Ablow, Keith - Psychopath

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    Keith Ablow

    PsychopathRoman

    Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann

    GOLDMANN

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    Die Originalausgabe erschien 2003unter dem Titel »Psychopath«

    bei St. Martin’s Press, New York.

    1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung

    Juli 2004ISBN 3-442-45714-9

    Für J. Christopher Burch,dessen Kreativität mir eine Inspirationund dessen Freundscha mir teuer ist.

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    Buch

    Mindestens vierzehn Menschen hat der »Highwkiller« bereits auf dem Gewissen, und noch imtappt das FBI im Dunkeln. Der Mörder hinterlkeine Spuren, zwischen seinen Opfern scheint kVerbindung zu bestehen, und über sein Motiv knen die Ermittler nur rätseln. Sie wenden schließlich an Frank Clevenger, einen Psychiaterbereits in der Vergangenheit mit der Polizei zusmengearbeitet hat und durch seinen jüngsten Ermlungserfolg zum Medienhelden aufgestiegen is

    soll herausfinden, was den Killer zu seinen Ttreibt und wer sich hinter dem Phantom verberkönnte. Frank ahnt nicht, dass der Gesuchte seein brillanter Psychoanalytiker ist. So lässt er sicein Spiel ein, das in die dunkelsten Abgründemenschlichen Seele führt – während das Moweitergeht ...

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    Autor

    Wie sein Serienheld Frank Clevenger ist auch KAblow ein Psychiater, der für die Gerichtsmedizibeitet und bereits als Gutachter in zahlreichen Pzessen ausgesagt hat. Nach »Infam« ist »Psychoder zweite Roman mit Frank Clevenger im Gmann Taschenbuch, weitere sind bereits in Vorbetung. Insgesamt hat Ablow bereits vier Romaneseinem Serienhelden verfasst. Ablow gilt in Amals einer der brillantesten Autoren von Psychothlern.

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    TEIL EINS

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    23. Januar 2004Route 90 East, 37 Meilen außerhalb von Rome,New York

    MahlersZehnte Symphonie drang aus der Stereolage des BMW X5, doch selbst die friedvolle M

    konnte Jonah nicht beruhigen. Seine Haut glüheiß vor Zorn. Seine Handflächen am Lenkbrannten. Sein Herz hämmerte, presste mit jedSchlag mehr und mehr Blut in seinen Körper, jes durch die Halsschlagader und ließ seinen Schpochen, irgendwo innerhalb der Schläfenlappennes Gehirns. Zuletzt war seine Atemfrequenzachtzehn Züge pro Minute gestiegen. Er konnte len, wie die Schwindel erregende Gier nach S

    stoff ihn tief in sich selbst hineinzog.Sein Drang zu töten fing immer auf diese Weisund er glaubte jedes Mal, ihn zügeln zu könnenauf einem langen Highway in die Knie zwingekönnen, ganz so, wie sein Großvater auf der R

    in der Prärie von Arizona, wo Jonah seine Teena

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    jahre verbracht hatte, ungebändigte Fohlen zugten hatte. Seine Psychopathologie war so geridass sie ihn überlistete und ihn denken ließ, emächtiger, als er es tatsächlich war, und das Guihm könne das Böse überwältigen. Er glaubteselbst jetzt noch, da siebzehn Leichen entlangHighways hinter ihm verstreut lagen.»Fahr immer weiter«, knurrte er mit zusammenbissenen Zähnen.Seine Sicht verschwamm, teils vom steigenden druck , teils vom Hyperventilieren, teils von dem ligramm Haldol, das er eine Stunde zuvor geschlhatte. Manchmal schläferte das Antipsychotikum

    Bestie ein. Manchmal nicht.Er spähte angestrengt hinaus in die Nacht und sader Ferne den roten Schimmer von Rücklichterngab Vollgas, begierig darauf, die Distanz zwissich und diesem Reisegefährten zu verringern, sob die Schwungkraft des anderen – eines normaanständigen Mannes – ihn durch die Dunkelheitsen könne.Er schaute auf die orangefarbenen NeonziffernUhr am Armaturenbrett, sah, dass es drei Uhr z

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    in der Früh war, und erinnerte sich an eine ZeileFitzgerald:

    In der wahren, dunklen Nacht der Seeleist es immer drei Uhr morgens.

    Die Zeile stammte aus einer Kurzgeschichte nam»Der Knacks«, ein Titel, der bestens zu dem pawas mit ihm geschah – seine psychologischen Scwälle waren angeknackst, feine Risse taten sichverbreiterten sich zu größeren Klüften, die dannsammenwuchsen und zu einem gähnenden schwzen Loch wurden, das ihn verschluckte und als

    geheuer wieder gebar.Jonah hatte alles gelesen, was F. Scott Fitzgeralschrieben hatte, weil die Worte wunderschön wund die Orte wunderschön waren und die Lewunderschön waren trotz ihrer Fehler. Und er sich selbst gern genauso, wollte glauben, dass efehlerhafte Schöpfung eines unfehlbaren Gottesdass er es wert war, erlöst zu werden.Mit seinen neununddreißig Jahren war er körpermakellos. Sein Gesicht verriet sowohl Vertrau

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    würdigkeit als auch Selbstvertrauen – hohe Wanknochen, eine ausgeprägte Stirn, ein markantes Kmit einem kleinen Grübchen. Seine Augen wklar und blassblau und passten perfekt zu seinemwellten, silbergrauen Haar, das knapp bis zu seSchultern reichte und dekorativ zerzaust war. Erknapp über eins achtzig groß und von kräftiger tur, mit langen, muskulösen Armen und einem bten Oberkörper, der sich elegant zu einer schmTaille verjüngte. Er besaß die steinharten Scheund Waden eines Bergsteigers.Doch von all seinen Attributen bemerkten Fraimmer zuerst seine Hände. Die Haut spannte

    sonnengebräunt und weich über die Sehnen, die in einem perfekten Fächer von seinen Fingerkcheln zu seinen Handgelenken zogen. Die Adernren gerade sichtbar genug, um von körperlicher Kzu zeugen, ohne so sichtbar zu sein, dass sichstruktive Züge dahinter erahnen ließen. Seine Fiwaren lang und anmutig und endeten in gepflegzartrosa Nägeln, die er jeden Morgen auf Hochgpolierte. Pianistenhände, nannten sie einige FrauChirurgenhände, hatten andere spontan gesagt.

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    »Du hast die Hände eines Engels«, hatte sich einner Geliebten begeistert und seinen Finger in Mund genommen.Die Hände eines Engels. Jonah betrachtete sie, wrend sie das Lenkrad so fest umklammerten, dasKnöchel weiß vortraten. Er war inzwischen bifünfzig Meter an das Auto vor ihm heran, docspürte, dass er in seinem Wettrennen gegen das Ban Boden verlor. Seine Oberlippe hatte angefanzu zucken. Sein Nacken und seine Schultern wschweißnass.Er riss die Augen weit auf und beschwor im Gdas Gesicht seines letzten Opfers in den abschlie

    den Momenten seines jungen Lebens herauf hoffte, das Bild würde ihn ernüchtern, so wie diinnerung an Übelkeit und Erbrechen einen Alkoliker zu ernüchtern und Abscheu für die Flaschwecken vermag, die so verführerisch mit ihrem sprechen auf Erleichterung und Erlösung lockt.Es war fast zwei Monate her, doch Jonah konnte immer sehen, wie Scott Carmadys Kinnlade heterklappte und ein Ausdruck absoluter Ungläubigin seine Augen trat. Denn wie sollte ein müder

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    sender, der mit seinem Chevy am Straßenrand diverlassenen Highways in Kentucky liegen geblwar und sich unverhoffter Hilfe erfreuen konnte,unbeschreiblichen Schmerz seiner durchschnitteKehle fassen oder das warme Blut, das sein Hdurchtränkte? Wie kann er die Tatsache begreidass sein Leben, mit all dem Schwung der Hoffgen und Träume eines Menschen in seinen Zwagern, urplötzlich zum Stillstand gebracht wurde?kann er die Tatsache ergründen, dass der gut gekdete Mann, der ihm die tödliche Wunde zugefügtderselbe Mann ist, der sich nicht nur die Zeit genmen hat, ihm Starthilfe zu geben, sondern auch f

    zehn Minuten gewartet hat, um sicherzugehen, die Batterie nicht abermals schlappmachen würUnd was für Minuten das gewesen waren! Carmhatte Dinge preisgegeben, die er niemandem sonerzählt hatte – die Hilflosigkeit, die er gegenübenem sadistischen Boss empfand, den Zorn, deihm brodelte, weil er noch immer an seiner untreFrau hing. Während er sein Herz ausschüttete, füer sich besser, als er das seit sehr, sehr langer Ze

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    tan hatte. Er fühlte sich erleichtert, so als wäre Last von ihm genommen.Jonah erinnerte sich daran, wie sich die Ungläukeit in den Augen des sterbenden Mannes in einehentliche Bitte verwandelt hatte. Es war keinehentliche Bitte um die Antwort auf irgendein ebenes, existenziellesWarum. Keine klischeehaSchlussszene eines Films. Nein. Es war schlicflehentliche Bitte um Hilfe. Als Carmady nach Jgriff, wollte er ihn nicht angreifen oder sich vertgen, er wollte sich nur an ihm festhalten.Jonah war nicht vor seinem Opfer zurückgewicsondern näher herangetreten. Er umarmte ihn. U

    während Carmady sein Leben aushauchte, fühltnah den Zorn in sich verrauchen und einem erhanen Frieden Platz machen, einem Gefühl des Eseins mit sich selbst und dem Universum. Unflüsterte seine eigene flehentliche Bitte in das OhMannes: »Bitte vergib mir.«Tränen sprangen in Jonahs Augen. Die Straße schgelte sich vor ihm durch die Nacht. Wenn Carmdoch nur willens gewesen wäre, mehr zu offenbdie letzten Schichten seiner emotionalen Schutzw

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    abzutragen und Jonah die Gründe zu enthüllen,wrum er sich von seinem Boss und seiner Frau Opfer machen ließ, welches Trauma ihn so schwgemacht hatte, dann wäre er vielleicht noch amben. Doch Carmady hatte sich geweigert, über sKindheit zu sprechen, hatte sich steif und fest gegert, wie ein Mann, der eine Speisekammer vFleisch für sich behält – es Jonah vorenthielt, derhungerte.Verhungerte wie jetzt.Jonahs Strategie ging nach hinten los. Er hattesächlich geglaubt, die Erinnerungen an sein leOpfer würden das Ungeheuer in ihm im Zaum

    ten, doch das Gegenteil war der Fall. Das Ungehhatte ihn überlistet. Die Erinnerung an den inneFrieden, den er empfunden hatte, als er den Toseinen Armen und die Lebensgeschichte eines aren Mannes in seinem Herzen trug, weckte in den Hunger nach diesem Frieden, ließ ihn mit jeZelle seines glühenden Gehirns danach gieren.Im Vorbeifahren sah er das Hinweisschild auf eRastplatz eine halbe Meile entfernt. Er setzte sicund sagte sich, dass er dort anhalten, noch ein o

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    zwei Milligramm Haldol schlucken und ZufluchSchlaf suchen könne. Wie ein Vampir jagte erausschließlich bei Nacht; es waren nur noch Stunden bis zum Morgengrauen.Er schwenkte von der Route 90 auf den RastpDort stand bereits ein anderes Auto – ein älterer tallic-blauer Saab mit eingeschalteter Innenbeletung. Jonah parkte drei Stellplätze weiter. Warnicht zehn?, wütete er im Stillen. Warum die Bin Versuchung führen? Er umklammerte das Lerad noch fester, bis seine Fingernägel sich in sHandballen gruben und fast die Haut aufrissen. Fieber ließ kalte Schauder über seinen Nacken

    seine Kopfhaut laufen. Die Rippen pressten schmerzhaft gegen seine aufgeblähte Lunge.Halb widerwillig wandte er seinen Kopf und sahFrau auf dem Fahrersitz des Saab eine große Strakarte studieren, die sie über dem Lenkrad ausgebtet hatte. Sie musste so um die fünfundvierzig Im Profil verfehlte ihr Gesicht nur knapp das klsche Schönheitsideal – ihre Nase war ein bisschgroß, ihr Kinn ein bisschen zu fliehend. Krähenverrieten, dass sie zu viel grübelte. Ihr braunes

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    war kurz geschnitten und sorgsam zurechtgekämSie trug eine schwarze Lederjacke. Auf dem Armrenbrett vor ihr lag ein Handy Jonah musste sie nur ansehen, und schon wahungrig. Ausgehungert. Hier, keine zehn Meter fernt, war eine lebende, atmende Frau mit einer zigartigen Vergangenheit und Zukunft. Kein andMensch hatte exakt die gleichen Erfahrungenmacht oder exakt die gleichen Gedanken gedaUnsichtbare Bande verknüpften sie mit ihren Elund Großeltern, vielleicht Geschwistern, vielleichnem Ehemann oder Liebhabern oder beidem. Vleicht Kindern. Freunden. Ihr Gehirn enthielt

    Daten, die sich angesammelt hatten, indem sie hier, mal dort etwas ausgewählt hatte, was sie und ansehen und anhören wollte, geleitet von Iressen und Fähigkeiten, die mystische und ugründliche Teile von ihr waren. Vonihr, einem uvergleichlichen menschlichen Wesen. Sie hegtelieben und Abneigungen, Ängste und Träume (mehr als alles andere) Traumata, die ihr allein ewaren – es sei denn, sie würde sie aus sich heracken lassen.

