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University of Groningen
"Die deutsche Freiheit"Schmidt, Hans Jörg
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Document VersionPublisher's PDF, also known as Version of record
Publication date:2007
Link to publication in University of Groningen/UMCG research database
Citation for published version (APA):Schmidt, H. J. (2007). "Die deutsche Freiheit": Geschichte eines kollektiven semantischenSonderbewusstseins. [s.n.].
CopyrightOther than for strictly personal use, it is not permitted to download or to forward/distribute the text or part of it without the consent of theauthor(s) and/or copyright holder(s), unless the work is under an open content license (like Creative Commons).
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Download date: 23-12-2020
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4.1 DEUTSCHES REICH (SEIT DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION)
4.1.1 Erste Indikationen des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ als Reaktion auf
die Französische Revolution – „Freyheit oder Mordt und Todt“
Die jakobinische Linie innerhalb der progressiven Freiheitsrichtung im Deutschen
Reich, die sich „den missionarischen Charakter der ‚Freiheit’“374
zu Eigen machte,
entstand schon bald nach den revolutionären Ereignissen in Frankreich. Die darauf
bezogenen Revolutionskriege der Jahre 1792 bis 1795 können, um einen Ausblick auf
die tiefgreifende Modulation des kulturellen Gedächtnisses durch die revolutionären
Vorgänge zu geben, als eine erste „totale Mobilmachung des Volkes“ und als „größte
kollektive Handlung, die bis dahin die neuere Geschichte gekannt hat“ interpretiert
werden.375
Christoph Martin Wieland bemerkte über den Charakter der revolutionären
Bewegung, dass der Jakobinismus „eine Art von neuer politischer Religion sei“, die von
ihren Anhängern gepredigt werde.376
Von jenen wurde mit radikalem Eifer auf die
Umsetzung des republikanischen Gedankengutes, wie etwa der allgemeinen Menschen-
rechte und der Volkssouveränität, gesetzt,377
um diese Institutionen in den Begriff der
bürgerlichen Freiheit zu integrieren. In vielerlei Hinsicht wohnte nach dem Abklingen
der anfänglichen Revolutionsbegeisterung der Rezeption der in der Französischen
Revolution verfochtenen Ideen ein pejorativer Geschmack bei, dessen Deutung in den
Gewaltexzessen vor allem des französischen Jakobinismus seinen Ansatzpunkt fand.378
Kondensiert kommt das hiermit interferierende systemverändernde Anliegen der
deutschen Jakobiner379
in einem Papier zum Ausdruck, das – in der Übernahme
symbolhafter Erkennungsmerkmale der revolutionären Bewegung – einen Freiheits-
baum mit einer Jakobinermütze zeigt, und auf dem der vorderhand naiv anmutende,
374 Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 503.
375 Stadelmann, Staat, 342.
376 Christoph Martin Wieland, Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: ders.,
Werke, 37-71; hier: 59.377
Vgl. zu Gesellschaftstheorie und Handlungskonzepten: Stephan, Jakobinismus, 64-92.378
Vgl. Fenske, Denken, 407.379
Vgl. zur Diskussion um die Problematik des Begriffes: Haasis, Freiheit, Bd. 1, 14-21; Stephan,
Jakobinismus, 39-49. Eine anschauliche Darstellung zu den so genannten deutschen Jakobinern:
Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner. Anne Cottebrune unterbreitet den Vorschlag zur Ent-
mythisierung des Forschungsgebietes „Deutscher Jakobiner“ auf die Bezeichnung „Deutsche
Freiheitsfreunde“ auszuweichen (dies., Freiheitsfreunde, bes. 56-58). Aus zeitgenössischer Sicht zu der
Frage „Was ist ein Jakobiner?“: Anonymus, Was ist ein Jakobiner?, in: Stammen/Eberle (Hgg.),
Deutschland, 305-309.
65
dafür aber umso aussagekräftigere Satz „Die Freiheit ist uns lieb und der Kaiser nicht“
verzeichnet ist.380
Die Anhänger der Revolution sahen sich in Anlehnung an die 1792 in Straßburg
entstandene französische Revolutionshymne als „Brüder der Freiheit“.381
Die von ihnen
mit Vehemenz vertretene Forderung war die umfassende Neulegitimierung des Staates
durch gleiche Teilhabe aller Bürger am politischen Entscheidungsprozess. Zunächst
verwahrten sich die Jakobiner noch dagegen, die Errungenschaften der Freiheit, die das
französische Volk für sich erobert hatte, anderen Völkern in Form eines expliziten
Kreuzzuges aufzuoktroyieren.382
Freiheit, die positiv ausgelegt wurde und weniger die
negative Ablehnung von Zwang umfasste,383
sollte vielmehr durch eine Bekehrung von
innen heraus erworben werden, da sie dem Menschen eingeschrieben sei. Auf diesem
Weg sollte der Mensch wieder in seine naturgegebenen Rechte und Freiheiten
eingesetzt werden, deren Vollzug nur in einem kollektiven Erlebnis der aktiven
Selbstbestimmung des Volkes verwirklicht werden könne.384
Im Gefolge der Französischen Revolution wurde häufig die Idee verfochten, die
wahre Freiheit könne nur aus einer demokratischen Verfassung ausfließen.385
Friedrich
Gottlieb Klopstock,386
konsequenter Anwalt einer antirevolutionären Haltung, wider-
sprach solchen Ideen frühzeitig, indem er die althergebrachte Monarchie mit den
allgemeinen Freiheitshoffnungen der Bürger verband. Er reimte: „O, Freyheit, Freyheit!
