44
Impressum: betrifft widerstand Herausgeber: Verein Zeitgeschichte Museum und KZ- Gedenkstätte Ebensee F.d.I.v.: Dr. Wolfgang Quatember, Kirchengasse 5, A-4802 Ebensee Tel.: 06133/5601 Fax: 06133/5601-4 E-mail: [email protected] Homepage: www.ebensee.org Die letzten Zeitschriften sind auf unserer Internet Homepage abrufbar: http://www.ebensee.org Layout-Konzept: Gerhard Carl Moser Coverfoto: Sonderausstellung “Zeitreise der Gedan- ken” im Zeitgeschichte Museum, Ansicht der Skulp- turen “Zwangsarbeit” und “Befreiung”; Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nicht mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen. Die Zeitschrift des Vereines behandelt zeitgeschichtli- che und gesellschaftspolitische Inhalte und beabsich- tigt die Förderung demokratischen Bewusstseins. Jahresabo für 2 Ausgaben, Folder und sonstige Aussendungen des Vereines: € 15,-- Einzelpreis: € 3,60,-- Kontonummer: OBERBANK EBENSEE 181-0057/45 BLZ 15061 IBAN AT561506100181005745 BIC OBKLAT2L Der Verein gehört dem begünstigten Empfängerkreis gem. §4 Abs. 4Z5 lit e EStG 1988 an. Leserbriefe und Beiträge senden Sie bitte an oben ste- hende Redaktionsadresse. Wilk-Druck Bad Ischl Die KZ-Gedenkstätte und das Zeitgeschichte Museum Ebensee werden gefördert von ÖSTERREICHISCHE LOTTERIEN

Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

Impressum:

betrifft widerstandHerausgeber: Verein Zeitgeschichte Museum und KZ- Gedenkstätte EbenseeF.d.I.v.: Dr. Wolfgang Quatember,Kirchengasse 5, A-4802 EbenseeTel.: 06133/5601 Fax: 06133/5601-4E-mail: [email protected]: www.ebensee.org

Die letzten Zeitschriften sind auf unserer InternetHomepage abrufbar: http://www.ebensee.org

Layout-Konzept: Gerhard Carl Moser

Coverfoto: Sonderausstellung “Zeitreise der Gedan-ken” im Zeitgeschichte Museum, Ansicht der Skulp-turen “Zwangsarbeit” und “Befreiung”;

Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nichtmit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen.

Die Zeitschrift des Vereines behandelt zeitgeschichtli-che und gesellschaftspolitische Inhalte und beabsich-tigt die Förderung demokratischen Bewusstseins.

Jahresabo für 2 Ausgaben, Folder und sonstigeAussendungen des Vereines: € 15,--Einzelpreis: € 3,60,--Kontonummer: OBERBANK EBENSEE 181-0057/45 BLZ 15061IBAN AT561506100181005745BIC OBKLAT2LDer Verein gehört dem begünstigten Empfängerkreisgem. §4 Abs. 4Z5 lit e EStG 1988 an.

Leserbriefe und Beiträge senden Sie bitte an oben ste-hende Redaktionsadresse.

Wilk-Druck Bad Ischl

Die KZ-Gedenkstätte und das Zeitgeschichte Museum Ebensee werden gefördert von

ÖÖSSTTEERRRREEIICCHHIISSCCHHEE LLOOTTTTEERRIIEENN

Page 2: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

3 betrifft widerstand

IInnhhaallttssüübbeerrssiicchhtt

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Seite 2

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Seite 3

60. Jahrestag der Befreiung des Kon-zentrationslagers Ebensee. Gedenk-redenRobert B. Persinger . . . . . . . . . . . .Seite 4

Herwart Loidl . . . . . . . . . . . . . . . . .Seite 5

Max R. Garcia . . . . . . . . . . . . . . . . .Seite 6

Italo Tibaldi . . . . . . . . . . . . . . . . . .Seite 8

Roger Gouffault & Daniel SimonSeite 9

Ladislaus Zuk . . . . . . . . . . . . . . . .Seite 10

Andrew Sternberg . . . . . . . . . . . .Seite 11

Gábor Verö . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Seite 13

Leszek Polkowski . . . . . . . . . . . . .Seite 14

„6 may, 1945 - a day forever etched in mymemory“. Veranstaltungen zu 60 JahrenBefreiung KZ Ebensee . . . . . . . . .Seite 15

Jana MüllerÖsterreichische Jugendliche als Opferder NS-Verfolgung . . . . . . . . . . .Seite 17

Josef PrinzErziehung zur Arbeit - Arbeit als Erzie-hung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Seite 31

Fragmente des Widerstandes . . Seite 40

Veranstaltungsrückblick . . . . . . Seite 41

Buchrezensionen . . . . . . . . . . . . .Seite 42

Veranstaltungskalender . . . . . . .Seite 45

Editorial

Der Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe liegt auf einem Resumé der 60.Gedenkfeier in Ebensee, die mit rund 3.000 TeilnehmerInnen außergewöhn-lich gut besucht war. Alle Ansprachen der Überlebenden sind ungekürzt,zum Teil in der Originalsprache wiedergegeben. Wie sehr die persönliche Ein-schätzung der damaligen Ereignisse aus der Distanz von nunmehr 60 Jahrendifferiert, zeigen die Reden von Max R. Garcia und Andrew Sternberg einer-seits sowie Wladyslaw Zuk andererseits. Erstere thematisierten das inaktiveund gleichgültige Verhalten der damaligen Ebenseer Bevölkerung. "They saidand did nothing", sagte Andrew Sternberg und Max Garcia merkte an, dasszahlreiche EbenseerInnen in der Nachkriegszeit vom Konzentrationslager amOrtsrand nichts gewusst haben wollten. Wladyslaw Zuk hingegen, der nach1945 in Ebensee geblieben ist, bedankte sich bei der Bevölkerung dafür, dassviele Häftlinge bei Familien Aufnahme und Pflege gefunden hätten. Wie sooft besitzen beide Meinungen partiell ihre Gültigkeit und verdienen respek-tiert zu werden. Bundesministerin Liese Prokop betonte in ihrer Rede dieBedeutung der KZ-Gedenkstätten hinsichtlich der Bildung eines kollektivenhistorischen Bewusstseins, in dem auch das Eingeständnis einer österreichi-schen Mitschuld an den NS- Verbrechen Platz haben müsse und beteuerteihre Absicht, KZ-Gedenkstätten in Österreich nicht nur erhalten zu wollen,sondern vielmehr auch weiter auszubauen und zu fördern.Jana Müller setzt in dieser Nummer ihre 1999 begonnene Forschung überjugendliche NS-Opfer fort. Ihr exakt recherchierter Beitrag basiert auf lebens-geschichtlichen Interviews mit Überlebenden. Josef Prinz forscht seit Jahren über die so genannten "Arbeitserziehungslager"im NS-Staat. Sein nunmehr publizierter Aufsatz über das AEL Oberlanzen-dorf gilt neben den Recherchen von Ludwig Laher zum AEL Weyer/St. Panta-leon für Österreich als Novität.Lassen Sie mich an dieser Stelle auch einige Sätze zur gegenwärtigen Diskus-sion um die Aussagen des Bundesrates Siegfried Kampl formulieren: Dassselbst nach 60 Jahren II. Republik dermaßen verquere historische Ansichten("brutale Nazi-Verfolgung nach 1945" und "Wehrmachtsdeserteure seien zumTeil Kameradenmörder gewesen") in der österreichischen Öffentlichkeit zumBesten gegeben werden, zeugt davon wie inhomogen das kollektive histori-sche Gedächtnis in Österreich nach wie vor ist. Wer die wirklichen Kamera-denmörder waren, dürfte Bundesrat Kampl sehr wohl wissen, nämlich nichtdie Deserteure, sondern jene fanatischen Unteroffiziere und Offiziere, die bisin die letzten Kriegstage Untergebene, die sich aus welchen Gründen auchimmer von der Truppe entfernt hatten, füsilieren ließen. Und dass nach 1945eine "brutale Naziverfolgung eingesetzt" hätte, ist eine Behauptung, dienichts Anderes als eine Täter - Opfer Umkehr darstellt und die Kampl einzigdeswegen lanciert hat, um die NS-Verbrechen zu relativieren. Wie war esdenn Kampls Ansicht nach möglich, dass der für den tausendfachen Tod vonEbenseer KZ-Häftlingen verantwortliche SS-Hauptsturmführer Anton Ganzbis 1966 unbehelligt seiner Arbeit nachgehen konnte? Wie war es möglich,dass der Kommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, FranzStangl, unbehelligt aus dem US-Anhaltelager Glasenbach spazieren und insAusland flüchten konnte? Wie die Kampls und Gudenus’, Freunschlags und andere in politische Funk-tionen kamen, ist bekannt und ein österreichisches Phänomen, das aus demUmgang mit dem Nationalsozialismus und der Selbstinszenierung als"Erstes Opfer der NS-Aggression" resultiert. Dass Leute wie Kampl aber nachwie vor in politischen Gremien sitzen und das österreichische Volk vertretenkönnen, ist unerträglich. Noch unerträglicher ist jedoch, dass die politischeKultur in Österreich Kampl den Spielraum bietet, selbst zu entscheiden, ob erim Amt bleibt oder nicht.

Wolfgang Quatember

Page 3: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ebensee

Gedenkreden 7. Mai 2005

betrifft widerstand 4

REMEMBERING EBENSEE Robert B. Persinger

It is an honor to be invited backhere 60 years later representingthe 3rd Cavalry Group of WWII. Itis hard for me to realize that thesenice homes were built on thesegrounds that 60 years ago support-ed up to 18.000 prisoners, filthybarracks and a crematorium withelectrified barbed wire fencearound it and the only entrancewas through the archway whichstill stands today. But in no wayerases the horrible sights that wesaw back then, which is stored inour memories. Those memorieswill never to be erased.

None of us had ever seen humanbeings in this terrible situation

before

Our tank platoon arrived inEbensee on Sunday May 6th, 1945,and we heard of a concentrationcamp. At that time I was a platoonsergeant and tank commander. My

platoon leader Lieutenant Garbow-it directed me with my crew toproceed to the gates along withSergeant Dick Pomante and histank and crew. As we approachedon the gravel road to the camp wesaw masses of human beings thatappeared almost like ghosts stand-ing in mud and filth up to theirankles behind the high wire fence.They were dressed in their filthystriped clothes and some in partialclothing, barely covering theirbodies. They appeared so thin andsickly, it was evident that theywere starving. Their bodies werejust skin and bones. We stoppedour tank and observed for a periodof time trying to decide what wewould do with the mass of prison-ers surrounding our tanks. Bothtank crews were hesitant to acceptor make contact with these poorstarving individuals. None of ushad ever seen human beings inthis terrible situation before. Westarted to toss rations and energybars to them until our supply wasdepleted. In all of the confusion I

lit a cigarette and heard someonesay ‘that it had been a long timesince he smoked a Lucky Strike’. Iasked him to climb up on the tankso I could give him one. This manspoke English so I radioed thatinformation to my Lieutenant andhe told me that we should keephim available for future question-ing. This prisoner wanted us towalk around the camp area. Atfirst we refused because wethought we had seen enough andreally didn’t want to dismount andwade through the quagmire ofmud and around all of the deadbodies. Besides that the stench ofall of the dead bodies made italmost unbearable. He did con-vince us we needed to see morethan we could see from the tank.We were taken to the barracksarea, the kitchen which was bare,and then to the crematoriumwhere there were stacks of bodiespiled like cordwood one on top ofthe other completely around theinside walls of the crematorium. Ifyou weren’t sick by now you wouldbe before you exited from there. Atthe same time you wanted to cry.We had seen terrible sights fromcombat across Europe but what wewere observing was a climax to thethings human beings do to theirfellow man. It was beyond any-one’s imagination that such horri-ble crimes could be committed.We returned to the village ofEbensee, to the Post Hotel whereour tank company stayed, andstarted immediately making plansas to how we could get food to atleast feed a few of them until ourarmy units could arrive to bringfood and hospital units for med-ical help which was so desperatelyneeded. It was decided to start

Robert Persinger, Befreier des Lagers Ebensee, alle Fotos: S. Panzl

Page 4: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

5 betrifft widerstand

searching the complete area forfood products to make a soup byusing the large kettles that theyhad in their kitchen. We obtainedpotatoes, cabbage and other veg-etables that were available frommiles around. All of the bakerieswere asked for bread. As an exam-ple Sergeant Pomante used histank to convince an Ebensee bakerto release all of his bakery goods.We finally got the soup ready butrealized that somehow we had tocontrol the serving. It was decidedto fire live ammunition over theirheads from our tanks when theystarted to overrun the soup line.This brought their attention anddid provide control. The servingsstarted and some gulped it downso fast that many died from thereaction from it. Their stomachscould not accept the rich hot soup.

The army medical hospitalsarrived quickly along with otherarmy quartermaster units to pro-vide services to get the prisonerson the road to recovery. We stayedwith them and helped for twoweeks to nourish them before wereceived orders to return to thestates and prepare for invadingJapan with General Patton and hisThird Army.

I want to tell you a story about theman to whom I gave a cigarette.His name is Max Garcia a memberof the committee planning thisevent. In 1987, forty-two years afterour entry into Ebensee I met upwith him at our annual veteransreunion in El Paso, Texas, and Istill keep in touch with him. Hehas attended many of our annualreunions. He became acquaintedwith our group and took charge ofour return to Europe to trace ourwartime steps from Normandy tohere in May 1990. His late wife,Pat, was adopted by our veteransand we knew her as our sister.They, along with a number of ex-

prisoners, have become closefriends of mine and I am verygrateful for all those wonderfulpeople who have lived through’Hell on Earth’. I will never forgetthem as I stated earlier, they areglued with my memories of thisterrible place as I knew it. I thankyou once more for the invitation toreturn here and pass along some ofmy memories.

BGM. HERWART LOIDL

Als vor 60 Jahren, am Nachmittagdes 6. Mai, die amerikanischenTruppen diesen Ort erreichten unddas Lagertor durchschritten, botsich ihnen ein Szenario des Grau-ens. Ausgemergelte Gestalten,ihres Menschseins beraubte Über-lebende des Unvorstellbaren, war-teten auf ihre Befreier. Primo Levisprach von der Sarabande der er-loschenen Menschen, entkräftet,geschunden durch jahrelangenTerror, täglich den eigenen undden Tod der Kameraden vorAugen. 8.300 Häftlinge haben denTag ihrer Befreiung nicht erlebt.

Als sie das KZ-Gelände betraten,stießen amerikanische Soldatenauf Leichenberge, Massengräberund Sterbende. Die Mordkomman-dos der Nationalsozialisten hattenin ihrem Rassenwahn und politi-schem sowie kulturellem All-machtsdenken ganze Völker undVolksgruppen der Vernichtungpreisgegeben. Hier im Konzentra-tionslager Ebensee traf es insbe-sondere Russen, Polen, Ungarn,Italiener, aber auch Franzosen, Bel-gier, Spanier, Sinti und Roma. Be-troffen waren zuallererst jüdischeMitbürger, dann politisch Anders-denkende. Sie verrichteten unter unmensch-lichen Bedingungen schwerstekörperliche Arbeit in der unterir-dischen Rüstungsproduktion, inden Stollenanlagen und ebendiese

Arbeit sollte sie der geplanten Tö-tung zuführen. Der jüdische Philo-soph Hans Jonas schreibt: „Dehu-manisierung durch letzte Erniedri-gung und Entbehrung ging demSterben voran, kein Schimmer desMenschenadels wurde den zurEndlösung Bestimmten gelassen,nichts davon war bei den überle-benden Skelettgespenstern der be-freiten Lager noch erkennbar.”Ich verneige mich vor den Opfern,den Überlebenden und den Toten.Ihr Schicksal ist uns Mahnung undVerantwortung zugleich.

Und doch ist aus den Ruinen desvorigen Jahrhunderts, aus derMenschheitstragödie des Holo-caust und des Nazi-Terrors, eineneue europäische Werteordnungentstanden. Ein Europa, das sichals Friedensprojekt dem „Nie wie-der!” verschrieben hat. Niemalsvergessen, niemals mehr denBoden von Demokartie, Freiheitund Recht verlassen, niemals mehrdenen Glauben schenken, die dierepräsentative Demokratie diffa-mieren und durch eine Führerge-sellschaft ersetzen wollen, niemalsmehr eine Wirtschafts- und Sozi-alpolitik verfolgen, die große Teileder Bevölkerung an den Randdrängt und sie empfänglich machtfür die Parolen der Populisten undVolksverhetzer. Und dazu wollenwir als Ebenseerinnen und Eben-seer unseren Beitrag leisten.

„Die jüngsten innenpolitischenEntgleisungen erfüllen mich

mit großer Sorge”

Wir wollen aktiv teilhaben aneiner gerechten Neuordnung Euro-pas. Eines Europas, das sich zudrei unverrückbaren Postulatenbekennen muss, wenn es von Be-stand sein will: Freiheit. Wohl-stand. Soziale Gerechtigkeit.Unser Beitrag zu einem solidari-schen Europa ist das Friedenspro-jekt der Städtepartnerschaften mit

Page 5: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

betrifft widerstand 6

Prato und Zawiercie, sowie dasZeitgeschichtemuseum Ebensee.Im vergangenen Dezember ist derInitiator der FriedenspartnerschaftPrato-Ebensee, unser EhrenbürgerRoberto Castellani, von uns gegan-gen. Er hat das nationalsozialisti-sche Morden hier im Lager Eben-see überlebt. Trotz aller erlittenerQualen, Demütigungen, seelischerVerwerfungen, hat Roberto dieHand ausgestreckt, ist auf uns zu-gegangen, um gemeinsam dieschreckliche Vergangenheit aufzu-arbeiten, um einen Weg für dieZukunft zu finden. Und Robertohat durch sein Beispiel, seinen auf-rechten Gang unsere Welt geprägt,unseren Blick geschärft, unsereHerzen berührt. Wir haben hieram Eingang zur KZ-Gedenkstätteeinen Erinnerungsstein enthüllt,mit dem wir Roberto Castellaniund seinem Vermächtnis einimmerwährendes Andenken be-wahren wollen!

60 Jahre nach der Befreiung stehenwir hier an den Gräbern der Opfereiner rassistischen, gottlosen,menschenverachtenden Politik.Und auch wenn sich das offizielleÖsterreich anlässlich der Gedenk-feiern zum 60. Jahrestag der Repu-blik, den wir ja zeitgleich mit derBefreiung von der nationalsozialis-tischen Herrschaft und dem Endedes zweiten Weltkrieges begehen,

wenn sich also das offizielle Öster-reich parteiübergreifend zu seinendemokratischen, europäischenGrundfesten bekennt, erfüllenmich die jüngsten innenpoliti-schen Entgleisungen mit großerSorge.

Wenn offizielle Repräsentanten de-mokratischer Institutionen dieExistenz von Gaskammern zu rela-tivieren versuchen oder wennWehrmachtsdeserteure als Kame-radenmörder denunziert werden,darf man sich nicht wundern,wenn sich da und dort die Fratzendes Faschismus durch die Fensterunserer mühsam errichteten Wer-teordnung blicken lassen. Ichwarne vor einem leichtfertigenUmgang mit sich vielerorts zei-genden Aktivitäten Ewiggestriger,die offenbar nicht bereit sind, ausder Geschichte zu lernen!

Wir stehen hier auch in unsererVerantwortung nicht nur den Op-fern gegenüber. Unsere Verpflich-tung gehört ebenso den nachgebo-renen Generationen. Und deshalbfreut es mich besonders, dass soviele junge Leute den Weg nachEbensee zu unseren Befreiungs-feiern gefunden haben. Sie kom-men aus Italien, aus Polen, aus vie-len anderen Ländern und sie kom-men aus Österreich, aus Ebensee.Dieses gemeinsame Auftreten für

eine Kultur des Erinnerns und eineKultur der gemeinsamen Zukunft,denn das eine ist ohne das anderenicht denkbar, lässt mich hoffen,dass unsere Bemühungen für einefriedliche Solidargemeinschaft inEuropa Früchte tragen.

Ich bedanke mich bei den Organi-satorInnen dieser Befreiungsfeiernund wünsche Ihnen einen nach-denklichen, erinnerungswürdigenTag!

MAX R. GARCIA

Wären die Amerikaner eine Wochespäter gekommen, würde ich nichthier stehen und zu Ihnen sprechenkönnen. Stellen Sie sich für einenMoment oder auch länger vor, washier vor 60 Jahren passiert ist. EinKonzentrationslager, das im No-vember 1943 errichtet worden warund etwa 6.000 Häftlinge aufneh-men sollte, war mit 18.000 Men-schen absolut überbelegt, als esam Sonntag den 6. Mai 1945 befreitwurde. Die Befreier waren Panzer-soldaten („troopers”), der 3. Auf-klärungseinheit der US Army.Dieses ganze nunmehr mit Wohn-häusern bebaute Areal war das KZEbensee, ein Außenlager des KZMauthausen. Diese ganze kleineHochfläche war ein großes KZ undder Gestank, so wurde mir erzählt,

Am Rednerpult: Innenministerin Liese Prokop

Page 6: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

7 betrifft widerstand

war unerträglich. Aber wir Häft-linge merkten das nicht mehr. Wirwaren daran gewöhnt. Wir sahenwie lebende Skelette aus, weil dieEssensrationen täglich kleiner undkleiner wurden, als neue Häftlingeaus Lagern im Osten ankamen.Schließlich gab es nahezu über-haupt kein Essen mehr. Das warzum Zeitpunkt unserer Befreiung.Beinahe nichts mehr. Ich wieder-hole: Nichts mehr!Am Tag unserer Befreiung starbenfast 400 Menschen im Lager. DasKrematorium konnte die vielenToten nicht mehr fassen, sodassGruben ausgehoben und die Leich-name hineingeworfen wurden. Alsam Dienstag, also zwei Tage spä-ter, die Mannschaften des 515. USFeld Hospitals hier eintrafen,konnte das Sterben zwar nach undnach verringert, aber nicht gänz-lich eingedämmt werden.

Im Lager mussten wir täglich mitunserem Kommando zur Schicht-arbeit. Gleich nach dem Haupttormarschierten wir nach links aufeinem steinigen Weg bergab („Lö-wengang“). Die Steine waren ganzunregelmäßig gelegt worden, so-dass die Bewältigung des Pfadesmit unseren Holzschuhen, ohneSocken, zu einem gefährlichenUnternehmen wurde. Zusätzlichschlugen uns die KAPOS mit ihrenGummiknüppeln. Nach der Ar-beitsschicht trieben sie uns wiederbergwärts, mit bellenden Hundenund die Bewacher amüsierten sichüber das Spektakel, das wir ihnenboten.Ich war seit August 1943 im KZAuschwitz inhaftiert. Auf einemTodesmarsch wurde ich späternach Gleiwitz getrieben, von woaus wir mit einem Eisenbahntran-sport nach Mauthausen kamen.Wir brauchten keine Fahrkartenfür diesen Todestransport und hat-ten viel Frischluft in diesen offe-nen Viehwaggons; es war EndeJänner 1945, mitten im Winter, mit

starkem Schneefall. Bald bedeckteuns eine dicke Schicht Schnee. Esgab keinen Platz um sich auszuras-ten oder gar seine Notdurft zu ver-richten. Jede Schamhaftigkeit warvon uns gewichen, war uns vor-sätzlich weggenommen worden.Das war eine Methode der SS umuns zu demoralisieren. Nur zehnProzent der Männer überlebtenden Transport im Viehwaggon,90% starben während der Fahrt.!!!

Seit Anfang Jänner 1943 war ich ineinem Versteck in Amsterdam,dann wurde ich verhaftet. WenigeWochen vorher war bereits meineSchwester Sipporah, wir nanntensie Sienie und sie war erst im No-vember 1942 16 Jahre alt geworden,auf der Straße in Amsterdam fest-genommen worden. Über dasDurchgangslager für Juden inWesterbork kam sie nach Birke-nau. Sie wurde in den Gaskam-mern von Birkenau ermordet.Meine Eltern kamen in den Gas-kammern von Sobibor ums Leben;am 16. Juli 1943, das war der Ge-burtstag meiner Mutter. Glückli-cherweise, wenn man das über-haupt sagen kann, glaubten siemich in Sicherheit. Sie musstennie erfahren, dass auch ich verhaf-tet worden war. Aber nun stehe ichvor Ihnen, nach 60 Jahren und er-zähle diese kurze, leider sehr kurzeGeschichte über das Schicksaleiner Familie. Wir waren eine hol-ländische jüdische Familie undstammten von sephardischenJuden ab, die seit dem frühen 17.Jahrhundert in Holland lebten.Meine Vorfahren waren von der In-quisition gegen die Juden zuerstaus Spanien und später aus Portu-gal vertrieben worden. Ich bin dereinzige Überlebende.

Als ich mit den anderen 16.000Häftlingen des Ebenseer Lagersam Sonntag, den 6. Mai 1945 be-freit wurde, konnte ich jeden Ver-gleich mit einem lebenden Anato-

mielehrbuch aufnehmen. JederKnochen meines Körpers war zusehen. Ich war schmutzig, bessergesagt widerlich, dreckig und ab-stoßend.

Aber hier bin ich, 60 Jahre späterund erzähle Ihnen das alles, weilich einer der letzten überlebendenAugenzeugen bin. Ich habe vielegute Bekannte hier in Ebensee, diewährend der letzten Jahre meineFreunde geworden sind. Manchehaben mich schon bei mir zuHause in San Francisco besucht. Esschmerzt mich, dass mancheEbenseer immer wieder erzählen,sie hätten nichts von einem KZ inEbensee gewusst. „Wir habennicht gesehen“, behaupteten sie,„dass 25 Stollen in den Berg getrie-ben wurden.“ Sie haben ihren Kin-dern und Enkel bewusst die Un-wahrheit erzählt. Aber was vielschlimmer ist: Sie haben sichselbst belogen, obwohl sie dieWahrheit kannten. Ihnen zu glau-ben hieße etwa dasselbe, als wollteich Ihnen erzählen, ich könnteIhnen die zwei größten Brückenvon San Francisco verkaufen.

General George S. Patton Jr. wusstevon der Einstellung vieler Deut-scher und Österreicher und des-halb ordnete er an, die Einwohnervon Ebensee, Männer, Frauen undKinder, müssten in das befreiteKZ-Lager gehen, um selbst zusehen, dass das alles nicht der Ein-bildung amerikanischer Gehirneentsprungen ist. Er verfügte, dieEbenseer Frauen sollten die Bara-cken reinigen, in denen wir ge-haust hatten und die Männer mus-sten die Leichen entlang der AltenIschlerstraße neben der Traun be-statten. Es sollte ein Friedhof sein,der die Bürger von Ebensee immerdaran erinnert, was hier gesche-hen ist.