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    Stechender Schmerz explodierte in Jonahs Augewandte den Blick ab, starrte fast eine Minute landen Highway in der Hoffnung, ein weiteres Awürde abbremsen und auf den Rastplatz abbieKeines kam.Warum schien es immer so leicht? Beinahe argiert. Sogar vorherbestimmt. Er suchte nie nachnen Opfern; er fand sie. Richtete das Universuso ein, um ihn mit der Lebenskraft anderer zu ssen? Suchten die Leute, die seinen Weg kreunach ihm? Hatten sie unbewusst einen ebenso unweichlichen Drang zu sterben, wie er den Drangte zu töten? Wollte Gott sie im Himmel haben?

    er eine Art Engel? Ein Todesengel? Der Speichseinem Mund wurde zähflüssig. Das Pochen innem Kopf stellte jetzt jedes Kopfweh, jede Migin den Schatten. Es fühlte sich an, als würdenDutzend Schlagbohrer sich einen Weg aus seiSchädel herausbohren, durch seine Stirn, seine Sfen, seine Ohren, nach unten durch seine Gaumplatte, seine Lippen.Er überlegte, sich selbst zu töten, ein Impuls, devor jedem Mord verspürte. Das Rasiermesser in

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    ner Tasche würde seinem Elend ein für alle MaEnde setzen. Doch er hatte nur halbherzig versusich das Leben zu nehmen. Flache Ritzer an seHandgelenken. Fünf oder zehn Pillen statt fünoder einhundert. Ein betrunkener Sprung aus einFenster im ersten Stock, bei dem er sich das reWadenbein gebrochen hatte. Es waren Selbstmgesten, nichts weiter.Tief in seinem Herzen wollte Jonah leben. Er glanoch immer, er könne in diesem Leben Buße Unter all seinem Selbsthass, tief im Kern seinessens, liebte er sich noch immer so bedingungsloser betete, dass Gott es tat.

    Er schaltete die Innenbeleuchtung des BMW eindrückte einmal kurz auf die Hupe, spann angewiden ersten klebrigen Faden seines todbringenNetzes. Die Frau fuhr erschreckt zusammen, dsah sie zu ihm herüber. Er beugte sich vor und beinahe schüchtern einen Finger hoch, dann liesein Seitenfenster nicht ganz bis auf halbe Höherunter, so als seier nicht sicher, ob erihr trauen köne.

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    Die Frau zögerte, dann öffnete sie ihrerseits dastenfenster.»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Jonah. Seine Stiwar samten und tief, und er wusste, dass sie einenahe hypnotische Wirkung hatte. Die Leute schiees nie müde zu werden, seiner Stimme zu lauscSie unterbrachen ihn nur selten.Die Frau lächelte, doch es war ein angespanntecheln, und sie sagte nichts.»Ich weiß, ähm ... es ist viel verlangt ... aber, ähEr stotterte absichtlich, um unsicher zu kling»Mein, ähm ... mein Telefon ...«, sagte er mit eAchzelzucken und einem Lächeln, »ist tot.« Er

    sein Handy hoch. Es war silbern und sah teuer Er streckte seinen Arm aus und drehte sein Hanlenk, um auf seine Uhr zu schauen, einen glänzenCartier-Chronographen mit einem Cabochonsapim Zifferblatt. Die meisten Menschen trauten seErfahrung nach Leuten mit Geld, entweder weglaubten, dass die Reichen es nicht nötig hättenzu bestehlen, oder weil sie annahmen, die Reischätzten die Regeln der Gesellschaft zu sehr, uzu brechen. »Ich bin Arzt«, fuhr Jonah fort. Er sc

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    telte den Kopf. »Ich bin noch keine fünf Minvom Krankenhaus weg, und schon piepen sie man. Könnte ich mir wohl, ähm ... ich meine, wüSie mir Ihr Telefon leihen?«»Meine Batterie ist schon ziemlich ...«, setzte diean, und ihr Tonfall zeugte von Unbehagen.»Ich bezahle auch gern dafür«, sagte Jonah. Dasgebot war seine Methode, das bessere WissenFrau in einem Rösselsprung auszuschalten, indeseine Bitte ums Handy in die Frage verwandeltsie ihn für die Benutzung bezahlen lassen sollte nicht. Ein großzügiger Mensch würde es umsonsbieten – was natürlich voraussetzte, dass ma

    überhaupt erst einmal anbot.»Nicht nötig«, wehrte sie ab. »Abends und am chenende sind Gespräche zum Nulltarif.«»Danke.« Er stieg aus seinem Wagen aus und zur Fahrertür der Frau hinüber, wo er in respektvlem Abstand stehen blieb. Teils, um ihren Bemurungsinstinkt zu wecken, teils, um die elektriEnergie zu entladen, die durch seinen Körper strte, trat er von einem Fuß auf den anderen und schtelte sich, als würde er frösteln.

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    Sie streckte die Hand aus und reichte ihm das HaEr stellte sich so hin, dass sie einen Blick auf sschokoladenbraunen, gesteppten Wildledermanseinen himmelblauen Rollkragenpullover und sBundfaltenhose aus grauem Flanell werfen konNichts Schwarzes. Alles weich und warm. Er wwillkürlich sieben Ziffern und hob das Handy anOhr.»Sie können in Ihrem Wagen telefonieren, wennmöchten«, sagte sie.Jonah wusste, dass die Einladung der Frau, ihr Tfon mit in seinen Wagen zu nehmen, ihren unterwussten Wunsch widerspiegelte, er mögesie mit

    seinen Wagen nehmen. Er wusste auch, je undringlicher er sich verhielt, desto ungehemmter wde sie ihren Fantasien über ihn freien Lauf lassendesto leichter würden ihre persönlichen Grenzeüberschreiten sein. »Sie haben mir schon einen ßen Gefallen getan«, sagte er. »Es dauert wirkliceinen Moment.«Sie nickte, wandte sich wieder der Straßenkartund schloss ihr Fenster.Er sprach laut, um sicherzustellen, dass sie alles

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    hören konnte. Die Worte hallten in seinen Ohrender. »Dr. Wrens«, sagte er, dann machte er eine P»Fieber? Wie hoch?« Wieder eine Pause. »Legeeinen Ampicillin-Tropf, und dann sehen wir mal,sie sich macht.« Er nickte. »Selbstverständlich. SSie ihrem Mann, dass ich gleich morgen früh nihr sehen werde.« Er tat so, als würde er das Gespbeenden, und klopfte leise an das SeitenfensterSaab.Die Frau ließ das Fenster herunter. »Alles erlediEr hatte ganz offensichtlich sein Gespräch beenIhre Frage bedeutete, dass sie etwas anderes vonwollte, obgleich er bezweifelte, dass sie in Wort

    sen könnte, was dieses Etwas war. Er fühlte, wsteif wurde. »Alles erledigt«, sagte er. »Vielen noch mal.« Er hielt ihr das Handy hin und warmit dem Sprechen, bis sie das andere Ende ergrhatte, bis sie auf diese Weise miteinander verbunwaren. »Vielleicht kann ich den Gefallen erwidsagte er. Er wartete einen weiteren Moment, bis eHandy losließ. »Sie scheinen nicht sicher zu seiSie hinwollen.«

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    Sie lachte. »Ich scheine mich verfahren zu habsagte sie.Er lachte mit ihr – ein knabenhaftes, ansteckenLachen, das ein für alle Mal das Eis brach. Die Bhatte jetzt die Oberhand. Die Schmerzen in JonKopf strahlten in seine Zähne und in seinen Kiaus. »Wohin wollen Sie denn, wenn ich das frdarf?« Er rieb seine Hände und stieß eine frosAtemwolke aus.»Eagle Bay«, sagte sie.Eagle Bay war eine Kleinstadt an der Strecke derrondack-Eisenbahn, nicht weit vom ErholungsgeMoose River. Jonah war schon einmal am nahe

    genen Panther Mountain zum Wandern gewes»Kein Problem«, sagte er. »Ich male Ihnen schnene Wegbeschreibung auf.« Er hatte das Wortmalegewählt, um das Bild von Unschuld heraufzschwören, vom harmlosen Kind im Manne, kaum schreiben konnte, von planen und lügen gzu schweigen.»Das wäre wirklich nett«, bedankte sie sich.Jonah schätzte, dass er ihre Verteidigungsmechamen hinlänglich lahm gelegt hatte, um zum An

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    übergehen zu können. Der Durchschnittsfrau mgelte es an innerer Entschlossenheit, ihre Grenzeverteidigen, außer im Angesicht offensichtlicherfahr. Und diese Frau konnte sich nicht vorsteldass von ihm Gefahr drohte. Er sah gut aus undhöflich. Er wirkte wohlhabend. Er war Arzt. Ervon einem örtlichen Krankenhaus angerufen wden, um jemandem in Not zu helfen. EinerFrauNot. Jetzt wollte er ihr helfen.Er ging vorn um den Saab herum und schlang ddie Arme um sich. Hinter dem Auto herumzugehdas Sichtfeld der Frau zu verlassen, könnte siewöhnisch machen. Er wartete neben der Beifah

    tür, bewegte sich nicht darauf zu. Je weniger osichtlich seine Forderung, eingelassen zu werdesto besser standen seine Chancen.Sie schien abermals zu zögern, und auf ihrem Gespiegelte sich deutlich der klassische Kampf zwidem Selbsterhaltungstrieb und dem Verlangen nSelbstständigkeit. Die Selbstständigkeit trug dendavon. Die Frau langte über den Beifahrersitz hinund öffnete die Tür. Jonah stieg ein. Er streckteseine Hand hin. Die Hand zitterte. »Jonah Wre

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    sagte er. »Es müssen da draußen minus zehn Gsein, zumindest fühlt es sich mit dem eisigen Wso an.«»Anna«, sagte sie und schüttelte seine Hand. »ABeckwith.« Sie schien verwirrt, als sie Jonahs losließ, vermutlich, weil sie warm und klamm gsen war, nicht kalt.»Haben Sie Papier und einen Stift, Anna Beckwifragte Jonah. Ihren Namen auszusprechen bestäden Eindruck, dass sie einander nicht fremd waBeckwith langte hinter Jonahs Sitz und wühlte irer Handtasche, bis sie einen Kugelschreiber undledernes Adressbuch fand. Sie schlug eine leere

    auf und reichte ihm das aufgeklappte Buch undStift.Jonah bemerkte, dass Beckwith weder Verlobunoch Ehering trug. Sie roch nicht nach Parfümbegann, willkürliche Wegbeschreibungen zu noren, nach Nirgendwo.Bleiben Sie auf der 90 East bAusfahrt 54, dort wechseln Sie auf die Route 9 West .»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nichdieser Gegend sind?«, erkundigte er sich.Sie schüttelte den Kopf. »Washington, D. C.«