Nicht der Demokrat allein / Weiß, wer du bist!“387
und beugte damit der Verbreitung
der Meinung vor, lediglich die Demokratie könne für die Umsetzung der Freiheit
sorgen. Romantische Dichter wie Matthias Claudius388
folgten ihm in dieser zum Teil
explizit gegen die naturrechtlich verbürgten Menschenrechte ankämpfenden Tradition
nach. Der protestantische Theologe Claudius legte zur Abwehr der Revolutionsfolgen
und zur Rückbesinnung auf die „gute alte Zeit“ gar dem Teufel antirevolutionäre Verse
in den Mund: „Man nannte Freiheit bei den Alten, / Wo Kopf und Kragen sicher war, /
Wo Ordnung und Gesetze galten, / Und niemand krümmte kein Haar. / Doch nun ist
380 Zit. nach Grab, Volk, 191. Das Papier wird heute im Verwaltungsarchiv Wien aufbewahrt.
381 Vgl. ebd., 111.
382 Vgl. ebd., 39.
383 Vgl. Talmon, Ursprünge, 97.
384 Vgl. ebd., 75.
385 Vgl. Fenske, Denken, 410.
386 Vgl. zu Person: Kohl, Friedrich Gottlieb Klopstock, 22-37.
387 Friedrich Gottlieb Klopstock, Ode auf das Jubelfest der Souveränität in Dänemark, zit. nach:
Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.), Freyheit, 38.388
Vgl. zur Biographie z.B.: Roedel, Matthias Claudius; zur Verteidigung der alten Ordnung in seiner
Dichtung: Kranefuss, Gedichte, 55-58.
66
frei, wo jedermann / Rad schlagen und rumoren kann.“389
Mit diesen Zeilen nahm der
„Wandsbecker Bote“ Stellung zu den Vorgängen der Französischen Revolution und
zum gewaltsamen Vorgehen der Verfechter revolutionärer Ideen diesseits des Rheins.
Die Folgen der „ohnbehosten Freiheit und Gleichheit“ trafen also keinesfalls allerorten
auf Gegenliebe,390
weshalb auch nicht alle Studenten dieser Zeit Freiheitsparolen in ihr
Studienbuch einschrieben und einen „teutschen Freiheitshut“ trugen.391
Christoph Martin Wieland befand 1792 in einem Brief in ablehnender Positionierung
gegenüber der Revolution, „daß es besser wäre, anstatt Freiheit und Gleichheit,
Gerechtigkeit und Ordnung zu den Grundpfeilern der neuen Ordnung der Dinge zu
machen“,392
womit er – dem vermittelnden Charakter der konservativen Freiheits-
auffassung folgend – auf eine explizite Evolutionsstrategie setzte.393
Proportional
umgekehrt nahm in dem Maß, in dem sich die Nachrichten über Robespierres
Schreckenstaten verbreiteten, die Begeisterung der Intellektuellen für die Französische
Revolution ab.394
Für die Anhänger der jakobinischen Ideen, auf die Rousseau und
Voltaire den größten Einfluss ausübten,395
ging es in letzter Konsequenz ihrer
Forderungen um „Freyheit oder Mordt und Todt.“396
Freiheit wurde somit zum
objektiven Ziel der Bewegung und zum meist umkämpften Deutungsmuster der
nachrevolutionären Zeit.
Georg Forster war einer der erbittertsten Streiter, der sich für die Sicherung der
neugewonnenen Freiheit französischer Prägung einsetzte. Der Schriftsteller und
Forschungsreisende, der als Jugendlicher mit James Cook eine Weltumsegelung unter-
nommen hatte,397
propagierte eine allumfassende Freiheit, deren Anspruch jede
Autorität in Frage stellte, obzwar sie deduktiv herbeigeführt werden sollte.398
Das
389 Matthias Claudius, Urians Nachricht von der neuen Aufklärung, in: ders., Asmus, 459-461; hier: 460.
390 Daniel Chodowiecki, zit. nach: Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 43. Vgl. hierzu auch
Beyme, Theorie, 141 f.391
Vgl. für diese Zeiterscheinung: Kuhn/Schweigard, Freiheit, 41-47.392
Zit. nach: Hartkopf, Einführung, 7.393
Vgl. zu Wielands Einstellung zur Französischen Revolution: Fink, Wieland, 437.394
Vgl. Koops, Revolutionen, 61.395
Vgl. Sell, Tragödie, 14 f.396
Vgl. hierzu die Flugblätter des Jakobinerklubs von Altona, die an der Wende des Jahres 1792
entstanden. Eine Transkription der insgesamt 4 Flugblätter findet sich in Grab, Volk, 324-330. Klose sieht
in seiner Darstellung zur Geschichte der Studentenbewegungen in diesem Wortpaar einen „deutsche[n]
Zweiklang“ (ders, Freiheit, 138). Vgl. für weitere Versionen: Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner,
37 („Freiheit, Gleichheit, Bruderliebe oder Tod, Tod dem Tyrannen, Heil den Völkern“); 78 („Wohlan,
die Wahl ist leicht! / Nur Freiheit oder Tod! / Weh dem, Fluch dem, / Der je wagt und unsrer Freiheit
droht!“); 80 („Bürger! Ihr habt geschworen Freiheit oder Tod!“); Abb. nach 125 („Freiheit oder Mordt
und Todt“). Zu Herkunft und Verwendung der Wendung insgesamt: Kuhn/Schweigard, Freiheit, 46 f.397
Vgl. hierzu: Kersten, Weltumsegler, bes. 25-42.398
Vgl. Schlumbohm, Freiheitsbegriff, 36.
67
Mitglied des Klubs deutscher Freiheitsfreunde399
kommt in einer Rede über das
Verhältnis der Mainzer gegen die Franken,400
womit in germanisierender Diktion das
revolutionäre Frankreich gemeint ist, auf die Wendung „Frei sein und gleich sein“ zu
sprechen. Der ehemalige Universitätsprofessor, der in Wilna und Jena lehrte und seit
1788 an der Universität Mainz als Erster Bibliothekar tätig war,401
kennzeichnet sie als
Sinnspruch vernünftiger und moralischer Menschen.402
Forster, der sich vorrangig mit
naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigte, gilt als prominentestes Mitglied des
Mainzer Jakobiner-Clubs,403
einer Vereinigung, die enthusiastische Zeitgenossen als
„schöne Erstgeburt der deutschen Freiheit“404
bezeichneten.
