M. (W, xm,355).

l0 Beschluß über das Ideal der Sprache: Fragmede (W, I, 232).

Lrz'ch Funke

Gewinn, denn sie tragen "zum Lieblichen der Rede" bei. Er preist diese Laute seiner Muttersprache in hochpoetischen Ausdrücken, wenn er sie den "zärtlichen Worten des Liebhabers" vergleicht, oder einem "West, der einen wollüstigen Tag kühlt, hier den Blumen schmeichelt, dort duftende Blühten verweht, dort angenehm durch die Saaten rauscht, und hier den Liebling zum Ruß anglüht." Unsere '(lieblichen, zärtlichen, angenehmen Wörter empfehlen sich alle durch ein sanftes h oder ch, das uns die rauheren Völker so übel nachsprechen können."

Das h bezeichnet er, nicht unrichtig, als die Grenze zwischen Vokal und Konsonant (denn in Wirklichkeit ist der h-Laut gehauchter Vokal, der konsonantische Funktion hat). Auch bei den Griechen spielte dieser Laut eine bedeutende Rolle, besonders als Anlaut des Ypsilon. Reicher noch sei das Hebräische an Aspiranten gewesen, deren eigentliche Natur für uns heute nicht mehr zu bestimmen sei. Die Römer haben das h oft den Griechen nachgebildet, selbst wo es im Lateinischen eigentlich keine Berechtigung habe. Quintilian weise auf den griechischen Ursprung der Formen haedus und hircus hin, die seine Vorfahren noch als aedus und ircus ausgesprochen hätten. Cicero ärgerte sich über die spirantische Aussprache der Wörter pulcher und triumphus (statt pulcer und tri- umpus), die er dem volkstümlichen Geschmack gemäß gebrauchen mußte. Auch in der Schreibung chorona und praecho habe das über- flüssige h Quintilians Zorn erregt. Später, unter dem Einfluß der nörd- lichen Invasion, sei der Laut wieder aus dem Italienischen und Franzö- sischen geschwunden, doch habe er sich im Deutschen als einer "Original- mundart" erhalten und mildere seine "Barbarei der Konsonanten."l1

Die schwachen Endungen des Deutschen, die die Stärke seines Klanges beeinträchtigten, z.B. in den fallenden Rhythmen solcher Wörter wie Liebe, Ehre, Frömmigkeit, Ehrlichkeit, bedauert Herder und stellt ihnen Wörter gegenüber, die in andern Sprachen wie fröhlicher Aufruf klingen: Amor, onor, pietd, honestdd. Auch verwirft er unsere scharfen Zischlaute (s und sch) und warnt vor affektierter Aussprache des e wie in öhrlich und Öhre.12

Er wünscht dem Deutschen eine klare Akzentbezeichnung, damit lächerliche Verwechslungen vermieden werden, wie etwa zwischen Ge- spenstern und Gespgn-stern, verg-lich und ver-glich, Enterbt-ter und Ent- erbeter. Auch weist er auf die Bedeutungsunterschiede bei betonter und unbetonter Vorsilbe hin, z.B. in unterhdl-ten und dn-terhalten, übersetz-en und 4-hersetzen. Da wir kein einheitliches Zeichen für den Sch-Laut haben, könne es wohl vorkommen, dai3 ein Fremder Ges-chmack lesen möchte. Besonders unzulänglich seien unsere Schriftzeichen aber für die

Fragmente über die Eigenheit unserer Sprache: Fragmenfe (W, II, 34-35). l2 Briefe den Charakter der Sprache betrejend, Erster Brief-Antwort (W, XXIV, 389),

994 Herder und der Sprachlaut

Wiedergabe fremder Wörter und Eigennamen, wie sich in zahlreichen Reise- und Erdbeschreibungen leicht feststellen lasse.13

Herder verteidigt die deutsche Sprache gegen den Vorwurf der konsonantischen Überhäufung, der ihr oft von anderen Völkern gemacht werde, besonders von Franzosen und Italienern, die sich durch ihre "schlüpfende Mundart" groc tun, häufige Elisionen gebrauchen und in ihrer "gleitenden Fortschiebung der Töne keinen gewissen Tritt" haben. Das Deutsche sei unter einem nordischen Himmel gewachsen und unsere "härtlichen Sprachwerkzeuge" bringen die Silben langsamer hervor. Aber dies gebe unserer Sprache einen abgemessenen, sicheren Ton, einen vollen Klang und vernehmlichen, festen Tritt, der sich nie über- stürzt und der mit Anstand schreitet wie ein Deutscher. So erkennt uns ein horchendes Ohr auch in der Sprache an dem Rauschen unserer Flüsse und an dem unübereilten Takt unserer Tritte und wird hören, wer wir sind.

Dann stellt er dem Deutschen auf der einen Seite das Griechische gegenüber, das außer langen und kurzen (Quantität) auch hohe und tiefe Akzente (musikalischer Akzent) habe, Sang und Klang sei und wie ein Saitenspiel in dem reinen Äther des hohen Olymps töne, und dem gegenüber unsere Sprache wie eine Flöte unter einem bewölkteren und niederen Himmel dumpfer töne. Das Deutsche stehe in einer glücklichen Mitte zwischen dem Griechischen und den östlichen-den "sarma-tischenU-Sprachen, die "die Worte herausröcheln," und den "See-nationenV-er denkt wohl an die Holländer-die "in heiserem Ton dämmern," oder unseren romanischen-Herder nennt sie unsere "sy-baritischen'-Nachbarn, die die Worte mehr "hervorglitschen" und ferner den Engländern, die mit "verschlucktem Tone" reden, oft ohne die Lippen zu bewegen.

Unsere Sprache findet er stark und zurückprallend, nicht aber rauh und unaussprechbar. Sie erscheint ihm wie das Volk, das sie spricht, und nur Weichlingen furchtbar und schrecklich.

Sie ist ihm Bardengesang, und wir brauchen uns unserer Konsonanten nicht zu schämen, die die Schlagtöne unserer Tapferkeit sind, um Götter und Stammväter, die Helden und Erretter unseres Volkes zu preisen und in eigenem Ton Schlacht- und Siegeslieder zu singen.

Um die Fülle der Konsonanten auszugleichen, haben wir häufiger stärkere Vokale oder Diphthonge als unsere Nachbarn, besonders aber als die Franzosen, denen Diphthonge unbekannt sind.14

So gibt Herder eine treffliche, obgleich poetisch zuweilen übersteigerte Charakteristik der Lautform des Deutschen und seiner Nachbarsprachen,

l3 Fragmente (W,I , 232). Fragmente (W,11, 31-33).

Erich Funke

die wir auch heute noch in mancher Hinsicht als gültig anerkennen dürf en.I5

Der Hinweis auf unsere "härteren Sprachwerkzeuge," die sich unter dem nordischen Himmel entwickelten, weist auf Herders Grundan-schauung hin, daß Klima und Landschaft wesentlich den Charakter einer Sprache (wie einer Kultur) bestimmen.