Solange ich lebe und ich ein Flug-zeug besteigen kann, werde ich

Page 7: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

betrifft widerstand 8

hierher zurückkommen und diehier Lebenden erinnern. Ichkomme hierher zurück, um die zuehren, die hier ermordet wurdenund an dieser Stelle begraben lie-gen, ungenannt und ohne ethni-sche Unterscheidung, im Tod ver-eint. Auf diesem Friedhof kann ichstill für meine Schwester undmeine Eltern beten, für meineTanten, Onkel, Neffen und Nich-ten, weil es für sie kein Grab aufdieser Erde gibt, wo ich Blumenhinlegen und an sie denken kann.Ich fühle mich dazu getrieben,hierher zu kommen und sie zuehren und mich an sie zu erinnern.Meine verstorbene Frau Pat hat dieEltern und die Schwester jenesMannes, den sie geheiratet hat, niegekannt. Meine Kinder haben ihreGroßeltern und ihre Tante nie ken-nen gelernt. Sie mussten ohne dieErfahrung, in einer großen undnormalen Familie zu leben, auf-wachsen.In meiner Ansprache geht es mirnicht um Selbstmitleid oder umIhnen zu vermitteln was ich erlei-den musste. Ich will Sie, die hier inEbensee leben und in meinemAlter sind, daran erinnern, dassIhr Handeln oder vielmehr Nicht-Handeln vor 60 Jahren fatale Aus-wirkungen hatte. Sie sind gezwun-gen, mit dieser Schuld zu leben.

Ich möchte mit Euch, die ihr vonweit her gekommen seid, diejeni-gen ehren, welche hier begrabenliegen. Sie wurden von Menschenermordet, die von einer verbreche-rischen Ideologie fasziniert waren,einer Ideologie, welche sie schließ-lich selbst zu Verbrechern machte.Sie hätten sich verweigern undwiderstehen können, aber siezogen es vor, sich zu arrangierenund ein vergleichsweise bequemesLeben zu führen. Auch die Opfer,die hier begraben liegen, wolltenleben. Sie hatten dasselbe Recht zuleben wie Sie alle. Aber so viele Ös-terreicher meiner Generation,

auch viele Ebenseer, haben durchihr Zutun oder vielmehr auchdurch ihr Wegschauen den Mordan Tausenden begünstigt.

ITALO TIBALDI

Wir sind nun wieder zum Lager„Zement“ in Ebensee zurückge-kehrt, auf die Finkerleiten, in diesedichtbewaldete Gegend, wo zwi-schen Donnerstag, dem 18. No-vember 1943, und Sonntag, dem 6.Mai 1945, ein Außenlager des KZMauthausen, ein Lager zur Ver-nichtung menschlichen Lebens, inBetrieb war. 535 Tage, 27.000 De-portierte, 8.000 Tote. Zahlen undDaten. Auch wir waren hier nichtmehr als „Stücke“, als Nummern.

Wenn ich nach Ebensee zurück-komme, befallen mich bedrü-

ckende Erinnerungen, die weitlebhafter und stärker sind, als

mir lieb ist.

Inzwischen sind 60 Jahre verstri-chen und die Überlebenden wenigean der Zahl. Dennoch ist den ehe-maligen Häftlingen vieles ein-drücklich in Erinnerung geblie-

ben: Da ist etwa die Weitläufigkeitdes Lagers mit seinen Dienstbara-cken, die im Halbkreis um den Ap-pellplatz angelegt waren. Linksvom Torbogen, vom Eingang,standen 32 Häftlingsbaracken inunregelmäßigen Abständen undnicht in einer Flucht zwischen denBäumen verteilt.

Da ist zum Beispiel der letzte Ap-pell am Morgen des 5. Mai 1945,bei dem uns der SS-KommandantGanz schmeichlerisch einlud,doch in die Stollen zu gehen, weilwir dort alle besser geschütztseien. Er wandte sich mit einemverblüffenden „Meine Herren“ anmehr als 18.000 Häftlinge, womiter uns jäh eine Identität wieder-gab. In Wirklichkeit wollte er diegesamte Lagerbelegschaft elimi-nieren; ein unglaublicher Versuch,alle Zeugen von den Gräueln dieserTragödie zu beseitigen und uns,die Häftlinge, für immer zumSchweigen zu bringen.

Und schließlich ist der Tag danachin Erinnerung geblieben, der Tagder Befreiung, am Sonntag, dem 6.Mai 1945, um 14 Uhr 50. Als sichdas Tor öffnete, fuhr ein Aufklä-rungstrupp der amerikanischenArmee auf den Appellplatz. Unterden Soldaten befanden sich Ser-gant Bob Persinger und Acton Po-mante von der F-Company der 3.Cavalry Group, Mechanized, dieunter dem Kommando von Haupt-mann Timothy Brennan stand. DieBefreiung - unvorhergesehen, er-wartet, herbeigesehnt - und die Er-innerung an jene jungen Soldaten,die uns an diesem Tag wieder zulebendigen Wesen machten… Sieschienen uns Schönheit, die littund einen schmerzlichen, passi-ven Protest zum Ausdruck brach-te.

Bob Persinger ist zum 60. Jahres-tag der Befreiung zurückgekehrt.Er ist heute unter uns.

Italo Tibaldi, Turin

Page 8: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

9 betrifft widerstand

Danke, Bob, für das Zeugnis, dasdeine Gegenwart hier bedeutet,und für Erinnerung Freundschaftund Anteilnahme steht. Dankeauch an deine Frau Arlene und denjungen Mann Tim Anderson, derdie beiden aus Louisiana und Illi-nois begleitet hat. Und nicht zu-letzt einen lieben Gedanken anBrennan und Pomante, die „ledig-lich abwesend“ sind. Primo Levi erinnerte daran, dass„diese Erinnerungen zu ungewis-ser Stunde wiederkehren und sichdas Zeichen nicht von unseremLeben wischen lässt, das das Lagerhinterlassen hat“. Seine Aussage war und ist zutiefstwahr.

Selbst die Befreiung ist bis heutepsychologisch unabgeschlossengeblieben. Wenn Schmerz undQual besonders groß sind, dannsehen jene, die den Vernichtungs-willen der Nationalsozialistenüberlebt haben, sich all jenen Ka-meraden gegenüber, denen weni-ger Glück beschieden war undnoch unter den hier Anwesendenstehen könnten. Wir, die Letzten,tragen daher die Bürde der Verant-wortung, in einer Art ununterbro-chenem Dialog mit unserer Stim-me all die anderen Stimmen zuvertreten. Unsere Erinnerung stehtaus diesem Grund im Dienste derMenschheit, die wissen und ge-denken soll.

Das heutige Treffen zum 60. Jah-restag ist ein außergewöhnlichesEreignis. Es ist mit viel Rührungverbunden, aber auch mit einemstillen Reifungsprozess, in demHerz und Hirn zusammengefun-den haben, damit die Erinnerungan „Zement“, das NS-Lager inEbensee, nicht verloren geht. Es ist eine Wunde, die sich nochnicht in „Erinnerung“ verwandelthat. In Dankbarkeit gedenke ichHilda Lepetit, die ein Denkmal inErinnerung an ihren Mann und

alle hier ums Leben gekommenenItaliener errichten lassen hat. Undnoch ein Gedanke sei mir an dieserStelle gestattet: Dieses Treffenhier, das mit einer so dramati-schen Erfahrung in Verbindungsteht, ist nicht zuletzt auch einemstarken institutionellen Band zuverdanken, das zwischen Ebenseeund Prato geknüpft wurde. DerPartnerschaftsvertrag zwischenden beiden Gemeinden hat dasvolle Engagement eines lieben Ka-meraden erfordert, Roberto Castel-lani, der diese Idee umgesetzt hat.An ihn denke ich in Zuneigungund Dankbarkeit. - Ciao, Roberto!Ich bin froh, bei dieser Gelegen-heit meinen aufrichtigen Dankauch an Dr. Wolfgang Quatemberund seine tatkräftigen Mitarbeiterdes Museums und der KZ-Gedenk-stätte Ebensee zu richten für ihrenEinsatz, ihre Professionalität undihre tiefgehende Sensibilität. Ichmöchte meine Rede mit einemSatz beschließen, den mir Haupt-mann Brennan in einem Brief vom6. September 1987 geschrieben hat: „Die Angst und der Schrecken vonEbensee werden mich immer be-gleiten und ich setze mich hier inden Vereinigten Staaten dafür ein,um sicher zu gehen, dass keinervergessen möge.“

ROGER GOUFFAULT & DA-NIEL SIMON

R. Gouffault:Ich richte mich im Namen allermeiner französischen Kameradenmit freundschaftlichen und brü-derlichen Grüßen an Euch, die Ihrgekommen seid, um des 60. Jah-restages unserer Befreiung ausdem Lager Ebensee zu gedenken.

Ebensee sah im November 1943den ersten Transport von Häftlin-gen hier ankommen. Ich persön-lich bin im Jänner 1944 hier herge-bracht worden und war hier sieb-

zehn Monate, bis zu unserer Be-freiung durch unsere amerikani-schen Freunde.

Was wir hier erlebt haben - Sklave-rei, Grausamkeit, Hunger und denTod von zahlreichen Häftlingentäglich - das kennt ihr, und den-noch kennt ihr es nicht. Nichtszeugt von dem Schicksal, das wirerfahren haben, als unser Wortund die riesigen Stollen, die zumPreis von unsagbarem Leid in dieBerge getrieben wurden. Die Ge-schichte der Lagererrichtung, daszunehmende Zusammenpferchender Menschen, die Rolle der Indus-triebetriebe auf der Suche nachSklaven, das Nazi-Projekt derunterirdischen Kriegsfabrik ist be-kannt. Man kennt die so besonde-ren Umstände der Befreiung desLagers Ebensee: die Masse derHäftlinge, die den Lagerkomman-danten zurückweichen und fliehenlässt, am Vorabend des Eintreffensder amerikanischen Truppen. Aberwie soll man Euch das täglicheElend vermitteln, was es heißt,jeden Moment unter der Gefahrund dem Risiko des Todes zuleben? Wie soll man Euch die Be-deutung der kleinsten Geste derSolidarität zwischen diesen Unter-Menschen, die wir sein sollten,verstehen lassen? Jene Taten derSolidarität und des Widerstandessind es, denen jeder Überlebendesein Überleben verdankt. Wirhaben von dieser Vergangenheit,die sich entfernt, Zeugnis abgelegtund werden noch Zeugnis ablegenund wir sind überzeugt, dass siegroße Lehren für das Europa unddie Welt von heute enthält. Des-halb erfüllt es uns mit Freude, unshier nicht allein unter Überleben-den wiederzufinden, sondern vonsolch einer Menge von Männernund Frauen des ganzen Kontinentsund aller Generationen empfangenzu werden. Deshalb erfüllt es michmit Freude, das Wort - in Zuver-sicht - weiterzugeben.

Page 9: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

betrifft widerstand 10

D. Simon:Es ist mir eine Ehre, mich an Euchzu wenden, an der Seite von Roger,der im Lager Ebensee war und einLeben lang, ein naher Kameradmeines Vaters war. Wir könnenDir, Roger, und all deinen Kamera-den, unsere Treue und unsere Ver-pflichtung versichern.

Wir bilden dieses Menschen-tum, das Bindungen zu seiner

Vergangenheit unterhält, damitdie Gegenwart und die Zukunft

kein weißer Fleck sei.

Sehen wir uns Ebensee, 60 Jahrenach dem militärischen und poli-tischen Zusammenbruch des Na-tionalsozialismus, an. Sehen wirdie Menge, die wir bilden, unter-schiedlich, solidarisch, bewegt,klarsichtig, friedvoll. Wir wissenauf welchem Kontinent wir lebenund leben wollen: Ebensee, in die-ser idyllischen Landschaft, ist aufewig durch eine Narbe gekenn-zeichnet. Das Massengrab nebenuns, der unsichtbare Raum deseinstigen Lagers, die eiskaltenStollenlöcher, wir können uns ihreBedeutung vergegenwärtigen. Fürdie Einwohner Ebensees sind wirund bleiben wir hartnäckige

Wiederkehrer. Wir bilden diesesMenschentum, das Bindungen zuseiner Vergangenheit unterhält,mit seinen Vorfahren, damit dieGegenwart und die Zukunft keinweißer Fleck sei; jenes Menschen-tum, das seine Verschiedenheitkennt und respektiert, jenes, daseinen Bestand an gemeinsamenWerten - als universellen Auftrag -bejaht: unantastbaren und univer-sellen Respekt der menschlichenPerson, Ablehnung von willkür-licher Haft, Folter und Sklaverei;Demokratie, immer mehr an De-mokratie. Und wir sind uns be-wusst, dass diese Werte andereAuseinandersetzungen bedeuten.

Unter den 27.000 Menschen, diedie Nazis hier gefangen hielten,von denen mehr als achttausendnicht zurückgekehrt sind, gab esweniger als zehn Prozent Franzo-sen. Im historischen Vergleichwürden diese Zahlen, in Frank-reich, wie in Österreich, wenigwiegen: der Ernst unserer Erinne-rung hängt mit der besonderenNatur des Nazi-Verbrechens zu-sammen, ausgebrütet und geplantunter uns, europäischen Völkern,das es beinahe ausgelöscht hätte.Diese Wahrheit hält uns und wirduns für lange Zeit wachsam hal-

ten.

Danke unseren österreichischenGästen und Freunden - geleitet vondemselben Anspruch -, die unsmit unseren Sorgen empfangenund hier für uns am Weiterbe-stand der Erinnerung an diese tra-gische Vergangenheit arbeiten. Zu-sammen, aus ganz Europa gekom-men, können wir den Überleben-den von Ebensee versichern, dassdieses Treffen zum 60. Jahrestagnicht das Letzte gewesen ist. Fürviele von uns -, jeden Alters, die sooft hier hergekommen sind, in unsnach Echos und in dieser Land-schaft nach Spuren suchend, diewir entschlüsseln können - istEbensee fast ein intimer Ort. Wirkommen zurück.

R. Gouffault:Ich bin einer der letzten Zeugendes Lagers Ebensee. Ich übergebemeine Aufgabe der Erinnerungden jungen Menschen von heute.Sie sollen nicht vergessen, was derNazismus war und sie sollen sichstets für die Verteidigung der Frei-heit und des Friedens einsetzen!

LADISLAUS ZUK

Mein Name ist Ladislaus Zuk, ichbin am 7.10.1919 in Warschau gebo-ren, also im 86. Lebensjahr. Mei-nen Freunden und all jenen, diemich nach meinem Alter fragen,sage ich jedoch, dass ich erst 60Jahre bin. Warum tu ich das?Fast auf den Tag genau vor 60 Jah-

ren wurde ich, wie viele andere Ge-fangene, aus diesem Folter- undTodeslager von amerikanischenTruppen befreit. Vorausgegangensind für mich 3 Jahre Haft im Pa-wiak Gefängnis in Warschau. Vondort wurde ich 1943 ins KZ Au-schwitz gebracht. Ab Februar 1944war ich im KZ Mauthausen dieNummer 52099. Nur wenige Tagenach meiner Ankunft in Mauthau-

Roger Gouffault und Daniel Simon

Page 10: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

11 betrifft widerstand

sen wurde ich, wie so viele meinerLeidensgenossen, hierher nachEbensee verlegt. Heute erinnere ich mich noch anden einzigen Gedanken, den ichbei meiner Ankunft in Ebenseehatte und der mich stets verfolgte:

Hier komme ich lebend nichtmehr raus!

Und doch öffneten sich 15 Monatespäter für mich die Tore in dieFreiheit. Und somit begann fürmich ein neues Leben, ein Lebenin dem ich nun schon 60 Jahreglücklich und zufrieden bin. EinLeben ohne Not und Angst, einLeben ohne Hunger und Gewalt.Viele Historiker, aber auch vielemeiner Kameraden haben überdiese schrecklichen Ereignisse ge-schrieben und somit diese dun-klen Jahre vor dem Vergessen be-wahrt. Sie haben für die Nachweltbleibende Erinnerungen und Mah-nungen geschaffen. Und dafürdanke ich ihnen.

Heute 60 Jahre danach stehe ichhier an einem Platz, an dem mehrals 8000 meiner Kameraden dasLeben lassen mussten. Ich blickezurück auf diese schreckliche Zeitund bin trotz all dem erlittenenSchicksal auch dankbar. Dankbarunseren amerikanischen Befreiern,dass ich nach 60 Jahren einem derBefreier noch die Hand schüttelnkann. Dankbar einem Teil der Be-völkerung von Ebensee, welchenach dem Zusammenbruch derNS-Diktatur ohne Angst im Rü-cken auf uns zuging und uns ge-holfen hat, ein neues Leben zu be-ginnen.

Ich danke der Familie Obermeieraus Ebensee, welche mich ineinem schrecklichen Zustand auf-genommen und gepflegt hat. Bedauerlicher Weise sind auch sienicht mehr unter uns. Aber ihrSohn Alois, der hier unter den

Teilnehmern dieser Gedenkveran-staltung sitzt, darf heute nochstolz auf seine Eltern sein undmeinen Dank entgegennehmen.Diese Familie, aber auch viele an-dere Bewohner dieser Gemeinde,gaben mir den Glauben an dieMenschheit wieder zurück.

Viele Jahrzehnte trug ich jedoch inmeinem Kopf die schrecklichenBilder der Vergangenheit, nächte-lang verfolgten und quälten siemich. Erst als im Jahre 1987 aufDrängen des ehemaligen Lagerin-sassen Roberto Castellani, derjunge Bürgermeister von EbenseeRudolf Graf, mit der italienischenStadt Prato eine Partnerschaft ein-ging, begann die Zeit der offenenAufarbeitung. Ich konnte all diefürchterlichen Erlebnisse den vie-len Tausenden Schülern und Er-wachsenen schildern, die hier dieGedenkstätte besuchten. Manhörte uns zu und ich spürte aufeinmal, dass eine riesige Last vonmir abgefallen war und ich begannnun auch seelisch zu gesunden.

Und wenn ich nun heute hier steheund die Dinge der Vergangenheitvielleicht etwas anders sehe als der

eine oder andere meiner überle-benden Kollegen, so mache ich dasaus dem Bewusstsein heraus, dassnicht Rache sondern Vergeben undVerzeihen die Mittel sind, die unsdas Vergangene zwar nicht verges-sen lassen aber doch leichter zu er-tragen.

Und so gilt mein letzter Dank auchIhnen allen, wenn ich von hierweg gehe und weiß, dass Sie essind, die in Zukunft mithelfenwerden, dass Vergangenes nichtwieder passieren kann und dassdamit all die vielen Toten und un-sere Leiden nicht umsonst waren.

ANDREW STERNBERG

There are other sounds thatfilled the air around these

mountains over 60 years ago.

In the 1960's an American moviewas released entitled, the sound ofmusic. Set here in Austria duringthe rise of Nazism and steadydecline of tolerance throughoutEurope, the film opens with JulieAndrews walking through the

Ladislaus Zuk, Ebensee-Zawiercie

Page 11: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

betrifft widerstand 12

alpine mountains and singingthese words „the hills are alivewith the sound of music“. It was astirring beginning to a motion pic-ture, but we who are gathered hereat Ebensee know better. We knowfrom painful experience that thesehills that surround us today, which60 years ago served as silent sen-tries that locked us away from theoutside world, were actually alivewith the sounds of murder, miseryand man's unspeakable inhumani-ty to man.During the years when I and all ofyou who are survivors of the holo-caust were prisoners in the con-centration camp, and dozens ofother camps like this one all overEurope, there was no music to beheard. Instead, we heard thesounds of forced labor. We heardthe sounds of empty and growlingstomachs. We heard the sounds ofhate filled voices. It is no exagger-ation to say that the ground uponwhich we stand today is soakedwith the blood and sweat of menwho lived and labored and died inthis place of confinement. Thesehills were alive with the sounds oftorture and tears and terror.Strangely enough, there was onesound we did not hear. We did nothear the sounds of protest fromthe people who lived around thiscamp. Those people in the townand the homes that lined the roadsleading to this camp knew that wewere inside this awful place. Theysaw us being marched through thegates, they probably saw thesmoke rising from the chimneys ofthe crematorium. They could nothelp but smell the odor of deaththat must have filled the air ascorpses were burned and bodieswere left to rot. They knew that wewere here and they probably knewwhat was happening to us. But forreasons only they can provide,they said and did nothing.Never again will we allow humanbeings to be used against their will

in cruel and painful medical expe-rience. Never again will we allowproperty to be seized, assets to betaken away, due process of law tobe denied or ignored, or the basictenets of human decency to be setaside in favor of the pursuit of amaster race.There are other sounds that filledthe air around these mountainsover 60 years ago. We can stillhear the voices and see the terroron the faces of the people whowere imprisoned here along withus, but who did not live to see theday of liberation. They died in thiscamp - they died because theywere Jewish, liberals, part of theintelligentsia, social democrats,homosexuals, gypsies, or becausethey resisted the Third Reich.They died by the most brutalmeans you can imagine and whichthe human mind cannot compre-hend. We can still hear the cries inmany different languages thatwere forced together in thesecamps.It is important for us to remember,and the world to understand, thatthe holocaust that we endured,and the terror we eventually over-came, was not limited to Jews.Look at the name plates inside the

camp and you will see that all ofEurope was caught up in thistragedy. The people who diedhere, and we, who for some reasonwe can never understand, man-aged to survive, came from Russia,France, Poland, Greece, Italy, Hun-gary, Romania, Germany and Aus-tria. It is true, that six millionJews died in the holocaust, but wemust always remember to add 5million other people who lived anddied in ghettos, open fields, and incamps scattered across Western,Central and Eastern Europe.I believe that if our liberation hadoccurred just 24 hours later than itdid, I would not have survived. Icannot tell you anything that hap-pened between April 15 and may 2,1945. My body was already dying, and Iwas placed in a barrack called„Schonungsblock“. It was theplace where people were sent whocould no longer move and whowere about to die. The barrack wasclose to the crematorium. It waseasy to move the bodies from thisbarrack to the crematorium. Theliberation by an Americanarmored vehicle came just in time.My liberation resulted in one ofthe greatest memories of my life. Icannot forget an Austrian familywho I met after my liberation fromEbensee. After I left the camp fol-lowing a period of medical quaran-tine, the first house I came to,Schulgasse 5, was the home ofRaymond and Frau Pratner. It wasobvious to anyone that I had beenin the camps. I had lost 70pounds, and weighed 59 pounds.They gave me my first homecooked meal, lederhosen, newunderwear, shirt, and told me tocome back every day to see them.Mr and Mrs Pratner lost their onlyson, age 27, six weeks before thewar ended. He served in the Ger-man Luftwaffe. Mr and Mrs Prat-ner offered to adopt me and makeme their son. You cannot imagine

Andrew Sternberg, Cleveland

Page 12: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

13 betrifft widerstand

the emotions I felt as I remem-bered that a few days earlier I wasa prisoner of the Third Reich, andnow I was being embraced by theparents of a young soldier whodied. I wondered why he had todie so close to the end of the war.It was at moments like this that Isensed my life returning to me. Iwas once again being seen andtreated like a human being. I hadsurvived. I was alive. I am stand-ing here 60 years later to remem-ber the past, to celebrate the pres-ent, and to hope and pray thatnothing like this ever happens toanybody in the future.I am pleased to greet all of you onthis day of memories and tears. Iam pleased that we have lived out-side and beyond the walls of thecamps that once held us prisoners.I am pleased that our children andour grandchildren are alive. Theyare the greatest proof of our sur-vival. Most of all, I am pleasedthat the evil system that tried todestroy us, was itself destroyed. In 1995 as we walked out of theMozart concert in the tunnel, I wasstopped by two young men fromthe local „Realschule“. They want-ed to know if I was a survivor, andif they could meet and talk withme. They came to the „Rosen-stüberl“ hotel and we talked until3am in the morning. These youngmen were very interested in myexperiences, but at the same timealso embarrassed by their history.One of the young men said that hisgrandfather, to this day, believedin National Socialism.When we parted, one young manhugged me and asked to be forgiv-en for what his forefathers did,and the other young man huggedme and said „Shalom“. I would like to thank the Ameri-cans who liberated the camps, theallies, the resistance groups, andthose individuals who retainedtheir decency and humanity inthose critical times.

Let us lift up our voices togetherin celebration of our survival andour liberation so that these hillscan finally and truly be alive withthe sound of music.

GÁBOR VERÖ

(Anm. Gabor Verö konnte leider nicht ander Gedenkfeier teilnehmen. Wir druckendennoch seine für Ebensee vorbereiteteRede.)

60 Jahre sind sehr lang. Seit demUntergang der Nazi-Schreckens-herrschaft erscheinen immer we-niger bei den Gräbern unserer Ka-meraden und Geschwister hier inEbensee, in einer der vielen Mas-senvernichtungsstätten des Holo-caust. Es sind 60 Jahre her, dassder Panzertrupp der amerikani-schen Armee uns als gehende Ske-lette im im dichten Wald aufge-bautem Lager vorgefunden hat.

Ebensee hält mich bis zum Endemeines Lebens gefangen

Noch immer trage ich Erinne-rungsfetzen von der letzten Nacht-schicht in mir. Darüber, dass deruns übernehmende SS Unteroffi-zier das Zählen der Häftlinge unse-rer Arbeitsgruppe mit einer leich-ten Handbewegung unterbrochenhatte.Darüber, dass wir nach 2-3 Stun-den unerwartet ins Lager zurück-geschickt wurden, und darüber,dass das tobende „NEIN“ währenddes letzten Appells unser Lebengerettet hat. Der Lagerkomman-dant, der Massenmörder AntonGanz, hat angesichts des mit ele-mentarer Kraft ausbrechendemWiderstands seinen mörderischenPlan aufgegeben: Nämlich die La-gerbewohner in die von ihnenselbst gegrabenen Stollen zu sto-ßen und den Eingang sprengen zulassen. Mein getrübtes Bewusst-sein hat das Bild bewahrt, wie wirvor der Bäckerei auf einer Blech-

platte Plätzchen aus Sägemehl ge-backen haben. Und dass meineerste Erinnerung meiner Befreiungein Teller Milchreis war, den mirein Kamerad aus Zagreb gab, nach-dem er mich in einer Baracke ge-funden hatte. Für mich war das dieerste Erinnerung an meine Befrei-ung.