Die Franken, die Forster als Überwinder der Tyrannei feiert, wollten, so seine
Überlegung, als Erweis ihrer Brüderlichkeit die teuer erkaufte Freiheit auch mit den
Anhängern der freiheitlichen Ideen in Deutschland teilen. Forster betont zugleich die
sakrale Aura und die Kraft der „heilige[n] Freiheit“.405
Für ihn ist es selbstverständlich,
dass sie immer gemeinsam mit der Gleichheit zu betrachten ist. Für beide Werte lohnt
es sich seiner Überzeugung nach, das Leben zu opfern:
„So kann die Freiheit im Herzen der Menschen wirken, so heiligt sie sich selbst
den Tempel, den sie bewohnt! Was waren wir noch vor drei Wochen? Wie hat die
wunderbare Verwandlung nur so schnell geschehen können, aus bedrückten, ge-
mißhandelten, stillschweigenden Knechten eines Priesters, in aufgerichtete,
lautredende, freie Bürger, in kühne Freunde der Freiheit und Gleichheit, bereit frei
zu leben oder zu sterben! Mitbürger! Brüder! Die Kraft, die uns so verwandeln
konnte, kann auch Franken und Mainzer verschmelzen zu einem Volk!“406
Forster vertritt hier einen überindividuellen Freiheitsbegriff,407
dessen Ziel die
Herausbildung eines Staatswesens auf der Basis der revolutionären Freiheit ist. „[W]ir
fachen die heilige Flamme an, wir spornen zur Erreichung des großen Ziels, wir ruhen
nicht, bis Freiheit und Gleichheit als die unumstößlichen Grundsätze menschlicher
Glückseligkeit anerkannt worden sind“408
, gibt er als kompromissloses Motto aus. Es
ist, wie er im historischen Rückblick auf die vorrevolutionäre Situation betont, besser
399 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 42.
400 Vgl. zu der ersten großen Rede Forsters im Jakobinerclub: Uhlig, Georg Forster, 305 f.
401 Vgl. Uhlig, Georg Forster, 232-249.
402 Georg Forster, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken zit. nach Wende (Hg.), Reden, Bd.
1, 9-29; hier: 11. 403
Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 14.404
[Briefwechsel in der Wochenschrift] Der Patriot, zit. nach: Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.),
Freyheit, 296.405
Georg Forster, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken zit. nach Wende (Hg.), Reden, Bd.
1, 9-29; hier: 27.406
Ebd., 12.407
Vgl. zum Freiheitsbegriff der Mainzer Jakobiner insgesamt: Tervooren, Mainzer Republik, 107-112.408
Georg Forster, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken zit. nach Wende (Hg.), Reden, Bd.
1, 9-29; hier: 14.
68
„frei zu sein als zu dienen, besser ganz frei als ein halber Sklav zu sein.“409
Gerade in
dem Augenblick, als Forster in seiner Eigenschaft als Präsident des Jakobiner-Clubs
und Vizepräsident des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents in Paris ankam, um den
Zusammenschluss der Brudervölker durch den Beitritt der Mainzer zur Französischen
Republik zu verkünden, beendeten preußische Truppen dieses Vorhaben durch die
Rückeroberung der linksrheinischen Gebiete.410
Der am 14. April 1792 begonnenen
Belagerung der Stadt durch deutsche Truppen konnten die französischen Besatzer
lediglich bis zum 23. Juli standhalten. An diesem Tag kam es zur Kapitulation.411
Der sakrale Aspekt des Freiheitsdiskurses wurde auch von anderen Akteuren
hervorgehoben. So verzeichnet der Volksdichter und Journalist Christian Friedrich
Schubart in seinem Journal: „Wenn ich von Freiheit spreche; so wird meine Rede
Gesang: O Freiheit, Freiheit! Gottes Schoß entstiegen, / Du aller Wesen seeligstes
Vergnügen, / An tausendfachen Wonnen reich, / Machst du die Menschen – Göttern
gleich.“412
Angeklagt wegen Majestätsbeleidigung saß der rebellische Schubart auf
Anweisung Herzog Karl Eugens von Württemberg zehn Jahre auf der Festung
Hohenasperg ein.413
Der ehemalige Hofpoet und Theaterdirektor musste sich haupt-
sächlich wegen des freiheitlich-revolutionären Inhalts seiner Vaterländischen Chronik
verantworten.
Als vorbildhafte Nation für die Jakobiner erwähnt ein Flugblatt neben Frankreich
auch das Amerika Thomas Paines414
als „freye Nation“, in der einem deutschen
Topos415
entsprechend „Ruhe und Ordnung“ herrsche.416
Interessante Parallelen in der
Ikonographie der Freiheitsbewegungen in Amerika und Europa bietet der Brauch,
Freiheitsbäume aufzustellen, der sowohl in Frankreich, den Vereinigten Staaten, aber