Die Pflege einer reinen Aussprache des Deutschen liegt ihm sehr am Herzen, und hier setzt Herder die Bemühungen des sonst befehdeten Gottsched fort, der das Meißnische als Muster des gesprochenen Deutsch aufgestellt hatte. Herder fühlt, daß eine gute einheitliche Aussprache des Deutschen nur erzielt werden könne, wenn sich die Fürsten und der Adel sowie die Gebildeten allgemein darum bemühen und das Vorbild liefern: Es erscheint ihm billig, daß die deutschen Fürsten die deutsche Sprache verstehen, rein sprechen und lieben, und daß der deutsche Adel und jede andere feine Gesellschaft ihr die Biegsamkeit und den Glanz geben, der die französische auszeichnet. Dies könne nur geschehen, wenn unsere Schriftsprache immer mehr die Sprache der guten Gesellschaft und des öffentlichen Vortrages werde, während sie bisher beinahe nirgends rein gesprochen werde. Er nennt sie ein künst- liches Gewächs, das sich durch den Einfluß bedeutender und bekannter Schriftsteller aus den Mundarten mehrerer deutscher Landesteile allmählig gebildet habe. Ein Landesteil habe mehr Anteil daran als der andere, aber keiner dürfe sich eines ausschließlichen Vorzuges rühmen.16

Herder hat selbst wesentlich dazu beigetragen, diese gesprochene Einheitssprache zu schaffen, ebenso wie sein großer Schüler und Freund Goethe. Ihre endgültige Formulierung sollte sie erst gegen Ende das 19. und im Anfang des 20. Jahrhunderts in den Bemühungen um die deutsche Bühnenaussprache und die deutsche Hochsprache finden.

Mit seinem Lehrer Hamann glaubt er, daß Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechts sei, wie wir denn immer wieder in Herders Darlegungen über die Sprache die dunkle Stimme des Magus und besonders Anklänge an dessen Kreuzzüge eines Philologen oder an die Sokratisclzen Denkwürdigkeifefi zu vernehmen glauben.

Nachdem der Mensch aus seinem Zustand der Tierheit erwacht war und den Schrecken vor der Natur allmählig verloren hatte, milderte sich der Schrei der Leidenschaft mit den biegsamer werdenden Sprech- werkzeugen. Man sang also, wie viele Völker es noch tun (Herder denkt

l5 Auch seine Seefahrt im Jahre 1769 brachte Herder mit einer Reihe europäischer Sprachen in unmittelbare Berühning, die er eindrucksvoll in seinem Reisejournui schildert (W, IV, 422423).

l6 Idee zum ersten pa$riotisckeit Institzlt fiir den Allgeineingeist Dedschlands (1787) (W, xvr,604-605).

Herder und der Sprachlaut

hier wohl an die Tonalsprache der Chinesen und anderer Nationen), und mit der verschwindenden Wildheit wurde die Sprache milder-"der Gesang der Sprache floß lieblich von der Zunge herunter, wie dem Nestor Homers, und säuselte in die Ohren."l7

Dieses jugendliche Alter der Sprache nennt er das Poetische. Man sang im gemeinen Leben, und der Dichter erhöhte nur seine Akzente in einem für das Ohr gewählten Rhythmus. Diese beste Blüte der Jugend der Sprache war die Zeit der Dichter, in der die aotdor und pa+udor

sangen. Noch gab es keine Schrift und Schriftsteller, alles war auf den Laut gestellt, und so verewigten sie die merkwürdigsten Taten durch Lieder.18

Die ältesten Sprachen hatten noch viel lebendigen Ausdruck, denn sie waren unmittelbar nach der lebendigen Natur und nicht nach will- kürlichen toten Ideen gebildet. So hatten sie "nicht bloß einen nach- drücklichen Gang für das Ohr, sondern waren leicht imstande, mit dem Wirbelwinde zu rasen, in der Feldschlacht zu tönen, mit dem Meere zu wüten, mit dem Fluß zu rauschen, mit dem einstürzenden Felsen zu krachen und mit den Tieren zu ~prechen.'"~

Das Jugendzeitalter der Sprache ist ihm daher das klanglich und poetisch schöpferische. Erst mit der Rationalisierung der Sprache ver- blaßte sie, und die Schrift gab der echten Poesie den Todesstoß.

Je näher die Sprache ihrem Ursprung ist, desto saftiger und kraftvoller ist sie: "Unsere Klangworte sind oft auch Machtworte: an diesen sind wir noch reich; aber reicher und stärker gewesen.'' Der junge Goethe schreibt sich diese bedeutenden Worte des älteren Freundes und Mentors in sein T a g e b ~ c h . ~ ~

Gottsched, der Erzrationalist, hatte keinen Sinn mehr für die Blutfülle der älteren Dichtung; Herder wirft dem längst entthronten und bereits begrabenen Diktator vor, daß er nicht nur die altdeutschen Schriftsteller in ihrer inneren Stärke nicht verstanden, sondern daß er auch unsere Sprache überhaupt entnervt habe.21 Denn Gottsched war ein Augen- philologe, und die Dichtung war ihm nicht in ihrer kraftvollen Lautform sondern nur in ihrem toten Buchstabenkleid zugänglich. Nicht das Herz berauschte sich an ihrem lebendigen Wohllaut, sondern der trockene Verstand sezierte sie, wie man einen Leichnam zerlegt.

Man unterschätzt Herders große kritische Leistung, wenn man über- sieht, daß es ihm dabei in erster Linie um die Schallform der Dichtung zu tun war: "Wahrlich! die schönsten und edelsten Klangworte unserer

l7 F~agmePtte(W, I , 153). ' 6 Ibid. (W, I, 154). I* Ibid. (W, 11, 71). 20 Fragmente (W, n, 40); E. Funke, "Goethe und die gesprochene Sprache.'' GR, x ~ v ,

ii (1939), 101 ff. 21 Fragmente (W, II, 40).

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Sprache sind erschaffen, wie ein Silberton, der in einer reinen Himmels- luft auf einmal ganz hervortritt: sie wurden bei ihrer Geburt in das süße Meer des Wohllauts getaucht, und sind, wie im lebendigen Gefühl der Sache gebildet. Wohl den Schriftstellern unter uns, die da schreiben, als ob sie hören, die da dichten als ob sie ~ ä n g e n . " ~

So wird ihm die heimische Dichtung rhythmisch gestalteter Laut; so wendet er der Klangform des Volksliedes ebenso wie der griechischen und hebräischen Poesie seine Aufmerksamkeit zu und bricht mit diesen Untersuchungen Bahn für die große Entwicklung der deutschen Dich- tung der folgenden Generationen.

Immer wieder kehrt er bei den Griechen ein, deren Sprache und Poesie ihn mit süßer Wonne erfüllen, und mit Vorliebe wendet er sich dem Ju- gendalter der hellenischen Kultur zu. Wir knüpfen hier an die obigen Ausführungen an.