Ab dem 20. März 1944, dem zwei-ten Tag der Besetzung Ungarnswar ich wegen meines JudentumsGefangener der Deutschen. NachAufenthalten in Auschwitz, Groß-Rosen, Falkenberg und in Wolfs-berg sind wir in einem Zustand,als hätten wir mehrere Todesmär-sche überlebt, in Kohlewaggons indiesem Lager angekommen.(Wenn das Grauen, das auf unshier gewartet hat, Wasser gequellthätte, würde anstelle der wunder-schönen Lebensbäume hier einMeer liegen.)Die Befreiung hat mich, wie auchalle anderen Überlebenden mitge-rissen: Krank und mit zögerndenSchritten hatte ich mich unter denersten zur Heimkehr entschieden.Damals wusste ich noch nicht,dass es sich nicht lohnen würde,sich so zu beeilen.

Ebensee hält mich bis zum Endemeines Lebens gefangen. Wir kön-nen überall auf der Welt leben,aber mit unseren unauslöschbarenSchmerzen bleiben wir für immerEbenseer. Heute noch schleppenwir uns im Traum und auch wachauf geschwollenen Beinen, zerfetztund ohne Schuhe, ausgehungert,mit Schlägen weiter getrieben aufdem ewigen Leidensweg des Lö-wenganges - so waren wir die Skla-ven der Stollen.

Häufig und schon Viele haben ge-sagt: Die Wissenschaft findetkeine rationale Erklärung für Au-schwitz und für die Todeslager.Die Mittel der Kunst sind nichtfähig, das Geschehene auszudrü-

Page 13: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

betrifft widerstand 14

cken. Und doch muss man immerwieder versuchen, Antworten undgeeignete Mittel zu finden. Das istdie wahre Herausforderung. Zuverstehen, was passiert ist. Zu ver-stehen, dass alle unsere Problemeihre Quelle dort haben, wo auchder „Hitlerismus“ Europa befallenkonnte. Dort, wo es erlaubt ist,wegen eigennützigen Interessendie Würde der Menschen zu verlet-zen. Wo die Gesellschaft nichtgegen Antisemitismus, Rassismusund Vorurteile gegen Minderhei-ten kämpft, dort erwacht Hass undGewalt. Es ist zu tiefst traurig, dassnach so vielen Qualen der Gedankedes Humanismus sich immer nochnicht durchsetzen kann. Es ist eineSchande, dass auch heute nochunschuldige Menschen getötetwerden. Unter der Flagge falscherIdeale. Es ist eine Schande, dasswir noch immer und immer wie-der Volksvernichtungen sehenmüssen. So ist es auch eine Schan-de, dass auf der Erde schrecklichesElend herrscht. Das Fernsehenüberschwemmt uns mit Bildernvon Kindern mit aufgedunsenenBäuchen und fiebrigen Augen.Eben diese Jammergestalten erin-nern mich an die Muselmänner inden KZs. Das unvorstellbare Elendund die Unwissenheit ist die Quel-le der Gewalt.

An der Grabstätte meiner Kamera-den und darunter meines Bruderserlaube ich mir zu sagen: Solangedie reichen Nationen außer Wohl-täterei keine wirkliche und wir-kungsvolle Verantwortung für dasmenschengerechte Leben vonMilliarden Leidenden auf mehre-ren Kontinenten tragen wollen,und auch nicht für die Zukunftunseres Planeten, so lange kannniemand mit wahrem Frieden undRuhe rechnen.

Ich möchte die Anekdote eineseinfühlsamen ungarischen

Schriftstellers weitergeben:In der dunklen Nacht leuchtete imkleinen Dorf nur in einer winzigenSchusterwerkstatt eine kleineKerze. Ein Wanderer machte dieTür auf und fragte den Meister,warum er das Licht brennen lässt.Solange das Licht brennt, antwor-tete der Alte, löscht auch die Hoff-nung nicht aus. In uns wird dieFlamme der Erinnerungen solangewir leben brennen. Und weil unse-re Nachkommen sie weiter bele-ben, bleibt der Menschheit dieHoffnung auf ein schönes undwahres Leben.

LESZEK POLKOWSKI

Ich begrüße Sie im Namen der ehe-maligen polnischen Häftlinge desKonzentrationslagers Ebensee undder fast fünfzig übrigen Konzen-trationslager des Mauthausen -Systems, die in Österreich existier-ten. Ich begrüße Sie auch imNamen der Häftlinge, die in dieserGedenkstätte ruhen, deren Aschenach der Verbrennung in den Kre-matorien auf den Feldern Öster-reichs verstreut wurden, und der-jenigen, die schon gestorben sindund den heutigen Tag nicht miter-leben können.Wir, die ehemaligen Häftlinge derHitler-Konzentrationslager warenim Moment der Befreiung sicher,dass dem ganzen Bösen, das ausdem zweiten Weltkrieg resultierte,ein Ende gesetzt wurde; dass dieWelt sich nach den schrecklichenErfahrungen des Krieges, der tota-litären Systeme, des Chauvinismussowie des Mangels an der Rassen-und Religionstoleranz endlich ge-ändert hätte.

Die Wirklichkeit hat sich aber alsanders erwiesen. Die Welt ist stän-dig voll von Kriegen und Hass.Blut wird fortwährend vergossenund hunderttausende Menschen

leiden aus diesem Grund Not underleben ungeheueres Leid. Daherrufe ich Sie - sowohl diejenigen,die auf die Ausübung der MachtEinfluss haben, als auch diejeni-gen, die mit ihrer Stellung und Tä-tigkeit diese Aktivität unterstüt-zen können - auf, alles Mögliche zutun, damit unser Leben, das Lebenaller Menschen, in Frieden undRuhe vergehen kann. Bitte fordernwir, dass solche Namen wie Hitler,Stalin, Pol-Pot sowie anderer Füh-rer extremen mörderischer Auffas-sungen nie wieder ihre Nachahmerfinden können. Bemühen wir unsauch darum, dass die demokrati-sche und gerechte Gesellschaft dieweitere Verbreitung des Bösen aufunserer Erde verhindern kann.Es wurden schon so viele Men-schen in den Kriegen und währendverschiedener gewalttätiger Kon-flikte begraben und so viel Men-schenblut hat bereits den Bodengetränkt, dass man endlich sagenmuss: Es ist genug! Schluss mitdiesen Taten!

Alle diese Gedenkstätten, die denBlut fordernden Taten gewidmetwurden, sollen uns immer daranerinnern, dass der Frieden eineGrundlage menschlicher Existenzdarstellen sollte. Mögen diese Plät-ze eine Warnung und ein Hinweisfür uns in der Zukunft darstellen.Ich wende mich insbesondere andie Jugendlichen - bitte unterneh-men Sie alle möglichen Schrittefür die weltweite Brüderschaft undVersöhnung, damit die Mensch-heit nie wieder die Gewalt, die dasBlutvergießen und den Tod mitsich bringt, erleiden muss.Alle Menschen sollen wie Brüderund herzliche Freunde miteinan-der leben und das Blut darf niemehr in den Bruderkriegen vergos-sen werden. Finde die menschlicheWelt endlich Ruhe und lebe inFrieden!

Page 14: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

“6 May, 1945 - A day forever etched in my memory” VVeerraannssttaallttuunnggeenn zzuu 6600 JJaahhrree BBeeffrreeiiuunngg KKZZ EEbbeennsseeee

15 betrifft widerstand

Vom 4.-8. Mai wurde dem Geden-ken an die Befreiung des KZ Eben-see vor 60 Jahren durch eine Reihevon Veranstaltungen ein würdigerRahmen geschaffen. Dank derzahlreichen Kooperationspartner(Städtepartnerschaftsverein Prato-Ebensee, Kulturverein Kino Eben-see, Gemeinde Ebensee, PfarreEbensee, Mauthausen Komitee Ös-terreich) konnte ein vielseitigesProgramm realisiert werden, dasinmitten der Dynamik des Ge-denkjahres einen überwältigenZuspruch fand, fünf Tage mitzahlreichen bleibenden Eindrü-cken.Den Anfang machte am 4. Mai dieVernissage zur Ausstellung „Zeit-reise der Gedanken“, die Bilderund Skulpturen der EbenseerKunstschaffenden Rudolf Kersch-baum und Franz Hofer-Langwieszeigte. Im Zentrum ihrer bis EndeMai im Zeitgeschichte Museumgezeigten Werke standen Interpre-tationen von Terror, Leid, Tod, Be-freiung, die sich verschiedenerStile und Symboliken bedient undz.T. direkte Referenzen zum KZEbensee aufweist.Am 5.5. veranstaltete die IG-Kul-tur Österreich eine Diskussions-veranstaltung zum viel beschwo-

renen Gedankenjahr 2005. “Kul-turkampf ohne Ende?“ lautete dieFragestellung der von Martin Was-sermair moderierten Diskussionzur österreichischen Kunst- undKulturgeschichte nach 1945, diedamit auch den Regierungsfeier-lichkeiten in diesem Jahr auf denZahl fühlte. Der Freitag stand dann im Zei-chen der Jugend. Um 19 Uhr fandunter dem Motto „Stationen desBedenkens“ eine Gedenkveranstal-tung entlang authentischer Spu-ren des KZ Ebensee statt. Ein lan-ger Gedenkzug von rund 300 Be-sucherInnen bewegte sich beinasskalter Witterung vom Löwen-gang zu den Stollen und weiterzum KZ-Friedhof. An den einzel-nen Stationen lasen Jugendlicheaus schriftlichen Zeugnissen vonLagerüberlebenden, die den jewei-ligen Ort zum Schauplatz hatten.In der Atmosphäre des widrigenWetters hatten insbesondere diekünstlerischen Darbietungen derTänzerinnengruppe aus Prato undder zwei Musikstudenten der Uni-versität Mozarteum Salzburg eineaußerordentliche Wirkung. ImAnschluss fand am KZ-Friedhofdie Enthüllung eines Gedenk-steins für den im Dezember ver-

storbenen Begründer der Städte-partnerschaft Prato-Ebensee, Ro-berto Castellani, statt. Die Bürger-meister der beiden Gemeindenwürdigten die Verdienste des ehe-maligen Häftlings, der sich jahr-zehntelang um das Zustandekom-men der Partnerschaft bemühte.Herwart Loidl wies einmal mehrdarauf hin, dass Castellani gewis-sermaßen eine Methode vorgege-ben hatte, die in der GemeindeEbensee Erinnerungsarbeit ineinem größeren Rahmen ermög-lichte.Der Abend setzte mit einem Rock-konzert europäischen Formatsfort. Der Prato-Verein ermöglichtezusammen mit dem Kino Ebenseeein musikalisches Aufeinander-treffen der drei PartnerstädteEbensee, Prato, Zawierce. In Besu-cherzahlen gemessen ein großerErfolg, wenngleich die Frage ge-stattet sein darf, ob ein derartigesJugendevent nicht irgendeineForm von Inhalt vermitteln hättekönnen, der dem Anlass Rech-nung getragen hätte. Für den un-aufgeklärten Besucher hatte esden Anschein, dass es für Bandsund Zuschauer nur ein weiteresKonzert gewesen war. Am Samstag fand neben der tradi-

Zeitzeugen am Podium: v.l.n.r. Italo Tibaldi, Abraham Sonnenfeld, Max Safir, Artur Radvansky, Jerzy Michnol, Henryk Gesiarz, Solomon Salat, Foto: ZGM

Page 15: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

60 Jahre Befreiung

betrifft widerstand 16

tionellen Befreiungsfeier am Vor-mittag eine Podiumsveranstal-tung mit Überlebenden des LagersEbensee statt. Wolfgang Quatem-ber moderierte im Kinosaal dieDiskussion mit sieben Zeitzeugen.Aus Israel, USA, Schweden undanderen Weltgegenden angereist,um der Gedenkfeier beizuwohnen,wollte das Zeitgeschichte MuseumEbensee insbesondere solchenÜberlebenden ein öffentlichesForum bieten, die bisher wenig inder Öffentlichkeit stehen konntenoder wollten. Die Statements be-rührten durch ihren persönlichenCharakter. Gerade die Vielgestal-tigkeit ihrer Erinnerungen schuffür den Zuhörer ein ganz eigenesBild des Lagers, abseits der histo-rischen Fakten. Neben bedrücken-

den Zeugnissen wurden auch An-ekdoten aus der Phase der Befrei-ung erzählt, die für Schmunzelnsorgten. Solomon Salat etwa kannsich gut an eines der ersten Erleb-nisse nach der Befreiung erinnern.Er suchte im Ort einen Zahnarztauf, der die dringende Entfernungeines infektiösen Zahnes diagnos-tizierte. Mangels effizienter Anäs-thetika wurde dem Patienten eineDosis Schnaps gereicht, welcherseine intendierte Wirkung nichterfüllte. Was jedoch, wenn die In-fektion eine Woche früher aufge-treten wäre? Am Ende des Abends bat Wolf-gang Quatember einen besonde-ren Gast auf die Bühne. Bob Per-singer, jener amerikanische Sol-dat, der im ersten Panzer saß, wel-

cher das Lager am 6. Mai 1945 be-freite. Am Sonntag setzte das „Orquestade Cámara de l'Empordà“ einenfeierlichen Schlusspunkt. Dasweltweit renommierte kataloni-sche Streichorchester begleitetedie Feierlichkeiten in mehrerenKZ-Gedenkstätten. In Ebenseespielten sie ein volles Konzertpro-gramm, in welchem dem Geden-ken an die Opfer des Faschismusein würdiger Platz eingeräumtwurde.Sämtliche Veranstaltungen wur-den filmisch festgehalten. Derzeitwird an einer Filmdoku gearbei-tet, die Höhepunkte der Gedenk-feierlichkeiten enthält. In Kürzewird sie als DVD im Zeitgeschich-te Museum erhältlich sein.

Befreiungsfeier 7. Mai in Ebensee; Foto: S. Panzl

Abraham Sonnenfeld und Robert Persin-ger während der Veranstaltung „Stationendes Bedenkens“ am 6. 5. 2005; Foto: privat

Gedenkstein für Roberto Castellani (1926-2004) am Eingang des KZ-FriedhofsFoto: S. Panzl

Page 16: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

17 betrifft widerstand

Österreichische Jugendliche als Opfer der NS-VVerfolgung

Von Jana Müller

EINLEITUNG

1999 erschien in „Betrifft Wider-stand“ (Folge 43/02/99) der Bericht„Verdeckte Spuren – Kinder undJugendliche als Opfer der NS-Ver-folgung“ mit einer allgemeinenEinleitung sowie dem Beitrag „AmBeispiel ,Spiegelgrund’ auf demGelände der Anstalt ,Am Steinhof ’in Wien“, mit der Schilderung derSchicksale von 6 „Spiegelgrund-Kindern“. Die damals vorgeseheneFortsetzung konnte aus verschie-denen Gründen erst jetzt realisiertwerden.

Mit den Zeitzeugen konnten aus-führliche Gespräche geführt wer-den. „Wie haben Sie das erlebt,persönlich empfunden, was habenSie sich dabei gedacht?“, war dieimmer wiederkehrende Frage.Nicht nur die markanten Ereig-nisse, auch der Alltag innerhalbder „Volksgemeinschaft” undebenso in den Lagern und Gefäng-nissen wurde besprochen. Es wareine oft gemeinsame Suche nichtnur nach Vergessenem, sondernnach Zusammenhängen und Um-ständen, gegebenenfalls auch an-hand späterer eigener Erkennt-nisse oder neuester zeithistori-scher Fakten. Nur in manchen Fäl-len werden im Text auch die Fra-gen der Verfasserin angeführt, woes zum besseren Verständnis bzw.zur Betonung der Aussage sinnvollerscheint. Das gesprochene Wortdes Zeitzeugen hat absoluten Vor-rang, es ist kostbar. Die Aussagensind wörtlich wiedergegeben; nurder (Wiener) Dialekt wurde fastzur Gänze „entschärft“; manche

markanten Dialektausdrücke, cha-rakteristische Bezeichnungen etc.wurden aber belassen. Fallweisewurden lediglich einige verbinden-de Worte hinzugefügt, nicht ganzfertig gesprochene Sätze ergänztu. dgl.

Es zeigte sich, dass für die Befrag-ten insgesamt viele Namen unver-gessen blieben, Namen von Freun-den, Nachbarn, Mithäftlingen,Zellengenossen, Mitangeklagtenund weiteren Beteiligten, von „Ver-naderern“1 und Spitzeln, von Auf-sehern und Aufseherinnen (auchsehr menschlichen), „Erziehern“,Gestapo-Beamten, SS-Chargen,Ärzten etc. Diese Namen habeneine persönliche und auch zeithis-torische Bedeutung. Vorrangig solldurch ihre Nennung der in der NS-Zeit verfolgten Österreicher undÖsterreicherinnen, die in diesenJahren umgekommen sind, ge-dacht werden; ebenso jener, die dieBefreiung erlebt haben und inzwi-schen verstorben sind. Menschen,die geholfen haben, sollen nichtvergessen werden, erwiesene Täterauch nicht. Bei jedem Namenwurde geprüft, ob er allenfalls nurmit dem Anfangsbuchstaben an-geführt bzw. ganz ausgelassenwerden sollte. Auch das regionaleUmfeld, Orts- und Straßennamen,Benennungen von Gemeindebau-ten usw. wurden bewusst einbezo-gen. Die aus den Tonbandaufnah-men zusammengestellten Auszügewurden z.T. in der ursprünglichenReihenfolge belassen, z.T. wurdendie Aussagen aufgeteilt und imHinblick auf die Chronologie undweitere Kriterien in andere Text-stellen eingefügt.

ARBEITSERZIEHUNGSLAGEROBERLANZENDORF

Maria Lanzendorf (Raum Schwe-chat) gehörte nach dem „An-schluss“ zu Groß-Wien und wurdein Oberlanzendorf umbenannt. Einso genanntes Arbeitserziehungsla-ger (AEL) wurde hier unter Füh-rung der Gestapo errichtet. „DieArbeitserziehungslager entwickel-ten sich zu einer dritten Repres-sionssäule neben der ordentlichenJustiz und dem System der Kon-zentrationslager“ schreibt der re-nommierte Historiker HansMommsen in seinem Vorwort zumim Jahre 2003 erschienenen Stan-dardwerk „KZ der Gestapo – Ar-beitserziehungslager im DrittenReich“ von Gabriele Lotfi.2 Die Ar-beitserziehungslager waren ein ge-sellschaftliches Disziplinierungs-instrument, ein Herrschaftsinstru-ment der lokalen Gestapodienst-stellen in Zusammenarbeit mitden Arbeitsämtern, Unternehmenund anderen Behörden der zivilenVerwaltung.3 Es ist gelungen, zeit-gleich zum nachfolgenden Zeit-zeugenbericht einen fundiertenBeitrag von Mag. Josef Prinz zuden Arbeitserziehungslagern inÖsterreich und insbesondere Ober-lanzendorf in dieser Ausgabe zubringen. Der Wiener Historiker ar-beitet seit 1995 an diesem Thema.

KÄTHE SASSO, GEB. SMUDITS (18. 3. 1926)

Käthe Sasso wurde als Jugendliche indie Widerstandstätigkeit ihrer Elternallmählich einbezogen. Während derKrankheit und nach dem Tod der Mut-

Page 17: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 18

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

ter im Juli 1941 setzte die 15jährige dieTätigkeit allein fort (der Vater war be-reits davor zur Wehrmacht eingezogenworden). Am 21. 8. 1942 wurde sie alsMitglied der Widerstandsgruppe Gus-tav Adolf Neustadtl verhaftet und indas Polizeigefängnis Roßauer Lände4

gebracht; Verhöre bei der Gestapo amMorzinplatz; Überstellung am30.10.1942 in das GerichtsgefängnisSchiffamtsgasse; ab Januar 1943 imLandesgericht I; Verhandlung am24.4.1944 im Justizpalast vor demVolksgerichtshof (6. Senat). Die Haft-strafe war mit der Untersuchungshaftverbüßt; Rücküberstellung auf die Ro-ßauer Lände. Die 18jährige rechnetemit der bevorstehenden Einweisungins KZ, wurde aber völlig überra-schend in das ArbeitserziehungslagerOberlanzendorf (in der NS-Zeit Wien,23. Bezirk) überstellt. Nach etwa 8Wochen kehrte Käthe Sasso auf dieRossauer Lände zurück und trafschließlich am 26. September 1944 imFrauen-KZ Ravensbrück ein, wo siebis zur Evakuierung des Lagers EndeApril 1945 blieb.

Über Käthe Sasso, ihre Wider-standstätigkeit und die Zeit ihrerGefängnishaft insbesondere imWiener Landesgericht siehe in derFortsetzung.

Als einzige Politische und„Deutsche“ im Frauenlager

Oberlanzendorf

„Noch am Tag meiner Aburteilungbin ich vom Landesgericht wiederauf die Roßauer Lände gekommen.

Nach einigen Wochen hat es gehei-ßen: „Smudits, du gehst morgenauf Transport“, und ich habe meinkleines braunes Kofferl bekommenmit den Sachen, die in den Effek-ten verwahrt waren. Mit einemGrünen Heinrich5 und anderenHäftlingen sind wir losgefahrenund bald wieder stehen geblieben.Der Gestapo-Beamte, der vorne ge-sessen ist, ist ausgestiegen, „Smu-dits raus“ und hat dort geläutet,ein SS-Mann hat ein großes brau-nes Tor geöffnet und mich mitge-nommen. Erst war ein großer Park,nicht sehr gepflegt, mit ein paaralten Bäumen, dann kam ein Türl,dort ist wieder ein Wachsoldat ge-standen; da war schon Stachel-draht. Der eine hat mich dem an-deren SS-Mann übergeben und ichwurde zu einer Baracke geführt.Drinnen sind schon Häftlinge ge-standen, wie ich dann gemerkthabe, waren es lauter Griechinnen.Später habe ich mir gedacht, dasses sich um Frauen gehandelt hat,die einfach zusammengefangenworden sind, wahllos. Sie warenzwischen 20 und 35. Sie konntennicht Deutsch und ich nicht Grie-chisch. Sie haben alle miteinanderein Leintuch bekommen und eshat geheißen, dorthin zum Du-schen. Das war im Freien; da warin der Höhe ein große Gießkannebefestigt, die Aufseherin hat aneinem Schnürl gezogen und allesind unter den Tropfen im Lauf-schritt durch. Es war Ende Maioder schon Juni (1944). Die Aufse-herin hat zu mir geschrieen „dubist Deutsche“ und hat mir zumAbtrocknen ein Leintuch gegeben,für mich allein.

Nach einigen Stunden hat es ge-heißen, ich muss vorne in der SS-Kaserne aufräumen, und am näch-sten Tag in der Früh ist ein SS-lergekommen mit aufgepflanztemGewehr, was mich sehr gestört hat,da war ein Bajonett oben drauf ge-steckt, und hat mich nach vorne

begleitet. Die SS-Kaserne war einunschöner Bau gleich neben demEingang. Der SS-Mann hat mir ineinem sehr schlechten Deutsch er-klärt, ich muss hier sauber ma-chen. Es war sehr schmutzig indem Waschraum; ich habe auch inden Schlafräumen aufräumen undden Boden putzen müssen. Natür-lich hat mich die Sprache gewun-dert. Ich war ein junges Mädel,und das waren junge Männer umdie Zwanzig; es war ja doch eineSituation, wo leicht ein Gesprächaufkommt, im Gegensatz zum KZRavensbrück später, wo so etwasnicht denkbar war. Nach ganz kur-zer Zeit habe ich gewusst, dass essich um Volksdeutsche aus Rumä-nien gehandelt hat, also so ge-nannte Pudelhauben-Deutsche.6

40 Paar Stiefel waren zum Putzen,und so habe ich gewusst, dass eseine Wachmannschaft von 40Mann war.“ JM: „Glaubst du, es hatfür sie eine Bedeutung gehabt, dass du,Deutsche’ warst?“ „Schon. Siekonnten gar nicht verstehen, dassich als Deutsche da war.7 Es warenjunge Männer, die noch nicht denSchliff der KZ gehabt haben. DieseEinschätzung ist mir erst nachhergekommen, wie ich dann im KZRavensbrück wirklich erlebt habeund wirklich gesehen habe, zu wasSS fähig war. Bald haben nicht we-nige die Waschmuschel hinten-nach selber ausgewischt, und dieStiefel waren zum Teil auch nichtmehr so dreckig.Da ist hinter dem Lager ein Bach

gegangen. Das Lager war um-zäunt, nicht mit elektrischemDraht, sondern mit einem ganzeinfachen Gitterzaun mit oben einpaar Reihen Stacheldraht. Wie ichden Bach gesehen habe, habe ichmir vorgestellt, dass meine Groß-mutter dort zu dem Bach hin-kommt, an einem Sonntag, wennich nicht in der SS-Kaserne war,wenn ich frei war, und da hättenwir uns sehen können am Zaun,mit dem Bach dazwischen. Drüben

Polizeigefangenenhaus Wien, 9. Bezirk,Roßauer Lände 7 (siehe dazu Fußnote 4!)Foto: Bezirksmuseum Alsergrund, Samm-lung SchützIn: Exenberger/Riedel

Page 18: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

19 betrifft widerstand

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

sind auch Leute, Zivilisten vorbei-gegangen. Die Großmutter, die„Majka“ aus dem Burgenland, istdie ganzen Jahre, die ich einge-sperrt war, in Wien in unsererWohnung im 10. Bezirk geblieben.Aber ich habe ja keine Möglichkeitgehabt zu schreiben! Inzwischenhabe ich schon gewusst, dass ichin Oberlanzendorf bin, dass es einArbeitserziehungslager ist; dashabe ich der Aufseherin irgendwieentlockt. Ich war innerlich sehrempört – schließlich war ich keineArbeitsscheue, dass man mich daherbringt. Anstaltskleidung hat eszu meiner Zeit dort nicht gegeben,ich habe mein Zivilgewand ange-habt, auch die griechischen Frau-en. Auch an den Aufseherinnenhabe ich keine Uniform gesehen.

Dass es daneben ein Männerlagergegeben hat, habe ich gewusst,aber ich habe nie einen männ-lichen Häftling gesehen. Ich habeaus Gesprächen der SS-ler irgend-wie entnommen, dass die Männerdort alles im Laufschritt machenmüssen. Es war eine Mauer dazwi-schen, und über die Mauer hatman nicht drüber gesehen. Die

haben sie sicherlich nicht für dasLager gebaut, die war schon alt.Am ersten Tag war eine Ukrainerinda, mit ihr habe ich mich etwasverständigen können. Sie warzwanzig, schöne Ohrringerln hatsie gehabt. Am nächsten Tag warsie fort. Sonst war noch eine hüb-sche Ungarin da, auch in meinemAlter, die hat in der Villa des Kom-mandanten aufräumen müssen.Sie hat recht gut deutsch gespro-chen und hat mir einiges erzählt,wenn dazu Gelegenheit war; dassdie Villa Treffpunkt vom Dr. Ebnerund Dr. Siegl war, dass dort Festegefeiert wurden. Sie hat dieNamen mitbekommen; beidewaren führende Männer der Gesta-po Wien.