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    »Sind Sie zum Skilaufen hier?«, fragte er, ohndem Schreiben innezuhalten.»Nein«, sagte sie.»Zum Wandern?«»Ich besuche nur jemanden.«»Wie schön.« Er warf ihr einen Blick zu. »IFreund?«, fragte er in beiläufigem Tonfall schrieb weiter.»Meine Zimmergenossin vom College.«Kein Freund, dachte Jonah bei sich. Kein EheKein Parfüm. Kein Lippenstift. Und nicht dieringste Andeutung von Homosexualität in ihrem baren oder Tonfall. »Lassen Sie mich raten ...«,

    er. »Mount Holyoke.«»Wie kommen Sie darauf, dass ich auf ein Frauelege gegangen bin?«, fragte Beckwith.Jonah sah sie an. »Ich habe den Mount-Holyoke-kleber an Ihrem Rückfenster gesehen, als ich auRastplatz gefahren bin.«Wieder lachte sie – ein ungezwungenes Lachenzeigte, dass sich auch ihre letzten Befürchtungenflüchtigt hatten. »Jahrgang ‘78.«Jonah überschlug es im Stillen. Beckwith war

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    undvierzig oder sechsundvierzig. Er hätte sie frkönnen, was sie in Holyoke studiert hatte oder obCollege in der Nähe ihres Heimatorts war oder davon entfernt. Doch die Antworten auf diese Frwürden ihm keinen Zugriff auf ihre Seele erlau»Warum ein Frauencollege?«, fragte er stattdess»Keine Ahnung«, antwortete sie.»Sie haben es sich ausgesucht«, ließ er nicht lound lächelte sie freundlich an, um seinen WortenSchärfe zu nehmen.»Ich habe mich dort einfach wohler gefühlt.«Ich habe mich dort einfach wohler gefühlt. Jonah staan der Schwelle zu Beckwiths innerster emotion

    Welt. Er musste Zeit gewinnen, um sie zu überscten. »Kennen Sie die Route 28?«, fragte er.»Nein«, sagte Beckwith.»Kein Problem«, versicherte Jonah. »Ich, ähm, alles genau auf ... für Sie.« Willkürlich zog er einie auf der Seite, dann eine weitere, kürzere Linisich praktisch im rechten Winkel mit der ersten üschnitt. Er sah das Kreuz auf dem Papier und nes als Zeichen dafür, dass Gott noch immer beiwar. Hatte Jesus schließlich nicht den Schmerz a

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    rer auf sich genommen? Und war das nicht auchnahs Ziel? War es nicht das, wonach er dürstete?Kreuz zu tragen? »Weshalb hätten Sie sich auf egemischten College unwohl gefühlt?«, fragte er Bwith.Sie antwortete nicht.Er musterte sie, sah das Zögern in ihrem Ges»Tut mir Leid, wenn ich Ihnen zu nahe getretenEs ist nur so, dass meine Tochter überlegt, nachlyoke zu gehen«, log er.»Sie haben eine Tochter?«»Sie klingen überrascht.«»Sie tragen keinen Ehering.«

    Sie hatte ihn in Augenschein genommen. Sie nähsich an. Jonah fühlte, wie sich sein Puls und sAtemfrequenz verlangsamten. »Ihre Mutter undhaben uns scheiden lassen, als sie fünf war«, sagDann gab er Beckwith diesen Talisman, den erScott Carmadys Seele geholt hatte und der jetztseiner eigenen war: »Meine Frau war mir untreubin länger mit ihr zusammengeblieben, als ich este tun sollen.«

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    Mehr als jene ausgedachte Enthüllung brauchte ABeckwith nicht, um ihr wahres Ich zu öffnen. war immer schüchtern, was Jungs anging«, gessie. »Ich bin sicher, das ist auch der Grund, wesich nach Holyoke gegangen bin.«»Sie waren nie verheiratet«, sagte Jonah.»Sie klingen da so sicher«, erwiderte Beckwitkett.Jonah malte weiter an seiner willkürlichen Wegznung, um den Fluss der Emotionen zwischen ihnicht zu unterbrechen. »Ich habe nur geraten«, ser.»Sie haben richtig geraten.«

    »Ich selbst war auch nicht gerade für die Ehe gesfen«, offenbarte er.»Ich hatte zwei Brüder«, sagte sie. »Beide älter.leicht hat das ... ich weiß auch nicht.«Jonah hörte eine ganze Welt aus der Art heraus,Beckwith das Wortälter betont hatte. Es klangen Wund Machtlosigkeit durch – und noch etwas andeScham. »Sie haben sich über Sie lustig gemacht«te er. Er konnte nicht widerstehen, sie abermalszusehen. Er beobachtete, wie die Maske der Reif

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    ihrem Gesicht glitt und es offen und unschuldig wunderschön werden ließ. Das Gesicht eines kleMädchens. Er dachte bei sich, dass er niemalKind töten könnte. Und bei diesem Gedanken ebbte der Schmerz in seinem Kopf zu einem dufen Gefühl.»Sie haben mich immerzu aufgezogen«, bestäsie.»Wie alt waren Sie?«»Als es richtig schlimm war?« Sie zuckte miAchseln. »Zehn? Elf?«»Und wie alt waren die beiden?«»Vierzehn und sechzehn.«

    Beckwith schaute plötzlich verstört drein, ganwie es auch Jonahs andere Opfer getan hatten –könne sie nicht verstehen, warum sie einem Fremsolch intime Dinge erzählte. Doch Jonah mumehr hören. Also stocherte er weiter. »Mit welSchimpfnamen haben sie Sie gehänselt?« Er scseine Augen und wartete darauf, dass aus ihrer etionalen Wunde das süße Gegengift für seine Gewtätigkeit quellen würde.»Sie haben mich ...« Sie brach ab. »Ich will das

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    alles wieder wachrufen.« Sie atmete tief aus. »WSie mir jetzt die Wegbeschreibung geben könnwäre das wirklich sehr nett.«Jonah sah sie an. »Die Kinder in der Schule hmich ›Schwuli‹ geschimpft und ›Weichei‹ und sSachen.« Noch eine Lüge.Sie schüttelte den Kopf. »So wie es aussieht, hSie’s denen mächtig gezeigt«, bemerkte sie. »würde Sie wohl kaum noch jemand ein Weichei nen.«»Nett von Ihnen, das zu sagen.« Er schaute ausSeitenfenster, als würde ihn die Erinnerung an sKindheitstraumata schmerzen.

    »Sie haben mich ... ›Pipisuse‹ genannt«, sagte with.Jonah wandte sich wieder zu ihr um. Sie wurde »Ich weiß, das klingt nicht gerade wie das EndWelt oder so«, fuhr sie fort, »aber sie haben einnicht damit aufgehört. Sie haben mich einfach nin Ruhe gelassen.«Jonah saß jetzt neben der elfjährigen Beckwithsie in einem marineblauen Faltenrock, einer sitmen weißen Bluse, weißen Söckchen, College

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    hen. Es war kein Zufall, dass ihre Brüder sie amdenlosesten geneckt hatten, als sie an der Schwzur Frau stand, als die beiden, bewusst oder unwusst, auf ihre Unterhöschen und die weichen Hlappen darunter fixiert waren. Und er ahnte, dnoch grausamere Dinge vorgegangen waren – nder Art zu schließen, wie Beckwith gesagt hatte,habe sieeinfach nicht in Ruhe gelassen. Das klang wein Kode für sexuellen Missbrauch. Er starrte sihoffte, dass sie ihre Psyche entblößen und mit ihden warmen See ihres Leidens eintauchen wü»Und außer den Hänseleien?«, hakte er nach.Beckwith starrte ihn an, und alle Farbe wich au

    ren Wangen.»Auf welche Weise waren Ihre Brüder noch gezu Ihnen, Anna?«Sie schüttelte ihren Kopf.»Haben sie versucht, Ihnen unter den Rock zucken?«»Ich muss jetzt wirklich weiter«, sagte sie.»Sie haben Sie angefasst«, sagte er.Plötzlich verschwand das kleine Mädchen Beckund die fünfundvierzigjährige Beckwith saß st

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    steif an ihrer Stelle. »Ganz ehrlich, das geht Sie lich nichts ...«Jonah wollte das kleine Mädchen. Er brauchtekleine Mädchen. »Sie können es mir erzählen«,sicherte er ihr. »Sie können mir alles erzählen.«»Nein«, sagte sie.Jonah konnte förmlich hören, wie der Riegel voschoben wurde und ihn ausschloss.»Gehen Sie jetzt bitte«, sagte Beckwith.»Mir gegenüber muss Ihnen nichts peinlich sesagte Jonah. Er rang nach Atem. »Ich habe schongehört, was es zu hören gibt.« Er versuchte, sicLächeln abzuringen, doch er wusste, dass sein

    sichtsausdruck eher wölfisch denn beruhigend wte.Beckwith starrte ihn an, dann schluckte sie schals sie endlich die Gegenwart von Wahnsinn erkte.Das Pochen in Jonahs Schädel hatte wieder angegen. »Wo war Ihr Vater?«, fragte er und hörte,sich der verräterische Zorn in seine Stimme s»Wo war Ihre Mutter?«

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    »Bitte«, sagte Beckwith. »Lassen Sie mich geDoch sie versuchte nicht zu fliehen.»Warum haben sie Ihnen nicht geholfen?«, wolltnah wissen. Er spürte, wie Speichel aus seMundwinkel tropfte, und sah an Beckwiths Gesiausdruck, dass sie es bemerkt hatte.»Wenn Sie mich gehen lassen, werde ich ...«, besie zu betteln.Die Schlagbohrer in Jonahs Schädel setzten sichder in Gang. »Was haben dir diese kleinen Drekerle angetan?«, brüllte Jonah.»Sie ...« Sie fing an zu weinen.Jonah beugte sich zu ihr, bis sein Mund ganz na

    ihrem Ohr war. »Was haben sie getan?«, donner»Du musst dich nicht schämen. Es war nicht dSchuld.«Beckwiths Gesicht verzerrte sich zu dem gleichenischen, verwirrten Ausdruck, der Scott Carmadgriffen hatte – entsetzte Ungläubigkeit darüber, ihm geschah. »Bitte«, hauchte sie. »Bitte, Gott .Ihr Betteln marterte und erregte Jonah, ein schreliches und unwiderstehliches Fenster auf das Böihm. Er schmiegte seine Wange an die ihre. »Erz

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    mir«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er fühlte ihre Träüber sein Gesicht laufen. Und er begann ebenfalweinen. Weil er erkannte, dass es nur einen WegEintritt in ihre Seele zu finden.Er steckte seine Hand in seine Hosentasche und hdas Rasiermesser heraus. Er klappte es gnädig auhalb ihres Blickfelds auf. Dann legte er seinen men unter ihr Kinn und drückte sanft ihren Kopden Nacken. Sie leistete keinen Widerstand. Erdie Klinge mit einer flinken Bewegung über Halsschlagadern und durchtrennte sie mit einsauberen Schnitt. Beckwith welkte vor seinen Awie eine drei Tage alte Blume.