auch beispielsweise in Süddeutschland gepflegt wurde.417
Der Revolutions-Almanach
409 Ebd., 16.
410 Vgl. zu Forsters Aufenthalt in Paris: Uhlig, Georg Forster, 325-342
411 Vgl. zur Mainzer Republik: Dumont, Mainzer Republik.
412 Christian Friedrich Daniel Schubart, O Freiheit, Freiheit, Gottes Schoß entstiegen, in: ders., Werke,
326.413
Vgl. Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit 25.414
Vgl. Grab, Volk, 334-336. Explizit wird auf Paines Schrift Die Rechte des Menschen im ersten
Flugblatt verwiesen. Vgl. für den textuellen Gesamtzusammenhang die übernächste Anm.415
Vgl. hierzu: Lindenberger, Ruhe und Ordnung.416
Zit. nach: Grab, Volk, 325. „Wir können alsdenn durch eine Repräsentantische Regierung aus denn
klügsten von unsers Landes-Bewohner aufgestellt wird als eine freye Nation ebenso mit dem goldenen
Segen der Zufriedenheit gekrönt in Unser Land leben, als die schätzbahren Amerikaner, die schon längst
in der besten Ruhe und Ordnung für den 60sten Theil von Ausgaben gegen die Unsrigen den reichsten
Seegen ihrer ergiebigen freyen Länder genießen, da doch ihr Land 12 Mahl größer ist als das Unsere,
welches Ihr selbst überrechnen könnt, wenn ihr mit Bedacht leset, das Buch, betitelt die Rechte des
Menschen.“ (AaO., 325 f.).417
Vgl. Hackett Fischer, Liberty, 24-36; bes. 31-33. Vgl. zu der Tradition im deutschen Kontext auch den
Artikel von Paul Achatius Pfizer im Staats-Lexikon (ders., Freiheitsbaum.), der das Wiederaufleben der
69
von 1794 erblickt diesem Brauchtum gegenüber kritisch eingestellt ein „mächtig
wirkende[s] Werkzeuge für den Pöbel“ und „das Bild des Revolutions-Schwindels
unserer Zeiten!“418
. Für Mainz, Worms, Köln und andere hauptsächlich linksrheinische
und im Süddeutschen gelegene Städte ist dieser Brauch, der darauf angelegt ist, einen
symbolischen gemeinschaftsstiftenden Bezugspunkt zu schaffen, belegt.419
Oft wurden
zu den feierlich auf zentralen Plätzen inszenierten Anlässen Gelegenheitsdichtungen
auf die Marseillese verfasst. So ist dies beispielsweise für Mainz, die cisrhenanische
Hauptstadt der jakobinischen Bewegung, durch Friedrich Lehne geschehen.420
Auch
sollen Freiheitsfreunde in Tübingen nach französischem Vorbild einen Freiheitsbaum
errichtet haben.421
Unter den Freiheitsanhängern, die an den Jahrestag der Erstürmung
der Bastille gedachten, befanden sich wahrscheinlich nachmalig prominente Vertreter
des Geisteslebens wie der Dichter Hölderlin, der 1791 eine Hymne an die Freiheit
verfasste, und der Philosoph Hegel.422
Beide weilten damals als Stipendiaten in
Tübingen.423
In Worms veranlassten die preußischen Truppen nach der Rückeroberung,
dass die „Jakobiner Schwindelköpfe zu Worms [...] ihren Freiheitsbaum selbst aus-
graben“424
mussten. In der deutschen Bildwahrnehmung der Revolutionsereignisse
gehört der Tanz um den Freiheitsbaum zu den am häufigsten anzutreffenden Motiven
kollektiver Bezüglichkeit.425
Maientradition im revolutionären Frankreich ansetzt. „Dem nüchternen, prosaischen Verstande kann zwar
ein Gebrauch, wie der bisher beschriebene, als leere Spielerei erschienen. Erwägt man aber die Gewalt,
mit welcher Zeichen und Symbole auf Gefühl und Phantasie der Menschen wirken, so wird man den
Gedanken, in einem nationalen Sinnbilde die Idee der Freiheit zu verkörpern und aus dem Freiheitsbaume
für jede Gemeinde das zu machen, was dem Soldaten seine Fahne, was einem ganzen Lande die
Nationalfarbe ist, weder kindisch noch unpolitisch finden. Und welch ein edleres Sinnbild der Freiheit
gäbe es denn als den freien Baum des Waldes, zumal die von Gregoire zum Freiheitsbaum empfohlene
Eiche mit dem majestätischen Wuchse und der fast ewigen Dauer? Im Haine, im Eichendunkel, rief schon
der Gallier wie der Germane seine Götter an, im Dickicht jener Waldesriesen, die ‚nicht in des Menschen
Schule gehen’, fühlte er sich frei, und heilig war dem Sohne der Freiheit und des Waldes der Baum, der
aus den freien Elementen seine Nahrung saugend, die hohe Krone sicher, aber still entfaltet, und wenn
auch hundertmal durch Frost und Sturm entblättert, aus unerschöpfter Lebensfülle immer neues Laub und
neue Blüthen treibt, bis aus dem Baume und seinen tausend Sprößlingen ein Wald geworden, in dessen
Schatten ganze Völker Zuflucht finden mögen.“ (AaO., 188).418
Revolutions-Almanach von 1794, zit. nach: Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.), Freyheit, 226.419
Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 15-17.420
Vgl. Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.), Freyheit, 225-229. 421
Vgl. Karl Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen (1849), in: Donath/Markov
(Hg.), Kampf, 29 f. 422
Vgl. Kuhn/Schweigard, Freiheit, 132-136; 264-285; bes. 272-276.423
Vgl. Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 30 f. Vgl. dort auch zur Tradition des Freiheitsbaums
und zu belegten Exemplaren z.T. mit Abbildungen (aaO., 38-40; 76 f.; 80; 88 f.; 101; 105 f.). Nach der
Unabhängigkeitserklärung der linksrheinischen Gebiete am 23. Brumaire VI (13. November 1797) kam
es zu zahlreichen öffentlichen Kundgebungen mit der Errichtung eines Freiheitszeichens wie z.B. in den
cisrhenanischen Orten Blieskastel, Bobenheim, Grünstadt, Kirchberg, Schönberg, Speyer, St. Wendel,
Trier und Zweibrücken (aaO., 117 f.).424
Revolutionsalmanach 10 (1794); zit. nach: Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 17.425
Vgl. Einigkeit und Recht und Freiheit, 40. Auch in literarischen Gestaltungen, z.B. im Werk Heines,
findet sich der Freiheitsbaum häufig als Revolutionssymbol: Koßek, Begriff, 163-165.