Die sanitären Zustände waren sehrschlimm. Für mich war es besser,weil ich konnte das Klosett in derKaserne benutzen und konntemich dort auch waschen, Wasch-mittel und Seife waren da. Im Par-terre waren die ,gewöhnlichen’ SS-ler und am Stock waren die so ge-nannten Chargen. Da hatte jederein Zimmer. Ich habe vor diesen 3Zimmern einen höllischen Respektgehabt; ich habe Angst gehabt vorden SS-Männern allein, vor denvierzig habe ich mich nicht ge-fürchtet – die waren in einem Ge-meinschaftssaal unten im Parter-re. Also habe ich immer gewartet,und wenn einer weggegangen ist,dann bin ich schnell hinein undhabe aufgeräumt. Da hat einer vonden drei direkt gepasst darauf, daswar dieser Martin B., ein Österrei-cher. Er hat das irgendwie einzu-richten gewusst und hat einmal,wie ich dort gearbeitet habe, zumir gesagt: ,Wennst Hunger hast,zwischen an Fenster ist Speck undBrot, nimm dir und iss’. Hungerhabe ich natürlich gehabt, aber ichhabe viel zu viel Angst gehabt,weil ich habe mir gedacht: aha,und dann erschießt er dich, wegenDiebstahl. Ich habe dort fleißig

Fenster geputzt und den guten Ge-ruch vom Speck und vom Gselch-ten in der Nase gehabt, aber ichhätte dort nichts angegriffen. Erhat das dann verstanden und hatdas Brot in den Papierkorb ge-schmissen und mir ausdrücklichangeschafft, den Papierkorb zuleeren. Natürlich, das Brot habeich dann gegessen, aber nicht beiihm, sondern unten bei der Mann-schaft. Na ja, es war irgendwie er-niedrigend, überhaupt von soeinem SS-Mann. Und mein Gefühlhat mich überhaupt nicht ge-täuscht. Später, da war ich schonverheiratet, habe ich gehört, dassdieser SS-Unterscharführer B. – erwar aus Neunkirchen – einen Pro-zess bekommen hat nach 1945, alsKriegsverbrecher. Ob er vorheroder nach Oberlanzendorf noch ineinem KZ war oder in besetztenGebieten, weiß ich nicht.

In meiner Baracke, bei den Grie-chinnen (insgesamt hat es zu mei-ner Zeit einige wenige Baracken imFrauenlager gegeben), war es fürmich von Beginn an ein schlimmesErlebnis. Es waren viele schwange-re Frauen drinnen, und währendder Zeit, als ich dort war, sindmindestens 5 Kinder zur Welt ge-kommen. Man hat ihnen keinenärztlichen Beistand gegeben. DieFrauen mussten eine der anderenhelfen, und wenn ich am Abendvon meiner Arbeit zurückgeführtworden bin, da habe ich dann dieBlutflecken gesehen, und ein paarMal bin ich dazu gekommen, wieeine Frau in den Wehen war, undich habe die Schmerzen und dasBlut gesehen. Ich habe es damalsnicht begreifen können. Die Auf-seherin der Baracke, die mit mirfreundlich gesprochen hat und of-fenbar auch eine Rumänien-Deut-sche war8, hat diesen Frauengegenüber kein Herz und kein Mit-leid gezeigt. JM: „Haben die griechi-schen Frauen arbeiten müssen, auchdie Hochschwangeren?“ „Ja, die

Die 15jährige Käthe Smudits (verh. Sasso)1941 mit einem Nachbarbuben vor ihremWohnhaus in Wien-Favoriten (10. Bezirk),Eckertgasse 5Foto: Privatbesitz K. Sasso

Page 19: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 20

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

haben aber drinnen gearbeitet, inder Baracke. Da haben sie so alteUniformen bekommen, so wie beiuns im Landesgericht. Wir habenin der Zelle die Uniformen zer-schneiden müssen mit großenScheren und aufteilen in große Fle-ckerln (vom Rückenteil), kleineFleckerln und die Teile mit denNähten herausschneiden. Die Grie-chinnen mussten aber die Unifor-men auftrennen. Es war eine sehrschmutzige, staubige Arbeit; daswaren Uniformen von Verwunde-ten und Gefallenen meistens. AmAbend ist alles zusammengeräumtworden, wie bei uns im Landesge-richt auf der Zelle.“ JM: „War dasvielleicht ein ganzer Schwangeren-Block?“ „Nein.“ JM: „Dort hat sichalso alles abgespielt: die Arbeit, derStaub und der Schmutz von den Uni-formen, und daneben die gebärendenFrauen und die Babys.“ „Ja, doch, siehaben Schläge bekommen, auchdie Schwangeren. Wegen jedemDreck haben die Aufseherinnen sieabgewatscht. Die Griechinnen, siewaren viele, und ich war allein.Vielleicht haben sie sogar ange-nommen, wenn ich in der Früh zurSS geholt werde und am Abend zu-rückgebracht werde, ein Bett alleinund ein Leintuch nur für mich,das ist doch schon irgendwie....Ichhätte auch nicht anders reagiert.Ich hätte ihnen ja gar nicht erklä-ren können, dass ich ein politi-sches Opfer bin – ich hätte einSpitzel sein können, oder sonstwas.

Unsere Aufseherin hat mich dannsogar gefragt, ob ich strickenkann. Da hat vorher eine andereGefangene so ein Sommerbluserlin 3 Farben mit einem komplizier-ten Lochmuster angefangen, diewar nicht mehr da. Am Sonntag,hat sie gemeint, dass ich weiterstricke....Ich hab’s hingebracht,aber nicht so locker, so duftig.“Diese „Strickepisode“ wird hier auszwei Gründen wiedergegeben: Immer

wieder erzählen ehemalige Häftlinge,dass sie in ihrer einzigen Freizeit, amSonntag, zu weiteren Arbeiten, fürpersönliche Dienstsleistungen für SS-Aufseher usw. herangezogen wurden.Die Arbeit abzulehnen, war praktischunmöglich. Weiters geht hervor, dassauch die Aufseherinnen dort die Auf-enthaltsdauer der Gefangenen offen-sichtlich nicht abschätzen konnten.Die Gefangene, die von der Aufseherinmit einer aufwendigen Strickarbeitbeauftragt worden war, musste siesehr bald wieder abbrechen, weil sieoffenbar das Lager verließ. JM: „Hatdich die Frage sehr beschäftigt,warum du in ein Arbeitserziehungsla-ger eingewiesen worden bist?“ „Ichwar empört darüber und es hatmich sehr beschäftigt innerlich,wie ich erfahren habe, wo ich bin.Ich habe von einem Arbeitserzie-hungslager vorher nichts gewusst,nichts darüber gehört, es hat michempört schon vom Namen her,von der Bezeichnung. Ich habemich überhaupt nicht zurechtge-funden, mit meinen 18 Jahren. ...Immer habe ich mich mit dem Ge-danken getragen, geh rüber zu derVilla und sag, ich will dorthin, wodie anderen Politischen hinkom-men. Von der SS-Kaserne aus habeich dann beobachtet, wenn das Torgeöffnet worden ist für einen Pri-vat-PKW, und wie ich dann gese-hen habe, es ist ein ,Hoher’ in SS-Uniform gekommen, bin ich hin-gegangen. Die SS-Wache vor derVilla hat mich durchgelassen, weilich von der SS-Kaserne gekommenbin. Es war der Ebner oder derSiegl. Ich habe ihm gesagt, dassich weg von hier möchte, ich fühlemich da auf einem völlig falschenPlatz. Ich war politischer Häftling,habe meine Strafe abgesessen undverstehe nicht, dass ich in einemArbeitserziehungslager gelandetbin. ,Wie heißt du?’ und dann ,ichwerde schaun’, so ungefähr wardas; er hat sich nicht aufgeregt,nichts. Das war im Freien, vor derVilla.

Im Innersten war es das Verlangen– weil, dass ich frei gehe, habe ichohnehin nicht gerechnet – ichwollte mit meinen Freundinnenwieder zusammen sein, mit denpolitischen Häftlingen, dort wardie gewohnte Solidarität. Mit denGriechinnen habe ich kein Wortreden können, die SS-ler habe ichnicht mögen, ich war dort kom-plett isoliert.“ JM: „War dir das Put-zen für die SS zuwider?“ „Ich warfroh, dass ich was arbeiten habekönnen, und ich war selig, dass ich(nach dem Gefängnis) einen Him-mel gesehen habe und die Sonneund die Sterne, und dass ich michhabe waschen und mit warmemWasser pritscheln können. In derSS-Kaserne ist den ganzen Tag dasRadio gelaufen und ich habe Nach-richten hören können, beim Put-zen. Trotzdem war es ein furchtba-res Gefühl. Für mich waren die SS-ler, mit denen ich Umgang gehabthabe, ein Horror, irgendwo. Ichhabe weder Schläge bekommen,noch sonst irgend was. Aber derganze Abscheu vor der SS, den hatman ja gleich 1938 bekommen. ...Am schlimmsten dort war das mitden Griechinnen. Sie haben sich inder Baracke auf dem Fußboden ge-wälzt, haben gejammert und ge-schrieen, du siehst das Blut. Dakann man gar nicht von schockiertreden – ich war komplett zerstört!!Einige Tage nach dem Gesprächbei der Villa hat man mich auf dieRoßauer Lände zurückgebracht.“

Das Frauenlager bestand seit 1943.Zunehmend wurde Oberlanzendorf ab1944 auch zur Zwischenstation fürPolitische vor dem KZ. Käthe Sassohat allerdings während ihrer gesam-ten Haftzeit in den Gefängnissen undim KZ Ravensbrück keine einzige Ös-terreicherin kennen gelernt, die vordem Frauen-KZ Ravensbrück odereinem anderen KZ in das Arbeitserzie-hungslager Oberlanzendorf überstelltworden wäre, und hat auch später nievon einem solchen Fall erfahren. Die

Page 20: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

21 betrifft widerstand

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

SS-Männer hat sie durch ihre Arbeits-situation und als „Deutsche“ wie ge-schildert erlebt. Tatsächlich wütetendieselben SS-Wachmannschaftenauch zu diesem Zeitpunkt im benach-barten Männerlager. Sie übten exzessi-ven, permanenten Terror aus.(Siehe Bericht von Mag. Prinz in dieserAusgabe und Zeugenaussagen, Proto-kolle etc. in: „Widerstand und Verfol-gung in Niederösterreich 1934-1945“9)

—————

KINDER VON NS-OPFERN -AM BESPIEL LANDESGE-

RICHT WIEN

Am 11. März 2005 fand im „Weihe-raum“ des Landesgerichts Wieneine Gedenkfeier statt, zur Erinne-rung an den Einmarsch der Deut-schen Wehrmacht in Österreicham 12. März 1938 und den am 13.März vollzogenen „Anschluss“.Die Gedenkrede im ehemaligenHinrichtungsraum hielt der Sohneines im Landesgericht I mit derGuillotine hingerichteten führen-den Widerstandskämpfers. Er er-innerte eindringlich daran, dassdie Angehörigen von Hingerichte-ten, von in den KZ und anderswoumgekommenen NS-Opfern eben-so Opfer waren und sind, be-sonders auch die Kinder. „Es istein ewiger Stachel im Fleisch; esbegleitet einen das ganze Leben,“sagte Dr. Gerhard Kastelic.

HELENE BARFUHS, GEB.MORTH (29. 5 .1926)

Landesgericht Wien – ein Ab-schied für immer

„Der Papa war der Älteste von 12Kindern, Jahrgang 1902, geborenin Theresienfeld. Aufgewachsenist er in Hölles, das ist auch beiWiener Neustadt. Er war sehrernst, ein großer Schweiger. Er hatnicht viel zu lachen gehabt in sei-nem Leben. Die Mama war sehrgesellig, eine Frohnatur trotzallem. Sie war auf einem Auge

blind. Als Kind ist ihr Kalk in dieAugen gekommen, wie das Hausausgeputzt worden ist.“ Die Heiratfand trotz Ablehnung beider Familienstatt; die Wienerin und der Hilfsar-beiter vom Land wurden abgelehnt.Später, in extremer Not, standen dieFamilien Mutter und Tochter nichtbzw. kaum bei. „Dadurch, dass derPapa eigentlich fast nie gelachthat, habe ich mich etwas mehr zurMama hingezogen gefühlt. Er warja über 7 Jahre arbeitslos. EineZeitlang hat er beim Teeren beider ASTAG gearbeitet und in derZuckerfabrik Leopoldsdorf. In derNazi-Zeit war er dann Maschinen-arbeiter bei Siemens-Schuckert in

Floridsdorf (21. Wiener Gemeindebe-zirk). Nach seiner Hinrichtung hatdann ein Bruder über ihn gesagt:,Zu was hat er denn was gmacht(politisch), wann er eh a Arbeitghabt hat?’ Die waren da draußeneigentlich alle gegen uns.“

Die Eltern kamen beide aus der Sozi-aldemokratie, der Vater wandte sichnach 1934 der KPÖ zu und war lautAnklageschrift ab 1937 zahlendesMitglied. „Der Papa hat nie poli-tisch geredet mit mir. Er warüberzeugt von der Richtigkeit,was er macht gegen Hitler, weil erhat gesagt, Hitler bedeutet Krieg –ja, an den Satz kann ich mich er-innern, aber nicht zu mir war das,ich habe gehört, wie er gespro-chen hat mit der Mama. Naja, ichhabe immer die Ohren gespitzt,wenn Besuche gekommen sind zuuns; das hat sich alles in derKüche abgespielt. Einer ist immerin einem Trenchcoat gekommen.Neben uns, das waren arge Nazis,die Amstätter, zu Ende sind sieweggezogen. Wir haben da ineinem Gemeindebau in der Wagra-mer Straße gewohnt, in der Nazi-Zeit war das der 21. Bezirk. Siehaben die Besuche bei uns beob-achtet durch das Guckloch. In derZeit nach dem Anschluss wareiner auf unserer Stiege, ja, derAmstätter, der hat die Matratzeruntergeschleift über die Stufenaus der Wohnung von dem Juden.Das war so ein netter Mensch, soein ruhiger. Da hat man nichtsmehr gehört. In der Schule kannich mich nicht erinnern, dass ichHeil Hitler gegrüßt hätte. Schonfrüher hat eine Freundin aus demgleichen Bau zu mir gesagt: ,WeißtHelli, jetzt kommt bald der Hitler,da wird es uns gut gehen’. Da wardann die Zeit, wo man wählen hatgehen müssen, da haben meine El-tern gesagt, nein, sie stimmennicht für – wir brauchen den net.Ich war dann auf Kinderlandver-schickung in Deutschland, sind ja

Seit 1988 erinnert eine Gedenktafel an dieOpfer des Arbeitserziehungslagers.Foto: J. Müller

Die 13jährige Helene MorthFoto: Privatbesitz H. Barfuhs-Morth

Page 21: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 22

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

viele Kinder verschickt worden.

Die Mama hat zum Papa gehalten.Wenn sie ihn irgendwie gefragthat, wo er hingeht, hat er oft nurgesagt ,runter’ oder ,fort’. Späterhat er ein Fahrrad gehabt und daist er noch mehr weg gewesen. Erhat gesagt, er fährt nach Leopol-dau oder Breitenlee (beides heute 22.Bezirk) zum Kuppelhuber undRaus, oder sogar nach Schwechat.Die Kuppelhuber, hat er gesagt,die haben zwei Mäderln, da hättdie Helli gleich zwei Freundinnen.Aber wir sind eigentlich nie hin-gekommen.” (Rudolf Kuppelhuberund Robert Raus sind in der Anklage-schrift gegen Andreas Morth und An-dere als weitere Beteiligte angeführt.)„Ich habe mir immer gedacht,mein Papa hat Recht. Was ermacht, ist richtig, er macht nichtsFalsches. Er ist gegen Hitler undfolglich bin ich auch gegen Hitler.Aber sonst habe ich mich nichtwesentlich damit beschäftigt. DieMama hat zu ihm gesagt einmal,wie’s schon so brenzlig war, wieschon Verschiedene verhaftet wor-den sind: ,Mach nichts mehr, wen-n’s dich erwischen, die bringendich um!!’ und er hat gesagt: ,Erstmüssen’s mich haben’. Das war

vielleicht ein Jahr vor der Verhaf-tung. Von 1940 bis 1942 war ich inder Handelsschule in Floridsdorf.Einmal bin ich von der Schuleheimgekommen am Nachmittagoder am Abend, und da hat bei derHaltestelle ein Freund auf michgewartet und hat gesagt: ,Helli,dein Vater ist verhaftet worden,die Gestapo war da’. Ich bin gleichraufgestürmt in die Wohnung.Wie die Gestapo gekommen ist,hat der Papa gerade den Ofen an-geheizt, weil es ja kalt war im Fe-bruar (21.2.1941). Die haben sofortgesagt: ,Ah, tun’s schon was ver-brennen?’ Nachher hat die Muttergesagt, ich muss acht geben, wasich sag, nicht erzählen, was zuHause gesprochen wird, sonstholen sie mich auch vielleicht.Und dann haben wir warten müs-sen, bis wir eine Post kriegen, woer war. Ich kann mich gut erinnern anden Mittersteig10, weil da war ichmanchmal mit der Mama mit,Wäsche ,anweisen’. Nein, Besuchehat es dort keine gegeben. Na, vor-her wird er auf der Elisabethpro-menade11 gewesen sein....“ JM:„Und von dort ist er sicher zur Gesta-

po am Morzinplatz gebracht wordenzu Verhören, und zurück. ,Ausführen’hat man gesagt“. „Ja, und da hat derPapa eine Zahnprothese nachHause geschickt, eine untere.Wahrscheinlich hat man ihn da sogehaut, dass die Prothese gebro-chen ist. Am Mittersteig konnteman frische Wäsche bringen unddie alte mitnehmen einmal imMonat. Die Mama hat im Saumvon der Wäsche Tabak eingenäht.Einmal hat ihr ein gewisser T., daswar ein ekelhafter Justizbeamte,die Wäsche zurück geschmissenwegen dem Tabak, und der Papadurfte keine frische Wäsche be-kommen. Der T. hat sich angeb-lich aufgehängt nach Kriegsende.Die Mama und ich sind am Sonn-tag öfter beim Mittersteig spazie-ren gegangen und oben von einemEckfenster hat eine Hand gewun-ken in einem weinroten Pullover,wie wir einen geschickt haben.Die Mama hat dort eine Frau ken-nen gelernt beim Wäschenanwei-sen, ihr Sohn Franz Gastol war amMittersteig mit dem Papa aufeiner Zelle. Er hat Glück gehabt,dass er überlebt hat, er war dannim Zuchthaus Straubing. NachKriegsende haben wir von ihm er-fahren, dass es tatsächlich derPapa gewesen ist, der gewunkenhat. Er hat uns dann immer nach-geschaut. Vor dem Landesgerichthat er Angst gehabt. ,Überall willich hinkommen, nur nicht insLandl,’ hat er gesagt. Und dort ister nicht mehr herausgekommen.“

JM: „Wann und auf welche Weisehaben Sie erfahren, wie die Verhand-lung ausgefallen ist?“ „Das weiß ichwirklich nicht mehr“. JM: „Siewaren damals 16. Irgendwann habenSie doch gewusst: der Vater ist zumTod verurteilt!“ „Ja ... die Leutehaben ja gar nicht mit dazu dür-fen zur Verhandlung! Auf derGasse draußen sind sie gestanden.Ich war da mit der Mama nichtmit. Da sollen welche zusammen-

Helene Barfuhs-Morth im Januar 2005Foto: J. Müller

„Der Papa war so ernst, er war ein großerSchweiger." - Andreas Morth vor seiner

Verhaftung im Februar 1941Foto: Privatbesitz H. Barfuhs-Morth

Page 22: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

23 betrifft widerstand

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

gebrochen sein auf der Straße, wiesie es erfahren haben. Die Mamawar auch dort. Die Regi Stelzel hatmir das nach dem Krieg auch er-zählt“. Die Verhandlung fand am27.8.1942 vor dem 5. Senat im GroßenSchwurgerichtssaal des Landesge-richts statt. Regina Stelzel, Tochterdes Mitangeklagten Franz Stelzel,Jahrgang 1925, wartete gemeinsammit ihrer Mutter und den anderenAngehörigen vor dem LandesgerichtII. Der Anwalt ihres Vaters hatte esübernommen, die Angehörigen der 10Angeklagten dort zu informieren. Sieerinnert sich an Rufe, Schreie und denvölligen Zusammenbruch einer Ange-hörigen auf der Straße.12 „Kann dasnicht endlich aus sein, damit derPapa nach Hause kommen kann?Das habe ich mir schon oft ge-dacht nach der Verhaftung unddann nach der Verurteilung. DerHitler muss doch einmal abtreten,die Leute müssen doch verstehen,dass der unser Unglück ist. Natür-lich haben wir beide gehofft, dassalles rascher geht, dass ein Wun-der geschieht, dass der Papa raus-kommt. So war das; auch wegender ausländischen Nachrichten,die wir bei den Wagner mitgehörthaben, haben wir gehofft.“

Im Herbst 1942 bewarb sich HeleneBarfuhs-Morth bei der Postsparkasseund trat am 19.10.1942 ihren Dienstan. „In der Postsparkasse war eingroßer Bedarf, trotzdem wäre ichnicht aufgenommen worden,wenn ich nicht zum BDM13 gegan-gen wäre, und ich habe mich sogesträubt. Schon zu den Jung-mädln hätte ich gehen sollen, jafreilich waren damals die Elterndagegen. Wie ich dann den Stem-pel gehabt habe vom BDM, habendie mich dort nie mehr gesehen.Dann bin ich von der Arbeit nachHause gekommen einmal, und dasind auf meinem Tisch schwarzeStrümpfe gelegen. Ich habe sofortalles gewusst und habe einenSchreikrampf bekommen. Wir

sind gleich hinaufgegangen in den4. Stock zu den Wagner, mit denenwir öfters am Abend zusammengesessen sind, damit wir nicht soallein sind unten, die Mama undich. Die Wagner, mit denen habenwir alles besprochen, sie warenauch nicht einverstanden mit Hit-ler. Er war Kranführer im Bezirkbei Waagner-Biro; sie haben einenSohn gehabt, jünger als ich.“ (DerAbschiedsbrief des Vaters, datiertvom 10.11.1942, mit Poststempel 11.11.,war am 12.11.1942 angekommen. Dieso genannte Sterbeurkunde erhieltensie erst später.) „Im Abschiedsbriefwar eine Seite für die Mama ge-schrieben und eine für mich. Beimir hat er geschrieben: ,Stehe sozur Mama, wie du zu mir gestan-den bist. Lebe wohl mein Kind,dein Papa hat nur Freude mit dirgehabt’. -- Es war furchtbar. Manmuss das das ganze Leben mittra-gen, das kannst du nicht weg-schieben, es ist immer da. Am 10.November 1942, 6 Tage vor seinem40. Geburtstag, da haben sie ihnumgebracht“. JM: „Ihr Besuch imLandesgericht I, den Sie immer wiedererwähnen, war offenbar für Sie dereinzige während der ganzen Haft desVaters!? Es war der Besuch, den dieAngehörigen kurz vor der Hinrich-tung bewilligt bekamen?“ „Eigent-lich ja. Wir haben ihn durch einGitter gesehen, da sind wir garnicht weit gegangen vom Ein-gang. Ich habe bemerkt, dass derPapa schon einige graue Haarehat; er war sehr gefasst. Es hatnicht lange gedauert, der Ab-schied. Ich habe gar nichts gesagt,kein Wort.“

Mutter und Tochter hatten von bei-den Familien in Wien und in Nieder-österreich keinen Beistand. Sie hattenkeine Verbindung zu Angehörigen an-derer Opfer und suchten auch vonsich aus keinen Kontakt. Sie verharr-ten zurückgezogen auf sich selbst,fast ausschließlich aufeinander aus-gerichtet. Die Unterstützung durch

die Nachbarfamilie Wagner und dieMutter des jungen Zellengenossen amMittersteig, Franz Gastol, war ihnenaber eine große Hilfe. Nur mit FrauSebesta, der Frau des hingerichtetenJohann Sebesta, ergab sich für dieMutter ein weiterer Kontakt. Die bei-den Frauen lernten einander am Wie-ner Zentralfriedhof kennen, als FrauSebesta verzweifelt nach dem Grabihres Mannes suchte, und Frau Morthbereits über die Schachtgräber in derGruppe 40 informiert war. Der Por-tier vom dritten Tor hatte es ihr ge-sagt. (Aus Berichten von Angehöri-gen, besonders von Fini Kaluzik, istbekannt, dass ein jugoslawischerKriegsgefangener oder Zwangsarbei-ter, der am Zentralfriedhof u.a. beider 40er-Gruppe beschäftigt war,half, die Lage der Grabstätten vonHingerichteten zu bestimmen.14 Be-treffend Frau Morth ist sich jedochdie Tochter sicher, dass es ein Portieroder Wärter vom Tor 3 gewesen ist,der der Witwe weiterhalf. Es gabmehrmaligen Kontakt, von dem dieMutter erzählte. Das war nach dem10. November 1942. Im Falle von FrauKaluzik sowie der Mutter von AnniGräf und weiteren Angehörigen han-delte es sich um das Jahr 1944, allen-falls Ende 1943). Einmal kam es zueiner Vorladung der Mutter zur Ge-stapo. Die Tochter arbeitete bereitsbei der Postsparkasse, es war kurz vorder Hinrichtung oder auch danach.Die Mutter konnte noch die Tochterinformieren, für den Fall, dass manauch sie holen sollte. „Ja haben Siedenn was angestellt, FräuleinMorth?“ fragte ihr Chef, der Herr B.,als die Gestapo anrief. Am Morzin-platz hielt sie sich an die Anweisun-gen ihrer Mutter: Die Frau Neumannvon der Straßenbahnersiedlungnebenan kannte man nur, weil sieihnen öfter Gemüse von ihrem Klein-garten abgab. Höchstwahrscheinlichwar diese Frau in derselben Wider-standsgruppe tätig gewesen. „DerPapa hat geschwiegen; angeblichhat er hat niemanden hineingeris-sen.“ Doch die Gestapo blieb dran.