Lange Zeit, stellt er fest, war bei den Alten singen und sprechen (av8av, aet8ctv) und das nachgebildete Wort (canere) einerlei. Orakel sangen und die Stimmen, die der Gott sang, hießen Aussprüche (+a~a ) , die Gesetze sangen und hießen Lieder (voPor), die Weissager, die Dichter sangen, und was sie sangen, hießen Reden (snea); Homers Helden sprechen lauter geflügelte Worte (mea rrcpoevra), und seine Volksältesten sind "Heuschrecken gleich, die auf den Bäumen im Walde sitzen und an- genehmen Laut geben."

Dann wendet sich Herder dem gesprochenen Griechisch zu, das in seiner klangvollen Eigenart der rhythmischen Formgebung des Dichters entgegenkam. Im gemeinen Leben sprach der Grieche die Worte in höherem Ton, der nicht nur lange und kurze Akzente, sondern auch hohe und niedere Silben deutlich hören ließ. Der Rhythmus der Sprache war heller (musikalisch lebendiger) und diese rhythmischen Falltöne charakterisierten die Sprache, die, ehe sie in Bücher gefesselt wurde, noch ganz singende und redende Natur war, die sich dem Hexameter ohne Mühe fügte, ja ihn verlangte.

Homers Gesänge sind ganz auf den Laut gestellt. Sie sind nicht gedich- tet, gelesen zu werden; sie wurden gesungen und sollten gehört werden. Und für den Sänger war der Hexameter gemacht. Nie konnte, nie durfte er stocken; der Gesang zog ihn mit sich hin, sein Rhythmus trug ihn wie ein freies Element. So sang er seine Sage unendlich fort. Der Rhapsode verknüpfte die Gesänge und trug sie lebendig vor. So entstand das Pracht- werk, das Solon in Athen einführte und das er reihab zu singen befahl, indem ein Sänger den anderen ablöste. Alle fünf Jahre wurde das Werk so bei den Panathenaen vorgetragen.

Ibid. (W,n, 72).

Herder und der Sprachlaut

Auf die höchst lebendige Art dieses Vortrages geht Herder wiederholt und mit feinem Verständnis für die dem Vortragenden gegebene psy- chologische Situation ein. E r weist darauf hin, wie sich Text und Stil eines Werkes änderten, wenn es in Asien, auf den Inseln, in Alt- und Großgriechenland gesungen wurde, and wie sich der Sänger dem Ohr des Volkes jeweils bequemen mußte, wenn er dessen Beifall finden wollte: "Jedermann, der es versucht hat, weiß, was die lebendige Gegenwart einer Versammlung dem Sprechenden für Gesetze auflegt; hier kann er nicht alles sagen, was er dort sagen konnte, er kann es nicht auf dieselbe Art sagen.''

Der Zweck des Rhapsoden war, mit der Versammlung gleichsam ganz eins zu werden, und aus seiner in ihre Seelen homerische Begei- sterung hinüberzuströmen. Die griechische Lebhaftigkeit im Vortrage, im Erzählen und im Extemporieren erdichteter Geschichte machte ein steifes Rezitieren auswendig gelernter Verse undenkbar; ließe sich doch kaum eine Geschichte, zumal im Feuer der Beredsamkeit, zweimal mit denselben Worten erzählen. Noch heute ließe sich diese hinreißende Art des Vortrages in Griechenland und anderen Mittelmeerländern beob- achten, wie sich aus vielen Reisebeschreibungen ersehen lasse. Als Bei- spiel führt er Woods Bericht an: "Ich habe oft die theatralische Deklama- tion der italienischen und orientalischen Dichter bewundert, wenn sie unter freiem Himmel Gedichte hersagen und jeden Gegenstand, den sie beschreiben in einer eingebildeten Szene zeigen, die sich ihre Phantasie den Augenblick schafft, zugleich aber sich jedes natürlichen Vorteils der Gegend bedienen, der sich auf ihren Gegenstand anwenden läßt, wodurch sie ihr Gedicht mit dem Ort, wo sie rezitieren, in Verbindung

Wenn wir Homers Vers, ja überhaupt griechische Dichtung erlebend verstehen wollen, müssen wir uns diesen hellen Rhythmus, diesen leben- digen Vortrag vor die Seele zurückrufen. Die griechische Sprache stützte sich damals auf eine lebendige Deklamation, die für uns Moderne aus- gestorben ist, und die ihr damals Geist und Leben gab. Wenn er den Homer lese, gesteht Herder, so stehe er im Geiste in Griechenland auf einem versammelten Markte und stelle sich vor, wie der Sänger 10im Plato, die Rhapsodien seines göttlichen Dichters ihm vorsinge: "Wie die Corybanten, von der Melodie des Gottes, der sie begeistert, entzückt, ihre trunkene Freude in Worten und Geberden zeigen, so begeistert ihn Homer, und macht ihn zum göttlichen Boten der Götter."24

Den Rhythmus des ganzen Homer empfindet Herder wie einem Sil- berton, der sich in Wirbeln und Wellen und Kreisen durch die Luft

Homer ein Gilnstling der Zeit (W,XVIII, 424, 426, 442). 24 Fragtnenle (W,I , 175-176).

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fortarbeitet; Kreis umschließt Kreis, Welle schlägt Welle, Wirbel er-greift Wirbel, so wird der Schall zu unserem Ohr f ~ r t g e t r i e b e n . ~ ~

Der Hexameter wie überhaupt die polymetrischen Silbenmaße der Griechen waren ihrer Sprache natürlich, waren ihrer singenden Deklama- tion gemäß. Auch die Tragödien des Aeschylos und Sophokles wurden auf der Bühne durchaus abgesungen. Die Sprache stützte sich also durch- aus auf diese Art der Deklamation, die für uns gestorben ist.

So bemühen wir uns vergeblich, die griechischen Versmaße nachzuah- men, die unserer Sprache durchaus nicht mehr gemäß sind.

Ein Grieche, der in unser Trauerspiel träte, an die musikalische Stimme des seinigen gewöhnt, müßte ein trauriges Spiel in ihm finden:

Wie wortreichstumm, [würde er sagen,] wie dumpf und tonlos. Bin ich in ein geschmücktes Grab getreten? Ihr schreit, und seufzt und poltert! bewegt die Arme, strengt die Gesichtszüge an, raisonniert, deklamiert; wird denn eure Stimme und Empfindung nie Gesang? Laden eure Silbenmaße, ladet euer Jam- bus euch denn nie ein zu Aksenten der wahren Götterspraclie?

In Athen war's anders. Unser Theater erklang von Jamb und Trochäus, von Choriamb und stürmenden Anapästen. Versucht's und leset sie laut. Ob unsere Aussprache, unsere Deklamation, Aktion und Musik euch gleich verloren sind, eure Kammer wird euch zu eng, euer Haus voll schallender Luftgenüsse, indem ihr sie nur lest. Denkt euch dies bestimmt fortgehende, immer wechselnde Melos, unterstützt jetzt von Flöte, jetzt von andern Instrumenten, wie es Szene und Leidenschaft forderten; hört es im Geist und verstummt über eure verstummte Bühne.-Das Drama (W, XXIII,347).