70
Joseph Görres, um neben Forster einen weiteren Anhänger der Jakobiner und
Verfechter der cisrhenanischen Frankenrepublik zu Wort kommen zu lassen,426
befindet
nach der Übergabe von Mainz am 22. Oktober 1792 an französische Truppen, die er als
„Heerscharen der Freiheit“ bezeichnet:
„Mainz ist unser! [...] Sie ist verloren diese Sternschanze des Despotismus,
zerschnitten der Saum der berüchtigten Reichsintegrität. Die Freiheit hat ihr
Eigentum, das schändlicher Verrat ihr einst entriss, wieder in Besitz genommen,
und der Verrat ist auf die Köpfe seiner Urheber zurückgefallen. Zernichtet ist also
die Hoffnung unserer Despoten, abgeworfen die große Brücke die sie noch mit
dem linken Rheinufer verband. Sie stehen auf den Gebirgen im jenseitigen
Deutschland, und blicken mit verbissener Wut in’s gelobte Land der Freiheit, das
ihnen jetzt auf ewig den Zugang versagt.“427
Später wurde Görres, vor allem enttäuscht durch den Pariser Imperialismus, vehementer
Verfechter des nationalpolitischen Katholizismus.428
Der 1776 geborene Herausgeber
des Roten Blattes und des Rübezahl vertrat in seiner Jugend engagiert die Ideen der
Französischen Revolution, die sich auf seine späterhin beharrlich eingeklagte Forderung
auswirkten, die Regierungen sollten die zur Beschwichtigung des Volkes versprochenen
Verfassungen endlich erlassen.429
Der französische General Custines richtete am 24. Oktober 1792 an den tags zuvor
gegründeten Mainzer Jakobinerklub, dem jeder Mann über 24 Jahren beitreten konnte,
eine Ansprache, in der er die Klubisten darauf verpflichtete, die „heiligen Grundsätze
der Freiheit und Gleichheit bekannt zu machen.“ Er fuhr fort: „Aber ewige Schande
brandmarke alle diejenigen, denen das Rasseln ihrer Ketten lieber ist, als die süßtönende
Stimme der Freiheit.“430
Die Aufforderung blieb nicht ohne Widerhall, so dass bis zu
500 Mainzer Bürger aller Schichten dem Klub beitraten und mit allen Kräften für die
Sache der Freiheit warben.431
Wolfgang Plat bezeichnete den Mainzer Jakobinerklub als
„die erste deutsche Volkshochschule des revolutionären Republikanismus“.432
Die von den Republikanern vertretene Auffassung, Freiheit und Gleichheit als
äquivalente Naturrechte anzusehen, ist das Thema des zweiten Flugblatts des Altonaer
426 Vgl. hierzu: Weiß, Joseph von Görres, 144-146. Zum Verhältnis von sprachlicher und politischer
Handlung in der Mainzer Republik: Herrgen, Sprache; ders., Wörter.427
Joseph Görres, Nach der Übergabe von Mainz, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 30-42; hier: 30.428
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 303; Winkler, Weg, Bd. 1, 73. Görres drängt auf Deutschland
und die Revolution zurückblickend auf einen Ausgleich zwischen demokratischem und monarchischem
System (ders., Deutschland, 128). Interessant für spätere Argumentationsmuster ist seine Wahrnehmung
der Demokratie: „Die Demokratie strebt ihrem Wesen nach eigenwillig allein auf sich selber zu; [...] sie
ist darum wesentlich teilend und zersetzend, das Allgemeine auflösend bis zum Besondersten, so lange,
bis die einzelne Persönlichkeit als letztes Element der Gemeinde der Teilung Grenze setzt.“ (AaO., 121).429
Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 37 f.430
Extrablatt der Mainzer Zeitung Nr. 170 vom 26.10. 1792, zit. nach: Boberach/Koops/Schütz (Hgg.),
Jakobiner, 61.431
Vgl. ausführlicher zum Freiheitsdiskurs in der Mainzer Republik: Träger, Mainzer.432
Plat, Träume, 89.
71
Jakobinerklubs vom 31. Dezember 1792, des dritten vom 1. Januar 1793 sowie auch des
vierten wiederum vom letzten Tag im Dezember 1792.433
In der Stadt, die über das
Königreich Dänemark dem Reich zugehörte, hatte sich an der Wende des Jahres 1792
ein Jakobinerklub zusammengefunden, dessen Mitglieder sich vorrangig aus weniger
gebildeten Volksschichten rekrutierten.434
Die Schriften kamen zur Verteilung oder zum
Anschlag an Hauswände. Die von ihnen propagierte Sichtweise,435
Gleichheit und
Freiheit seien eins, geht auf die Erklärung der Menschenrechte zurück, die von der
französischen Nationalversammlung am 26. August 1789 beschlossen wurde. Dort
lautete der erste Artikel: „Frei und gleich an Rechten werden die Menschen geboren und
bleiben es. Die sozialen Unterschiede können sich nur auf das gemeine Wohl
gründen.“436
Mit dem Niedergang des französischen Vorbildes gerieten auch die
deutschen Jakobiner und ihre Ideen in Misskredit.
4.1.2 „Deutsche Freiheit“ als Defensivum gegenüber der „Schimäre einer
unbegränzten Freiheit“
„Sei uns gegrüßt, du holde Freiheit!“ war ein Ausspruch, der nicht mehr jedem so leicht
über die Lippen kam wie dem Dichter Johann Heinrich Voß in seinem Hymnus der
Freiheit.437
Mit ihm unternahm Voß den seinerzeit beliebten Versuch, die Marseillaise
ins Deutsche zu übertragen. Selbst in der als revolutionär verschrieenen Gesellschaft der
Mainzer Volksfreunde wurden die konservativen Werte Ordnung und Sicherheit als die
„unzertrennlichen Gefährten der Freiheit“ angesehen.438
Konservative Intellektuelle
äußerten Kritik an den Ideen von 1789 und begründeten hiermit eine Einstellung, die
sich nachhaltig im kollektiven Erinnerungsbestand festsetzte.439
433 Vgl. Grab, Volk, 327-329. Dort heißt es jeweils: „Freyheit und Gleichheit [...] sind der Menschen
Ursprüngliche Rechte!“ (AaO., 327; 328; 329).434
Vgl. Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 45 f. Vgl. insgesamt für die Norddeutsche
demokratische Bewegung: Grab, Jakobiner.435
Vgl. zur Revolutionspropaganda der deutschen Jakobiner: Grab, Revolutionspropaganda.436
Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers, zit. nach: Musulin (Hg.), Proklamationen, 74-76;
hier: 75.437
Johann Heinrich Voß, Hymnus der Freiheit, in: Schleswigsches Journal, Bd. 1, 1793, zit. nach:
Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 35.438
Georg Wedekind, Über Freiheit und Gleichheit. Eine Anrede an seine Mitbürger (Juli 1793), zit. nach:
Stammen/Eberle (Hgg.), Deutschland, 250-254; hier: 251.439
Vgl. z.B. für das Gebiet der Literatur: Lepper/Steitz/Brenn, Einführung, 65-82; für die
Geschichtsschreibung: Weidenfeld, Weg, 36-40.