Page 23: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 24

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

Was mit Frau Neumann weiter ge-schah, ist Helene Barfuhs-Morth nichtbekannt. Es zeigt sich, dass die Mutterviel besser informiert war über die Tä-tigkeit ihres Mannes, als es für dieTochter ersichtlich war. Die schwar-zen Strümpfe auf dem Tisch wareneine Botschaft der Mutter an die Toch-ter, doch Schwarz getragen habenbeide nicht – es war ihnen nicht mög-lich. Die 16jährige musste am darauffolgenden Tag zur Arbeit erscheinen,so, als ob nicht gerade Ungeheuerli-ches in der kleinen Familie geschehenwäre, und konnte sich nicht einmaloffen zu ihrer Trauer bekennen. In derPostsparkasse hat niemand davon ge-sprochen, es wurde nichts gesagt undnichts gefragt, auch später kein Wortvon den Vorgesetzten. Von der Hin-richtung einer Postsparkasse-Ange-stellten, der jungen Widerstands-kämpferin Leopoldine Kovarik einJahr später (2.11.1943) erfuhr HeleneBarfuhs-Morth erst nach Kriegsende.

————-

MORTH Andreas, 16.11.1902 There-sienfeld Niederösterreich – 10.11.1942Wien, Maschinenarbeiter, Wien 21; Mitglied der kommunisti-schen Widerstandsgruppe im Siemens-Schuckertwerk (Wien-Flo-ridsdorf ); Leiter des FloridsdorferUnterbezirks Kagran; verhaftet21.2.1941, verurteilt 27.8.1942; sein Name befindet sich auf einem 1949enthüllten Mahnmal der Firma Sie-mens AG Österreich (Wien 21, Siemensstraße 88-92); ebenso auf der1988 von der KPÖ-Donaustadt gestif-teten Gedenktafel (Wien 22, Wurm-brandgasse 17); seit 1988 ist in Wien-Donaustadt eine Verkehrsfläche (An-dreas Morth-Weg) nach ihm be-nannt15.

Laut Anklageschrift des Oberreichsan-walts beim Volksgerichtshof 7 J649/41 vom 16.3.1942 16 waren ange-klagt: 1.) Anton Max Schädler, 2.) An-dreas Morth, 3.) Alfred Svobodnik, 4.Johann Hojdn, 5.)Alfred Goldhammer,

6.)Franz Stelzel, 7.) Felix Pfeiffer, 8.)Antonie Mück, 9.) Josef Leeb 10.)Franz Mittendorfer. Beim „Angeschul-digten“ Andreas Morth scheinen fol-gende Namen weiterer Beteiligter auf:Mathias Pista, Johann Bauer, AnnaBinder, Hermine Reiter, Rudolf Kup-pelhuber, Robert Raus, EngelbertMagrutsch, Mathias Fatrdala.. Vonden zehn Angeklagten wurdenneun am 10. November 1942 imWiener Landesgericht geköpft.17

————

DIE JUGEND-KONZENTRA-TIONSLAGER MORINGEN

UND UCKERMARK

1940 wurde in Moringen (etwa 20km nordwestlich von Göttingen,Niedersachsen) ein „polizeilichesJugendschutzlager“ für männlicheJugendliche eingerichtet. 1942

folgte die Errichtung eines Ju-gendschutzlagers für Mädchen,Uckermark genannt, 2 km vomFrauen-KZ Ravensbrück entfernt(bei Fürstenberg, Land Branden-burg). Die hier inhaftierten Ju-gendlichen galten als Asoziale,Unerziehbare, Kriminelle, ras-sisch bzw. erbbiologisch Minder-wertige, „Gemeinschaftsfremde“.Nach 1945 folgten Jahrzehnte desVerschweigens und Verdrängens,die beiden Lager waren weitge-hend unbekannt in der Öffentlich-keit; diese „Kategorie“ der jugend-lichen Häftlinge wurde ignoriertund ausgegrenzt. Erst 1970 wur-den die beiden „Jugendschutzla-ger“ als Konzentrationslager aner-kannt. Dennoch wurden Anträgeauf die so genannte Wiedergutma-chung und auf Pensionsanrech-nung weiterhin abgelehnt.18 Seit1993 gibt es zu den Jugend-KZ eine

Laut beglaubigter Abschrift aus dem Sterbebuch wurde Andreas Morth am 10.11.1942enthauptet.

Quelle: Privatbesitz H. Barfuhs-Morth

Page 24: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

25 betrifft widerstand

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

Ausstellung unter dem Titel „Wirhatten noch gar nicht angefangenzu leben“. Sie ist als Wanderaus-stellung angelegt und wurde (undwird) in Deutschland im ganzenBundesgebiet gezeigt. Konzipiertund erarbeitet wurde sie von Mar-tin Guse, Träger sind die „Lager-gemeinschaft und GedenkstätteMoringen e.V.“ und Martin Guseselbst. Die gewerkschaftlicheHans-Böckler-Stiftung hat die Re-alisierung der Ausstellung finan-ziert.

Die sehr anschauliche, eindrucks-volle Ausstellung wendet sich be-sonders an die Jugend. Auch inÖsterreich war sie bereits oft zusehen. Im Dezember 2002 war dieAusstellung im ZeitgeschichteMuseum der KZ-GedenkstätteEbensee installiert, zahlreiche Be-sucher, v.a. Schulklassen, habensie besichtigt. Leopold Dietrichaus Wien, Jahrgang 1924, standzwei Wochen lang mit seinen per-sönlichen Erinnerungen an das Ju-gend-KZ Moringen für Fragen undDiskussionen zur Verfügung. Seitlängerem ist er als Zeitzeuge be-sonders in Schulen zu Gast. ÜberLeopold Dietrich wird in der Fort-setzung ausführlich berichtet.

ALFRED GRASEL, GEB. 21. 6. 1926

„Ich dachte, dass ich entlassenwerde vom Spiegelgrund, ich

kann rausgehen in einen Beruf,eine Lehre, irgend was...“

1999 wurde in „Betrifft Widerstand“,Untertitel „Vom Spiegelgrund ins Ju-gend-KZ“ über Alfred Grasel, seineKindheit und seine Zeit in der NS-Er-ziehungsanstalt auf dem „Spiegel-grund“ auf dem Steinhof-Gelände inWien berichtet (siehe Einleitung). DerBericht endete mit seiner Abholungvom Spiegelgrund.Alfred Grasel ist 1926 als unehelichesKind in Wien geboren; die Mutterwurde von ihrer Familie verstoßen,das Kind in der Kinderübernahmestel-le in der Lustkandlgasse abgegeben. Erwar auf mehreren Pflegeplätzen, eini-ge Jahre bei der Familie Tuma, wo esihm gut ging. Nach dem „Anschluss“kam er von dort in das WaisenhausMödling. In den NS-Akten wurde fest-gehalten, dass der Vater Jude und dieGroßmutter mütterlicherseits Jüdinwaren. Mit 14 kam er auf eine Lehr-stelle als Konditor; wegen einer kriti-schen Bemerkung am Arbeitsplatzwurde er in die NS-Erziehungsanstalt„Am Spiegelgrund“ eingewiesen (Okt-ober 1941 bis September 1942). Dasärztliche Personal der benachbarten

Kinderklinik (de facto eine NS-Eutha-nasiestätte) war gleichzeitig für dieErziehungsanstalt zuständig. Die Er-innerung an die Anstalt ist von Untä-tigkeit und Trostlosigkeit geprägt.19

Bald nach seinem zweiten Fluchtver-such wurde der 16jährige am 29. Sep-tember 1942 in das Wiener Polizeige-fängnis und anschließend in das KZMoringen gebracht. Dort erwartetenihn Schikanen, Demütigungen, Terror.Aus nichtigem Anlass bekam er diesehr häufige Strafe von 15 Stockhie-ben. Seine Überlebensstrategie wurdevölliges Zurückziehen auf sich selbstund totale Anpassung nach oben.Gleich darauf wurde er in ein Außen-kommando in die „Muna“ verlegt.Dort erlebte er die Menschlichkeitmancher deutscher Zivilarbeiter undden Glücksfall einer guten, selbständi-gen Arbeitsstelle an der Elektro-Lokunter Tag. Im Februar 1945 wurde erim Stollen beim Putzen der Lokschwer verletzt, als der SS-Lokführeroffenbar absichtlich das Fahrzeug inBewegung setzte. Der Lagerarzt Dr.Wolter-Peksen wurde sein Lebensret-ter. Nach der Heimkehr arbeitete Al-fred Grasel am Bau und versuchte mitaller Kraft, seine Jugend, die vergan-genen 19 Jahre aus dem Gedächtnis zustreichen und einen neuen Anfang zumachen. Viele Burschen und jungeMänner, die traumatisiert aus diesemKZ zurückkehrten, schafften es nicht,

Kommandantur des Jugend-KZ MoringeDas Gebäude lag an der Straßenseite von Lager I.Foto: LKH Moringen

In: Rundbrief No. 22, Moringen 2003

Leopold Dietrich im Dezember 2004Foto: J. Müller

Page 25: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 26

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

im „normalen“ Leben Fuß zu fassen.Alfred Grasel heiratete und wurdeVater von vier Kindern. Beruflichbrachte er es bis zum Direktor einerHotelkette in Wien. Seiner Familie hater erst vor einigen Jahren sein Schick-sal offenbart.20

„Erst jetzt nachträglich kommeich wieder drauf, wie schwer eswar in Moringen. Das habe ich garnicht mehr gewusst, ich habe esverdrängt; ,ausgeblendet’ hat einMediziner gesagt. Wie ich 1945nach Österreich zurückgekehrtbin, wusste ich überhaupt nicht,dass ich in einem Konzentrations-lager gewesen bin, ich wusste janichts darüber. Ich wusste, ich warin einem Lager, eine Art Strafar-beitslager. Ich wusste auch nicht,warum mich meine Mutter wegge-ben hat, gar nichts habe ich ge-wusst, gibt’s einen Vater, einenBruder...? Später hat man mirAkten kopiert, auch den Gerichts-akt über den Vaterschaftsprozess;meine Mutter hat den angegeben,der hat gesagt ein anderer war’sund so weiter.

Am 29. September 1942 bin ich aufdie Elisabethpromenade gebrachtworden, wo in einer Zelle ca. 40Leute waren, jung und alt, keinerhat gewusst warum, alle waren un-

schuldig. Ich wusste gar nichts,dort hat es niemanden gegebenzum Fragen. Nach 3 Tagen wurdeman geholt und es ist gegangenzum Franz-Josefs-Bahnhof glaubeich, in einem Zellen-Waggon, nachBerlin auf den „Alex“21, wieder ineine Sammelzelle. Es hat über-haupt nichts zum Essen gegeben.Dann kamen wir mit der Bahnnach Moringen (1. Oktober 1942).JM: „Was haben Sie gedacht, was er-wartet?“ Ich bin in das Lager hin-eingegangen und habe im erstenAugenblick gedacht, es beginntein neues Leben. Ein schönes, gro-ßes Ziegelhaus war der erste Ein-druck. Ganz ehrlich, ich weiß esheute noch: ich dachte, dass es nurbesser wird als am Spiegelgrund,dort war ich eingesperrt und habenicht gewusst, warum. Und jetztbin ich so weit gefahren, und dawird man mir eine Lehre geben,oder man braucht mich wo, weilich so tüchtig bin, jetzt werde ichwas.“ (Andere Zeitzeugen schilderndie Ankunft am Bahnhof Moringen alsersten Schock.) „Nein, ich habe jagewusst, damals ist alles unterZwang gewesen, man war streng,herrisch – das macht ja nichts, diewissen ja nichts! – ich habe gewar-tet auf den nächsten Tag. Ich habegedacht, jetzt werde ich was ler-nen. Die SS, die Uniformen, dashat mich weniger gestört, das habeich gekannt von der Straße. Ichkann mich erinnern, mit 12, wieder Hitler gekommen ist, da habeich die Uniformen schön gefun-den. Na, so eine Uniform tragen,da bist ja wer...Erst als die Unter-suchung begonnen hat drinnen indem großen Gebäude beim Dr. Rit-ter und die vielen Fragen, das Ver-messen usw., als er mich komman-diert und angeschrieen hat, dahabe ich mir gedacht: wo bist du,was geschieht jetzt? Da ist einAngstgefühl aufgekommen, auchder Ton der SS, das Brüllen – dashat mir zu denken gegeben. Ichhabe ja dann die Härte gesehen,

wie die anderen Hiebe gekriegthaben, und das Schleifen – ,runter,rauf – ihr Hunde’ so in der Art. Esist ja noch schlimmer, als am Spie-gelgrund, habe ich gedacht; da hatman sich kaum um mich geküm-mert. Ja, die Angst war in allen Ge-sichtern. Alles war distanziert,jeder hat Angst gehabt. Dann hatsich gezeigt – die Verleumdungen,wenn einer etwas erreichen wolltebei der SS, natürlich hat es das ge-geben. Ganz zu Beginn habe ichKontakt gesucht, aber ich konntekeinen Freund finden. Mein einzi-ger Freund war dort (später) derDittrich aus Simmering.22

Wir waren zuerst im Hauptgebäu-de; ich glaube, es hat 14 Tage ge-dauert, bis ich rüber gekommenbin ins Lager II, Block F1.23 MeineNummer war 768. Im Haupthausdrüben war ein Kartoffelkeller; wirmussten die Kartoffeln sortieren,damit sie gleichmäßig verteilt wer-den konnten an die Zöglinge, undich habe natürlich ein paar einge-steckt, nicht nur ich, wir warenfünf. Wir haben die Kartoffelndann in den Ofen gegeben, eswurde geheizt in den Baracken,unten in die Asche haben wir siegelegt. Das hat man stark gero-chen. Natürlich, wie der Scharfüh-rer Ostermann gekommen ist amAbend – an das denkt man janicht, wenn man Hunger hat,daran hat ja keiner gedacht, dassman das bis über die Barackenriecht. Die Zeit zum Aufessen, diehaben wir noch gehabt. Er ist jawegen der Nachtruhe gekommen,und später wäre wiederum derOfen aus gewesen, der war nur füreine bestimmte Zeit beheizt. Dahat es 15 Stockhiebe gegeben, inder Baracke, vor allen.“ SS-Schar-führer Ostermann war dort Blockfüh-rer und galt als „Erzieher“. Es gabzahlreiche solche SS-Erzieher, siekamen aus den verschiedensten Beru-fen. Es war Ostermann, der bei ihmdie Stockhiebe ausführte. Am Ende

Alfred Grasel in den 50er JahrenFoto: Privatbesitz A.Grasel

Page 26: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

27 betrifft widerstand

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

musste der vor allen Gequälte melden:,Nr. 768, 15 Stockhiebe dankend er-halten’. Die anderen bekamen ihreStrafe auf einer anderen Baracke. „DieSS in Moringen ist ein eigenes Ka-pitel. Wie die Volksdeutschen ge-kommen sind, die sehr schlechtdeutsch gesprochen haben – diewaren arrogant, eingebildet, jung.Sie waren überhaupt viel ärger, alsdie SS-Männer, die schon länger inMoringen eingesetzt waren (wieder Ostermann), Deutsche und Ös-terreicher. Die haben dich nur an-gebrüllt; sie waren sehr sadistisch,aus Rumänien, aus Siebenbürgenwaren sie. Sie haben nicht so aus-geschaut, wie man sich SS vor-stellt. Diese Volksdeutschen stelltenv.a. die Wachmannschaften. FürWachaufgaben war eine mit scharfenHunden ausgestattete SS-Totenkopf-Wachkompanie in einer Stärke von120 Mann eingesetzt. Aus den Reihender SS und des SD kamen die so ge-nannten Erzieher, die Block- und Kom-mandoführer. Einige Angehörige derWachkompanie sind zuvor in Au-schwitz eingesetzt bzw. ausgebildetworden, wie aus dem Auschwitz-Ar-

chiv hervorgeht.24 Unter den zahllo-sen, von der SS durchgeführten bzw.überwachten Strafen soll hier nebender Prügelstrafe besonders der so ge-nannte Strafsport erwähnt werden.Unter der verharmlosenden Bezeich-nung „Sport“ wurden die geschwäch-ten Jugendlichen sadistisch geschun-den, vorzugsweise auf dem „Blut-acker“. Das war neben den beiden Ap-pellplätzen in Lager I und Lager II eindrittes Gelände, auf dem sich die„Zöglinge“ versammeln mussten. DerPlatz war mit schwarzer Schlackeüberzogen, was die „Geländeübungen“zu einer besonderen Qual machte.JM: „Haben Sie dann erfahren, wel-

che Funktion der Dr. Ritter hatte?“„Nein, das hat mich eigentlichnicht mehr interessiert. Es hatmich dann keiner interessiert dort,für mich war nur wichtig, was istmorgen; du musst dich anpassen,schauen, dass du keinen Fehlermachst.“ Kommandant des Lagerswar von August 1940 bis Ende 1944Karl Dieter, Kriminalrat und SS-Sturmbannführer. Über das Schicksalder jungen Häftlinge – indirekt oderauch direkt über Leben und Tod – ent-schied vorrangig ein anderer: Dr.Dr.Robert Ritter. Er war ab 1936 in lei-tender Stellung im Reichsgesundheits-

amt mit der Erfassung und Begutach-tung sämtlicher „Zigeuner“ befasst.1941 wurde er Leiter des „Kriminalbio-logischen Instituts der Sicherheitspoli-zei und des SD“ (KBI) und zum „Lei-tenden Kriminalbiologen“ in den Ju-gend-KZ. Seine Arbeitsmethode: Kör-permessungen, Befragungen, Charak-tereinstufungen wie die „hemmungs-los Triebhaften“, „Uneinsichtigen“,die „ewigen Querulanten“; Erfassung„Asozialer“, „Gemeinschaftsfremder“usw., Studium der Führungsberichte,die ihm von den SS-Blockführern vor-gelegt wurden. Nach „erbbiologi-schen“ Kriterien wurden die Jugend-lichen zur Sterilisation oder in Heil-und Pflegeanstalten (Euthanasie) ge-schickt. Andere wurden auf Grund sei-ner Gutachten auch in die großenKonzentrationslager weiterverlegt.25

„Gleich nach dem Vorfall mit denKartoffeln bin ich in die „MUNA“gekommen, in ein aufgelassenesKalisalzbergwerk“. Heeresmuni-tionsanstalten (MUNAS) wurden inNS-Deutschland bereits ab 1934 inehemaligen Bergwerken eingerichtet(Sprengung von Munitionskammernusw.). In Volpriehausen wurden Kar-tuschen und Granaten des Kalibers 7,5cm und ab 1944 21-cm-Wurfgranaten

Alfred Grasel im März 1998 im WienerRathauspark

Foto: J. Müller

Lageplan des Jugend-KZ Moringen mit den Steinbauten des „Werkhauses" und dem sta-cheldrahtumzäunten Barackenlager. I = Appellplatz des Lagers I; 1 = Kommandantur; 2 =

Schlackenplatz („Blutacker"); II = Appelplatz des Lagers IIFoto und Text: Guse, Katalog

Page 27: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 28

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

schussfertig gemacht ( gefertigt) undgelagert. Die Teile und das Pulverwurden mit der Bahn angeliefert,unter Tage eingelagert und zur Ferti-gung bereitgestellt. Die gefertigte Mu-nition wurde in speziell zusammenge-stellten Munitionszügen, die gewöhn-lich aus 30 Waggons Munition be-standen, an die Bestimmungsortetransportiert. Die MUNA Volpriehau-sen wurde zur größten im DeutschenReich.26

„Es war direkt eine Freude, einGlück, meine Arbeit an der Lok.Vielleicht war das auch deswegen,weil dort keine Fluchtmöglichkeitwar, ich bin zweimal geflohen vomSpiegelgrund, das war ja im Akt.Bei Beginn jeder Schicht war nurZählappell und dann Einteilungaufs Auto, 3 LKW sind täglich vonMoringen mit etwa 90 Zöglingenpro Schicht 20 km nach Volprie-hausen zur MUNA gefahren. BeiSchichtwechsel hat es immer einGedränge am Appellplatz gegeben(Lager II). Einen kompletten Ap-pell vom ganzen Lager (im Lager I)habe ich nie erlebt. Ich habe dorteinen guten, bevorzugten Postengehabt, was man Koppler nennt.Der Vorteil war auch die Hygiene.Wir haben täglich nach der Arbeitduschen müssen, wegen dem Kali-salz wahrscheinlich, damit man esnicht in die Baracken schleppt. Ge-arbeitet haben wir in 540 m Tiefe,

im Schacht waren2 Förderkörbe (Aufzüge), die paral-lel gefahren sind, einer hinauf undeiner hinunter. Es hat noch einenweit entfernten Notschacht gege-ben, 917 m tief. Da ist man zuerstdurch einen weiteren Schacht tie-fer gefahren, dann querdurch 3 kmgegangen bis zu diesem Not-schacht. Einmal haben wir runtermüssen, weil im Hauptschacht einSchaden war. Es war stockfinster,für uns war es ein Spaß. Wir sindweit weg, mitten im Wald heraus-gekommen. Wir haben auch mitGasfässern hantieren müssen, dahaben wir Gasmasken aufgehabt.Es waren Fässer aus dicker Pappe,unbeschriftet, mit einem Spann-ring drauf und mit weißem Pulverdrinnen; das war Gas. Irgendwiehabe ich im Gesicht eine Verät-zung davon bekommen. Das wardort in der Munitionsanstalt gela-gert, so etwas vergisst man nicht,das war nicht unter, das war überTag. Außer uns haben dort untenv.a. Ukrainerinnen gearbeitet, undsonst hat es nur deutsche Feuer-werker, zivile, gegeben. JM: „Esheißt, die Frauen haben den Burschenmanchmal Essen zugesteckt“. „Ichhabe nichts bekommen und auchnichts gesehen. Ich war bei derLok. Mir hat ein Feuerwerker, eingewisser Brinkmann, ab und zuein Stück Brot oder einen Apfel ge-

geben, nicht einmal heimlich, ichwar ja allein bei der Lok. Es hat we-nige Möglichkeiten gegeben. DieUkrainerinnen sind im Kreis ge-sessen; der Jugendliche hat die Kis-ten abholen müssen, und die SSund die Feuerwerker haben ge-schaut überall. Also, ich kann esmir schwer vorstellen, aber mög-lich ist alles. Es war ein großer, hellerleuchteter Raum, wo sie gefer-tigt haben; sie haben Zündköpfeaufgesetzt; da waren u.a. auch Ge-schosse, über 1 m lang, die für dieVerteidigung von Eisenbahnzügenbestimmt waren, die wurden vonden Waggons aus abgeschossen.Die „Moringer“ haben die Trans-portarbeiten gemacht, haben esden Frauen hingetragen und danndie fertigen Kisten mit mir auf dieso genannten Hunde27 der E-Lokgeladen, die Lok ist zum Förder-korb gefahren, den „Hund“ habeich hinein geschoben und der In-halt wurde oben von der „Morin-ger Jugend“ auf Eisenbahnwag-gons weiterverladen. Oben warenmehr von uns eingesetzt als unten.Umgekehrt wurden die antrans-portierten Teile zum Fertigen unddas Pulver aus den Eisenbahnwag-gons hinunterbefördert. SS warnur wenig unten, war ja auch nichtnötig. Ober Tag war überall Mili-tär. Auf die Sabotage haben dieFeuerwerker geschaut, die SS-

Appellplatz Lager I. Im Hintergrund die KommandanturFoto: LKH Moringen

In: Rundbrief No. 22, Moringen 2003

Die Heeresmunitionsanstalt Volpriehausen (MUNA)Osttor ca. 1944 mit Fördergerüst

Foto: Kalibergwerksmuseum VolpriehausenIn: Rundbrief No. 20, Moringen 2001

Page 28: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

29 betrifft widerstand

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

Männer haben ja auch nicht ge-wusst, ob der Sprengring irgend-wie verbogen war, ob draufge-klopft worden ist – das ist schonvorgekommen. Während derSchicht haben die Zöglinge untengegessen...“ JM: „Sie sagen immerZöglinge?“ „Ja, es hat geheißen,Zögling des (polizeilichen) Ju-gendschutzlagers’. Nein, von,Häftling’ hat man nie gesprochen,das wäre mir in Erinnerung geblie-ben. Allgemein wurde aber nur dieNummer gesagt, beim Melden,beim Aufrufen.

Die Arbeit war sehr anstrengend,ununterbrochen das Bücken, ichhabe eine Karbidlampe gehabt,habe dem Lokführer gedeutet, vor-wärts oder rückwärts, je nachdembin ich abgesprungen, bin vorge-laufen und habe die Weiche ge-stellt mit einem Hebel, dazwi-schen aufladen (mit den anderen).Die E-Lok gefahren hat meist einervon der SS, es war fast immer einanderer, da war aber keiner vonden Volksdeutschen dabei.Manchmal war es auch einer vonden Feuerwerkern. Ich war der sogenannte Koppler (Rangierer). DerLokführer war ja auf mich ange-wiesen, damit kein Fehler passiert.Ich habe müssen die Lok einwei-sen, auf mein Zeichen, wo waszum abholen ist, ist er gefahren.Da war ich selbständig! Ich habegewusst, wie’s geht, wie und wowir fahren. Ich war der einzigeKoppler, der auch Koppler geblie-ben ist, die ganzen Jahre bei derLok. Ich habe dirigiert – der hat oftkeine Ahnung gehabt. Da ist die-ses Gefühl von mir abgefallen, vonfrüher...“ JM: „Welche Gefühle warendas? Haben Sie sich früher, am Spiel-grund, und in Moringen nie gefragt,wieso ist das so, dass man so unter-drückt wird, wieso gibt es diese An-stalten und Lager...?“ „Also – poli-tisch habe ich mir überhauptnichts gedacht. Ich habe mir ge-dacht, es ist so, weil wir alle

schwer erziehbar sind, weil wiralle nichts taugen....“ JM: „HabenSie sich so empfunden, wirklich?“ „Ja,weil nirgendwo war man mit mirzufrieden. Du hast einen Fehler ge-macht...“ JM: „Könnte man das alsein Minderwertigkeitsgefühl bezeich-nen?“ „Ja, es war nichts anderes.Ich habe kein hochwertiges Gefühlgehabt. Ich war sechs Jahre beieiner guten Pflegefamilie, da warich selbständig und war „wer“, ichhabe Freunde gehabt, alles. Dannwar ich nur mehr unterdrückt undgefangen, im Waisenhaus Möd-ling, am Spiegelgrund. In Morin-gen habe ich mir gesagt, wir habenalle Fehler gemacht; warum habenwir nicht gleich nach ihrer Pfeifegetanzt, dann wäre das alles nichtpassiert....Andererseits habe ichmir dann doch bald gedacht, dasses ein Unrecht ist – ich bin dochein guter Mensch; und ich habe ge-sehen, dass man mit mir macht,was man will, wie mit einem Tier.Da ist innerlich der Widerstandaufgekommen. Erst nach demKrieg ist dieses Minderwertigkeits-gefühl, da ist Moringen und allesandere von mir völlig abgefallen,wie ich allein auf mich selbst ge-stellt war, auf mich selbst ange-wiesen.“

Am 22. Februar 1945 kam es zu einemschweren Unfall. Die Lok wurdeimmer am Ende der Schicht noch ge-putzt, der SS-Fahrer hat danach dieLok weggefahren. Als Alfred Graselmit der Reinigung beschäftigt war,wurde das Fahrzeug in Bewegung ge-setzt. „Es war dann offiziell nichterwiesen, ob es ein Unfall war oderAbsicht. Wie das passiert ist, hatder Scharführer zu mir gesagt, ichhabe die Lok selbst in Betrieb ge-nommen, um nicht arbeiten zumüssen. ,Du Saujud hast eineSelbstverstümmelung versucht’ –diese Äußerung hat mir zu denkengegeben; wir waren ja allein dort.Das war ein junger SS-Mann, ein-fach ein Sadist, glaube ich. Es war

ein offener Unterschenkelbruch;von der Ferse bis zum Knie habeich 23 Nägel und 18 Klammern be-kommen.“ Alfred Grasel wurde imLazarett im Lager I vom Lagerarzt Dr.Wolter-Pecksen operiert. Der Arzt ret-tete ihm das Bein und sorgte sich sehrum die Nachbehandlung. Im Aprilstanden plötzlich amerikanische Sol-daten im Krankensaal. Der Arzt konn-te dort bleiben und die Patientenauch, zuletzt nur Alfred Grasel undder Dittrich aus Wien-Simmering. Ge-meinsam kehrten sie im Juni 1945nach Hause zurück. (Zu Dr. Wolter-Pecksen, SS-Sturmbannführer undKZ-Arzt in Moringen und seine alsambivalent beschriebene Persönlich-keit siehe auch in der Fortsetzung).