Sehr bezeichnend, wie Herder hier den ganzen akustischen Eindruck des griechischen Schauspiels lebendig zu machen weiß, wie er die blüh- ende farben- und tonreiche Darstellung des hellenischen Dramas mit der monotonen und abgeblaßten Bühne seines Volkes und seiner Zeit vergleicht, und wie er seine Zeitgenossen auffordert, sich die griechischen Verse (in der Ursprache) laut vorzulesen, um eine Ahnung von ihrer Kraft und Schönheit zu erhaschen. Von den "vieltrittigen" griechischen Silbenmaßen ist uns nichts geblieben. So bemühen wir uns vergeblich, diese reichen Metren nachzuahmen, für die unsere Sprache nicht geeignet ist, denn wir haben den musikalischen sowohl wie den quantitativen Akzent verloren. Der Jambus allein, der auf Stark- und Schwachton gestützte Versfuß, ist uns angemessen. So empfiehlt Herder diesen Vers-"das Brittische oder Miltonische Versmaß,"-in dem sich schon Kleist, Gleim und Weiße (er hätte auch Wielands Namen hinzufügen können) ausgezeichnet hätten, als den für unser Ohr geeigneten Vers, der wohl geeignet sei, den den Franzosen nachgeäfften, eintönigen Alex- andriner zu ersetzen, und der unserer Dichtung nur zum Guten gereichen

?6 Ibid. (W,n, 77).

1000 Herder und der Sprachlaut

könne. Er findet, daß dieser Vers an innerem Gehalt, an Abwechslung und Deklamation so große Vorzüge besitzt, daß er wünscht, der Blank- vers möge den unnatürlichen Alexandriner ganz aus dem heroischen Trauerspiel er drängen.^^

Herders Wunsch, den er in den Fragmenten zur deutschen Literatur ausdrückt, sollte bald in den Meisterdramen seiner großen Zeitgenossen in Erfüllung gehen, und der Blankvers sollte über ein Jahrhundert die deutsche Bühne beherrschen. Freilich mußten die Schauspieler seiner Zeit erst wieder Verse sprechen lernen, und Goethe und Schiller haben sich redlich Mühe gegeben, ihnen die Kunst der Jambenrezitation auf dem Weimarer Theater beizubringen. So war es Herder wohl noch ver- gönnt, den Nathan, die Iphigenie, die Wallensteintrilogie und wohl auch Maria Stuart von der Weimarer Bühne herab oder gar aus dem Munde der beiden großen Dichter selbst im edlen Fall deutscher Jamben zu hören.

Die große Rolle, die der Parallelismus in der griechischen und hebrä- ischen Poesie spielt, und den er aus der Systole und Diastole des Atmens oder aus einander entgegentanzenden Hirtenchören erklärt, hebt Herder gebührend hervor.

Alle Silbenmaße der Griechen, die die künstlichsten und feinsten sind, die je eine Sprache hervorgebracht hat, beruhen auf Ebenmaß und Har- monie. Der Hexameter, in dem die ältesten Gedichte gesungen wurden, ist den Tönen nach ein fortgehender, nur immer abwechselnder Paral- lelismus. I n der Elegie fügte man zum Hexameter den Pentameter, der in seinen zwei Halbversen ein Parallelismus ist. Während in Griechen- land sich dieser Parallelismus zur vollendeten Form rundet, bleibt er im Orient zwei Perlenschnüren gleich, die sich noch nicht zum Kranze winden, sondern einfach einander gegenüber hängen. Auch den Reim empfindet er als einen fortlaufenden Parallelismus, der nordische Ohren ergötzt.27

Die magische Kraft des gesprochenen Wortes findet Herder beson- ders in Kultformen wirksam, wie etwa im Zend-Avesta. Zend-Avesta ist das lebendige Wort: es ist das lebendige Wort der Magier, wie es in ihren murmelnden Segenswünschen und Gebeten erscheint (W, x x ~ v , 517). Der Schall des Wortes Horn selbst war der inartikulierte, anrufende Laut, in dessen Murmelung, in dessen langsames oder wiederholtes Hersagen mehrere Morgenländer, vor allem aber die Parsen, den zwingenden Geist des Gebetes, des Wunsches und Gelübdes, der Imprekation setz- ten (W, x x ~ v ,561).

Die bedeutendste Leistung einer schöpferischen Kritik, die Herder

26 Fragmenle (W,n, 3638). 2' Vom Geist der Ebräischen Poesie (W,n,236).

Erich Funke 1001

vollbracht hat, war wohl die rechte Würdigung der Volkspoesie, eine Leistung, bei der Rousseau und Hamann Pate gestanden haben. Herders Verdienst liegt in der konsequenten Durchführung seiner Idee vom Wert der Volksdichtung und in seiner umfassenden Sammeltätigkeit, bei der ihm selbst der junge Goethe zur Hand gehen mußte.

Auch hier ist es nicht tote Buchstabenlyrik, die ihn anzieht, sondern die lebendige Schallform der Dichtung, wie sie sich in dem für die Ge- meinschaft bestimmten gesungenen Lied findet: "Lied muß gehört werden, nicht gesehen; gehört mit dem Ohr der Seele, das nicht einzelne Silben allein zählt und mißt und wäget, sondern auf Fortklang horcht und in ihm f o r t s c h ~ i m m t . " ~ ~ Oder er charakterisiert das Wesen des Liedes als Gesang; seine Volikommenheit liege im melodischen Gange tler Leidenschaft oder Empfindung, den man treffend als Weise bezeich- nen könnte.

Gesang liebt Menge und die Zusammenstimmung vieler. Ais Buch- staben- und Silbenkunst, als ein Gemälde der Zusammensetzung für den Leser auf dem Polster oder für das Lumpenpapier sei die Poesie gewiß nicht entstanden, ja, wäre sie wohl nie entstanden. Sie lebte im Ohr des Volkes und auf den Lippen und der Harfe des Sängers (W, xxv, 313-314).