    Blut lief über seine Wange, vermischte sich minen Tränen. Er vermochte nicht mehr zu sagenes sein Blut war oder das von Beckwith, seine Troder ihre. In diesem reinen letzten Moment lösich alle Grenzen zwischen ihm und seinem Oauf. Er war von den Fesseln seiner eigenen Idenbefreit.Er schlang seine Arme um Beckwith, drückte sian sich und stöhnte auf, während sich sein Sazwischen ihre Schenkel ergoss und so einen ew

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    Bund zwischen ihnen schuf. Er hielt sie weiter innen Armen, während sich ihre Panik in Erschöpfverlor, bis er spürte, wie sich seine Muskelnspannten, sich sein Herzschlag gleichzeitig mit ihren verlangsamte, sich sein Verstand gleichzmit dem ihren klärte – bis er vollkommenen Frieempfand und eins war mit sich und dem Univers

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    Vormittag, 30. Januar 2004Canaan, Vermont

    Dr. Craig Ellison setzte sich in den Ledersessel hseinem Mahagonischreibtisch. Er sah freundlichwar knapp über sechzig, mit einem Kranz aus

    ßem Haar und Altersflecken auf seiner Kopfhautrug eine Halbbrille, einen schlichten, grauen Anein blassgelbes Hemd und eine blau gestreifte watte. Sein Büro war mit dem üblichen Zierrat seZunft ausgestattet – ein edler Orientteppich, gerate Diplome von der University of Pennsylvaniader Rochester Medical School, eine AnalytikercDutzende winziger primitiver Figuren, die an FreSammlung erinnerten. Er sah hoch. »Hatten Sie angenehme Fahrt?«»So angenehm, wie man es sich nur wünschen kasagte Jonah.»Ausgezeichnet.« Ellison spähte über den Randner Brille hinweg. »In Ihrem Lebenslauf steht, Si

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    en in Miami zu Hause. Sind Sie von dort gekmen?«»Ich habe den letzten Monat über im BundessNew York gearbeitet. In der Nähe des Erie-KaIm St. Augustine’s Medical Center.«Ellison lächelte. »Ich finde es erstaunlich, dasden Strand gegen die Berge eintauschen.«»Ich wandere gern«, sagte Jonah»Das erklärt es natürlich. Ich habe ein halbes D

    zend Personalvermittlungen abgeklappert, dassmir eine Vertretung für die Kinderpsychiatrie scken – seit unser Dr. Wyatt in den Ruhestand gegen ist.«

    »Es gibt nicht mehr viele, die als reine Vertretuärzte arbeiten«, sagte Jonah.»Wieso das?«, fragte Ellison.»Immer weniger Medizinstudenten machen Fachausbildung zum Psychiater. Die Gehälter Krankenhauspersonal steigen. Man kann inzwiscauf einer festen Stelle genauso viel Geld verdiwie als Vertretung.«Ellison schmunzelte sarkastisch. »Zwanzigtaupro Monat?«

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    »Sechzehn, siebzehn, zusätzliche Leistungen eschlossen«, sagte Jonah. »Innerhalb der letzten Jahre haben zwei Drittel der Psychiater bei Mefeste Anstellungen in einem der Krankenhäusedenen sie eingesetzt waren, angenommen.«Ellison zwinkerte. »Darüber lässt sich reden. Ichbe mir Ihre Empfehlungsschreiben angesehen. Swas ist mir noch nie untergekommen. Dr. Bnennt Sie den ›besten Psychiater, mit dem ich jesammengearbeitet habe‹. Wie es sich trifft, waAssistenzarzt unter Dan Blake, als er noch in Hvard gelehrt hat. Er ist kein Mann, der unverdieLob austeilt.«

    »Danke«, sagte Jonah. »Aber ich würde unruhigden, wenn ich nicht in Bewegung bliebe.«»Vielleicht könnten wir Sie überreden, längesechs Wochen zu bleiben.«»Das tue ich nie«, erklärte Jonah. Das war seinserne Regel. Sechs Wochen Maximum, dann zoweiter. Länger als sechs Wochen, und die Leute ten dich näher kennen lernen. Sie fingen an, sicnah heranzupirschen.

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    »Wie ich Ihren Unterlagen entnehme, haben Siene Familie«, sagte Ellison.»Nein.« Jonah ließ das Wort im Raum stehen, geden scharfen Klang und war froh, so nachdrückantworten zu können. Denn er hatte nicht nur seFrau und seine Kinder verlassen. Er hatte sich vvon seiner Familie losgesagt, hatte alle Verbinduzu Verwandten und Kindheitsfreunden gekappt, hte sich entwurzelt, war mutterseelenallein auf diePlaneten. Er deutete mit einem Nicken auf Schwarzweißfoto im Silberrahmen auf ElliSchreibtisch. Zwei Kinder lachten auf einer Schawährend eine attraktive Frau mit windzerzaus

    Haaren ihnen Schwung gab. »Ihre?«, fragte er.Ellison sah auf das Foto. »Ja«, sagte er, und seinfall verriet eine Mischung aus Stolz und Melanch»Sie sind inzwischen erwachsen. Conrad schließrade seine chirurgische Assistenz an der UCLAJessica arbeitet hier in der Stadt als Anwältin fürmobilienrecht. Es sind gute Kinder. Ich kann mglücklich schätzen.«Ellison hatte die Frau auf dem Foto nicht erwäJonah vermutete in ihr die Quelle für die Traurig

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    in seiner Stimme, eine Traurigkeit, von der Jonahwiderstehlich angezogen wurde. »Ist das Ihre Frfragte er.Ellison sah von dem Bild hoch. »Elisabeth. Ja.«Pause. »Sie ist verschieden.«»Das tut mir Leid«, sagte Jonah. Er ahnte, dasssons emotionale Wunde noch immer blutete. »kürzlich?«»Vor nicht ganz einem Jahr.« Er kniff seine Lipzusammen. »Mir kommt es wie gestern vor.«»Ich verstehe das«, sagte Jonah.»Die Leute behaupten das«, sagte Ellison, »abeFrau, die man liebt, zu überleben ... das ist etwas

    man wohl selbst durchmachen muss, um es zu stehen. Ich würde das nicht meinem schlimmFeind wünschen.«Jonah schwieg.»Wir waren siebenunddreißig Jahre verheiratet«,te Ellison. »Ein Paar waren wir einundvierzig JIch kann mich nicht beklagen.«Jonah nickte, doch er wusste, dass die bloße Ärung einer solchen Leugnung bedeutete, dass erbeklagte, allem voran die Sterblichkeit selbst,

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    entsetzliche Tatsache, dass unser Leben und dasMenschen, die wir lieben, nicht ewig währt unschreckend zerbrechlich ist, dass jeder von uns Vorwarnung sein Leben aushauchen kann, dasswenn wir jemanden lieben, in jedem einzelnen ment unendlich verletzlich sind.Der Gedanke entführte Jonah aus Ellisons Bürorekt zu Anna Beckwiths Mutter, wie sie ans Telging und der State Trooper am anderen Ende der tung ansetzte, ihr schlechte Nachrichten zu überbgen. Unvorstellbare Nachrichten. Eine Tochter,ermordet neben ihrem Auto in einem Wald Highway gefunden worden war. Jonah stellte sich

    er würde Mrs. Beckwith im Arm halten, währenschluchzte. Er streichelte ihr Haar. Er flüsterte ihOhr: »Anna ist nicht wirklich tot. Ein Teil von ihr lebweiter. In mir.«»Dr. Wrens?«, fragte Ellison und beugte sich leicseinem Schreibtischsessel vor.»Ja«, sagte Jonah.Ellison spähte wieder über den Rand seiner Halble. »Waren Sie für einen Moment ganz woander»Ich habe mir nur vorgestellt, wie es sein muss

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    undvierzig Jahre lang mit derselben Frau zusamzu sein. Sie müssen sie sehr geliebt haben.«Ellison räusperte sich und lehnte sich wieder innem Sessel zurück. »Sie waren nie verheiratet?«Jonah hatte Anna Beckwith genau die gleiche Fgestellt.Sie waren nie verheiratet? Er musterte Ellisargwöhnisch und fragte sich, ob der freundlDoktor ihm vielleicht zu verstehen geben wollte,er über das Blutbad, das Jonah angerichtet hatte,scheid wusste. Aber das war unmöglich, und Jotat seine Befürchtung als das mentale Echo eschuldbewussten Gewissens ab. Denn er fühlteschuldig – mehr und mehr mit jedem Leben, da

    nahm. »Ich war für kurze Zeit verheiratet«, sagt»Ich war jung.«»Waren wir das nicht alle«, erwiderte Ellison.waren noch nicht bereit, eine solche Bindung eigehen?«Jonah schüttelte den Kopf. »Ich war bereit.«»Aber sie war es nicht«, sagte Ellison.Jonah senkte seinen Blick und zupfte nervös annem rechten Hosenbein, dann sah er wieder zu son. »Sie ist gestorben«, sagte er und wählte abs

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    lich härtere Worte als Ellisons »Sie ist verschiedEllisons Miene erstarrte.»Wo wir schon davon sprechen«, sagte Jonah, »ich vertraue darauf, dass es unter uns bleibt –kann nachempfinden, was Sie durchgemacht haIch habe das Gleiche durchgemacht.«»Es tut mir wirklich Leid«, sagte Ellison und rundie Augenbrauen. »Was ich gesagt habe, musklungen haben ...«»Wie die Wahrheit«, fiel ihm Jonah ins Wort. »jemand, der durchgemacht hat, was wir durchmacht haben, kann es je verstehen.«Ellison nickte.

    »Ihr Name war Anna«, sagte Jonah, und sein Bwanderte gedankenverloren zu einer Ecke von sons Schreibtisch. »Wir haben uns bei einem Tanauf dem Mount Holyoke College in Massachukennen gelernt.« Er schloss einen Moment lang Augen, dann schlug er sie wieder auf und lächeltwürde ihm eine glückliche Erinnerung Trost spden. »Sie hatte sich für ein Frauencollege entsden, weil sie schüchtern war – praktisch schon krhaft schüchtern. Sie hatte zwei ältere Brüder, di

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    immerzu geneckt haben. Richtig schlimm gewoist es, als sie so um die elf war, genau zum richZeitpunkt, um den größtmöglichen psychosexueSchaden anzurichten. Aber sie hat sich sehr hergemacht, nachdem wir uns verlobt hatten. Ist in jHinsicht aufgeblüht. Sie schien diese Art von Siheit zu brauchen.« Er sah abermals Ellison an.cherheit«, wiederholte er kopfschüttelnd. »Siedreiundzwanzig, als sie starb.«»Mein Gott«, sagte Ellison. Er schwieg einen Molang. »Darf ich fragen, woran sie gestorben ist?Jonah wusste, dass eine Frau, die im Alter vonsons Ehefrau Elisabeth starb, höchstwahrschein

    Krebs zum Opfer gefallen war. Eine Herzerkrankkam ebenfalls in Frage. Ein Autounfall war natüimmer eine Möglichkeit. »Anna ist an Krebs geben«, traf er seine Wahl. Er war in der StimmungGrenzen seiner Intuition auszutesten. »Die Eiercke«, sagte er.»Brustkrebs«, sagte Ellison über seinen eigenenlust.Nah genug dran, dachte Jonah bei sich. Eierstkrebs. Brustkrebs. In beiden Fällen war das Ende

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    der kurz noch schmerzlos. Ellison hatte die Hdurchlebt, und jetzt glaubte er, Jonah habe die gleErfahrung gemacht. »Die Leute sagen einem, man schon darüber hinwegkommt«, sagte Jo»sobald genügend Zeit verstrichen ist, sobald mane neue Beziehung findet, sobald man an genügSonntagvormittagen genügend Gebete gesprochat, aber ich glaube nicht, dass ich je darüber wegkommen werde.«Ellison musterte ihn wie einen Blutsbruder. »auch nicht«, pflichtete er bei.Jonah schluckte schwer und sagte lange nichtsdem emotionalen Kitt zwischen ihnen Zeit zu las

    sich zu verfestigen. Als er schließlich sprach, tdies mit dem Tonfall eines Mannes, der bewussErinnerung an eine große Tragödie verdrängt. »Nalso ... okay«, sagte er. »Kommen wir zu angeneren Dingen ...«»Nur zu gern«, bestätigte Ellison.»Erzählen Sie mir mehr über die Abteilung«, sJonah. »Wie kann ich helfen?«»Sie haben bereits geholfen.« Ellison lächelte Jan. »Danke.« Jonah nickte ernst.