—————

Fortsetzung in der nächstenAusgabe

Tonbandaufzeichnungen, Ge-spräche: Käthe Sasso: Tonbandaufzeich-nungen vom 12. Dezember 1998und 14. April 2004, GesprächeMärz 2005

Helene Barfuhs-Morth: Ton-bandaufzeichnung vom 11. Januar2005, Gespräche November 2002und November 2004, Februar undMärz 2005

Kalibergwerk Volpriehausen. Lagerkammerfür Munition. Im Vordergrund Schienen derdort betriebenen Schmalspurbahn mitElektro-LokFoto: Kalibergwerksmuseum VolpriehausenIn: Rundbrief No. 20, Moringen 2001

Page 29: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 30

Verfolgung von Jugendlichen im NS-Staat

Alfred Grasel: Tonbandaufzeich-nungen vom 31. März 1998 und 11.Januar 2005, Gespräche April 1998,Februar und März 2005

Ich danke den Zeitzeugen sehrherzlich für ihre Gesprächsbe-reitschaft.

Quellen:

Zu Oberlanzendorf (KätheSasso)Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo –Arbeitserziehungslager im DrittenReich, Fischer Taschenbuch Ver-lag, Frankfurt am Main 2003

Dokumentationsarchiv des öster-reichischen Widerstandes (Hg.),Widerstand und Verfolgung inNiederösterreich 1934 – 1945, Ös-terreichischer Bundesverlag,Wien, Jugend und Volk Verlag,Wien 1987

Herbert Exenberger, Heinz Riedel,Militärschießplatz Kagran, Doku-mentationsarchiv des österreichi-schen Widerstandes (Hg.), Wien2003(Foto Polizeigefangenenhaus Ro-ßauer Lände, S37)

Zu Landesgericht Wien (HeleneBarfuhs-Morth)Anklageschrift des Oberreichsan-walts beim Volksgerichtshof 7 J649/41 vom 16.3.1942 (Originalab-schrift im Besitz von Helene Bar-fuhs-Morth)

Dokumentationsarchiv des öster-reichischen Widerstandes (Hg.),Gedenken und Mahnen in Wien1934 – 1945, Gedenkstätten zuWiderstand und Verfolgung, Exil,Befreiung, Kommissionsverlag:Deuticke, Wien 1998

Willi Weinert, „Mich könnt ihr lö-schen, aber nicht das Feuer“. Wie-ner Zentralfriedhof – Gruppe 40,

Verlag Alfred Klahr Gesellschaft,Wien 2004

Fini Kaluzik, Widerstand gegenHitler, Globus Verlag, Wien 1987

Karl-Heinz Brackmann, RenateBirkenhauer, NS-Deutsch. „Selbst-verständliche“ Begriffe undSchlagwörter aus der Zeit des Na-tionalsozialismus, Straelener Ma-nuskripte Verlag, Straelen/Nieder-rhein 1988

Zu Jugend-KZ Moringen undUckermark (Leopold Dietrichund Alfred Grasel)

Martin Guse, „Wir hatten noch garnicht angefangen zu leben“, Kata-log zur gleichnamigen Wanderaus-stellung, Liebenau/Moringen 1997

Rundbriefe der Lagergemeinschaftund Gedenkstätte KZ Moringene.V., Dokumente Nr. 20, Moringen2001 sowie Dokumente Nr. 22, Mo-ringen 2003

Anmerkungen:1 Denunziant2 Erschienen im Taschenbuch Verlag Fis-cher, Frankfurt am Main 20033 Vortrag von Mag. Josef Prinz bei Gedenk-veranstaltung in Lanzendorf am 22. No-vember 20014 Das Polizeigefängnis auf der RoßauerLände ist unter folgenden weiteren Beze-ichnungen bekannt (sämtliche Variantenwerden auch von den Zeitzeugen verwen-det): Wiener Polizeigefängnis bzw. Polizei-gefangenenhaus, die Roßauer Lände („aufder R.L.“), die Elisabethpromenade („aufder E.P.“) – die Roßauer Lände trug von1903 bis 1920 diesen Namen, davon abge-leitet: die“ Liesl“ („auf der L.“). 5 Polizeiauto für Gefangenentransport6 Mit „Pudelhaube“ ist die charakteristis-che rumänische Kopfbedeckung gemeint.7 Käthe Sasso entsprach dem NS-Idealgross-blond-blauäugig.8 Nach Einschätzung von Käthe Sasso han-delte es sich um die Mutter eines SS-Man-nes aus der Wachmannschaft. Tatsächlichwaren diese Volksdeutschen mit ihrenganzen Familien in Oberlanzendorf.

9Arnberger Heinz, ArbeitserziehungslagerOberlanzendorf in: Widerstand und Ver-folgung in Niederösterreich 1934 – 1945,DÖW (Hg.), Band 2, Wien 1987, Seite 573ff10 Gerichtsgefängnis Margareten, 5. Bezirk11 Vergleiche Fußnote 412 Gespräch mit Regina Stelzel vom April200513 Bund deutscher Mädel, eine von vierGliederungen der Hitler-Jugend (HJ), fürMädchen von 14 bis 18; im Jungmädelbundwaren 10-14 jährige Mädchen zusammen-gefaßt. siehe Karl-Heinz Brackmann, Re-nate Birkenhauer, NS-Deutsch. „Selbstver-ständliche“ Begriffe und Schlagwörter ausder Zeit des Nationalsozialismus, Strae-len/Niederrhein 198814 Fini Kaluzik, Widerstand gegen Hitler,Wien 1987, Seite 28f15: Willi Weinert, Mich könnt Ihr löschen,aber nicht das Feuer. Wiener Zentralfried-hof – Gruppe 40, Wien 2004, Seite 103 -Siehe dazu auch: Dokumentationsarchivdes österreichischen Widerstands (Hg.),Gedenken und Mahnen in Wien 1934 –1945, Wien 199816 Original-Abschrift der Anklageschriftim Besitz von Frau Barfuhs-Morth17 Josef Leeb überlebte als einziger; späterwurde er in einem Strafkommando beimMinensuchen eingesetzt. Nach 1945 gab eswiederholten Kontakt mit Mutter undTochter Morth.18 Martin Guse, „Wir hatten noch garnicht angefangen zu leben“, Katalog zurgleichnamigen Wanderausstellung, Liebe-nau/Moringen 1997, Seiten 26, 41, 4319 Im Alter von 15 und 16 Jahren besuchteAlfred Grasel nicht mehr die Anstalts-schule. 20 Teilweise zitiert aus einem Artikel derVerfasserin in: „Der sozialdemokratischeKämpfer“ Nr. 1-2, Bund sozialdemokratis-cher Freiheitskämpfer, Wien 199821 Gefängnis in Berlin-Alexanderplatz22 11. Wiener Bezirk; der Freund Dittrich(Vorname ist nicht mehr erinnerlich) istnicht ident mit Leopold Dietrich, von demweiter oben die Rede ist.23 Lager I war ein mehrgeschossiges Steingebäude und bestand seit 1940; LagerII (Baracken) wurde 1942 eingerichtet.Block F1 war der Block der „fraglich Erzi-ehungsfähigen“.24 Guse, „Wir hatten.., Seite 2825 Ebenda, Seite 30f26 Detlev Herbst, Leiter des Kalibergbau-museums Volpriehausen, in: RundbriefNr. 20/2001, Moringen 2001, Seite 11ff27 Förderwagen im Bergwerk; siehe auchLore

Page 30: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

31 betrifft widerstand

Erziehung zur Arbeit - Arbeit als Erziehung?Zum Stellenwert von Arbeitserziehung im nationalsozialistischen Lagersystem am BeispielOberlanzendorf bei Wien*

Von Josef Prinz

Zu den konstitutiven Merkmalennationalsozialistischer Herrschaftzählte die Entwicklung eines Sys-tems von Lagern für unterschiedli-che Zielgruppen und mit differen-zierter Intention.Allen gemeinsam waren jedoch dieEntrechtung von Menschen, Frei-heitsberaubung, Ausbeutung,Zwang und Geringschätzung desmenschlichen Lebens.Bis 1945 war durch den NS-Staatüber Europa ein Netz von Lagerngelegt worden. Gudrun Schwarznennt in ihrer richtungsweisendenArbeit 17 verschiedene Kategorienvon Lagern, darunter auch Ar-beitserziehungslager (AEL).1 Vondiesen gab es im Deutschen Reichund den besetzten Ländern ca.200, im Gebiet des heutigen Öster-reich sind bis jetzt 10 derartigeLager bekannt.2

Dennoch sind die Kenntnisse überdiese Einrichtungen eher dürftig,lediglich für Deutschland gab esin den letzten Jahren intensive For-schungsbemühungen.3

Das lange Zeit mangelnde Interes-se mag auch in dem Umstand be-gründet sein, dass „Arbeit, Ar-beitserziehung“ nicht a priori pe-jorativ besetzt waren und die Ter-mini im Vergleich zu politisch-ras-sisch begründeter Repression, wiesie etwa in Konzentrationslagernausgeübt wurde, einer harmlosenEinschätzung unterlagen.Dennoch erwiesen sich AEL, wienoch zu zeigen sein wird, als Ein-richtungen des Terrors und derBrutalität, in denen unzureichendeVersorgung der Insassen, Ausbeu-tung und rassenideologisch deter-minierte Behandlung im Laufe derZeit ein derartiges Maß erreichten,sodass man von einer „Vorstufe

des KZ“ und von „KZ-ähnlichenLebensbedingungen“ sprechenkann.4

AEL hatten ihre ideologische Ver-ankerung in der nationalsozialisti-schen Rassenlehre, welche „Ar-beitsscheue, Asoziale“ als „Schäd-linge der Volksgemeinschaft“ defi-nierte, die es im Sinne der NS-So-zialpolitik „zu erziehen, zu bes-sern“ galt oder dem „Volksganzen“entzogen werden mussten. Die zu-ständigen Stellen in Partei undVerwaltung wurden nicht müde zupräzisieren, wer in die Kategorie„asozial“ einzustufen sei:Als „asozial“ galt, wer als Erwach-sener der öffentlichen Fürsorgeanheimfiel, obwohl er arbeitsfähigwar, ferner „gemeinschaftsfrem-de“ Personen, die infolge Arbeits-unwilligkeit ihre Kinder der öf-fentlichen und privaten Wohlfahrtaufbürdeten, schließlich Personenmit unsittlichem Lebenswandel(Trinker) und derenNachkommen.5

Diese Wertung entsprach der fürden Nationalsozialismus typischenKlassifizierung von Menschennach ihrem gesellschaftlichen undökonomischen Nutzen. Das Wohlder „Volksgemeinschaft“ hatte Vor-rang vor den Bedürfnissen des Ein-zelnen. Jedes nicht systemkonfor-me Verhalten konnte so als außer-halb der „Volksgemeinschaft“ ste-hend, als „asozial“ bewertet wer-den.Diese Gruppen zu erfassen, zu zäh-len, zu klassifizieren war den zu-ständigen Behörden vor allem inWien ein wichtiges Anliegen, dasden Nationalsozialisten infolgejahrzehntelanger Zuwanderungaus allen Teilen der Monarchie alsbesonders bedenkliches Bevölke-

rungskonglomerat galt. Bis 1943waren bereits 700.000 Personenauf Karten erfasst, für die nachdem Krieg eine „großzügige Lö-sung“ gefunden werden sollte.6

Der Begriff „Arbeit“ hatte im Ver-ständnis des Nationalsozialismusdie Bedeutung „Teilhabe am Volks-ganzen“. Wer nicht arbeiten konn-te, wollte, wer krankfeierte, sichscheinbar drückte, stellte sichaußerhalb dieser „Volksgemein-schaft“.Neben diesen ideologischen Vorga-ben war die prosperierende Öko-nomie (Rüstungswirtschaft, Aus-bau der Infrastruktur) mit dembaldigen Arbeitskräftemangel an-gesichts der Kriegserfordernisseentscheidende Triebfeder für dieForcierung der Arbeitspflicht.Unter diesen Umständen wurdeam 3. September 1940 die Errich-tung einer „Arbeitsanstalt fürMänner über 18 Jahre“ auf demAreal des Schlosses Oberlanzen-dorf bei Wien durch den Bürger-meister von Wien im Auftrag desReichsstatthalters Baldur vonSchirach genehmigt. Seit dem Jahre 1900 war imSchloss, dem Nebengebäude unddem Parkgelände die Stiftung„Kaiserin Elisabeth-Asyl für ver-krüppelte Kinder“ untergebracht.7

In der ca 60 Betten umfassendengemeindeeigenen Anstalt solltenMänner, die von Behörden, Partei-dienststellen oder anonymen An-zeigern als „asozial“ gemeldetwurden, von einer „Asozialen-kommission“ überprüft und imFalle eines positiven Urteils in dasLager eingewiesen werden. Zahl-reiche anonyme Hinweise an dieBehörden machen deutlich, dass

Page 31: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 32

NS-Arbeitserziehung

das System auf ein dichtes Netzvon informativen Zuträgern bauenkonnte, deren Beweggründe je-doch vielfach auch privat be-stimmt waren.

DENUNZIATION DURCHNACHBARN

Lambert P. aus dem 2. Wiener Ge-meindebezirk wurde von Woh-nungsnachbarn angezeigt, dass erkeinerlei Arbeit nachgehe. Die so-fort einsetzenden Überprüfungendurch Behörden und Parteidienst-stellen brachten zu Tage, dass P.keinen Ladungen und Vermittlun-gen des Arbeitsamtes Folge leiste-te, der zuständige Kreis derNSDAP - Gau Wien kam zumSchluss, dass P. ein notorischerFaulenzer sei, in ungeordneten Fa-milienverhältnisse lebe, eine „ge-steigerte Sinnlichkeit“ aufweise,untreu und moralisch willens-schwach sei sowie seiner Unter-haltspflicht nicht nachkomme. DieFamilie werde von allen Hausbe-wohnern gemieden, die Kinder seien verwahrlost, unge-pflegt und würden zur Betteleiherangezogen. Der Befund münde-te in der Feststellung: „Die Woh-

nung kann für die Sowjetausstel-lung verwendet werden.“ Daherwurde die Einweisung in eine Ar-beitsanstalt beantragt, da die El-tern ein schlechtes Beispielgaben.8

Bis zu 6 Monaten und im Falle vonErfolglosigkeit für weitere 6 Mona-te sollten die Eingewiesenen imLager zur Arbeit angehalten wer-den. Arbeitsanstalten dieses Typswaren als Korrektiv gedacht.Durch Zwangsmaßnahmen sollteder „Asoziale“ wieder in die Volks-gemeinschaft eingegliedert wer-den, der Begriff „Fürsorge“ bekamin dieser Form von Sozialpolitikeine spezielle Bedeutung: „Der Na-tionalsozialismus hat mit der jäm-merlichen Sentimentalität der Für-sorge um jeden Preis aufgeräumt.Ein doppelter Weg führt nun zumZiel: Tiefstes soziales Verantwor-tungsgefühl...gepaart mit brutalerEntschlossenheit...“9

Noch vor der geplanten Eröffnungder Anstalt waren jedoch zahlrei-che Probleme ungeklärt. Es fehltean nötigen Einrichtungen, dasLager war noch nicht ausreichendgesichert und die Frage der Bewa-chung völlig ungelöst. Daherwurde die Gestapoleitstelle Wienersucht für die Bewachung zu sor-gen. Diese stimmte dem Begehrennur unter der Auflage zu, die An-stalt fortan selbst als Reichsar-beitsdienstlager der Gestapo zuführen. Die Gemeinde Wien warnur mehr für administrative Be-lange zuständig, die Leitung desLagers und vor allem die Einwei-sungskompetenz hatte die Gestapoan sich gezogen. Am 8. Juli 1941wurde das nunmehrige AEL vonder Gestapo formell übernommen.Mit dieser Übernahme ändertesich auch dessen Charakter. Warenfür die Arbeitsanstalt der Gemein-de nur reichsdeutsche „Arbeitsun-willige und Asoziale“ maßgeblichZielgruppe, so konzentrierte sichdie Einweisungspraxis vorersthauptsächlich auf Fremd- bzw.

Zwangsarbeiter aus den besetztenLändern.

AUSLÄNDISCHE ZWANGSAR-BEITER ALS HAUPTZIEL DER

„ERZIEHUNG“

Das Regime hatte bereits früh be-gonnen, den eklatanten Arbeits-kräftemangel angesichts des Aus-baus der Rüstungsindustrie undder Rekrutierung der Wehrfähigenfür die Front durch ausländischeArbeitskräfte zu kompensieren.Die wenigsten von ihnen hattensich freiwillig gemeldet. Ein Milli-onenheer von zivilen Zwangsarbei-tern, Kriegsgefangenen, späterauch KZ-Häftlingen aus den be-setzten Ländern war im DeutschenReich im Einsatz. Mit dem Beginndes Russlandfeldzugs wurden hun-derttausende sogenannten „Ostar-beiter“, Männer und Frauen, teilsauch Jugendliche per Zwang derdeutschen Wirtschaft als Arbeits-kräfte zugeführt. Die ökonomi-schen Zwänge ließen die ideologi-schen Vorbehalte in den Hinter-grund treten, wonach die postu-lierte „Minderwertigkeit“ der Ost-arbeiter einen Arbeitseinsatz inden Betrieben gemeinsam mitDeutschen nicht gestattete. Über 5Millionen Menschen aus den be-setzten Gebieten wurden bis 1945zur Zwangsarbeit verpflichtet, imGebiet des heutigen Österreichwaren ca. 580.000 ausländischeArbeiter, vorwiegend Polen, Slo-waken, Franzosen, Ukrainer, Rus-sen, Serben, Belgier eingesetzt.10

Zwangsverpflichtung, schlechteBezahlung, der Druck zur ständi-gen Steigerung der Produktion beisich verschlechternden Lebens-und Arbeitsbedingungen, die aucham Arbeitsplatz permanent spür-bare Schlechterstellung von Polenund sogenannten „Ostarbeitern“führten in zahlreichen Betriebenzu verminderter Arbeitsleistung,Arbeitsvertragsbruch, Bummeleioder Arbeitsflucht. Derartige Ver-

Abbildung 1: Schloss Oberlanzendorf um1900 (Foto: Adolf Eszöl)

Page 32: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

33 betrifft widerstand

NS-Arbeitserziehung

stöße gegen die Vorschriften wur-den im NS-Staat zu Massendelik-ten. Die Unternehmer griffenimmer häufiger zum Mittel derAnzeige bei der Gestapo. Diese re-gistrierte im Jahr 1941 allein im Be-reich des LandesarbeitsamtesWien und Niederdonau 5700 ar-beitsrechtliche Verfahren und 1667Festnahmen infolge derartiger Ver-stöße. An manchen Tagen wurdenin Wien 50 Personen wegen Ar-beitsniederlegung oder Arbeits-flucht festgenommen.11 Diese Vor-fälle ließen die verantwortlichenDienststellen (DAF, Arbeitsämter,Gestapo) mit Vertretern der Wirt-schaft Überlegungen betreff wir-kungsvoller Gegenmaßnahmen an-stellen. Zwar gab es einen Strafka-talog für Arbeitsbummelei inForm von innerbetrieblichen Maß-nahmen (Belehrung, Verwarnung,Bußgeld, Anzeige beim Arbeits-amt) sowie Anzeige beim Sonder-gericht, dennoch häuften sich dieBeschwerden über die Zahmheitder vorgesehenen Instrumenteund vor allem über die träge, zei-traubende Prozedur bei der Bestra-fung von ausländischen Arbeits-kräften durch die Justiz. Daher zogdas Reichssicherheitshauptamt(RSHA) ab 1940/41 über die Gesta-postellen neben politisch-polizei-lichen Aufgaben auch sozialdiszi-plinarische Kompetenzen gegenü-ber „unwilligen“ Fremdarbeiternan sich. Das Instrument derSchutzhaft, mit dem auch die Ar-beitserziehungshaft letztlich legis-tisch begründet wurde, ermöglich-te eine rasche Verfolgung und Be-strafung potentieller Arbeitsver-weigerer, ohne auf den trägen Jus-tizapparat angewiesen zu sein.Erste Arbeitslager wurden aufGroßbaustellen und bei Großbe-trieben ab 1940 errichtet. SelbstUnternehmer konnten mit Geneh-migung und Unterstützung derGestapo derartige Lager einzurich-ten. Regionale Gestapodienststel-len begannen infolge des immer

drängender werdenden Problemsdes Arbeitsvertragsbruchs selb-ständig AEL zu errichten. Diesewaren das Testfeld, auf dem manErfahrungen sammelte, die wiede-rum die Grundlage für eine ein-heitliche Regelung der AEL ab Mai1941 bildeten.Gemäß diesen Richtlinien musstedie Errichtung eines AEL fortanvom RSHA genehmigt werden, dieLeitung, Verwaltung und Kontrolleoblag jedoch den Gestapodienstel-len, die auch die Einweisungenverfügten. Die Insassen, die wegenArbeitsvergehen aufgegriffen odervon den Betrieben gemeldet wur-den, sollten in volks- und wehr-wirtschaftlichen wichtigen Betrie-ben für maximal 56 Tage zur stren-ger Arbeit angehalten werden. Der

Lohn, den die Betriebe für die Ar-beitskräfte entrichten mussten,fiel bis auf einen geringen Betragdem Reich zu.Die Lager hatten den Charaktervon Polizeigefängnissen und gal-ten nicht als Konzentrationslager.Ausdrücklich sahen die Bestim-mungen vor, keine Schutzhäftlin-ge im rechtlichen Sinn oder politi-sche Häftling in ein AEL einzuwei-sen. Eine Lagerordnung regelte dieStrafkompetenz der Lagerleitungbei unbotmäßigem Verhalten derInsassen: Diese reichte von einerVerwarnung bis zur Verhängungvon maximal zwei Wochen Arrest.Für darüber hinausgehende Maß-nahmen bzw. im Wiederholungs-fall für eine Einweisung in ein KZwaren die übergeordneten Stellen

Abbildung 2: Anzeige von Hausbewohnern betreff eine „asoziale" Familie in Wien(WStLA, MA 255, Kart. 3/1)

Page 33: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 34

NS-Arbeitserziehung

zuständig.Binnen kurzem wurden ab Mai1941 zahlreiche neue AEL errich-tet. Die Genese derselben und dieedierten Richtlinien für AEL ma-chen deutlich, dass diese primärUnterdrückungsinstrumente desregionalen Machtapparateswaren. AEL waren kein Produktzentral gelenkter Planung in Ber-lin, sondern in ihren AnfängenErgebnis der Kooperation lokalerGestapostellen mit Unternehmernund Behörden. Diese erhieltenerst spät einen rechtlichen Rah-men, der jedoch den Handlungs-spielraum für die unteren Dienst-stellen weit offen ließ. Dadurcherwiesen sie sich einerseits alsflexible Instrumente ökonomi-scher Verwertungsinteressen: Diesteigenden Verstöße gegen Ar-beitsnormen im Zuge des mas-senhaften Einsatzes ausländischerArbeitskräfte konnte die Gestaposchneller ahnden als die Justiz-stellen. Einweisungen in AEL er-folgten nach Anzeigen ohne büro-kratischen Aufwand, sie bedurf-ten im Unterschied zur Überstel-lung von Schutzhäftlingen in einKZ nicht der Genehmigung derZentralstellen in Berlin. KZ-Haftbedeutete hingegen den weitge-henden Entzug der Arbeitskraftaus dem ökonomischen Prozess.Sie widersprach dem Ziel einerschnellen, zeitlich begrenzten,wirtschaftlich verwertbaren Be-strafung von Arbeitsvertragsbrü-chigen. Bei AEL wurde jedoch derDelinquent im besten Fall nachmaximal 56 Tagen „geläutert“dem Betrieb wieder zur Verfü-gung gestellt.Die Lager waren andererseits aberauch weitgehend der Kontrolleübergeordneter Stellen entzogenund eröffneten so für die verant-wortlichen Gestapostellen beacht-liche Aktivitätspotentiale, die fürdie Häftlinge katastrophale Fol-gen haben konnten, wie die Bei-spiele Oberlanzendorf oder Inns-

bruck-Reichenau zeigen.Die Tagesberichte der Gestapo-stelle Wien weisen ab 1941 durch-schnittlich 400-450 Überstellun-gen von ausländischen Arbeits-kräften in AEL im Monat aus, mitSpitzen von 600. Ein im Archiv der Republik ver-wahrtes „Häftlingszugangsbuch“listet für den Zeitraum Jänner bisJuli 1944 rund 2440 nach Oberlan-zendorf überstellte Personenauf.12 Überwiegend wurdenUkrainer, Ostarbeiter, Protekto-ratsangehörige, Griechen undFranzosen in das Lager wegen Ar-beitsvertragsbruch, Flucht vomArbeitsplatz, Arbeitsverweige-rung – diese Begriffe wurden oftsynonym verwendet-eingewiesen.