In ihren Erinnerungen berichtet Frau Karoline, da0 Lied und Melodie für Herder unzertrennlich waren, und daß er die Originaimelodien zu den Volksliedern sammelte, die er mit den Liedern herausgegeben haben würde, wenn er diese noch selbst hätte ordnen können.29

Wir dürfen deshalb annehmen, daß ihm beim Bewerten des Volks- liedes immer wieder das musikalische Element in den Sinn kam, das er mit dem Wortrhythmus und dem Inhaltlichen aufs engste verbunden em pfand. Das Lyrisch-Musikalische steht dabei in seiner Wirkung höher als der Sinngehalt des Gedichtes. Deshalb empfindet er es als besonders schwer, Volkslieder in eine andere Sprache zu übertragen und den ganzen Reiz des Originals darin wiederzugeben: "Nehmen Sie eins der alten Lieder, die in Shakespear oder in den englischen Sammlungen dieser Art vorkommen, und entkleiden Sie's von allem Lyrischen des Wohl- klangs, des Reims, der Wortsetzung, des dunklen Ganges der Melodie: lassen Sie ihm blos den Sinn, so, so und auf solche und solche Weise in eine andere Sprache übertragen, ist's nicht, als wenn Sie die Noten in einer Biattseite umwürfen? Wo bliebe der Sinn der Seite? Wo bliebe

28 Volkslieder, zweiter Teil, Vorrede (W, xxv, 332-333). "Herders Leben" (Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder, Ge-

sammelt und beschrieben von Maria Carolina von Herder, geb. Flachsland) in Johann Gottfried von Herders sämmtliche Werke, 11, zur Philosophie und Geschichte, hg. von J. G. Müller (Stuttgart und Tübingen, 1830), 22 Theil, S. 2 0 7 s p ä t e r zitiert als Werke, Philos.

1002 Herder und der Sprachlaut

Pergolese?" Und der sollte nicht sein Freund sein, der bei einem einfältigen, nichtssagenden Liede aus Shakespeare, lebendig gesungen, nichts mitfühlte. Bei der Übersetzung sei alles verloren, wenn es nicht gelingt, den Abdruck der inneren und äußeren Empfindungen, des Sinn- lichen, in Form, Klang, Ton, Melodie, alles des Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem Gesange stromweise in die Seele fließt, ~ i e d e r z u g e b e n . ~ ~

Der Charakter eines Volkes spiegelt sich in den Liedern, die es singt. Je wilder, d.h. je lebendiger, je freiwirkender ein Volk ist, desto wilder, d.h. desto lebendiger, freier, sinnlicher, lyrisch handelnder müssen auch seine Lieder sein. Je weiter es sich von der Natur entfernt, desto künstlicher, d.h. desto papierener, wird seine Poesie (W, V, 164).

Während die südlichen Volkslieder zum Klang der Guitarre kompo- niert sind, klingt ihm in den Liedern nördlich der Alpen der Ton des Hornes, der Trompete und der Harfe wieder. So erklingt es im "Percy von Nordhumberland" und in den alten deutschen Volksliedern, die meistens auf den Ton des Hornes gestimmt und deshalb sehr einfach sind (W, XXIV, 263).

In Ossian findet Herder eine weiche, schwermütige Melodie, die den Charakter der Schotten wiederspiegele. Anders empfindet er die Lieder der Skandinavier, deren Trit t ganz auf Felsen und gefrorene Erde sei. Und jedes ihrer Gedichte sei unmittelbar fürs Ohr bestimmt. Ähnliche Anfangssilben zum Anstoß zum Schallen des Bardengesanges in die Schilde (W, V, 165). So preist Herder poetisch die Kraft des Stabreimes.

Er findet seine Ansichten über Melodie und Vortrag des Volksliedes in einem Schreiben Benjamin Franklins (an seinen Bruder Johann Franklin in Neu-England) bestätigt: "So weit man von den alten Gesängen ur- teilen kann, war ihre Musik einfach und stimmte von selbst in Anse- hung der Mensur, der Kadenzen und des Akzentes U.S.W. mit der ge- wöhnlichen Aussprache der Wörter überein, ohne je durch Verkürzung langer oder Verlängerung kurzer Silben der Sprache Gewalt anzutun. Singen war bei ihnen nichts als eine angenehmne melodische Art zu sprechen. Ihr Gesang war aller Annehmlichkeiten der deklamierenden Prosa fähig, womit er das Vergnügen der Harmonie verband" (TV, XXII, 178).

Neben der einfachen Melodie des Volksliedes und der religiösen Musik wußte Herder auch die großen Meisterwerke der Tonkunst zu schätzen. "Außer den Italienern alter und neuer Zeit wem ward nicht von Händels, Glucks und Mozarts Zaubertönen die ganze Seele bewegt?" schreibt er in der Kalligone IV (Von der Musik) (W, XXII, 184).

Weiterhin bekennt er, daß er die Musik unaussprechlich liebe. Er bedauert, daß er wegen eines unzureichenden Unterrichts in der Jugend

Über Ossian (W,V, 161, 163).

und dem Drange der Geschäfte im späteren Leben bei der empfindlich- sten Seele die ungeschicktesten Hände zum Klavier habe.31 Auch wurde in Herders Haus gern und viel gesungen.32 Selbst im Komponieren ver- suchte er sich und setzte, nach einem Ritt durch eine herrliche, mond- beglänzte Sommernacht, den 23. Psalm in Auch hierin zeigt sich, wie sehr Herder, wenn man so sagen darf, ein Mensch des Ohres war.3"Goethe war bekanntlich vorwiegend ein Augenmensch, obgleich er auch dem Ohr eine wichtige Rolle in der Erfahrung und vor allem in der Gestaltung der Sprache und in der Formung der Dichtung ein- räumte) .35

Dem Volkslied steht die Lyrik überhaupt nahe, der es ja artverwandt ist. Doch während das eigentliche Volkslied gesungen wird, müssen nach Herders Ansicht andere Formen der Lyrik gesprochen werden, jedoch so, daß das dieser Dichtungsart innewohnende musikalische Element dem Hörer zum Bewußtsein kommt. Lyrische Gedichte lese man nicht nur mit den Augen sondern höre sie zugleich, oder lese sie am besten laut einer dem andern vor. So wollen lyrische Gedichte gelesen sein und dazu seien sie ge~chaf fen .~~ "Ein feines lyrisches Ohr muß auch von einer Zunge begleitet sein, die ebenso stolz deklamiert," denn so wie die lyrische Poesie nach Klopstocks richtiger Bemerkung des mei- sten Wohlklangs fähig sei, so nähere sich die lyrische Deklamation der Musik am meisten.

Herder findet, daß sich besonders die Oden der Deutschen besser deklamieren als singen lassen, und er preist den feinen Wohlklang in Ramlers Vortragskunst, der ihm den Wunsch erregt, diesen Arbiter elegentiarum der deutschen Poesie deklamieren zu hören.37

Sein sehnlicher Wunsch ist, Klopstock persönlich nahe zu sein, um dessen große Persönlichkeit auf sich wirken zu lassen und einen Funken von seinem Feuer zu empfangen, um seinen Messias noch einmal von -Angesicht zu Angesicht zu lesen und den Meister selbst lesen und dekla- mieren zu hören und so auch von seinen Silbenmaßen den rechten Be- griff zu erhalten.38

Wer sich so lebhaft für die Schallform der Poesie interessiert wie Herder, dem mußte auch der lebendige Vortrag der Dichtung am Herzen

31 "Herders Leben," Werke, Philos., 20 Th., 166. 32 Kar1 Muthesius, Herders Familienleben (Berlin, 1904), S . 30.