72
In der Nachfolge des aus Irland abkünftigen, britischen Unterhausabgeordneten
Edmund Burke,440
der Freiheit als ein althergebrachtes Erbrecht betrachtet wissen
wollte441
und sie als einen männlichen, sittlichen und geordneten Wert verstand,442
drängten zahlreiche Kritiker des radikalen Umsturzes auf den Geist der Mäßigung.443
So
warnt Friedrich von Gentz444
in der Einleitung zu seiner maßgeblichen Übersetzung der
Burkeschen Betrachtungen vor der „Schimäre einer unbegränzten Freiheit“.445
Sie habe
„eine so magische Kraft, daß sogar die, welche die Täuschung zu entwickeln verstehen,
ihr in schwärmerischen Augenblicken huldigen: Jeder Zustand, der Einschränkung der
Freiheit fordert, wird im günstigsten Fall als ein nothwendiges Übel angesehen.“446
Mit
der Übertragung der Reflections ins Deutsche hat Gentz entscheidend zum programma-
tischen Diskurs des deutschen Konservatismus beigetragen und eine argumentative
Grundlage für Verfechter einer abwehrenden Ideologie geliefert.447
In der durch Gentz
vermittelten Perzeption der Entwicklung, die Freiheit zur Frechheit werden lässt,448
wird „die Schwärmerei von 1789“ zum „Embryo des ausgewachsenen Wahnsinns von
1792“.449
Auch Friedrich Daniel Schubart karikierte die aufgebrachten Freiheitsbemühungen
der von ihm gleichfalls abschätzig als „Schwärmer“ bezeichneten Zeitgenossen und
verwies in diesem Kontext auf den seiner Ansicht nach bestehenden Widerspruch von
deutschem Geist und Freiheitsbegriff: „Der Deutsche“, bescheidet Schubart über dessen
Habitus, „sitzt fest und breit in seinem Großvaterstuhle und ist zur Genügsamkeit, zur
Unterwerfung, zur Arbeit geneigter als andere Nationen. Er ist verständig und denkt: auf
440 Vgl. Schildt, Konservatismus, 37. Er weist darauf hin, dass Burke infolge seiner 1790 entstandenen
Betrachtungen über die Französische Revolution von einer Reihe von Theoretikern u.a. auch von Karl
Mannheim als „Urvater des Konservatismus“ bezeichnet wurde (aaO., 11). Zu Burkes Betrachtungen:
Zimmer, Edmund Burke, 95-117. Zum „prototypischen britischen Konservativen“ Burke: Müllenbrock,
Edmund Burke.441
Vgl. Burke, Betrachtungen, 87.442
Vgl. ebd., 42.443
Vgl. ebd., 36-88. Vgl. hierzu: Kondylis, Konservatismus, der die These vertritt, die Revolution sei von
den Konservativen als Fortsetzung des Absolutismus verstanden worden (aaO., 210-217).444
Vgl. Beyme, Theorie, 422-425.445
Gentz, Einleitung, 10. Zu Gentz: Kronenbitter, Friedrich von Gentz. Vgl. eine ähnliche Formulierung
eines Anonymus, der aufgrund der Fürstenwillkür rhetorisch danach fragt, ob eine Nation frei sein könne,
„die keine Constitution hat, deren Fürst, nach seiner Laune und Willkür handeln kann, deren Väter und
Vorsteher es nicht wagen dürfen, über Menschen-Rechte zu reden – wo alles unterthänig dem Fürsten,
nicht den Gesetzen – leibeigen einem Einzelherrn ist, der aus Gnaden ihnen den Gebrauch der Luft und
des Wassers erlaubt? Sind dieses Charactere der deutschen Freiheit, so ist es ja durch ächte unver-
werfliche Zeugnisse beurkundet, daß Freiheit eine Chimäre auf dem deutschem Boden ist“ (Anonymus,
Über Deutschlands verlorene Freyheit [1798], zit. nach: Stammen/Eberle [Hgg.], Deutschland, 414-418;
hier: 416).446
Gentz, Einleitung, 10.447
Vgl. Kronenbitter, Friedrich von Gentz, 108.448
Vgl. hierzu auch: Grimm/Grimm, Wörterbuch, Sp. 112.449
Gentz, Einleitung, 26. Vgl. zur konservativen Revolutionsdeutung: Lenk, Konservatismus, 68-70.
73
dieser Welt ist doch keine wahre Freiheit zu finden; drüben erst wird es uns glücken,
hineinzuschauen in das vollkommene Gesetz der Freiheit.“450
Unter dem unmittelbaren
Eindruck der Französischen Revolution ließ er noch wenig zuvor in seinem Journal
einen Pilger Stoßzeufzer ausbringen, die danach verlangten, das „Vaterland“ möge sich
„sonnen und wonnen ewig im Strahle der heiligen Freiheit!“451
Der Zeitgeist hatte sich
unübersehbar gewandelt.
Das umtriebige und zugleich gesetzlose Vorgehen der Klubisten wurde nicht goutiert
und vielfach mit Spott belegt, weshalb im Gegenzug der wurzellose Ausbruch aus den
Pflichten des Gehorsams auf nur wenig Zustimmung stoßen konnte.452
Nach der
abermaligen Einnahme des linksrheinischen Gebietes durch französische Truppen im
Jahr 1794 wurde drei Jahre darauf die cisrhenanische Republik erklärt. In diesem
Zusammenhang wird, wie bereits nach der Französischen Revolution geschehen, eine
neue Zeitrechnung eingeführt, um die Abkehr vom alten Regime zu versinnbildlichen.
So kommt es dazu, dass ein Protokoll des Bonner Magistrats vom 1. November 1797,
das Preisobergrenzen für Grundnahrungsmittel festlegt, auf das „1. Jahr der deutschen
Freiheit“ datiert ist.453
Das Deutungsmuster „deutsche Freiheit“ konnte aufgrund seines
Charakters – dies sollte deutlich geworden sein – als positiv belegtes, semantisches
Begriffsgeflecht sowohl Gegnern als auch Verfechtern der Französischen Revolution als
Argumentationshilfe dienen, da hinter der identischen Formalgestalt des Wortkörpers
ein Arsenal verschiedenartigster Interpretationsansätze zur inhaltlichen Füllung zum
Einsatz kam.