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    »Aber was die Abteilung angeht ...«, lenkte Eseine Gedanken zurück auf das ursprüngliche G»Wie Sie wissen, haben wir zwanzig Betten. Gehin sind wir ausgelastet, und es gibt eine WartelWir sind die einzige geschlossene Psychiatrie imkreis von zweihundertfünfzig Meilen. Die Einwnerschaft von Canaan und den umliegenden Städist strikt Arbeiterschicht, hauptsächlich Holzwschaft. Die Eltern haben gewöhnlich nur eine eche Schulbildung, wenn überhaupt. Viel Alkohmus, wie man in einer solchen Gegend erwakann. Dazu kommt ein nicht unbeachtlicher illegDrogenkonsum. Kokain. Heroin. Alles zusam

    der ideale Nährboden für Misshandlung und Vnachlässigung. Und ich würde sagen, dass wir emehr als durchschnittlichen Anteil an Depressiohaben.«»Harte Winter«, bemerkte Jonah.»Vielleicht. Es könnte auch einfach nur eine Bkerung von unterdurchschnittlichem sozioökonoschem Status widerspiegeln.« Ellison machtekurze Pause. »Ich kann Ihnen sagen, dass die Kidie hierher kommen, wie wohl auch in den and

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    psychiatrischen Abteilungen, in denen Sie gearbhaben, schwer geisteskrank sind. Endogene Depsion, Schizophrenie, Drogenabhängigkeit. Die Kkenversicherungen würden sonst einer Einweisüberhaupt nicht zustimmen. Und in dieser Geggibt es nicht eine Familie, die die Rechnung fürstationäre Behandlung aus eigener Tasche bezakönnte.«»Ich arbeite gern mit schwer kranken Patienten«klärte Jonah. »Dann werden Sie sich hier wohllen«, sagte Ellison. »Jede dritte Nacht Bereitsch»Stimmt. Sie arbeiten mit Michelle Jenkins und Plotnik zusammen. Ich verspreche Ihnen, die

    sehr froh, Sie zu sehen. Sie teilen Dr. Murphystienten zwischen sich auf, und das sind nicht weEr war sehr beliebt.«»Ich hoffe, ich werde seinem Vorbild gerecht.«»Da bin ich sicher«, sagte Ellison. Er schaute anen Terminkalender, der aufgeschlagen auf seinSchreibtisch lag. »Sie fangen also am Dritten desnats an, wie geplant?«»Ich kann heute anfangen«, erklärte Jonah eiliggierig darauf, nicht nur für seine Zerstörungswut

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    ße zu tun, sondern sich an den verschlungenenbensgeschichten zu nähren, die er so dringbrauchte.»Wie wär’s mit gestern?«, feixte Ellison. Er stan»Ich zeige Ihnen kurz, wo alles ist.« Er machtePause. »Da fällt mir gerade ein, dass wir um zwöne Fallbesprechung haben. Gewöhnlich stellenJenkins oder Dr. Plotnik mir einen Fall vor. Ichfrage den betreffenden Patienten in Anwesenheitseres Pflegepersonals und sehe, ob ich ihm etwaslocken kann, was sie noch nicht herausgefundenben, zaubere gewissermaßen das sprichwörtlicheninchen aus dem Hut.« Er zwinkerte. »Heute ist P

    nik dran. Warum übernehmen Sie nicht an meiStelle? Auf die Weise kann unser Stab gleich IArbeitsstil kennen lernen.«»Es wäre mir eine Ehre«, sagte Jonah. »Danke.«»Danken Sie mir, nachdem die Schwestern undzialarbeiter Sie mit Fragen durchlöchert haben«widerte Ellison. »Sie lieben es, meine klinischeurteilungen zu zerpflücken. Ich bezweifle, dassich bei Ihnen mehr zurückhalten werden.«

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    »Nur immer zu«, sagte Jonah. »Ich betrachte eInitiationsritual.«Der zu den Seiten hin ansteigende Hörsaal des nen Canaan Memorial Hospital war augenscheinjüngst renoviert worden, mit neuem, dunkelgrauTeppichboden, rund zweihundert bequem gepolsten, perlgrauen Klappsitzen und einer Phalanx Wandleuchten, die ein sanftes Licht auf die zartWände warfen, an denen hier und dort Drucke friedlichen Landschaftsszenen hingen. VerschnKiefern. Schäfchenwolken. Ein vereistes BächleWährend Jonah mit Craig Ellison eintrat, schlenten aus allen Richtungen Männer und Frauen her

    Ein Rednerpult und ein heller Eichentisch befansich vorne im Saal. Hinter dem Tisch standen Polstersessel mit hohen Lehnen einander gegenüJonah war schon in Dutzenden von Hörsälen wiesem gewesen, und alles an ihnen zielte ebenso wnah mit seiner Kleidung, seinem Verhalten, seWortwahl darauf ab, Leute anzusprechen und zuruhigen, damit sie im Gefühl größtmöglicher Sicheit ihre dunkelsten Gedanken verrieten. Die Dänen, die im Inneren von Leuten lauerten – jene

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    tesk entstellten Kloakenbewohner des Verstandie von dem unaussprechlichen emotionalen Infedessen, was wir Alltagsleben nennen, in den Ugrund getrieben werden –, waren ihrerseits leichverschrecken, flüchteten sich blitzschnell in dabyrinth des Unterbewusstseins, wo sie dann orienrungslos und mutterseelenallein und in verzweifSehnsucht nach einer Berührung umherirrten, din ihrer Isolation wenigstens sicher waren vor dervon Tiefschlägen, ob physisch oder emotional,oder eingebildet, die sie bei helllichtem Tage haeinstecken müssen. Manipulierende Mütter, gewtätige Väter, lüsterne Erzieher, falsche Freunde,

    lose Ehen, tote Großeltern, tote Eltern, tote schwister, tote Kinder, Tod, der geduldig warteauf sie. Sie brauchten den stillen Trost von Pastenen und indirekter Beleuchtung, von endlosen Paramen und blauem Himmel, einer samtenen Stimwie der von Jonah, den mitfühlenden Blick blAugen wie der seinen.Doch all diese Dinge reichten nur ellbogentief inUnterbewusstsein und ließen die komplexestenthologien unberührt. Jonahs Zugriff reichte weit

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    fer hinab, in die entferntesten Winkel der dunkelGedanken. Und die geheime Zutat, die mehr als andere die Wunder erklärte, die er bei seinen Patten vollbrachte, war schlicht diese: die fühlbaregenwart seiner eigenen Dämonen. Jene, die undbare Gedanken hegten, spürten tief in ihrem Herdass sie eine verwandte Seele gefunden hattenmanden, der die unbeschreibliche Qual des Leverstand, wenn man in Scherben gegangen war, ge davon so scharfkantig, dass nach bloßer Berung die Blutung nie wieder zu stillen sein würd»Da ist einer Ihrer Leidensgenossen«, bemerkteson zu Jonah und deutete mit einem Nicken auf

    Frau von erotischem Äußeren, Mitte bis Ende dßig, mit langen, glatten, schwarzen Haaren, die iner kleinen Gruppe auf der anderen Seite des Sstand. »Dr. Jenkins. Kommen Sie, ich stelle Sie eder vor.«Jonah folgte Ellison zu der Frau hinüber.»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Ellison und fassvon hinten am Arm.Jenkins drehte sich um. Sie trug einen schlichdoch elegant geschnittenen Hosenanzug mit ein

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    limonengrünen T-Shirt darunter. »Wie gehCraig?«, sagte sie. Sie nickte Jonah zu, dann sawieder Ellison an.»Wie immer bestens«, sagte Ellison.»Paul hat heute eine wirklich harte Nuss für Sie«te sie. »Ein neunjähriger Junge. Praktisch stumDer Kleine hat kaum zehn Worte gesprochen, seeingewiesen wurde.« Sie zwinkerte Jonah zu. »Wwir mal sehen, was der Boss bei ihm erreichen kJonah schaute in Jenkins’ bernsteinfarbene Auderen Weiß aus dem Rahmen ihrer glänzenden Hre hervorblitzte. Die Mandelform ihrer Augen ihre leichte Schrägstellung gegenüber den Wan

    knochen deuteten eine zum Teil asiatische Abstmung an, die auch ihre bräunliche Haut und ihlangen, anmutigen Hals erklären würde. Wenn sichelte, tauchten Grübchen in ihren Wangen auf verrieten sie als zugängliche, nicht unberührbSchönheit. »Welche waren es?«, fragte Jonah.»Wie bitte?«, sagte Jenkins.»Die Worte«, sagte Jonah. »Welche zehn Worteder Junge gesprochen?«

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    Jenkins schmunzelte. »Ich habe nicht daran gedanachzufragen. Ich hätte es tun sollen.«Ellison kicherte. »Michelle Jenkins, das hier ist JWrens, der Arzt von Medflex, von dem ich Ihnezählt habe.«»Dachte ich es mir doch«, sagte Jenkins und reihm ihre Hand. »Mein Retter.«Jonah schüttelte ihre Hand. Sie war weich und gliedrig, mit langen, anmutigen Fingern – eine Hdie seiner eigenen an Attraktivität in nichts nastand. Er bemerkte, dass Jenkins am Mittelfingenen Verlobungsring mit einem Brillanten von wvier oder fünf Karat trug. Sie hatte vermutlich

    der Verlobung noch keine Zeit gehabt, den Ring ner machen zu lassen. Oder vielleicht war sie gar nicht verlobt, und der Ring war ein Erbstückihr eine liebende Großmutter hinterlassen ha»Retter mag ein bisschen übertrieben sein«, sagtnah.»Sie sind auch nicht derjenige, der seit sieben Mten jede zweite Nacht Bereitschaft hatte«, sagtund neigte ihren Kopf auf eine wundervoll femiArt. »Jede dritte Nacht wird mir wie das Paradies

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    kommen.« Sie sah Ellison an. »Sie sind schuldich völlig erledigt bin.«»Ansehen tut man es Ihnen aber nicht«, sagte Elmit einer angedeuteten Verbeugung.»Es wird Zeit, dass Sie sich eine neue Brille versben lassen«, gab Jenkins zurück. Sie schaute üblisons Schulter. »Da kommt Paul.«Jonah drehte sich um und sah einen Mann in eindunkelblauen Blazer und einer zerknitterten Twhose auf sie zukommen.»Paul Plotnik«, sagte Ellison. »Der dritte MuskePlotnik, ein drahtiger Mann um die fünfundfünmit spärlichem, widerspenstigem Haar und sch

    len, hängenden Schultern, gesellte sich zu ihnenne Hose hatte über dem linken Knie Flecke. »Ichheute eine harte Nuss für Sie«, verkündete er Elmit einem leichten Lispeln. Sein Blick huschte znah, dann zu Jenkins, dann wieder zu Ellison. »NJahre alt, praktisch stumm. Er bewegt sich kaHört Stimmen, vermute ich. Leidet möglicherwauch an Halluzinationen.«»Erzählen Sie das alles Dr. Jonah Wrens von Mflex«, sagte Ellison und deutete mit einem Nick

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    Jonah. »Ich habe ihn gebeten, heute für michübernehmen.«»Wunderbar.« Plotnik schüttelte Jonahs Hand –fest. »Ich habe viel von Ihnen gehört. Wann sinangekommen?«»Erst heute«, sagte Jonah. »Das nenn ich einen Hschlag.« Er bemerkte, dass die linke Seite von niks Gesicht etwas hing. Er hatte einen leicSchlaganfall gehabt. Das erklärte auch sein Lisp»Das hör ich nicht zum ersten Mal«, erwiderte Pnik und gab endlich Jonahs Hand frei.»Dr. Ellison lässt Sie also gleich hart arbeiten«merkte Jenkins zu Jonah. »Eine richtiggehende

    erprobe.«»Mir macht das nichts aus«, versicherte Jonah. Eihr in die Augen. Oder sah sie ihm in die Augen?können ja meine Retterin sein und mich wieder richten, wenn ich abstürze.« Er lauschte seinen nen Worten, während er sie aussprach, hörte, wiFürsorge, sexuelle Leidenschaft und Gefahr verden. Meine Retterin. Wieder aufrichten. Abstürzen.war nicht seine Absicht gewesen, eine solch deutBotschaft zu übermitteln.

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    »Werd ich tun«, versprach Jenkins mit einem Havon Verführung in ihrer Stimme.Ellison zog eine Augenbraue hoch.»Nun dann, wollen wir anfangen?«, sagte Plotniklächelte nervös. »Damit wir sehen, was man heutage für zwanzig Riesen pro Monat kriegt.«Jonah lachte.»Paul, das ist wirklich unangebracht«, rügte Ell»Das war ein Scherz«, sagte Plotnik und hielschwichtigend seine Hände hoch. »Ein Scherz. Nweiter.«»Habe ich auch so verstanden«, versicherte Jon»Dr. Ellison hat nichts verraten«, sagte Plotnik z

    nah. »Er ist verschwiegen wie kein Zweiter. Ichselbst einmal überlegt, für Medflex zu arbeiten. halb weiß ich ziemlich gut, was die zahlen.«»Aber im Endeffekt sind Sie dann doch liebergeblieben?«, fragte Jonah.»Craig hat mir zweiundzwanzigtausend pro Moangeboten«, erwiderte Plotnik und brach in schaldes Gelächter aus.»Das träumst du auch nur«, feixte Jenkins.»Lassen Sie uns anfangen«, sagte Ellison.

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    »Aber mal ganz im Ernst«, wandte sich Plotnik anah.»Keiner erwartet, dass Sie ein Wunder vollbrinEr ist schon drei Wochen auf der Station. Bringeihn nur dazu, zwei Worte sinnvoll aneinanderhängen, und Sie sind ein Held.« Er machte auf Absatz kehrt und marschierte auf das Rednervorn im Saal zu.