Herders Leben," Werke, Philos. 20 Th., 211. 34 ZU Herders Verhältnis zur Musik vergl. auch H. Günther, Herders Stellung zur Musik

(Leipzig, 1903), und H. von Bojanowski, ((Herder über Musik," GJb, xxx,190 (1919). S5 Funke, a.a.0. (Fußnote 20).

Terpsichore, Vorwort (W, xxvn, 4). 3 i Von der Hormiscl~n Ode (W, I , 460). 38 Journd meiner Reise 1769 (W,IV,434).

1004 Herder und der Sprachlaut

liegen: so finden wir nicht nur in seinem Werk zahlreiche Bemerkungen über dieses Problem sondern erfahren auch, daß er selbst gern aus eigenen und fremden Werken vorlas. Der Klang der menschlichen Stimme, der im lauten Vortrag zur Geltung kommt, bringt uns nicht nur die Poesie höchst eindrucksvoll zum Bewußtsein, sondern ist für Herder auch eines der wichtigsten Mittel unserer Bildung überhaupt.

Schon für den Elementarunterricht betont er (in der Vorrede zu seinem Buchstaben- und Lesebuch für die Weimar'schen Schulen, 1776) das laute Vorbuchstabierern des Lehrers und das laute Buchstabieren mehrerer Schüler zusammen, damit die deutliche Aussprache durch das Ohr in die Seele komme und danach sich allmählig das Auge im Schreiben der Hand gewöhne.39

I n einer seiner Schulreden ("Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen," 1596) empfiehlt er ein lautes Lesen der besten Schriften jeder Art, Erzählung, Fabel, Geschichte, Gespräche, Lehrgedichte, Epopöen, Oden, Hymnen, Lust- und Trauerspiele in Gegenwart anderer oder mit anderen, ohne Zwang und in natürlicher Weise. Von der Fabel, vom Märchen an durch alle Gattungen der Litera- tur sollte das Beste, was wir in unserer Sprache an eigenen Werken wie in guten Übersetzungen aus fremden Sprachen besitzen, in jeder wohlein- gereichteten Schule durch alle Klassen laut gelesen und gelehrt werden. Es sollte keinen klassischen Dichter oder Prosaisten geben, an dessen besten Stellen sich nicht das Ohr, die Zunge, das Gedächtnis, die Ein- bildungskraft sowie Verstand und Witz der Schüler geübt hätte.4O

An anderer Stelle sagt er bezeichnend, daß wir die Zaubergewalt, die eine nlenschliche Stimme und der laute Vortrag habe, nicht zum Spiel mißbrauchen sollten. Auch wenn wir das Prächtigste wissen und lesen, es komme uns eindringlicher zum Bewußtsein, wenn es uns der Freund angemessen und zur rechten Stunde sagt. Die Denkweise derer, die sich selbst lehrten, und derer, die durch einen lebendigen Vortrag nicht nur denken sondern auch sprechen lernten, bleibe entschieden für ihr ganzes Leben. Man höre es einer Schrift an, ob und wie ihr Ver- fasser zu sich und zu anderen s p r a ~ h . 4 ~

Herders eigene Stimme war nicht stark (im Gegensatz zu der Goethes, der schreien konnte "wie zehntausend Streiter"). Nach Karoline hatte er, wie Plato, eine zarte Stimme. Sie findet seine Seelen- und Geistes- eigenschaften in seinem geistvollen Auge und liebevollen Blick wie in

"Regeln für den Schulunterricht," Uber Lesen und Sprechen, Werke,Philos., 10 Th., 276.

40 Schulreden. 28. Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jüng- lingen, 1796 (W, xxx,220).

41 Von der Beredtsamkeit als einer menschlichen Kunst (W, xw,165-166).

Erich Funke 1005

seiner sanften und seelenvollen Stimme unbeschreiblich sUß ausge-drückt .42

Goethe, der uns in Dichtung und Wahrheit (11. Teil, 10. Buch) Herders Persönlichkeit höchst anschaulich schildert, gibt uns in demselben Buch auch einen guten Begriff von Herders Art vorzulesen:

Seine Art zu lesen war ganz eigen: wer ihn predigen gehört hat," wird sich davon einen Begriff machen. Er trug alles und so auch diesen Roman (Goldsmiths Landprediger von Wakejield), ernst und schlicht vor, völlig entfernt von aller dramatischmimischen Darstellung, vermied sogar jede Mannigfaltigkeit, die bei einem epischen Vortrag nicht allein erlaubt ist, sondern wohl gefordert wird: eine geringe Abwechslung des Tons, wenn verschiedene Personen sprechen, wodurch das, was eine jede sagt, herausgehoben und der Handelnde von dem Erzählenden abgesondert wird. Ohne monoton zu sein, ließ Herder alles in eineln Ton hintereinander folgen, eben als wenn nichts gegenwärtig, sondern alles nur historisch wäre, als wenn die Schatten dieser poetischen Wesen nicht lebhaft vor ihm wirkten, sondern sanft vorübergleiteten. Doch hatte diese Art des Vortrages aus seinem Munde einen unendlichen Reiz; denn weil er alles auf tiefste empfand und die Mannigfaltigkeit eines solchen Werkes hochzuschätzen wußte, so trat das ganze Verdienst einer Produktion rein und umso deutlicher hervor, als man nicht durch scharf ausgesprochene Einzelheiten gestört und aus der Empfindung gerissen wurde, welche das Ganze gewähren sollte.

(Werke, W.A. I, 27, 347)

Auch aus anderen Quellen erfahren wir, daß er es liebte vorzulesen. Aus der Rigaer Zeit erzählt der Rigaer Bürgermeister 'IVilpert (in einem Brief a n Karoline aus dem Jahre 1805), wie innigfroh Herder war, wenn er den versammelten Freunden bald ein handschriftliches Fragment aus den damals noch nicht erschienen letzten Gesängen der Messiade, oder eine gute Stelle eines guten Buches oder eine von ihm übersetzte Stelle der damals noch nicht ins Deutsche übertragenen Reisen Yoriks vorlas-wie nur er vorlesen konnte. Karoline erinnert sich des tiefen Eindrucks, den Herders Vortrag von Klopstocks Ode "Als ich unter den Menschen noch war" auf sie machte, die er ihr in der Darmstädter Fasan- erie in der Stille des Waldes mit seiner seelenvollen Stimme aus dem Gedächtnis rezitierte. Auch Goethe las er wiederholt aus seinen Dichtun- gen vor; so glaubt er, daß er ihm zwei oder drei seiner Romanzen rezitiert habe.44

42 "Herders Leben," Werke, Philos., 22. Th. 179 U. 180. 43 ¿%er Herders Kanzelvortrag berichtet einer seiner Weimarer Zuhörer: "Herders aus-

drucksvolles, feines, durchaus sprechendes Gesicht, seine klaren, redenden, lieblichen Augen, das Edle und Schöne seiner Haltung und seines Anstandes, der wohlwollende Ton seiner Stimme, erhöhte den Eindruck, den der Inhalt seiner Predigten machte.'' Werke, Philos., 20. Th. 93. " "Herders Leben," Werke, Philos., 20 Th., 114, 121, 155, 219.