Erst allmählich bildeten sich über die spontane Abwehrreaktion gegenüber der
revolutionären „Unordnung“ hinaus auch theoretische Reflexionen heraus, die nun
vermehrt versuchten, das Deutungsmuster für ideologische Zwecke zu instrumen-
talisieren. Der Göttinger Hainbund, ein literarischer Zirkel junger Dichter, dem Heinrich
Christian Boie, Gottfried August Bürger, Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Christian
und Friedrich Leopold zu Stolberg sowie Johann Martin Miller und Johann Heinrich
Voß angehörten, verband den Freiheitsbegriff eng mit dem Nationalstolz.454
Die
Mitglieder des Bundes „für Tugend, Vaterland und Freiheit“ nahmen erstmals in einem
450 Christian Friedrich Daniel Schubart, Deutschland (aus dem 29. Stück der Chronik, 26.07. 1791), in:
ders., Werke, 228 f.; hier: 229. 451
Christian Friedrich Daniel Schubart, Des Pilgers Stoßseufzer (aus dem 94. Stück der Chronik, 21.11.
1788), in: ders., Werke, 146. 452
„Den Gehorsam aufzugeben, / Eig’nem Sinne nachzuleben, / Dazu sind sie stets bereit; / Die Gesetze
zu zernichten, Freiheitsbäume aufzurichten, / Das ist, was ihr Herz begehrt.“ Anonymes Spottgedicht, zit.
nach: Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 102.453
Zit. nach: Ebd., 110.454
Vgl. Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 28 f.
74
breiteren Rahmen die Vermengung dieser Begriffe vor. Das sollte fernerhin eine der
tragkräftigsten Konstanten im Diskurs um die „deutsche Freiheit“ bilden.455
Der kulturgestützte Geniegedanke wurde insbesondere von Dichtern – nicht nur
innerhalb des Hainbundes – als kompensatorisches Auflehnen gegen den dominanten
französischen Zivilisationsgedanken aufgestellt, indem der Kampf vorbildhafter
Individuen für Freiheit zur höchsten Lebensform erhoben wurde. Im Grunde sind es
jedoch eher apolitische Freiheitshelden wie Egmont, Fiesco von Genua und Don Carlos,
die den Sturm und Drang kennzeichnen.456
Schiller erkämpfte sich durch Desertion
seine persönliche Freiheit. Dies hat seine Dichtung geprägt.457
Auch beschäftigte er sich
in seinen historischen Studien intensiv mit dem Ringen von Despotismus und Freiheit in
anderen Ländern, wie die Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der
spanischen Regierung eindrucksvoll belegt.458
Goethe hingegen zeigte sich – nach kurzer Revolutionseuphorie – als Freund der
organischen Ordnung, der im Dienste der Freiheit evolutionärer Entwicklung statt
revolutionärem Umsturz das Wort redete.459
„Freiheitsapostel“ waren ihm zuwider, da
diese am Ende ohnehin nur Willkür für sich in Anspruch genommen hätten.460
Die
Freiheit wird in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als blendende Schön-
heit dargestellt, die als Verführerin auftritt.461
Einem der Venetianischen Epigramme ist
zu entnehmen: „Willst du viele befrein, so wag’ es, vielen zu dienen.“462
Freiheit ist im
Werk des Klassikers zumeist an Maß und Ordnung gebunden463
und nimmt den Rang
einer formalen Kategorie ein.464
Sie ist kein Ideal, sondern steht in einem
Polaritätsverhältnis zur Knechtschaft.465
Einzig Götz von Berlichingen und Egmont sind
in ihrem Freiheitsdrang entfernt mit Schillers Helden verwandt. Die letzten Worte des
455 Vgl. Sell, Tragödie, 16-18.
456 Vgl. ebd., 18 f.
457 Vgl. Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 32 f. Vgl. zu Schillers Freiheitsvorstellungen:
Johnston, Welt, 64-66.458
Vgl. Schiller, Werke, Bd. 4, 27-361; bes. 33-46 (Einleitung).459
Vgl. z.B. den Dialog von Jetter, Buyck und Soest im Egmont, 1. Aufzug: Armbrustschießen. Sie rufen
gemeinsam aus: „Sicherheit und Ruhe! Ordnung und Freiheit!“ (Goethe, Werke, Bd. 4, 377). 460
Vgl. zum Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit im Werk Goethes, Erpenbeck, Freiheit.461
Vgl. Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: ders. Werke, Bd. 6, 127.462
Goethe, Venetianische Epigramme: 20., in: ders., Werke, Bd. 1, 179. Vgl. zu dieser dem zeitge-
nössischen Pietismus nahestehenden Vorstellung von Freiheit und Dienst: Kaiser, Pietismus, 109-123. 463
Vgl. Goethe, Elegien und Lehrgedichte: Metamorphose der Tiere, in: ders., Werke, Bd. 1, 203.464
Vgl. Goethe, Lyrisches: Das Sonett, in: ders., Werke, Bd. 1, 245.465
Vgl. Goethe, Westöstlicher Divan: Nachtrag, in: ders., Werke, Bd. 2, 175.