ARBEITSERZIEHUNGSLAGERALS POLIZEIGEFÄNGNIS

Ab 1943 nahmen die Einweisun-gen rapide zu. Gleichzeitig änder-ten sich auch die Häftlingskateg-orien. Zunehmend wurden ab1944 Schutzhäftlinge, später auchpolitische Häftlinge, Kriegsgefan-gene und ungarische Juden inOberlanzendorf interniert, ob-wohl die Bestimmungen dies aus-drücklich verboten. Haftraum warjedoch vielfach knapp, Verlegun-gen von Häftlingen wurden mitFortdauer des Krieges infolge desVorstoßes der Alliierten immer

schwieriger. Die Inhaftierung ineinem Arbeitserziehungslagerwar einfach und unbürokratisch.So mutierten AEL immer mehr zuZwischenstationen und Verwah-rungsstellen von Häftlingenunterschiedlicher Art. Mancheblieben bis zur Auflösung derLager inhaftiert, die Maximalfristvon 56 Tagen galt nur für Arbeits-erziehungshäftlinge. Dieses Dau-erprovisorium bis Kriegsendeführte zu permanentem Überbe-leg. Oberlanzendorf, das seiteinem Ausbau 1943 für ca. 400Häftlinge Platz bot, war bei Krieg-sende mit über 2000 Personenunter schrecklichen Bedingungenbelegt.Als „Ersatzhaftanstalt der Gesta-po“ dienten gegen Kriegsendeauch andere AEL in der Ostmark.In Innsbruck-Reichenau warenbis zu 800 Personen interniert,zuletzt auch Juden und Angehöri-ge von Widerstandsgruppenunterschiedlicher Nationalität.13

Das 1943 von der Gestapo Linz er-öffnete AEL Schörgenhub bot 500Arbeitshäftlingen Platz. Nach derZerstörung der Polizeigefängnissein der Linzer Mozartstraße durcheinen Luftangriff vom 20. Jänner1945 und in der Kaplanstraße am25. Februar des Jahres wurdenüberlebende Häftlinge, darunterauch politische, in das AEL über-stellt. Zeitweise waren 1000 Per-

Grafik 1:Anzahl der Einweisungen der Gestapoleitstelle Wien in Arbeitserziehungslager (DÖW 5734, 8476, 8378: Tagesrapporte der Gestapoleitstelle Wien 1943/44)

Page 34: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

35 betrifft widerstand

NS-Arbeitserziehung

sonen in Schörgenhub inter-niert.14

Das Lager Oberlanzendorf warnach der Übernahme durch dieGestapo mehrmals erweitert wor-den, 1942 und 1943 wurden zu-sätzliche Baracken errichtet, dar-unter eine „Duschbaracke“ undein eigenes Frauenlager für ca.100 Personen. Mit Fortdauer desKrieges, der verschärften Dienst-verpflichtung für Frauen inkriegswichtigen Fertigungsbetrie-ben und dem vermehrten Einsatzvon ausländischen Zwangsarbei-terinnen wurde die Ahndung vonVerstößen gegen die Arbeitsdiszi-plin durch Frauen eine Aufgabeder Gestapo.

Innerhalb der Dienststelle war dasReferat IV D 6 („Arbeitsvertrags-bruch und Asoziale“) für dasLager Oberlanzendorf zuständig;dieses entschied über Einweisun-gen, Dauer und Arbeitszuteilung.Der Lagerleiter vor Ort aus denReihen der Gestapo war dem Lei-ter seiner Dienststelle direktunterstellt. Er trug die volle Ver-antwortung für die Führung desLagers, hatte jedoch keinerlei Ein-fluss auf Anzahl und Art der Ein-weisungen und Entlassung derHäftlinge. Dienstsitz der Lagerlei-tung war das Schloss Oberlanzen-dorf, das Wachpersonal, überwie-gend G.V.H.-Leute15, später Volks-deutsche aus Rumänien und derUkraine, waren in einem Gebäudeauf dem Areal des ehemaligen Er-ziehungsheimes untergebracht.Ein Aufnahmetrakt, ein Verwal-tungsgebäude für Gestapobeam-te, ein Wirtschaftstrakt samt ei-gener Gärtnerei und ab 1944 einstraßenseitig gelegener, separier-ter Bereich für Schutzhäftlingewaren neben den Unterkunftsba-racken die wichtigen Einrichtun-gen des AEL.Der „Erziehungszweck“ solltedurch 10-12stündigen Arbeitsein-satz und restriktiven Tagesablauf

erreicht werden. In dem auf 56Tage beschränkten Aufenthaltgalt es die Verwahrten „umzuer-ziehen.“ Arbeitstrupps verließen6 Tage die Woche unter Bewa-chung das Lager, sie waren aufBaustellen, in der Rüstungsindus-trie, in der Landwirtschaft undbei Aufräumarbeiten nach Bom-benangriffen tätig. Häftlinge vonOberlanzendorf errichteten auchdie Zellen im Kellertrakt des Ge-stapohauptquartiers in Wien amMorzinplatz. Einige wenige wur-den in der lagereigenen Gärtnereioder der Administration beschäf-tigt. Vielfach waren die Häftlingebei ihrer Tätigkeit tödlichen Ge-fahren ausgesetzt: Am 11. Oktober1944 wurden im Verlauf einesBombenagriffs auf den Matzleins-dorfer Frachtenbahnhof 76 Men-schen getötet, darunter 33 Insas-sen des Lagers Oberlanzendorf.16

Die Zuteilung der Häftlinge andie Unternehmen erfolgte durchdas bereits erwähnte Gestaporefe-rat IV D 6. Vom Lohn wurde denHäftlingen lediglich 50 Reichs-pfennig täglich für die Anschaf-fung der Güter des täglichen Be-darfs ausgehändigt bzw. für dieZeit der Entlassung gutgeschrie-ben.

HUNGER – KRANKHEIT –MISSHANDLUNG: VOM LEI-

DEN UND STERBEN IM LAGER

Neben der harten und teils ge-fährlichen Arbeit setzten den In-sassen des Lagers vor allem dievöllig unzureichenden sanitären,hygienischen und medizinischenBedingungen sowie Misshandlun-gen durch das Wachpersonal imVerlauf des Krieges immer mehrzu. Der permanente Überbeleg in-folge verstärkter Einweisungenvon Häftlingen unterschiedlicherKategorien machte das Lagerle-ben unerträglich.Die Baracken platzten Ende 1944aus allen Nähten, in manchenUnterkünften mussten 50 Häft-linge untergebracht werden, ob-wohl sie nur für 16-18 Personenkonzipiert waren. Es herrschteMangel an Strohsäcken und De-cken, vielen Häftlingen dienteeinzig ihre Privatkleidung alsmäßig wärmender Überwurf. DieLatrinenanlage war für die Masseder Benutzer viel zu klein dimen-sioniert, daher häufig verstopft,die Duschbaracke mit 15 Wasser-hähnen für bis zu 2000 Personenerlaubte Duschen nur sporadisch,

Abbildung 3: Lagerskizze des ehem. Häftlings Hans Markely 1945 (VG 3b Vr 4750/46.ON 128 Blz 276)

Page 35: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 36

NS-Arbeitserziehung

Baracken konnten im Winter an-gesichts Brennstoffmangel nichtbeheizt werden, Dreck und Unge-ziefer waren die ständigen Beglei-ter.Besonders trist waren die Verhält-nisse im Schutzhafttrakt. DerenInsassen wurden nicht zur Arbeitangehalten, verblieben den gan-zen Tag in einem ungeheiztenRaum, vielfach ohne Strohsäckeund Decken, die Körper übersätvon Läusen, Kratzspuren, ge-zeichnet von Ruhr, Furunkeln undErfrierungen, wie der Arzt unterden Häftlingen, Dr. Gerscha spä-ter zu Protokoll gab.17

Die Ernährung war bereits in derAnfangsphase des Lagers mangel-haft, sie verschlechterte sich mitFortdauer des Krieges immermehr. Die meisten ehemaligenHäftlinge berichteten nach Krieg-sende von einer Tasse Ersatzkaf-fee, 1 Stück Brot und einer Suppeaus Rübenschalen am Abend.Fleisch gab es nur ganz selten, dielagereigene kleine Landwirtschaftsollte primär die Lagerleitungund –wache versorgen. Die spär-lichen Essensrationen musstendie Häftlinge in einer Schüsselvon der Küche abholen und ent-weder im Freien am Appellplatzoder im Winter in den Schlafbara-cken verzehren. Für die immergrößer werdende Häftlingsschargab es nicht genug Essschüsseln;diese mussten daher an den näch-sten in der Reihe weitergereichtwerden. Hatte man nicht binnenweniger Minuten seine Essensra-tion verzehrt, setzte es Schlägeund das ohnehin karge Mahlkonnte nicht fortgesetzt wer-den.18 Vielen Häftlingen bliebenselbst jahrzehnte danach als prä-gende Erinnerung der ständigeHunger und rasche Gewichtsab-nahme im Gedächtnis, zwei Ele-mente, die in ihren Anträgenbeim Versöhnungsfonds betreffEntschädigung für Sklavenarbeitimmer eine vorrangige Stelle in

der Erinnerung einnahmen.19 Denschlechten Ernährungszustandvieler Häftlinge thematisiertenauch Pathologen des AllgemeinenKrankenhauses Wien, die ange-sichts der Obduktion von 4 Ostar-beitern aus dem Lager Oberlan-zendorf in einem Brief an die Ge-stapoleitstelle Wien im Winter1944/45 auf dieses Faktum mitgroßer Besorgnis hinwiesen.20

Angesichts dieser Verhältnisseverschlechterte sich der Gesund-heitszustand zahlreicher Insassenrapide. Die medizinische Betreu-ung durch den Gemeindearzt vonRannersdorf beschränkte sich ausZeit- und Ressourcenmangel zu-meist auf eine oberflächlicheUntersuchung aller Zu- und Ab-gänge. Entgegen den Richtlinienfür Einweisungen wurden zuneh-mend kranke, nicht mehr arbeits-fähige Personen durch Unterneh-mensleitungen an AEL überstellt,die man auf diese Weise problem-los aus dem Betrieb entfernte. Un-zureichende Ernährung, schwerekörperliche Arbeit, unmenschli-che Haftbedingungen und Miss-handlungen durch die Lagerwa-che ließ die Zahl der Erkranktenund in der Folge auch die Zahl derTodesfälle rasch ansteigen.Die Spitäler in Wien, vor allemdas „Ausländerspital“ (heute:Wil-helminenspital) nahmen ab Mitte1944 infolge der Kriegslage undder verstärkten Bombenangriffekeine erkrankten Häftlinge ausdem Lager mehr auf. Diese mus-sten in Lanzendorf bleiben, vege-tierten in einer als „Krankenre-vier“ bezeichneten Baracke. Lun-genentzündungen, Herzleiden,Durchfallepidemien, Ruhr undschließlich Fleckfieber verbreite-ten sich immer mehr unter denInsassen. Der Lagerarzt war völligüberfordert, es fehlte ab Herbst1944 an Medikamenten, der Arztund Häftling Dr. Gerscha konsta-tierte vor allem im „Krankenre-vier“ mit zwei „Marodenzim-

mern“ unglaubliche Zustände:„Das zweite Marodenzimmer ent-hielt ca. 14 bettenähnliche, ver-rostete Eisengestelle mit vielfachdurchgetretenen Drahteinsätzen.Auf einigen von ihnen lagenStrohsäcke, auf den übrigen muß-ten die Kranken auf den bloßenDrahteinsätzen liegen. DiesesZimmer war ein stinkenderRaum, kaum geheizt, mit gebro-chenen Fenstern, bestimmt zurAufnahme von Infektionskran-ken, nicht nur mit Flecktyphus,sondern auch...Bauchtyphus,Ruhr und Gesichtsrose, sodasssich ein Kranker an dem anderenanstecken mußte. Viele Krankelagen auf dem eisigen Ziegelbo-den. Die Verpflegung stammteaus der Lagerküche, nur für ganzSchwerkranke wurde zweimaltäglich ein Eimer mit ca. 20 LiterPuddingwasser oder Griessuppeaus der SS-Küche geholt...Die Ver-pflegung [wurde] monatelangschwach oder ungesalzen abgege-ben. Der Salzmangel in der Nah-rung ließ diese selbst... ungenieß-bar erscheinen.“21

Bei immer mehr Häftlingen wur-den ansteckende Krankheiten dia-gnostiziert. Diese verlegte man ineinen „Sonderraum“ neben demKrankenrevier, wo unzähligeHäftlinge völlig unterversorgtden Tod fanden. Trotz ausdrücklich verfügtemVerbot von Misshandlungen vonInsassen und eingeschränkterStrafkompetenz für die Lagerlei-tung waren die Häftlinge zuneh-mendem Terror durch das Wach-personal ausgesetzt. Dazu zähltenstundenlanges Appellstehen imWinter, Schläge mit der Peitscheund dem Gummiknüppel, dasHetzen von Hunden auf Gefange-ne, Prügelstrafe in Gegenwartaller Internierten: Diese war ur-sprünglich als „Polenstrafe“ nacheinem Erlass von HeinrichHimmler vollzogen worden undwurde später auch bei anderen

Page 36: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

37 betrifft widerstand

NS-Arbeitserziehung

Häftlingen exerziert. Schläge beinichtigen Anlässen gehörten zumAlltag: wenn das Wachpersonalbei einer Begegnung nicht ge-grüßt wurde, indem der Häftlingseine Mütze abnahm oder einGeldstück in der Häftlingsklei-dung gefunden wurde.22

Kollektivstrafen zählten ebensozum Repertoire der Repressionwie die Spezialität von Oberlan-zendorf, Häftlinge abwechselndunter extrem kaltes und heißesWasser zu stellen oder sie imWinter nach dem Duschen nacktins Freie zu treiben und dort Ap-pellstehen zu lassen.All diese Ausschreitungen fandenvor den Augen des LagerleitersKarl Künzel statt.23 In seiner Kom-petenz lag es, diese zu beenden.Er schritt aber nicht ein, ließ dieDinge treiben, schien viele Schi-kanen selbst gutzuheißen. Hiermachte sich auch das Versagendes zuständigen Gestaporeferatesbemerkbar, dessen Leiter in denletzten Monaten bis April 1945nicht mehr seiner Kontrollfunk-tion nachkam und die Lagerver-antwortlichen frei agieren ließ.Mit zunehmender Überfüllungund wachsendem Chaos entwi-ckelten Misshandlungen undQuälen durch das Wachpersonaleine Eigendynamik, die auchdurch den monotonen Tagesab-lauf und obrigkeitlich orientiertePersönlichkeitsstruktur gespeistwurde.Angesichts dieser Verhältnissenimmt es nicht wunder, dass dieSterberate im Lager ab Mitte 1943massiv anstieg. Allein die Anzahlder offiziell gemeldeten Todesfäl-le war enorm, wobei es deutlicheHinweise gibt, dass nicht alle Ver-storbenen bzw. zu Tode Gekom-menen den Behörden gemeldetwurden. In den letzten Kriegsmo-naten stieg die Zahl der Totennoch einmal deutlich an. Im Jän-ner 1945 starben durchschnittlich8 Häftlinge täglich. Die Todesur-

sachen spiegeln die völlige Ver-nachlässigung der Häftlingewider und waren laut Totenbe-schau des Arztes immer diesel-ben: Herzschwäche, Lungenent-zündung, völlige Entkräftung,aber auch öfters Erschießungnach einem Fluchtversuch vonverzweifelten Häftlingen. DieToten wurden durch ein WienerBestattungsunternehmen nachWien gebracht und in Schacht-gräbern am Zentralfriedhof be-stattet, manche auch auf demOrtsfriedhof im nahegelegenenHimberg in einem Massengrabverscharrt.

DER MARSCH IN DEN TOD:MAUTHAUSEN

Als die Front Ende März 1945näher rückte, wurde das Lagerwie viele andere aufgelöst. Dies-bezügliche Pläne wurden in derGestapoleitstelle seit Herbst 1944entwickelt. In der Terror-Zentralein Berlin war man bestrebt, Spu-ren zu beseitigen und gleichzeitigdas Programm der Ausmerze, derVernichtung bis zum Ende fortzu-setzen.Die Befehle und Kompetenzen be-züglich der Lagerauflösung sind

in ihrem Wirrwarr nicht leichtnachzuvollziehen. Jedoch scheintes analog zur Räumung von Jus-tizanstalten einen allgemeinenBefehl zur Räumung von Konzen-trationslagern und anderen Haft-stätten seitens des RSHA gegebenhaben.24

Während im Lager bereits Kano-nendonner von der Front zuhören war, entließ LagerleiterKünzel alle Arbeitserziehungs-häftlinge. Ca 400 Schutzhäftlingesowie 14 politische Gefangene derWiderstandsgruppe „Strohmer“aus Wien wurden gemäß den Ver-fügungen der GestapoleitstelleWien in der Nacht vom 1. auf den2. April unter Begleitung derWachmannschaft Richtung Kon-zentrationslager Mauthausen inMarsch gesetzt.Zu Fuß, die politischen Häftlingeaneinandergekettet, nahm derZug mit Künzel an der Spitze dieRoute über Wien-Tulln-Horn-Ot-tenschlag-Gutenbrunn-Saxennach Mauthausen. Wie viele ande-re „Evakuierungsmärsche“ in denletzten Kriegswochen geriet auchdieser zum Todesmarsch.25 Werdie Strapazen nicht mehr ertrug,wurde beiseite geführt und vonMitgliedern der Wachmannschaft

Abbildung 4: Auszug aus der Liste gemeldeter Todesfälle im AEL an das StandesamtSchwechat (Vg 3b Vr 4750 ON 276 Blz 254)

Page 37: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 38

NS-Arbeitserziehung

erschossen. Einigen wenigen ge-lang es während der ersten Über-nachtungsstationen zu fliehen,einige tschechische Häftlingewurden von Künzel während desMarsches entlassen. ZahlreicheHäftlinge starben an Erschöpfungund Auszehrung, mindestens 50Teilnehmer wurden durch ein Er-schießungskommando der Wach-mannschaft liquidiert, dessen Ak-tionen von Künzel ausdrücklichgebilligt wurden.26 Die Brutalitätund Rohheit der Wachen bezeu-gen Wahrnehmungen von Be-wohnern jener Orte, die an derMarschroute lagen. In Saxen beiGrein wurde eine Frau Zeugin derMisshandlungen: ”Sie haben sichim Stadel einquartiert, sicher weitmehr als 100 Häftlinge, erbärm-lich haben sie ausgesehen, alle zuFuß, zum Teil ohne Schuhwerk.Verhungert waren sie, soforthaben sie bei uns die noch nichtausgebrüteten Eier aus den Nes-tern zu nehmen versucht, wurdenaber von den ”Hiwis”27 geschla-gen, die Hiwis, die zwar alleDeutsch redeten, aber so wie dieAusländer eben. Die waren äu-ßerst brutal. Grau-braune Unifor-men haben sie angehabt. Wirwollten den Häftlingen Kartoffelgeben, was uns nicht erlaubtwurde. Einer der Häftlinge, derlaut geredet hat, wurde sofort miteinem Kopfschuss getötet und be-graben.”28

Von den über 400 Häftlingen, diein der Nacht vom 1. auf den 2.April 1945 Oberlanzendorf verlas-sen hatten, erreichten ca. 170-200am 16. April Mauthausen. DieSchutzhäftlinge fanden noch amselben Tag den Tod, fast alle poli-tischen Häftlinge wurden am 17.April in der Gaskammer ermor-det. Allein einer von ihnen, AlfredPollak wurde am Weg zur Gas-kammer aus der Gruppe geholtund wieder interniert. Die Gründedafür sind nicht klar, möglicher-weise hat sich Künzel für ihn ver-

wendet oder er sollte noch fürweitere Befragungen über dieWiderstandsgruppe Strohmer zurVerfügung stehen. Auf seineFrage an einen SS-Wachmann,was mit seinen Kameraden pas-siert sei, zeigte dieser nur nachoben und erwiderte: „Die rauchenbeim Kamin heraus.“29

Pollak hat als einziger der ausdem Kreis der Schutzhäftlingeund politischen Häftlinge desEvakuierungsmarsches Mauthau-sen überlebt.

OBERLANZENDORF, INNS-BRUCK-REICHENAU, SCHÖR-

GENHUB: AEL = KZ?

Das Beispiel Oberlanzendorfmacht deutlich, dass innerhalbdes differenzierten Lagersystemsdes Nationalsozialismus den AELtrotz propagierter Ideologie überden Wert der Arbeit in ersterLinie ökonomisches Interesse imSinne einer effizienten Verwer-tung der per Zwang geleiteten Ar-beitskraft zukam.Sie waren nicht Teil des Netzes

von Konzentrationslagern, son-dern Machtinstrumente der regio-nalen Herrscher, der Gestapostel-len, flexibel administrierbar, daim System der Ein- und Zuwei-sung weitgehend autonom unddaher auch für die Verwahrungunterschiedlicher Kategorien vonHäftlingen geeignet. Der Alltagder Häftlinge in AEL bot aber vie-lerorts ein Bild, das jenem vonKonzentrationslagern gleichkam.Die Praxis des Lagerlebens wargeprägt von Quälereien, Leidenund Sterben der Insassen. Auch inanderen derartigen Lagern wieInnsbruck-Reichenau oder Schör-genhub gehörten unterlasseneVersorgung der Häftlinge, Miss-handlungen, aber auch Justifizie-rungen zum Alltag. Letztere be-trafen vor allem Schutzhäftlingebzw. politische Häftlinge. In Inns-bruck-Reichenau wurden 7 Polen,

angeblich Führer einer in Tirol tä-tigen Widerstandsgruppe justifi-ziert. Häftlinge, die bei Aufräum-arbeiten nach einem Bombenan-griff beim Plündern ertappt wur-den, fanden nach einem fern-mündlichen Befehl Kaltenbrun-ners durch den Strang im Lagerden Tod.30 Für Schörgenhub seihier exemplarisch die Ermordungeines polnischen Zwangsarbeitersund eines Bauern aus Ramsau beiMolln erwähnt, der 1945 aufGrund einer Denunziation der Be-günstigung von ausländischenZwangsarbeitern und des Aus-landssenderhörens beschuldigtworden war. Seine Frau wurdenoch Anfang Mai 1945 von Schör-genhub nach Mauthausen über-stellt und am 3. Mai von betrun-kenen SS-Männern erschossen.31

Der Aktionsradius der Lagerlei-tung von Oberlanzendorf war be-trächtlich, dennoch konnte oderwollte sie nicht eingreifen unddas Treiben des Wachpersonalsunterbinden. Diese Unterlassun-gen wurden auch in dem nachKriegsende durchgeführten Ge-richtsverfahren gegen die Lager-führung herausgearbeitet undwaren Hauptgrund für Schuld-sprüche und Strafausmaß. Lager-leiter Karl Schmidt wurde zu 12Jahren, Karl Künzel zu lebenslan-ger Haft, der als „Bluthund vonOberlanzendorf “ bekannt gewor-dene stellvertretende Wachkom-mandant Adam Milanovicz zu 20Jahren Gefängnis verurteilt.32

„Erziehung“ hatte im Kontext mitdem Nationalsozialismus eine ne-gative Bedeutung. „Arbeitserzie-hung“ hieß Zwang, Ausbeutung,Erniedrigung und vielfach Tod.Angesichts dieser Lebensbedin-gungen ist es nicht verfehlt, AELmit Lotfi als „KZ der Gestapo“ zuklassifizieren, die sich neben Jus-tiz und Konzentrationslager alsdritte eigene Repressionsebeneder Sicherheitspolizeietablierten.33

Page 38: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

39 betrifft widerstand

NS-Arbeitserziehung

Erst in den letzten 10 Jahren be-gann sich die Forschung diesemLagertypus allmählich zuzuwen-den, spät setzte auch die RepublikÖsterreich im Wege des Versöh-nungsfonds eine Geste gegenüberden zahlreichen Opfern vonZwangsarbeit, für viele allerdingszu spät.

Anmkerkungen

* Der Beitrag bündelt die wichtigsten Er-gebnisse zum Themenkomplex „Arbeit, Ar-beitszwang und ArbeiterziehungslagerOberlanzendorf “, die demnächst ausführ-lich im Jahrbuch des NÖ Instituts für Land-eskunde 2002-2004 vorgestellt werden.

1 Gudrun Schwarz, Die nationalsozia-listischen Lager (Frankfurt/M 1996), 30.2 Frauenberg/Steiermark, Innsbruck-Reichenau, Kraut/Kärnten, Moosbier-baum(NÖ, Niklasdorf/ Steiermark,Oberlanzendorf bei Wien, SalzburgKleßheimer Allee (Frauen-AEL), St. Va-lentin, St. Dionysen/Steiermark, Schör-genhub/OÖ. Diese Lager sind in ihrerStruktur, ihren Trägern, ihren Ziel-gruppen und Zielsetzungen auf eineStufe zu stellen. Weitere kleinere „Ar-beitslager“, etwa „Weyer“ in St. Panta-leon in OÖ, unterscheiden sich in Gene-se und Kompetenzbereich erheblich.3 Gabriele Lotfi, KZ der GESTAPO. Ar-beitserziehungslager im Dritten Reich(Stuttgart-München 2000). DieseUntersuchung gilt mittlerweile alsStandardwerk zum Komplex „Arbeits-erziehungslager“. Zuletzt: AndreaTech, Arbeitserziehungslager in Nord-westdeutschland 1940-1945 (Göttingen2003).4 Detlef Korte, „Erziehung“ ins Mas-sengrab. Die Geschichte des Arbeitser-ziehungslagers „Nordmark“ Kiel-Rus-see 1944-1945 =Veröffentlichung desBeirats für Geschichte der Arbeiterbe-wegung und Demokratie in Schleswig-Holstein 10 (Kiel 1991), 259.5 Wiener Stadt- und Landesarchiv(WStLA), MA 255 A3/1, Einweisungenin Arbeitsanstalten, Richtlinien für dieEinweisungen Asozialer in eine Ar-beitsanstalt (1940)6 Maren Seliger, Die Verfolgung norm-abweichenden Verhaltens im NS-Sys-

tem. Am Beispiel der Politik gegenüber„Asozialen“ in Wien. In: Österreichi-sche Zeitschrift für Politikwissenschaft20/1991,409-429, hier 411.7 Klaus Schuster, Chronik des heutigenCaritasheimes Maria Frieden in Lan-zendorf (Lanzendorf 1996), 38 WStLA, MA 255/A3/2: Einweisungenin die Arbeitsanstalt Oberlanzendorf. 9 WStLA, A1-5d: Grundsätzliche Fragender Asozialenkommission, Juni 1941.10 Florian Freund/Bertand Perz,Zwangsarbeit von zivilen AusländerIn-nen, Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingenund ungarischen Juden in Österreich.In: Emmerich Tálos, Ernst Hanisch,Wolfgang Neugebauer, Reinhard Sieder(Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. EinHandbuch (Wien 2001 Nachdruck),644-695, hier 662f.11 Dokumentationsarchiv des Österrei-chischen Wiederstandes (DÖW), Tages-rapport der Gestapoleitstelle WienNr.11, 24./25. Juli 1942.12 ÖSTA, AdR 08/Deutsche Wehr-macht/Kriegsgefangene 1941-1955/Ar-beitserziehungslager Oberlanzendorf.13 DÖW 19.782: Niederschrift der Ver-nehmung von Dr. Max Nedwed, ehema-liger Leiter der Gestapoleitstelle Inns-bruck (1946).14 Hermann Rafetseder, Der „Auslän-dereinsatz“ zur Zeit des NS-Regimesam Beispiel der Stadt Linz. In: Natio-nalsozialismus in Linz, hg. von FritzMayrhofer und Walter Schuster, Bd.2(Linz 2001), 1107-1270, hier 1194.15 „Garnisonsverwendung Heimat“16 Bestattungsmuseum Wien, Totenlis-ten Favoriten. Für die Bereitstellung desMaterials sei an dieser Stelle HerrnRiedl gedankt.