1006 Herder und der Sprachlaut

In der geistvollen Tafelrunde Anna Amalias, wo er Werke Goethes und Wielands aus ihrem eigenen Munde hörte, las er ebenfalls aus seinen eigenen Schriften vor.45

Herders Gespräch war außerordentlich anregend und jederzeit be-deutend, wie wir wieder aus Goethes Munde erfahren, der darüber aus seiner Straßburger Zeit berichtet (D. U. Ur.11, 10 Buch). Alexander Gillies, der Herders Schreibstil unzulänglich findet, bemerkt jedoch: "He was a t best, when delivering his message orally, from the pulpit or in c~nversa t ion ."~~

Dem Sprechen selbst, dem Gespräch wie der freien Rede, mißt Herder große Bedeutung für die Ausbildung der Persönlichkeit des einzelnen sowie für die Entwicklung des Stiles überhaupt, ja, für die Entstehung ganzer Kulturformen bei.

In seiner Abhandlung "Über die Fähigkeit zu sprechen und zu hören" bemerkt Herder: "Wer richtig, rein, angemessen, kraftvoll, herzlich sprechen kann und darf, der kann nicht anders als wohl denken" (W, XVIII, 385-386). Er empfiehlt deshalb, daß der Zögling sprechend denken lerne, wenn Erziehung unsern Geist bilden soll. Um aber sprechen zu lernen, müssen wir hören können, und hören dürfen (wir schrieben auch weniger, wenn wir mehr sprächen).

Nur durch hören lernen wir sprechen, und wie wir in der Jugend hörten, sprechen wir zeitlebens.

Aus Benjamin Franklins Autobiographie notiert er sich: "Wer nicht zu hören versteht, versteht auch nicht zu bemerken, und aus dem Erzäh- len zeigt sich, ob jemand zu hören gewußt habe."47

Ein Mensch, der nicht auf seine Aussprache achtet und seine Form zu sprechen vernachlässigt, ist ungebildet und beeinträchtigt den Ein- druck seiner Persönlichkeit. Manche Menschen behalten nach Herders Ansicht die tierischen Laute der frühen Kindheit durchs ganze Leben, sodaß man bei ihnen aus einer gewissen Entfernung den Truthahn, die Gans oder die Ente, bei anderen den Pfau oder die Rohrdommel, und bei besonders affektierten Sprechern gar den Kanarienvogel zu hören glaube.

In seiner Schulrede "Von der Ausbildung der Rede und Sprache1' zieht er dann besonders gegen den Thüringer Dialekt zu Felde, den die meisten Schüler des Weimarer Gymnasiums sprachen. Er nennt ihn einen

45 ¿%er die allgemeine Lage der Sprechkunst dieses Zeitalters vergl. auch Walter Witt- sack, Studien zur Sprechkultur der Goethezeit, Berlin, 1932 (mit Sonderhinweisen auf Herders Einstellung zum mündlichen Vortrag und auf seine Ansichten über das Deklamieren, S. 4, Fußnote 11).

+I Herder (Oxford, 1945), S. 27. 47 Fragen zur Errichtung einer Gesellschaji der Humaniliü (W,XVII, 10).

Erich Funke 1007

unangenehmen Dialekt bloßer Tierlaute, und er rät den Schülern, sich diese bäuerische oder schreiende Gassenmundart mit ihrem Bellen und Belfern, ihrem Gackeln und Krächzen, mit ihrem Verschlucken und Ineinanderschleppen der Worte und Silben abzugewöhnen und sich auf der Schule eine menschliche, natürliche und seelenvolle Sprache anzueig- nen. Er preist den Jüngling glücklich, der seine Sprache schon in früher Jugend nach guten Vorbildern ausbilden konnte.

Es ist bemerkenswert, daß Herder, der sonst dem Volkstümlichen ein so warmes Interesse entgegenbringt, dem Dialekt hier so ablehnend gegenübersteht. Natürlich muß man hier seine pädagogische Absicht mit in Betracht ziehen.

Neben dem Hören guter Vorbilder empfiehlt er das laute Lesen guter Literatur, auf das schon oben hingewiesen wurde. Auch das Auswendig- lernen guter Dichtung beeinflusse unsere Aussprache und sei ein wirksames Bildungsmittel unseres mündlichen und schriftlichen Aus- drucks.

Am innigsten aber werde Sprache und Rede durch Umgang gebildet. Herder beklagt, daß wir Deutsche uns dieses Mittels fast garnicht bedien- ten und deshalb anderen Völkern als stumme oder ungeschickt sprech- ende grobe Barbaren erschienen. Andere Nationen sprächen ihre Sprache im Umgange korrekt, während der Deutsche wie Shakespeares Amme spreche oder erzähle.

Man lerne auch, was man zu sagen habe, klar und kräftig und in guter Ordnung sagen, vermeide dummes Geschwätz oder lächerliche Redens- arten und spreche nicht stockend und stotternd. Ferner vermeide man störende Eigenheiten beim Sprechen, und lasse sich daraufhin von ande- ren beobachten oder gebe selbst sorgfältig acht darauf. Der Redner soll gesunden Verstand, bestimmte Begriffe, Treue, Wahrheit, herzliche Rechtschaffenheit im Gesicht, in Haltung und Gebärden ebenso wie in seinen Worten und im Ton der Stimme ausdrücken. Es gibt einen Ton des Herzens, der unmittelbar zum Herzen dringt. Wahrheit bilde un- seren Ausdruck auch im Ton der Stimme. So muf3 unsere Rede ganz sein und etwas Ganzes mit Bestimmtheit sagen.48

Wiederholt bedauert Herder, daß der Deutsche im Reden so unge- schickt sei. Er weist auf das Vorbild der griechischen und römischen Redner und, unter den Modernen, auf das Beispiel der Engländer und Franzosen hin, bei denen es eine große Beredsamkeit gebe, die sich aus einer weitgehenden öffentlichen Tätigkeit bei einer freien Verfassung entwickelt habe. Bei diesen Nationen habe man die Rede gepflegt und sich systematisch darin geschult. So habe man laut und lebendig vorge-

Schulrede 28 (W,xxx,217-219).

1008 Herder und der Sprachlaut

lesen. I n Griechenland und Rom hätten sich die gröflten, geschäftereich- sten und wichtigsten Männer bis ins höchste Alter dieser Übung nicht geschämt und diese Schule menschlicher Sprache und Redeübung ange- priesen; sie hätten Anweisungen und Regeln dafür gegeben und sich wetteifernd um die Vervollkommnung der Sprache, der Stimme und der Rede bemüht.