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    Der Hörsaal war fast bis auf den letzten Platz geEllison erklärte Jonah, dass das Canaan Memorine der wenigen medizinischen Einrichtungen in mont war, wo Mitarbeiter aus dem Gesundheitssen die Fortbildungsbescheinigungen erwerkonnten, die sie brauchten, um ihre Zulassung zuhalten. Sozialarbeiter, Psychologen und Psychaus dem ganzen Bundesstaat kamen zu diesenchentlichen Fallbesprechungen.Jonah hörte von einem Platz in der ersten Reihezu, während Paul Plotnik begann, die psychiatri

    Krankengeschichte des neunjährigen Benjamin Hlihey vorzustellen. Nach der Falldarstellung wman Herlihey hereinbringen, damit er befragt wden konnte.»Benjamin Herlihey ist ein neunjähriger Weißeram dritten Januar dieses Jahres in die geschlosPsychiatrie eingewiesen wurde«, las Plotnik vonnem Manuskript ab. »Er ist Einzelkind. Sein Vatebeitet auf einem der örtlichen Holzplätze, und sMutter arbeitet von zu Hause aus als Tagesmu

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    Nach Aussage seiner Eltern zeigte Benjamin übedrei Monate vor seiner Einweisung zunehmSymptome einer schweren Depression, einschlieeines Appetitmangels, der zu einem Gewichtsvevon rund acht Kilo führte, unzureichendem Schaus dem er zumeist in den frühen Morgenstunerwacht, Verlust des Interesses an allen Aktivitädie ihm zuvor Vergnügen bereitet hatten, Enerverlust und periodisch auftretender WeinerlichkPlotnik machte eine Pause, starrte aber weiter aufne Notizen. Er steckte sich seinen Zeigefinger insund bohrte, als wolle er Ohrenschmalz entferneEllison beugte sich zu Jonah. »Eine nervöse A

    wohnheit«, flüsterte er.Sehr nervös, dachte Jonah bei sich.»Benjamin wurde ambulant von einem Psychibehandelt, der ihm Zoloft in einer Dosierung fünfzig Milligramm verschrieb, ohne dass eine serung der Symptome eintrat«, fuhr Plotnik f»Die Dosis wurde langsam auf einhundert Mgramm erhöht, dann auf zweihundert. Es konnte ne lindernde Wirkung festgestellt werden. Die Sytome des Patienten verschlimmerten sich weiter.

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    sipramin in einer Dosierung von fünfzig Milligrajeden Morgen wurde hinzugegeben. Doch trotzser Medikamentenkombination verlor der Patikontinuierlich an Energie, und sein Gewicht ebenfalls weiter. Er ging nicht mehr zur Schulewurde zu Hause immer verschlossener. Um MDezember herum war Benjamin praktisch stumbeantwortete Fragen mit Ja und Nein, ließ sich nicht weiter aus. Er begann, Augenkontakt zu meiden. Sein Psychiater kam, meiner Meinung zu Recht, zu dem Schluss, dass Benjamin nicht uendogener Depression litt, sondern unter einem ten psychotischen Schub, der den frühen – kindh

    lichen – Ausbruch von paranoider Schizophreniekündigt.«Geflüster im Publikum über die schlechte Progbei extrem früh ausbrechender Schizophrenie. dogene Depression war auch nicht auf die leiSchulter zu nehmen, reagierte aber bei weitem bauf Behandlung.Plotnik bohrte abermals mit dem ZeigefingerOhr, dann blätterte er mit demselben Finger aufnächste Seite seiner Falldarstellung um. »Seit s

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    Einweisung am dritten Januar hat der Patient völliges Schweigen gewahrt. Er scheint gelegegeistesabwesend, vermutlich aufgrund von Halnationen. Er blickt an die Decke, als würde er Smen hören oder eine Vision haben.Benjamin hat seit Beginn seiner Erkrankung knormale Nahrung mehr zu sich genommen, sanorexisches Verhalten hat sich auf der Station verschlimmert und stellt inzwischen eine ernstlGefahr für seinen Stoffwechsel dar. Wir verabreiihm mittels Tropf die nötigen Nährstoffe, dochwerden binnen der nächsten Tage einen Nahrunschlauch einführen müssen, um sein Überleben

    sichern. Seine Eltern haben dem Eingriff bereitgestimmt. Direkt anschließend werden wir mitElektrokonvulsionstherapie beginnen in der Hnung, positiv auf Benjamins Psychose einwirkekönnen.Psychodynamisch scheint relevant, dass BenjamVater die Familie vor drei Jahren ohne Vorwarnverlassen hat, beinahe auf den Tag genau an demtum, an dem die Symptome seines Sohns erstmauftraten. Mr. Herlihey blieb vier Monate lang

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    verweigerte jeglichen Kontakt mit seiner Famdann kam er ebenso unvorhergesehen zurück. EiGrund für sein plötzliches Fortgehen oder seinevermittelte Rückkehr hat er nie offenbart.Man fragt sich, ob Benjamin das Schweigen sVaters imitiert, ob er sich zu Tode hungert, um nem ungestillten emotionalen Hunger Ausdruckverleihen.« Plotnik sah zum ersten Mal von seiManuskript auf. »Wie zu befürchten war, hat Bemins Vater diese Theorie strikt verworfen. Er istterhin nicht bereit, das Geheimnis zu lüften, wain seiner Abwesenheit getan hat und was ihn zunem Verhalten bewogen haben könnte.«

    Plotnik nickte Jonah zu. »Unser fachärztlicher Bter wird heute der jüngste Personalzugang der chiatrischen Abteilung des Canaan Memorial sDr. Jonah Wrens.« Sein Blick wanderte zu demgen Mann, der neben der Tür des Hörsaals stand, er sagte: »Bringen Sie bitte Benjamin herein.«Plotnik stieg vom Podium und ging zu dem Platzben Jonah. Jonah stand auf. Er wollte zu den Sehinter dem Eichentisch gehen, doch er blieb steals sich die Hörsaaltür öffnete und Benjamin H

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    hey in einem Rollstuhl und mit einem mobilen Tan jedem Arm hereingeschoben wurde.Selbst eingehüllt in eine weiße Krankenhausdähnelte Benjamin Herlihey den Gestalten in eiKonzentrationslager des Zweiten Weltkriegs. Seingesunkenen Augen hatten bläuliche Ringe. rote Haar war fein und dünnte aus, sodass an einiStellen bereits seine Kopfhaut durchschimmerteKnochen seiner Beine und Arme zeichneten kaum ab unter dem weißen Webstoff, der sie zudte. Sein Körper war schlaff und saß zusammesackt in der linken Ecke des Rollstuhls. Er mutetnah alterslos an, neun oder neunzig, der Geb

    ebenso nah wie dem Tod.Jonah begab sich ans vordere Ende des Saals. Eeinen der Sessel vom Tisch weg, um Platz für Bmins Rollstuhl zu schaffen. Dann saßen sich dieden – Arzt und Patient – schweigend gegenüber. jamins Kopf hing kraftlos zur Seite, während enah mit leerem Blick anschaute.»Ich bin Dr. Wrens. Jonah Wrens.«Benjamin sagte nichts und zeigte auch keine anReaktion.

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    »Dr. Plotnik hat mich gebeten, mit dir zu sprechum zu sehen, ob ich dir helfen kann.«Benjamins Augen verdrehten sich erst nach odann nach links und starrten einen Moment langdie Decke, bevor sie langsam wieder zur Mittrückkehrten.Jonah betrachtete die Stelle, zu der Benjamins Banscheinend gewandert war. Dort war nichts. Erwieder den Jungen an. »Dr. Plotnik hat mir von nen Schwierigkeiten erzählt. Ich möchte sie beverstehen lernen.«Benjamin reagierte nicht.Jonah wollte gerade eine weitere Frage stellen

    Jungen anstacheln, ein oder zwei Worte zu stammDoch er überlegte es sich, lehnte sich im Sesserück und saß einfach nur mit ihm da. Eine Minverstrich. Dann zwei. Gelegentlich verdrehtenBenjamins Augen zur Decke, und wenn sie das tverdrehte Jonah seine Augen in exakt der gleiWeise.Zwei Minuten Schweigen sind mehr, als die meMenschen ertragen können. Die Leute im rutschten nervös auf ihren Sitzen herum. Jonah

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    aus dem Augenwinkel, wie sich einige zur Seite ten, um mit ihren Kollegen zu flüstern. Er konsich nur zu gut vorstellen, was sie sagten.Wer ist dendieser Kerl bloß? Tut er jetzt mal irgendwas? Warumsagt er denn nichts, Himmelherrgott noch mal? Jonah verbannte das alles aus seinem Kopf. OhneAugenkontakt mit Benjamin zu brechen, begannganz langsam seinen eigenen Kopf, seinen Hals, Brust, seine Arme, Hüften, Schenkel, Knie und so zu bewegen, dass sie genau die gleiche Positiodie des Jungen annahmen; er verwandelte sich inSpiegelbild des Jungen, suchte die genaue Entchung zum Schwerpunkt von Benjamins Gleic

    wicht durch den Druck, den er an manchen Steauf seiner Haut fühlte, an anderen dagegen nidurch die Anspannung, die er in einigen seiner Mkeln spürte, und den Mangel an Spannung in anren.Weitere zwei Minuten verstrichen in diesem Zusvölliger Bewegungslosigkeit, während das Publimmer unruhiger wurde und Jonah immer tiefeseinem Sessel zusammensackte und zunehmendder Klon des kranken Jungen ihm gegenüber aus

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    Dann richtete sich Jonah plötzlich in seinem Sauf. Er erhob sich. Er trat zu Benjamin, ging vorin die Hocke und sah ihm in die Augen. »Ich wdich jetzt anfassen«, sagte er mit kaum hörbStimme. »Hab keine Angst.« Er streckte seine Haus, sodass Benjamin sie sehen konnte.Im Saal wurde es schlagartig mucksmäuschenPsychiater fassen nicht an. Sie wahren strikte Gzen. Sie heilen von der anderen Seite des Zimaus.»Was zum Henker wird denn das?«, hörte Jonah nik murmeln.Jonah schaute zu Craig Ellison und sah den zwei

    den Ausdruck auf seinem Gesicht. Doch er sah adass sich Michelle Jenkins wie gebannt in ihremvorbeugte.Er konzentrierte sich wieder auf Benjamin. »Habne Angst«, sagte er. Er schaute dem Jungen eindlich in die Augen, dann wandte er seine Aufmsamkeit dem linken Arm des Knaben zu, der reauf seinem Schenkel ruhte. Er hob ihn gute zwaZentimeter hoch, dann ließ er ihn los und schautewie er totem Ballast gleich herunterfiel. Dann ho

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    den rechten Arm hoch und ließ ihn fallen. Der Asenkte sich langsam wieder hinab.Wie ein Mann, der die Glieder einer lebensgroAnimationsfigur bewegt, zog und schob Jonah jamins Arme und Beine hierhin und dorthin. Er fmit seiner Daumenspitze über die Sohlen von Bjamins Füßen und beobachtete, wie sich die ZehReaktion auf den spezifischen Druck krümmtenbeugte sich ganz dicht heran, sodass sein Gesichwenige Zentimeter von Benjamins Gesicht entfwar. Er sah nach links und nach rechts, nach ound nach unten und beobachtete, wann BenjamAugen der Bewegung folgten, wie es die Augenr

    diktierten, und wann sie es nicht taten.Er lehnte sich wieder etwas zurück. »Danke«, er zu Benjamin. »Ich glaube, ich verstehe das blem jetzt.« Er stand auf und gab dem Mann,Benjamin in den Saal geschoben hatte, ein Zeic»Fertig«, verkündete er.Er trat an das Rednerpult und wartete, bis Benjadas Auditorium verlassen hatte. Dann ließ er seiBlick über das Publikum schweifen und atmetedurch. »Das ist ein ungewöhnlicher Fall«, sagte

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    »Es ist auch eine ungewöhnliche Fallbesprechubemerkte Paul Plotnik in einem BühnenflüsternNervöses Gelächter verbreitete sich im Saal.Jonah sah Plotnik an, der ein breites Grinsen Schau trug. »Glioblastom-Gehirntumore sind in ser Altersgruppe extrem selten«, sagte er. »In diFall«, fuhr er fort und wandte sich nun an das geste Publikum, »ahmt der Tumor aufgrund seiner sition im Gehirn perfekt eine Geisteskrankheit nSein Ausgangspunkt liegt direkt neben dem limschen System, in der rechten Hirnhälfte, sodassbösartigen Zellen zuerst in den Mandelkernkomeingedrungen sind und dadurch Stimmungsschw

    kungen und Veränderungen in den Muskelfunknen hervorgerufen haben. Dann haben sie sich üdie Basalganglien langsam weiter nach innen aubreitet in die Querfurche der Großhirnrinde, wokanntermaßen das primäre Sprachzentrum angedelt ist.« Er machte eine kurze Pause und sah amals Paul Plotnik an. »Dr. Plotnik«, sagte er. »HSie eine Computertomographie veranlasst?«»Selbstverständlich«, erklärte Plotnik entrüstet.»Ich habe schon aus Ihrer gründlichen Falldar