17 Vg 3d Vr 4856/46: Aussage von Dr.Gerscha vor dem Bezirksgericht Herzo-genburg am 19. 3. 1947, ON 25, Blz.151.18 Vg 1e Vr 4750/46, ON 39, Blz 130: Aus-sage von Ludwig Radosch vor dem LGWien, 21.1.1947.19 Herman Rafetseder, Das „KZ der Ge-stapo.“ Neue Quellen im Rahmen desÖsterreichischen Versöhnungsfondszum „Arbeitserziehungslager“ Schör-genhub. In: Historisches Jahrbuch derStadt Linz 2003/04, 534.20 http://www.akh-wien.ac.at/klinpath/vorwort.htm [12.3.2005]: Obduktion-spro- tokolle 1938-1945.21 Vgl 1e Vr 4750/49: Aussage von Dr.

Fritz Gerscha vor dem KreisgerichtSt.Pölten am 11. 2. 1947, ON 81 Blz. 189f

22 Vg 1e Vr 4750/49: Aussage von KurtKapunek in der Hauptverhandlungvom 20. 6. 1947, ON 276, Blz. 389 sowievon Marcel Magonnet vor der Gendar-meriebrigade Reims am 12. 5. 1947, ON99, Blz. 494.23 Erster Lagerleiter war bis Mitte 1942SS-Sturmbannführer Köberl. Ihm folg-te der Gestapobeamter Karl Schmidtnach. Sein Stellvertreter, Kriminalse-kretär Karl Künzel übernahm das AELim Sommer 1944 endgültig die Leitung,nachdem er bereits seit Mitte 1943 in-folge häufiger Abwesenheit vonSchmidt mit der Führung betraut wor-den war. 24 Zur Räumung von Justizanstaltenvgl. Gerhard Jagschitz (Hg.), Stein, 6.April 1945. Das Urteil des VolksgerichtsWien (August 1946) gegen die Verant-wortlichen des Massakers im Zucht-haus Stein (Wien 1995).25 Eine detaillierte Schilderung dieses „Todesmarsches“ findet sich im bereitserwähnten und demnächst erscheinen-den Jahrbuch des NÖ Instituts fürLandeskunde. 26Die diesbezügliche Verantwortungvon Künzel wurde in dem Urteil desVolksgerichtes gegen die Lagerleitungausdrücklich hervorgehoben. LG Wien,Vr1e Vg 4750/46, ON 293, Blz 621ff.

27Als ”Hilfswillige” wurden viele”Volksdeutsche” in Diensten der Wehr-macht oder SS im Volksmund bezeich-net.

28 Interview mit Frau Gertrude Kühber-ger (Groß Wetzelsdof ) am 20. 11. 199529 VG 1e Vr 4750/46: Aussage von AlfredPollak in der Hauptverhandlung vom22. 6. 1950, ON 276,Blz.495.30 DÖW 19.78231 DÖW 19.003: Bericht des ehem. Häft-lings Josef Binder aus Linz. Über den„inneren Terror“ gegenüber „Arbeitser-ziehungshäftlingen“ und anderen In-sassen im Lager Schörgenhub vgl auchMichael John, Zwangsarbeit und NS-Industriepolitik am Standort Linz. In:Oliver Rathkolb (hg.). NS-Zwangsar-beit: Der Standort Linz der Reichswer-ke Hermann Göring AG Berlin 1938-1945, Bd. 1 (Graz-Wien 2001), 110-116.32 Lotfi, KZ der Gestapo, 325.

Page 39: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 40

Fragmente des Widerstands PPrräämmiieerrttee SSeennddeerreeiihhee ddeess FFrreeiieenn RRaaddiioo SSaallzzkkaammmmeerrgguutt zzuurr ZZeeiittggeesscchhiicchhttee

Das Freie Radio Salzkammer-gut begibt sich auf Spurensuche.Anhand des unkonventionellenWanderführers ‚Auf den Spurender Partisanen - Zeitgeschichtli-che Wanderungen im Salzkam-mergut’ von Christian Topf, wirdeine achtteilige Sendereihe pro-duziert, die sich mit dem antina-zistischen Widerstand im Salz-kammergut während des ZweitenWeltkrieges beschäftigt. DieFrage, wie sich im Salzkammer-gut eine partisanenartige Wider-standsgruppe ohne die für dieEntstehung von Partisanenakti-vitäten üblichen sprachlichen,ethnischen und kulturellenGegensätze bilden konnte, ist einzentrales Element der Sendereihe‚Fragmente des Widerstands’.Ein wesentlicher Bestandteil derSerie sind Aufzeichnung vonGesprächen mit Zeitzeugenbeziehungsweise deren Nach-kommen. Da nur mehr wenigeMenschen unter uns sind, diejene Zeit unmittelbar erlebthaben, entbehren diese Gesprä-che nicht einer gewissen Dring-lichkeit und erfüllen darüber hin-aus auch eine wichtige archivari-sche Aufgabe.Das Rückgrat des Widerstands imSalzkammergut bestand vor-nehmlich aus Frauen, ohne derenaktive Unterstützung ein Überle-ben der (männlichen) Gebirgspar-tisanen nur schwer möglichgeworden wäre. Die oftmals über-sehene Beteiligung von Frauenam Widerstand wird einenwesentlichen Schwerpunkt dieserSende-reihe bilden.Die Sendereihe wird mit den Stil-mitteln eines Radiofeaturesgestaltet. Anhand der Begehungder jeweiligen Wanderrouten,wird ein Grundgerüst gebaut, in

dem die unterschiedlichen Hand-lungsstränge eingewoben wer-den. An diesen Begehungen neh-men Interviewpartner teil, diemit der jeweiligen Materie ver-traut sind, und somit durch diedirekte Konfrontation mit denSchauplätzen des Widerstandesein lebendiges Bild von den dortstattgefundenen Ereignissengeben können. So findet eineBegehung von Zeitgeschichtestatt, die es dem Hörer ermög-licht, Zeitgeschichte als etwasKonkretes und Lebendiges zu ver-stehen, und sich, im besten Fall,selbst auf Spurensuche zu begebenund dem vermittelten Wissennachzugehen.

Möglich wurde das vom Redak-teur David Guttner durchgeführ-te Projekt durch den Förderpreisder Kulturplattform Oberöster-reich. Unter 45 Einreichungenzum Thema „Lebendige Archive“landete der Beitrag des FreienRadio Salzkammerguts auf demersten Platz. Das ZeitgeschichteMuseum ist einer von mehrerenKooperationspartnern, die dieSendungsreihe mittragen undgleichzeitig die Möglichkeiterhalten, neue Forschungsergeb-nisse zu erzielen.

Ausstrahlungstermine

Jeweils am ersten Dienstag undDonnerstag (Whg.) im Monat um18.00 Uhr ausgestrahlt: Frequen-zen: 100,2 &105,9 Mhz im inne-ren Salzkammergut, 107,3 Mhz imRaum Gmunden, Wels und Vöck-labruck

Di. 3. und Do. 5.Mai: Etappen einer Haltung: SeppPlieseis und Franz Jaritsch als

Interbrigadisten in Spanien, undihr Weg zurück. Samt einemExkurs: Österreich und Wider-stand

Di. 7. und Do. 9. Juni:Von der Gefangenschaft in denWiderstand. Die Flucht vonSepp Plieseis aus dem SS-Neben-lager Hallein

Di. 5. und Do. 7. Juli„Wie so ein Nachtfalter…“ Dietragende Rolle der Frauen in derWiderstandsbewegung

Di. 2. und Do. 4. August:Der IGEL Die Entstehung derPartisanengruppe ‚Willy-Fred’und der Widerstand in den Ber-gen

Di. 6. und Do. 8. September:Der Sprung ins Ungewisse EinFallschirmabsprung von vier Exi-lösterreichern mit dem Ziel derVerhaftung von Joseph Goebbels

Di. 4. und Do. 6. Oktober:Kunstschätze in Gefahr. Diegeplante Vernichtung der imAusseer Salzbergwerk gelagertenKunstschätze, deren Rettung unddie Rolle der örtlichen Wider-standsbewegung

Di. 1. und Do. 3. November:Der Weg zum Wildensee. DieVerhaftung von Ernst Kalten-brun-ner am 12. Mai 1945 auf derWildenseealm

Di. 6. und Do. 8. Dezember:‚Arbeitslager Zement’. DieErrichtung des KZ Ebensee, vonden Grenzen des Widerstandesund der Befreiung des letztennationalsozialistischen Konzen-trationslagers

Page 40: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

VeranstaltungsrückblickVVeerraannssttaallttuunnggeenn zzuumm GGeeddeennkkjjaahhrr 22000055

41 betrifft widerstand

Am 1. März referierte Univ. Prof Ernst Hanisch (im Bild links) von der Universität Salz-burg zum Thema „Der österreichische Nationsbildungsprozess nach 1945“ und eröffnetedie Veranstaltungsreihe „Österreich 1945-55“. Das Werden des österreichischen Selbst-verständnisses wurde hierbei vor allem im Unterschied zum Nationsbildungsprozessnach 1918 gegenübergestellt.

Univ-Prof Stefan Karner von der Univer-sität Graz widmete sich am 10. März demThema „Kriegsende und Zusammen-bruch“ und berichtete zum Schwerpunktseiner Forschung in russischen Archiven.

Am 30. März stellte Mag. Peter Schwarzvom DÖW das Buch „Der Wille zum auf-rechten Gang“ vor und thematisierte dieRolle des BSA bei der Reintegration ehe-maliger Nationalsozialisten nach 1945.

Der Ausstellungskurator Klaus Voigt aus Berlin (in der Bildmitte) eröffnete am 20. Aprildie Sonderausstellung „Die jüdischen Kinder der Villa Emma in Nonantola 1942-43.“ Ineiner spannenden Erzählung schilderte der Historiker das Schicksal 73 jüdischer Jugend-licher, deren Fluchtwege über verschiedene Stationen durch Europa bis nach Palästinaverliefen. Die einjährige Unterbringung in der Villa Emma bei Modena galt gewisserma-ßen als Rast und Vorbereitung auf das zukünftige Leben im Kibbuzim.

Am 30. Mai wurde das Buch „Eine Lebens-reise durch Konzentrationslager“ vonDagmar Ostermann in Ebensee vorge-stellt. Der Herausgeber Martin Krist hatüber Jahre Interviews mit der Zeitzeugindurchgeführt, aus denen dieser Erinne-rungsband entstanden sind. Im Zentrumstehen nicht nur die 3 Jahre Haft in Kon-zentrationslagern (Ravensbrück,Auschwitz und Birkenau), sondern auchdie Kindheit als sogenannter „Mischling“in Wien und Dresden. Der Besuch von D.Ostermann in Ebensee wurde auch zumAnlass genommen, Zeitzeugengesprächemit SchülerInnen aus dem Salzkammer-gut zu ermöglichen. Im Bild: Frau Oster-mann und Martin Krist. Alle Fotos: ZGM

Page 41: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 42

Buchrezensionen

Karl Münchreiter

"Ich sterbe, weil es einer seinmuss. Erinnerungen an den Vater"

Wien, Trotzdem Verlag 2004.

"Ich sterbe, weil es seiner muss." Mit diesen Worten erklärte KarlMünichreiter, Schutzbund-Mitglied in Wien, sein Todesurteil gegen-über seiner Frau in der Todeszelle. Münichreiter war das erste Opferder austrofaschistischen Standgerichte, die dazu dienten Exempel zustatuieren. Der Diktator Engelbert Dollfuß persönlich hatte die Rich-ter gedrängt, nicht sparsam mit Todesurteilen umzugehen. Am Tagenach der Vollstreckung verhöhnte auch schon die bürgerliche Tages-presse den Ermordeten. Karl Münichreiter junior, Autor des Buchesund zum Zeitpunkt der Ereignisse knapp zehn Jahre alt, erfuhr vomTod seines Vaters durch so einen Zeitungsartikel, wobei er das Gele-sene anfänglich nicht glauben konnte. Das Buch schildert aber auchdie Ereignisse vor dem Februar 1934, wie das Leben einer ArbeiterIn-nenfamilie von Armut geprägt war, und wie scharf die Klassengegen-sätze in der Ersten Republik waren. Münichreiter erzählt von der Zeitnach den Februarkämpfen, als seine Mutter mit aller Kraft darumkämpfte, den Leichnam ihres Mannes von den Behörden freizube-kommen, um ihm ein anständiges Begräbnis zuteil werden zu lassen.

In Anbetracht der existenziellen Aussichtlosigkeit der Familie imStändestaat floh Frau Münichreiter schließlich mit ihren drei Kin-dern über die Schweiz, Frankreich und Großbritannien in die Sowjet-union. Der Autor schildert seine Zeit in der UdSSR, den Unglaubenüber den Hitler-Stalinpakt, der in absolutem Gegensatz zu seinerantifaschistischen Erziehung stand, und wie schließlich er und seineSchwester von einem Tag auf den anderen in einem Ferienlager vomdeutschen Überfall auf die Sowjetunion überrascht wurden. 1943gelangten Münichreiter und seine Schwester wieder nach Wien, wosie sofort von der Gestapo vorgeladen wurden. Glücklicherweise laggegen die beiden nichts vor, so dass sie unbeschadet das NS-Regimeüberstanden. Mehr als ein Jahr nach Kriegsende kehrte schließlichauch die Mutter nach Wien zurück.

Das Buch schildert die dramatischen Ereignisse jener Zeit aus einersehr persönlichen Perspektive. Die Erzählung zeigt beeindruckendauf, welch tiefen Einschnitt der Austrofaschismus, der Nationalsozi-alismus und der Zweite Weltkrieg für das Leben der Menschenbedeutete und rückt die ProtagonistInnen der Geschichte - diebetroffenen Menschen - in den Vordergrund.

Das Buch wurde anlässlich des 70. Jahrestages der Februarkämpfeveröffentlicht. Es ist im Zeitgeschichte-Museum Ebensee oder beimTrotzdem Verlag der Sozialistischen Jugend zum Preis von 10 Euroerhältlich. Bestellen kann man das Buch im Webshop der SJÖ oderdirekt beim Trotzdem Verlag: Amtshausgasse 4, 1050 Wien, Tel.: 01523 41 23, mail: [email protected]

Page 42: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

43 betrifft widerstand

Rezensionen

Willi Weinert

„Mich könnt ihr löschen, abernicht das Feuer” Wiener Zentral-friedhof - Gruppe 40

Wien, Alfred Klahr Gesellschaft,2.Aufl. 2005.

Der Grazer Historiker Stefan Karner wies im Jänner diesen Jahresim Parlament darauf hin, dass es wesentlich sei, den „Opfern desWiderstandes ein Gesicht“ und ihnen ihre Biografien zurück zugeben. Karner hatte Zahlen über die Opfer des österreichischenWiderstandes genannt. Demnach starben 32.600 ÖsterreicherInnenwegen politischer Verfolgung in Gefängnissen und in Konzentra-tionslagern. Rund 100.000 Menschen waren mindestens dreiMonate in Haft. 2.700 WiderstandskämpferInnen wurden hinge-richtet.Mindestens 570 der hingerichteten Opfer sind am Wiener Zentral-friedhof in der "Gruppe 40" bestatten, für nahezu 400 Opfer exis-tieren Gedenksteine. Die im Wiener Landesgericht zum Tod verurteilten und hingerich-teten Männer und Frauen wurden unter folgender Anordnung ineiner besonderen Abteilung des Zentralfriedhofes (Gruppe 40) ver-scharrt."Ich nehme Bezug auf die mit der Gemeinde Wien, städt. Leichen-bestattung unter Dr. Rö/Z am 11. 2. 1943 getroffene Vereinbarungund teile mit, dass nachbenannte zum Tode Verurteilte heute hin-gerichtet werden. Die Leichen werden durch die Gemeinde Wien inden Abendstunden, etwa 18 Uhr 30 von der ho. Untersuchungshaft-anstalt in die gesperrte Abteilung des dortigen Friedhofes überge-führt, und bitte ich die Beerdigung sofort durchführen zu lassen.Die Leichen sind den Angehörigen zur Beerdigung nicht freigege-ben, es darf daher außer den Polizeibeamten an der Beerdigungniemand teilnehmen. [...] Das Polizeiamt Simmering und dieGeheime Staatspolizei ist von der Überführung von hier aus inKenntnis gesetzt worden." (Aus: Brief des Vorstandes der Untersu-chungshaftanstalt Wien 1 an die Verwaltung des Zentralfriedhofs;8.11.1944)

Dr. Willi Weinert, Historiker und wissenschaftlicher Leiter derAlfred Klahr Gesellschaft, löst nunmehr durch seine Publikationdie Forderung Stefan Karners ein: Er hat zahlreichen der Opferndes österreichischen Widerstands ihren Namen und ihr Gesichtwiedergegeben, durch Portraits und Kurzbiographien. Der Bogen,der am Wiener Zentralfriedhof bestatteten Männer und Frauenreicht von katholischen Priesterseminaristen, über Helene Kafka(Schwester Restituta), bis hin zu Angehörigen der RevolutionärenSozialisten und Mitglieder des kommunistischen Zentralkomitees.Der Wiener Bürgermeister Michael Häupl bringt die Bedeutungihres Widerstands für ein freies und unabhängiges Österreich nach1945 in seinem Vorwort auf den Punkt und er schließt: „Auch wenndas Wirken dieser ÖsterreicherInnen nicht massenwirksam wurde,so repräsentieren sie doch das bessere Österreich. Die Erinnerungan sie spielte nach 1945 und bis heute im öffentlichen Bewusstseinleider eine untergeordnete Rolle. Dieses Buch möge dazu beitra-gen, dem Vergessen dieser tapferen Menschen entgegenzuwirken.“

(W. Q.)

Page 43: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

betrifft widerstand 44

Buchbestellliste

Folgende Publikationen können Sie beim Zeitgeschichte Museum bestellenTelefonisch: 061 33 5601-2, Fax: 061 33 5601-4 oder per Email: [email protected],

AAllyy,, GGööttzz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Fischer, Frankfurt 2005. €23,60BBáárrttaa,, DDrraahhoommiirr:: Tagebuch aus dem KZ Ebensee, Turia + Kant, Wien 2005. € 18,-BBaassttiiaann,, TTiillll:: Sinti und Roma im dritten Reich, Beck, München 2001 € 7,80BBeerrggeerr,, JJoohhaannnn // EEiicchhiinnggeerr,, FFrraannzz // KKrrooppff,, RRuuddoollff ((HHgg..)): Bonhoeffer. Herausforderung eines Lebens undDenkens, Evangelische Presseverband, Wien 2002, € 16,90BBrruunnnntthhaalleerr,, AAddoollff:: Strom für den Führer - Der Bau der ennskraftwerke und die KZ_lager Ternberg,Großraming und Dipolsau, Bibliothek der Provinz, € 29,00BBuuggaajjeerr,, RRiicchhaarrdd:: Mein Schattenleben - Eine Jugend im Ghetto und KZ, Czernin Verlag, 2003, € 22,00CCeerrwweennkkaa,, KKuurrtt// KKaammppmmüülllleerr,, OOttttoo:: An der Heimatfront. Frauen und Mädchen in Oberösterreich 1938-1945, Edition Geschichte der Heimat, Grünbach 2002. € 14,90DDaannnneemmaannnn,, FFrraannzz:: Flüsterwitze und Spottgedichte unterm Hakenkreuz, Ephelant, Wien 2001. € 22.EErrtteelltt,, IInnggeebboorrgg:: Meine Rechnung geht bis Anfang Mai - Aus dem Leben des WiderstandskämpfersSepp Teufl, Edition Geschichte der Heimat, 2003, € 15,00FFaarrkkaass,, AAnniittaa:: Geschichte(n) ins Leben holen. Die Bibelforscherinnen des FrauenkonzentrationslagersSt. Lambrecht, 2004, € 18,-FFaarrkkaass,, AAnniittaa: Sag mir, wer die Toten sind!, Drava Verlag, Klagenfurt 2002, € 8,00GGrraaff,, WWiillllii:: Briefe und Aufzeichnungen, Fischer, Frankfurt 1994, € 10,30HHoorrsskkyy,, MMoonniikkaa:: Man muss darüber reden. Schüler fragen KZ-Häftlinge, Ephelant, Wien 1988. € 22,-KZ-Gedenkstätte Ebensee (Hg.): Konzentrationslager Ebensee / Ebensee concentration camp, Eigen-verlag, (2. Aufl.) 2000, € 7,00MMüünniicchhrreeiitteerr,, KKaarrll: Ich sterbe, weil es einer sein muss, Erinnerungen an den Vater, 2004, € 12,-NNeeuuggeebbaauueerr,, WWoollffggaanngg// SScchhwwaarrzz,, PPeetteerr:: Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle desBSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, Czernin, Wien 2005. € 23.OOÖÖ LLaannddeessaarrcchhiivv ((HHgg..)):: Oberösterreichische Gedenkstätten für KZ-Opfer, € 11,65OOrrtthh,, KKaarriinn:: Die Konzentrationslager SS, € 15,-OOsstteerrmmaannnn,, DDaaggmmaarr:: Eine Lebensreise durch Konzentrationslager, Turia + Kant, Wien 2005. € 22,-PPoollllaacckk,, MMaarrttiinn:: Anklage Vatermord, Fischer, Frankfurt 2004. € 9,20PPoollllaacckk,, MMaarrttiinn:: Der Tote im Bunker, Zsolnay, Wien 2004. € 20,50PPuuttzz,, EErrnnaa:: Jägerstätter, Franz....besser die Hände als der Wille gefesselt..., Edition Geschichte derHeimat, Grünbach 1997. € 21,65QQuuaatteemmbbeerr,, WWoollffggaanngg // FFeellbbeerr,, UUllrriikkee // RRoolliinneekk,, SSuussaannnnee:: Das Salzkammergut. Seine Politische Kulturin der ersten und zweiten Republik, Sandkorn Science, 1999, € 21,65RRaammmmeerrssttoorrffeerr,, BBeerrnnhhaarrdd:: Nein, statt Ja und Amen. Leopold Engleitner: Er ging einen anderen Weg,Eigenverlag, 1999, € 18,90SScchhiinnddeell,, RRoobbeerrtt:: Gebürtig, Suhrkamp, Frankfurt 2002. € 9,30SSeeiitteerr,, JJoosseeff:: Auf dem Weg, Von der Museumspädagogik zur Kunst- und Kulturvermittlung, 2003, €11,20SSzzüüccss,, LLaaddiissllaauuss: Zählappell, Als Arzt im Konzentrationslager, 2000, € 9,80WWiinntteerr,, RRoossaa // MMaarrttll,, GGiittttaa // MMaarrttll,, NNiiccoollee: Uns hat es nicht geben sollen, Drei Generationen Sinti-Frauenerzählen, Hrsg: Ludwig Laher, 2004, € 19,50ZZiimmppeerrnniikk,, RRaaiimmuunndd: Der rote Strähn - Dokumentation über den antifaschistischen Widerstand imSalzkammergut, Eigenverlag, Wimmer Druck, € 28,00

Page 44: Zeitung 2005Version 6.0...food products to make a soup by using the large kettles that they had in their kitchen. We obtained potatoes, cabbage and other veg-etables that were available

45 betrifft widerstand

VeranstaltungskalenderGedenkjahr 2005

„„GGeeddiicchhttee aauuss EExxiill uunndd WWiiddeerrssttaanndd"" Lesung mit MMiigguueell HHeerrzz-KKeessttrraanneekk im Zeitgeschichte Museum

FFeessttiivvaall „„VViillllaa MMeennddeellssoohhnn””

Podiumsdiskussion im Zeitgeschichte Museum„Sommerfrische in Ebensee - Vor und nach dem Nationalsozia-lismus““ mit Dr. Johann Dvorak (UNI Wien), Kurt Druckenthaner (B-Tracht), u.a.

Zeitgeschichte MuseumAusstellungseröffnung Hildegard Stöger und Leander Kaiser

Mozart - Divertimento KV 56, Andante und Allegro

Musikschule Ebensee Konzert:Klavierquartette

Mendelssohn: Quartett in H-moll, Op. 9Mozart: Quartett in Es-dur, KV 493Brahms: Quartett in G-moll, Op.. 25

Lesung mit Erich Hackl im Zeitgeschichte Museum: „Anprobiereneines Vaters“

Konzert in der Evangelischen Kirche EbenseeMendelssohn: Quintett in B-Dur, Op. 87Einführung zu Schönberg: Christoph Cornaro Schönberg: „Verklärte Nacht“, Sextett

AusführendeGiora Bernstein, Vesna Stankovic - ViolinenAndrei Grichuk, John Moffat - ViolenBarbara Thiem, Helga Winold - VioloncelloNaoko Knopp - Klavier, Christiane Hossfeld - Flöte

Lesung von EErriicchh HHaacckkll(gemeinsam mit Schauspielern) im Zeitgeschichte Museum

Lesung mit WWaalltteerr PPiillaarrim Zeitgeschichte Museum

Do. 23.06. 19:30

Fr. 08. - So 10.07.

08.07 - 19:00

09.07 - 16:30

19:00

10.07. - 10:00

19:30

Do. 22.09. 19:30

Fr. 18.11. 19:00

Do. 13.10. 19:00 HHeellmmuutt BBuutttteerrwweecckk:: Auf der Suche nach Gerechtigkeit: Eine „dramaturgische Aufberei-tung“ über die Verfolgung und Verurteilung von NS-Tätern