Beredsamkeit wohnte nur da, wo Republik war, wo Beratschlagung die Triebfeder aller Geschäfte war, und wo man es würdig fand, eine Reinheit der Sprache zu pflegen, wie dies nur im Rom und Griechenland der Fall war.49

Mit feinem Urteil unterscheidet Herder den Redestil des Demosthenes und Ciceros. Beide seien Demagogen in einer demokratisch eingerichteten Republik gewesen. Demosthenes, der es mit einem polierteren, gelehrte- ren und witzigeren Volke zu tun hatte, setzte den größten Nachdruck seiner Beredsamkeit in die Stärke seiner Beweisgründe, während der Römer, dessen Zuhörer aufrichtiger aber weniger gebildet und lebhaft waren, durch die pathetischen Mittel seiner Rede auf die Leidenschaften zu wirken suchte. Beide aber bemühten sich, den Eindruck des Augen- blickes aufs höchste zu steigern und die Zuhörer für ihre Sache, unange- sehen der objektiven Wahrheit, zu gewinnen. Herder warnt deshalb den christlichen Kanzelredner vor solchen Mitteln, obgleich ihm die Rede- kunst der Alten an sich die höchste Bewunderung abnötigkfiO

Bei einem so lebhaften Volk wie den Griechen war selbst das Geschrie- bene für den lebendigen Vortrag geschaffen; Herodot z.B. las einige seiner Bücher zu Olympia wie ein Gedicht vor. So pflegte man zu schrei- ben, als ob man spräche, ein Vorzug, den Herder auch der französischen Prosa zugesteht. Schreibend trug man vor; man schrieb gleichsam laut und öffentlich, als ob zu jedem Buch ein Vorleser wie sein Genius ge- hörte. Deshalb sei selbst in der griechischen Prosa die Periode so kunst- voll und schön geformt. Der offene Mund der Griechen (die ore rotonda sprachen),ihre Poesie und der öffentliche Redevortrag, der auf die Epoche der Rhapsoden der Poesie folgte, hatten diesen Stil geformt.61 Ähnlich war es bei den Römern, bei denen ebenfalls die Beredsamkeit und der öffentliche Vortrag vorherrschten. Der deutschen Beredsamkeit merke man es an, da0 sie nicht in einem freien politischen System gewachsen sei. Es fehle ihr die innere Freiheit ihrer westlichen und südlichen Nach- barn: "Die deutsche Beredtsamkeit war von jeher ein Werk des kalten, gesunden Verstandes, daher sie sich so gern an Sprichwörter hielt, und auf Gemeinplätze zurückkam. Unsere Verfassung machte, da0 wir nicht

49 Briefe das Studium der TIzeologie betreffend42 Brief (W,XI,36). 60 Sollen wir sie (deutsche Ciceronen) zu Kanzelrednern haben? (W, I, 505-506).

Schrqt und Buchdruckerei (W,xvnr, 87).

politisch beredt sein konnten, unsere Staats- und Zeremonienberedtsam- keit prangt daher in der Geschichte der europäischen Nationen fast karrikaturmäßig, feierlich-leer, f r o s t i g - e rn~ tha f t .~

Die Einführung des Papiers habe das innere Leben der Poesie getötet. Das Lumpenpapier gar habe der lebendigen Sprache den Todesstoß versetzt. Herder empfiehlt deshalb, immer den lauten Vortrag im Sinne zu haben, wenn man schreibe. Oft rühre unsere Dunkelheit im Stil von einer Stubengelehrsamkeit her, die durch den lauten Vortrag nicht habe lebendig werden können. Durch den mündlichen Vortrag werde man deutlich, und man erkenne den besten Gesichtspunkt, faßlich zu sein. "So lerne es der Lehrer im Kreise seiner Zuhörer, so trete der Gelehrte vor die große Welt, um sich seiner Kathedersprache zu ent- wöhnen; er erinnere uns nicht so oft, daß er an seinem Schreibpult sitzt, und geselle die französische Freiheit zu deutscher Arbeitsamkeit und Gena~igkei t ."~~

Für Herders Stil ist es charakterologisch höchst bedeutsam, daß er seine Arbeiten nicht nur seinen Freunden gern vorlas und sich ihr Urteil darüber ausbat, sondern daß er sie sich noch lieber von anderen vorlesen ließ, um sich durch den Gehörseindruck von ihren Vorzügen und Mängeln selbst zu überzeugen. Karoline berichtet von Ihrem Gatten: "Hatte er eine Arbeit beendet so teilte er sie, besonders in jüngeren Jahren, gern einem Freunde mit, um dessen Urteil er bat. Doch war ihm das Vorlesen des Manuscripts noch lieber, und so wurde ich nach und nach die Vor- leserin seiner schriften bei ihrem ersten Entwurf; dann ging er das Manuscript noch zwei- und mehrmals durch und verbesserte es oder schrieb ganze Blätter um."54

So gewann sein Stil jene blutvolle Lebendigkeit, die den Leser bezau- bert.

Johann W.Ritter erzählt in seinen Fragnzertten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers von einem Besuch bei Merder im Jahre 1801 und bemerkt, daß Tausende es bestätigen könnten, man könne auch die bes- ten Werke dieses Autors nicht ganz verstehen, ohne ihren Verfasser zu kennen oder, indem man sie lese, sie von ihm sprechen höre. "So mußte man Herdern sprechen sehen, um ihn überhaupt zu hören und zu verstehen, so mußte man ihn gehört-und schweigen gesehen haben, um sagen zu können, man lese ihn."55

Man lese nur einige bezeichnende Stellen aus Herders Werken, um die lebendige Kraft und Schönheit seiner Sprache zu empfinden: Auch

Von der Beredtsamkeit (W, xxn, 162). Fragmente (W, I, 214-215).

54 "Herders Leben," Werke, Philos., 22. Th., 273. 65 Ibid., S. 260.

1010 Herder und der Sprachlaut

von seinem Stil gilt, was er von Homers Rhythmus sagt, er schwinge in Wellen, Wirbeln und Kreisen durch die Luft hin, Kreis umschließe Kreis, Welle schlüge Welle, Wirbel ergreife Wirbel, so werde der Schall zu unserm Ohre fortgetragen.

Herders Sprache ist bildreich und aufgeregt, voll tiefer Bedeutung und klangvoll-sein Ohr war der Richter seines Ausdrucks-und wir selbst, indem wir diese Sprache lesen, fühlen die Dynamik und kraftvolle Schönheit, die ihr innewohnt: "Lear, der rasche, warme, edelschwache Greis, wie er da vor seiner Landkarte steht und Kronen wegschenkt und Länder zerreißt-in der ersten Szene der Erscheinung trägt schon allen Samen seiner Schicksale zur Ernte der dunkelsten Zukunft in sich, Siehe! der gutherzige Verschwender, der rasche Unbarmherzige, der kindische Vater wird es bald sein auch in den Vorhöfen seiner Töchter- bittend, betend, bettelnd, fluchend, schwärmend, segnend-ach, Gott! und Wahnsinn ahnend."b6

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56 Shukespeare (W, V, 220).