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    lung geschlossen, dass Sie das getan haben würlenkte Jonah ein.Er wollte Plotnik davor bewahren, als Dummkdazustehen, und sich davor bewahren, sich eFeind zu machen. Er sah wieder zum Publikum. »Problem ist, dass acht Prozent aller Glioblastomsionen nur bei einer Magnetresonanztomograperkennbar sind. Und gemeinhin veranlassen wir ne Magnetresonanztomographien für Patienten, ren Symptome sich augenscheinlich durch Depron erklären lassen – oder durch Schizophrenie.machte abermals eine Pause. »Benjamin brauchtne Elektrokonvulsionstherapie. Er braucht eine O

    ration – und zwar umgehend. Glioblastome sindgressiv, doch behandelbar, wenn sie früh genugdeckt werden.«»Aber was ist mit der Psychose?«, fragte Michellkins. »Wie erklären wir die?«»Ich glaube nicht, dass Benjamin Visionen hat«, Jonah. »Seine Augen wandern nach oben links,die Nerven der Augenmuskeln, die das Auge zenren, geschwächt sind. Der Tumor zerstört sie.«

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    Eine junge Frau in einer der hintersten Sitzreimeldete sich.Jonah nickte ihr zu.»Wie sind Sie darauf gekommen?«, wollte sie w»Indem ich Benjamin zugehört habe«, antwortetnah.»Aber er hat kein Wort gesagt«, entgegnete die jFrau.»Genau«, sagte Jonah.»Genau was?«, fragte ein anderer Mann in der Mdes Saals.»Benjamins völliges Schweigen war für mich dete Hinweis darauf, was ihm fehlte«, erklärte Jo

    »Wenn er ein einziges Wort von sich gegeben hwäre ich versucht gewesen, es psychologisch zulysieren. Wenn er geweint hätte, hätte ich mir mutlich die Zeit genommen, ihn dazu zu bringmir von seiner Traurigkeit zu erzählen oder vonanderen Symptomen der Depression, unter denemöglicherweise leidet.« Er machte eine kurze P»Benjamin hat mir geholfen, klar zu sehen. Schlüssel war, schweigend mit ihm zusammenz

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    zen und genau zu beobachten, ohne sich von Wooder Emotionen ablenken zu lassen.«Paul Plotnik räusperte sich und hob seine Hand.Jonah nickte ihm zu.»Bevor wir einen Neurochirurgen rufen, solltenda nicht erst ein Magnetresonanztomogramm mchen lassen?«, fragte er. »Können Sie absolut ssein, dass es nicht normal ausfallen wird?«»Ich kann nicht absolut sicher sein«, antwortetenah, »aber es würde mich stark wundern, wennormal wäre.«Plotnik wandte den Blick ab. Seine Schultern sacnoch mehr herunter.

    Jonah wollte ihn rehabilitieren. »Dr. Plotniks psylogische Theorie erscheint mir übrigens plausiberklärte er dem Publikum. »Benjamins Erkrankkönnte durchaus von dem unvorhergesehenen Wgang des Vaters von der Familie ausgelöst wosein.«Plotnik sah ihn an. »Sagten Sie nicht gerade, er einen Gehirntumor?«»Glioblastome ruhen bis zu sechs Jahre, bevosich ausbreiten«, erklärte Jonah ihm. »Das bringt

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    wieder zu der Zeit, als Mr. Herlihey seine Famililassen hat. Lassen Sie uns eins nicht vergessenlimbische System ist das emotionale Kontrolltrum des Gehirns. Niemand kann mit Gewissheigen, ob der Verlust des Vaters nicht eine bösarGeschwulst in diesem Bereich hervorrufen kWarum sollte das unwahrscheinlicher sein alsTatsache, dass Stress das Herz schädigt?«Plotnik starrte Jonah an.»Und wer vermag zu sagen«, fuhr Jonah fort richtete seinen Blick wieder auf das gesamte Pkum, »ob es nicht, wenn Mr. Herlihey die volle Wheit über jene Monate seiner Abwesenheit erz

    hätte, irgendwie Benjamins Immunsystem hätte sken können, die Zahl seiner Antikörper hätte erhen können, vielleicht sogar dazu hätte führen knen, dass sich der Tumor zurückbildet? Die Wahrhat die Kraft zu heilen.«Jonah bemerkte, dass Craig Ellison ihn fast ehrfütig anschaute. Er entschied, nicht auf halbem Wanzuhalten und die volle Wahrheit darüber ans Lzu bringen, weshalb Paul Plotnik mit seiner Diagüber Benjamin so danebengelegen hatte. Er sah

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    der zu ihm. »Ebenso interessant ist die TatsaPaul, dass Sie aus eigener Erfahrung etwas vonnachempfinden können, was Benjamin in neurgischer Hinsicht durchlitten hat.«Plotnik sah Jonah fragend an. »Reden Sie von nem Schlaganfall?«»Ja«, sagte Jonah. »Würde es Ihnen etwas ausmawenn ich Ihre Erfahrung benutzen würde, um Lehre für uns alle daraus zu ziehen?«»Nicht im Geringsten«, erwiderte Plotnik, undseine Verärgerung war verpufft.»Sie hatten nur einen leichten Schlaganfall«, sagnah. »Aber nach den speziellen Gesichtsmuske

    urteilen, die betroffen sind, und der Überkompention der Muskeln Ihrer rechten Körperhälfte –kräftiger Handschlag –, ist das Gehirn wahrschlich in einem Bereich des Motorkortex geschäder an jenen grenzt, in dem Stimmungen uSprachvermögen gesteuert werden.«»Stimmt genau«, bestätigte Plotnik ungläubig.»Sodass Sie sich nach Ihrem Schlaganfall nichkörperlich geschwächt fühlten, sondern auch Pro

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    me bei der Wortfindung hatten – und Probleme Depressionen.«»Ein bisschen.«»Und beides hat sich weitestgehend gegeben, albetroffene Hirngewebe abgeheilt ist.«»Es hat sich völlig gegeben«, versicherte PlotniJonah sah keinen Sinn darin, Plotnik darauf hinweisen, dass sein Sprachverhalten und sein Auftrkeineswegs gänzlich zum Normalzustand zurückehrt waren – und dies niemals tun würden. DPlotniks Weigerung, die fortgesetzten Auswirkundes Schlaganfalls zu akzeptieren, bestärkte JoVerdacht. »Möglicherweise hat die Tatsache, da

    nicht an Ihre eigene Hirnverletzung denken woles Ihnen bedeutend schwerer gemacht hat, Bemins Problem zu erkennen. Ihr erster Impuls könsein,nicht an so etwas zu denken.«Plotnik sah Jonah durchdringend an.»Ich denke, das geht jetzt ein wenig weit«, misich Craig Ellison ein. »Wie Sie schon sagten, kvon uns hätte eine Magnetresonanztomographie anlasst bei einem Fall wie ...«»Nein, Craig«, fiel ihm Plotnik ins Wort. »Ich de

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    übergeben worden waren. Craig Ellison hatte Joangeboten, es langsam angehen zu lassen undeinmal nur ein paar Patienten zu übernehmen, dJonah hatte die Gelegenheit beim Schopf gepsich in einem halben Dutzend junger Leben zu senken.Er saß in seinem provisorischen Büro auf Stationven West und brütete über Krankenblättern, die mnur als Chroniken des Seelenmords bezeichkonnte. Naomi McMorris, sechs Jahre alt, im Avon drei vergewaltigt vom Lebensgefährten Mutter; Tommy Magellan, elf Jahre alt, bereitskainsüchtig geboren und jetzt abhängig von Ko

    und Heroin; Mike Pansky, fünfzehn Jahre alt, hStimmen, die ihm befahlen, sich umzubringen, vzehn Jahre, nachdem seine psychotische Muttersucht hatte, ihn zu töten.Jonah fühlte, wie mit jeder Seite, die er las, dietanz zwischen ihm und der Route 90 East und defrorenen Leiche von Anna Beckwith wuchs. Er eine weitere Chance, Buße zu tun, eine weitere Cce, ein Heiler zu sein, und er war so trunken von Strom der Psychopathologie vor seinen Augen,

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    er überzeugt war, er könne dieses Versprechen g– und halten. Er würde keine Untat mehr begehWie ein Süchtiger mit der Nadel im Arm konntnicht über seinen Rausch hinaussehen. Er konnicht sehen, dass seine eigenen Dämonen niemausgetrieben würden, solange er sich mit den Dänen anderer Leute betäubte.Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und ssich vor, Teile eines Tages oder einer Nacht als NMcMorris oder Tommy Magellan oder Mike Pazu durchleben. Er fühlte das unaufhörliche Tauhen zwischen den Instinkten, zu lieben und zu sen, zu vertrauen und zu fürchten, zu hoffen und

    verzweifeln, das sie Stunde um Stunde austrugebegriff – nicht nur verstandesmäßig, sondern mitnem Herzen –, warum ein Ego, das sich bestästrecken musste, um solche Extreme zu überbrüczwangsläufig zusammenbrechen würde und eJungen wie Mike im freien Fall aus der Realitästürzen ließ, während seine innersten Überzeuggen von seiner eigenen Wertlosigkeit wie ein Burang an ihn zurückschnellten, als körperlose Smen, die verlangten, dass er sich umbrachte. Jo

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    stellte sich vor, so wie Naomi vielleicht aus tiSchlaf zu erwachen, nicht nur verlegen darüber, sie ins Bett genässt hatte, sondern völlig zerstörvon, kreischend, untröstlich in ihrer Scham unihrem Entsetzen, die Kontrolle über ihre Blase loren zu haben, Folge einer Vergewaltigung, dijeglicher Kontrolle beraubt hatte. Er erschauertder unauslöschlichen Verzweiflung, die TommyNeugeborener empfunden haben musste, nachdman ihn nicht nur aus dem Frieden des Mutterleherausgezerrt, sondern auch der ununterbrochenKokaininfusion beraubt hatte, denn jede Zelle seKörpers verzehrte sich bereits nach einer Droge

    er auf immer und ewig unterbewusst mit Geborgheit und Schutz gleichsetzen würde.Während Jonah diese Kinder in sich aufnahm, füer, wie der tobende Sturm in seiner eigenen Seelflaute, wie sich seine Skelettmuskeln entspannseine Augen tränten, spürte die vertraute Versteifin seinem Schoß. Er fühlte sich, als könne er seingene Haut abstreifen und in ein anderes Leschlüpfen. Er fühlte sich frei.

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    Er schlug seine Augen auf und wollte nach dem ten Krankenblatt greifen, doch ein Klopfen anTür ließ ihn innehalten. Er seufzte tief und sehnsütig, stand auf, ging zur Tür und öffnete sie.Michelle Jenkins stand lächelnd vor ihm. »Habesich schon heimisch gemacht?«, fragte sie.Jonah drehte sich um und ließ seinen Blick überBüro schweifen. Es war ein kahler Raum mit eSchreibtisch aus billiger Spanplatte, einem schzen, ledernen Schreibtischsessel, einem einzeSessel für Patienten, einem leeren Bücherregaleinem beige lackierten, metallenen AktenschrDie Wände waren eierschalenfarben, frisch ge

    chen und mit zwei gerahmten Gebirgslandschafähnlich denen im Hörsaal, geschmückt. »Es noch das gewisse Etwas«, sagte er.»Jim Wyatt hatte jeden Zentimeter dieses BürosBüchern und Zeitschriften voll gestopft. Die Wwaren mit selbst aufgenommenen Fotos und segemalten Landschaftsbildern behängt. Er warzwanzig Jahre hier.«»Ich glaube nicht, dass ich dem Zimmer in sechschen meinen eigenen Stempel aufdrücken kann«

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    widerte Jonah. Er ging zum Schreibtisch und ssich auf die Kante.Jenkins trat in das Büro. Sie deutete mit einemcken auf Jonahs Aktentasche, die neben dem Schtisch stand – ein großer, abgewetzter brauner Leranzen mit einem altmodischen Schloss. »Unschätzen Sie sich nicht«, bemerkte sie. »Da schon ein Hauch von Persönlichkeit.«»Die habe ich seit meiner Assistenzzeit«, erklärnah.»Wo haben Sie Ihre Ausbildung gemacht?«, fragt»New York«, antwortete er.»Lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der

    ziehen. In welchem Krankenhaus?«»Columbia Presbyterian.«»Ich bin beeindruckt.«»Und Sie?«»Mass General, in Boston.«»Ich bin sehr beeindruckt«, sagte Jonah.»Halb so wild«, erwiderte Jenkins. »Mit mir konsie einfach ihre gesamte Minderheitenförderuneiner Person abhaken. Ich bin sicher, ich war diezige Frau halb asiatischer, halb lateinamerikanis

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    Abstammung, die sich für eine Assistenz dort beben hat. Dass ich aus Colorado komme, hat wscheinlich auch nicht geschadet.«»Sie sind weit weg von zu Hause«, bemerkte Jo»Ich bin einem Skilehrer gefolgt«, sagte Jenkinist mein Ehemann geworden. Von da an ging’s bab.«Jonah lachte. »Sind Sie noch zusammen?«»Geschieden«, sagte sie. »Vor elf Monaten.«»Darf ich fragen, wie lange Sie verheiratet ware»Sie dürfen mich alles fragen«, sagte Jenkins. SJonah mit ihren bernsteinfarbenen Augen an, wrend sie sich in den Sessel vor seinem Schreib

    setzte. »Fünf Jahre. Irgendwo zwischen fünfzwanzig und dreißig Affären. Ich hab das Zählengegeben. Es rufen immer noch Frauen für ihn a»Verstehe«, sagte Jonah. Jenkins war eine verschte Frau. Er betrachtete den Brillanten an ihrem Mtelfinger. Nichts, was sie gesagt hatte, erklärte ih»Nicht von ihm«, sagte Jenkins und ließ ihn nochmer nicht aus den Augen, während sie mit ihDaumen über den Stein rieb. »Er gehörte meMutter. Sie ist gestorben, als ich noch Teenager w

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    Tod. Wieder einmal. Die große Konstante. Ein Termarsch, der im Hintergrund jeder unbekümmten Begleitmusik des Lebens mitschwang. »Damir Leid«, sagte Jonah.Jenkins zuckte mit den Achseln. »Wir habennicht verstanden«, erklärte sie. »Ich habe michdem Erwachsen werden wirklich schwer getan, dte, die ganze Welt sei gegen mich. Wir habenständig in den Haaren gelegen. Wie es sich ergabten wir keine Gelegenheit, uns auszusöhnen.«Jonah neigte seinen Kopf und musterte JenkSelbst für eine Psychiaterin wirkte sie ausgesprooffen, bereit, eine Menge über sich preiszugebe

    »Also, was sollte das mit der Anmache vorhinmeinem Boss?«, fragte sie. »›Sie können ja meinterin sein und mich wieder aufrichten, wenn ichstürze.‹ Nicht gerade subtil.«»Es war nicht als Anmache gemeint«, versichernah ihr.»Dann müssen Sie michwirklich abschleppen wlen«, erwiderte Jenkins, »wenn die Botschaft gewegs aus Ihrem Unterbewusstsein gekommen isSiewar geradewegs aus Jonahs Unterbewusstsein

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    kommen. Er empfand etwas für Jenkins. »Sie sinne gute Psychiaterin«, sagte er.»Manchmal glaube ich das selbst«, erwiderte»Und dann sehe ich jemanden etwas tun wie dasSie heute bei der Fallbesprechung mit Benjamintan haben. Und dann wird mir klar, wie viel ich nzu lernen habe.«»Das war Anfängerglück«, wiegelte Jonah ab.»Klar doch.« Jenkins stand auf und nagte kurz arer Unterlippe. »Also, zur Sache. Wenn Sie füWochenende noch nichts vorhaben, könnte ich Ihnen die große Stadtführung durch Canaan mchen.«

    Jonah schwieg.»Wir brauchen nicht länger als einen Abend«, sJenkins. »Es gibt in dieser Stadt genau ein anstäges Restaurant und ein Billigkino.«Jonah spürte einen Stich des Bedauerns. Jenkinsschön und freundlich und einfühlsam, und viellehätte er ihr gerne länger zugehört, hätte sie viellesogar berühren mögen. Sie hatte die geschmeiTänzerinnenstatur, die er bei Frauen mochte. KlBrüste, schlanke Taille, schmale Hüften, lange B

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    Doch seit er zum ersten Mal getötet hatte, war erschlossen, Abstand zu anderen Menschen zu wahbis er sich unter Kontrolle haben würde. Er kones sich nicht leisten, dass ihm jemand nah gekam, um die Dunkelheit in seinem Innern zu sehIn eine Frau einzudringen bedeutete, diese Fraeinen selbst eindringen zu lassen. »Ein andermsagte er. »Ich erkunde neue Umgebungen gern s– zumindest bis ich mir einen ersten Eindruck schafft habe. Das gehört zu den Dingen, die mider Arbeit als Vertretungsarzt gefallen.«»Allein zu sein«, bemerkte Jenkins gutmütig.»Vielleicht«, sagte Jonah.

    Sie zuckte mit den Achseln und machte zwei Schauf die Tür zu. »Sie sind ein interessanter Fall«, sie. Sie wollte hinausgehen, doch dann drehte sienoch einmal zu Jonah um. »Es interessiert Sie leicht zu hören, dass Paul eine Magnetresonanmographie für Benjamin veranlasst hat.«»Oh?«, sagte Jonah.»Glioblastome, genau wie Sie gesagt haben – unnau dort, wo Sie gesagt haben.«»Früh genug entdeckt?«, wollte er wissen.

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    »Vielleicht«, sagte Jenkins. »Paul hat einen Neurrurgen und einen Onkologen hinzugezogen.«»Ein Neuroradiologe wäre am besten«, sagte Jo»Gamma-Knife-Radiochirurgie ist die beste Mede bei einem Glioblastom an der betreffenden StDieser Bereich des Gehirns ist sehr reich an Blfäßen. Sie müssen Benjamin schnellstens in ein versitätskrankenhaus verlegen. Johns Hopkins wideal. Das Baylor in Houston wäre meine zwWahl.«Jenkins nickte. »Ich werde es Paul sagen.« Siekurz inne. »Was bei der Fallbesprechung passierwar kein Anfängerglück, Jonah. Sie haben ein

    ßergewöhnliche Gabe. Sie sind ein wahrer HeiSie drehte sich um und ging hinaus.Jonah blieb schweigend sitzen, während sich diehinter Jenkins schloss. Dann stand er auf, trat anSeite seines Schreibtisches und griff nach seinetentasche. Er trug sie in den kleinen Garderobschrank im Büro und stellte sie vorsichtig hinternen Mantel.

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    Nachmittag, 20. Februar 2004Chelsea, Massachusetts

    Frank Clevenger hatte die Füße auf seinen Schtisch gelegt und beobachtete aus dem Fenster seBüros am Hafenrand von Chelsea, wie drei Küs

    wachboote eine Flottille von Schleppern umkreidie mal ziehend, mal schiebend einen Öltankeseiner Anlegestelle am Mystic River bugsierten. sea war ein Gemälde in Öl und Schmutz, eine wge, grimme Hafenstadt im Schatten der Tobin Brideren Stahlskelett sich in einem weiten Bogen Boston spannte, während ihre riesigen Betonfüßeim Gewirr der Mietskasernen, Imbissbuden, Glüspielstuben und Schlachthäuser von Chelsea vekert waren. Öl trieb auf dem Fluss und sickerte inBoden. Man konnte es in der Luft riechen. Die ßen waren wortwörtlich leicht entflammbar, uzweimal, 1908 und 1973, waren Dutzende von serblocks niedergebrannt.

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    Clevenger liebte diesen Ort. Es war eine Stadt Heuchelei, zwei kunterbunt voll gebaute Hügelin ein chaotisches Tal übergingen, wo die Mensschlicht ums Überleben kämpften und nicht bversessen dem guten Leben hinterherliefen.Früher kamen die Tanker herein, dann wurde ihihr schwarzes Blut abgezapft, und sie trieben klaut wieder davon, ohne mehr Aufmerksamkeierregen als die Schornsteine, die stumm ihren auf Chelseas Wohnviertel spien, oder die dünnsogen Turnschuhe der Drogenhändler, die den Broway entlangschlenderten. Doch das war, bevordie Welt am elften September verändert hatte. J

    wirkte alles, was in die Luft gesprengt werden koals würde es jeden Moment in die Luft gesprengtden. Die ganze Nation litt unter einem schwerenfall posttraumatischer Belastungsstörung. Schlfür die Menschen. Gut für Eli Lilly und PfizerMerck. Am Ende würden sie einfach Prozac undloft und Paxil ins Trinkwasser geben, um zu seob es die Angstzustände in Schach hielt. Dennmand wollte mehr wirklich etwas ergründen, nwenn die Verschlingungen in der Psyche der W

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    sich so fest zusammengezogen hatten, dass mansie zu lösen, das eine oder andere Vorurteil aufgmüsste. Da war es schon besser, für einen stStrom an Serotonin zu sorgen und unsere Gehirnden friedvollen Wassern der Leugnung zu badenDas waren die Gedanken, die Clevenger durchKopf gingen, als sein Telefon zu klingeln beganklingelte fünfmal, bevor er danach griff. »Frankvenger«, sagte er, als wolle er sich selbst vergew»Dr. Clevenger, hier spricht Agent Kane Warnverkündete eine gereizte Stimme aus der LeitDer Mann sagte es so, als sei es eine Frage, mit bener Stimme am Ende des Satzes ...Hier spric

    Agent Kane Warner? Die Leute in LA redeten so, fast als wollten sinie auf etwas festlegen. Clevenger warf einen auf die Rufnummernanzeige. 703. Die VorwahlVirginia. Das FBI hatte seine Zentrale in Quan»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.»Ich bin der Direktor der Abteilung für Verhalteforschung des Bureau. FBI. Ich würde mich gernIhnen darüber unterhalten, ob Sie uns bei einer mittlung helfen könnten.« Warner endete aberm

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    mit jener ihm eigenen, fragenden Hebung: ...helfkönnten? »Was für eine Ermittlung?«, wollte Clevenger w»Ich würde es vorziehen, wenn wir von AngesicAngesicht darüber sprächen?«»Ich bin morgen den größten Teil des Tages in mnem Büro«, sagte Clevenger.»Um ehrlich zu sein«, erwiderte Warner, »ich weigentlich mein Büro vorschlagen.«»Flugangst?«, feixte Clevenger.Warner lachte nicht.»Das war ein Scherz«, sagte Clevenger.»In Ordnung«, erwiderte Warner steif.

    »Bevor ich mich mit Ihnen treffe, müsste ich w...«, setzte Clevenger an.»Ich würde damit wirklich lieber warten, bis wnander gegenüberstehen«, fiel ihm Warner ins WWarner klang nicht freundlich – besonders fürmanden, der um Hilfe bat. »Ich würde lieber nwarten«, entgegnete Clevenger.Eine Pause. »Der Highwaykiller.«Clevenger nahm seine Füße vom Schreibtischriss seinen Blick vom Hafen los. Er hatte die Ber

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    und Artikel über den Highwaykiller seit Jahren folgt. »Zwölf Leichen, zwölf Bundesstaaten«, sa»Dreizehn Leichen«, berichtigte Warner.»Seit wann?«»Heute Morgen.«»Wo?«»Ein junges Pärchen, das auf der Route 90 EaNew York zu ihrer Skihütte unterwegs war, hat anem Rastplatz angehalten. Ihr Hund ist ihnen abhauen. Sie sind ihm in den Wald nachgelaufen, das Mädel ist über etwas gestolpert und hat sichKnöchel verknackst. Wie sich herausstellte, war egefrorener Arm.«

    »Mann oder Frau?«»Frau«, sagte Warner. »Anna Beckwith. Vierundzig. Allein stehend. Aus Pennsylvania.« Er stummte.»Das macht also acht Männer und fünf Frauüberschlug Clevenger eilig.»Dreizehn Opfer. Dreizehn Bundesstaaten.«»Soweit Sie wissen«, entgegnete Clevenger. Er nach der Packung