75
Ritters von Berlichingen sind daher ganz dem Freiheitspathos entsprechend.466
Auch
Egmont opfert sich für die Freiheit.467
Eine weitere, gemäßigtere Linie in der Auseinandersetzung mit der neugewonnenen
Freiheit sah von der durchgängigen Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes ab.468
Sie
vermochte auf längere Sicht gesehen in den Liberalismus und den Sozialdemokratismus
überzugehen und konnte somit durch Wandlung ihren Fortbestand sichern.469
Das
angestrebte Ziel war eine gesellschaftliche, politische und kulturelle Verbesserung, die
einerseits in der Loslösung von der Knechtschaft und andererseits in der Einbindung in
eine neue, auf Rationalität gegründete Ordnung bestand.470
Durch die philosophisch
begründete Auslagerung471
der grundsätzlichen Gleichheitsforderung auf die bloße Idee
einer prinzipiell wünschenswerten Chancengleichheit, die je nach Rahmenbedingungen
situativ vom Staat gewährleistet werden sollte, näherte sie sich dessen an, was im Sinn
einer Orientierung auf die Regelungskompetenz des Staates als paternalistisches
Element der „Idee der deutschen Freiheit“ ausgemacht werden könnte.472
Hieran
schließt sich auch die Argumentation innerhalb der konservativen Freiheitstradition an,
die zunächst – wie der Konservatismus insgesamt – als Reaktion auf die revolutionären
Ereignisse entstand.473
Eine antiliberalistische Gegenbewegung entwickelte sich vom
Vorreiter Preußen ausgehend in Reibung mit den Wertzielen Einheit und Freiheit.474
Die konservative Deutungslinie geht im Gegensatz zu der liberalen, die Freiheit auch als
Möglichkeit des Irrens und Scheiterns begreift, von einem auf dem autoritativen Begriff
der Ordnung gestützten Standpunkt aus, nach dem es Freiheit nur zur Erlangung höherer
Wahrheit gibt.475
466 „Götz: [...] Himmlische Luft – Freiheit! Freiheit! Er stirbt“ (Goethe, Götz von Berlichingen, 5. Akt:
Gärtchen am Turm, in: ders., Werke, Bd. 4, 175).467
Egmont spricht in der spanischen Gefangenschaft: „ich sterbe für die Freiheit, für die ich lebte und
focht, und der ich mich jetzt leidend opfre“ (Goethe Egmont, 5. Aufzug: Gefängnis, in: ders., Werke, Bd.
4, 453).468
Vgl. die zahlreichen Belegstellen zum Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit bei:
Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 531-538. In Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in
Amerika“ wird dieser Konflikt innerhalb der egalitären Demokratie besonders eindringlich dargestellt
(Tocqueville, Demokratie). 469
Vgl. Jochmann, Liberalismus, 120.470
Vgl. Sheehan, Liberalismus?, 32; 36.471
Hiefür wurde zumeist auf Kants Ideen zur Freiheit verwiesen. 472
Vgl. hierzu: Finsen, Werden. Finsen spricht vom „Etatismus“, der im gemäßigten bürgerlichen
Liberalismus anzutreffen sei. Dieser stelle einen wesentlichen Zivilisationsfaktor der bürgerlichen
Gesellschaft dar, die ihre Interessen durch die Existenz eines semikonstitutionellen Autoritätsstaates als
gesichert ansehe (aaO., bes. 11). 473
Vgl. Fenske, Denken, 414; Noack, Freiheitsbegriffe, 95. Vgl. zu dieser und weiteren Deutungen:
Greiffenhagen, Dilemma, 27-50; 197-199.474
Vgl. Ruetz, Konservatismus, 54-57.475
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 291; 314.
76
Mit diskreditierenden Verdikten ging die antirevolutionäre Bewegung gegen die
„französische, sogenannte Freiheit“476
vor, der man den „wahren Begriff der Freiheit“477
entgegenstellen wollte. Schon kurz nach Ausbruch der Revolution kam es zu
Warnungen vor den „Ausschweifungen“ eines unkontrollierten „Freyheitstaumels“.478
Das „Gaukelspiel“ mit der Freiheit führe letztendlich nur zur Wiedererlangung des
Despotismus, da er am Ende der Gärung „entweder im Purpurmantel oder in
bescheidener bürgerlicher Kleidung wieder hervor trit [sic] und die Freiheit nach seinen
Absichten modelt, um sie desto bequemer zu tirannisieren.“479
Hier erweist sich der
Konservatismus in seiner antiabsolutistischen Gestalt.480
Andererseits verwahrte man
sich massiv gegen „das große Palladium des neuen französischen Heils: Freiheit und
Gleichheit.“481
Hartwig Johann Christoph von Hedemann wandte sich mit seiner Schrift Ueber die
Freiheit, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Erklärung der Menschenrechte
darstellt, gegen diejenigen, die durch die Französische Revolution „verführt werden
können, sich eine idealische Welt zu träumen, und eine Gleichheit der Menschen in
einer Art bürgerlichen Freiheit zu denken, die nicht einmal der Stand der Natur gewährt,
wodurch sie in Gefahr geraten, Realität gegen Schatten zu vertauschen, und aus Furcht
vor einem eingebildeten Unglück, sich und ihre Mitbürger in ein gewisses zu
stürzen.“482
Destruktiver Fanatismus und umstürzlerische Empörung werden strikt
abgelehnt.483
Ein deutscher Begriff der Freiheit wird konstituiert und dem metaphysischen
Freiheitsbegriff484
anderer Nationen entgegengestellt, um vor allem die missliebige
476 Neuendorf, Belehrung, 133, zit. nach: Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 483.
477 Schaumann, Versuch, 99. Vgl. auch Hedemann, Freiheit, 8, der die „wahre Freiheit“ als Ziel des
deutschen Volkes nennt.478
Vgl. Christoph Martin Wieland, Ueber die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs welchen die Französische
Nation dermalen von ihrer Aufklärung und Stärke macht. Eine Unterredung zwischen Walther und
Adelstan, zit. nach: Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.), Freyheit, 71-75. Wieland, eine dritte Person mit
einem der germanischen Mythologie entlehnten Namen, schaltet sich in den Dialog ein: „Taugt eure
Constitution nichts, so macht eine bessere, wenn ihr könnt; die Freyheit sey eine natürliche Folge der
Subordination der Bürger unter weise und gerechte Gesetze in einer vernünftigen Constitution! Aber
fangt nicht damit an, Sclaven auf einmal in die Freyheit zu setzen! Denn die unvermeidliche Folge davon
wird seyn, daß sie sich eigenmächtig auch von den Gesetzen, auch von allen Pflichten frey machen, über
alle Schranken springen, und sich in ihrem Freyheitstaumel die brutalsten Ausschweifungen erlauben
werden. Die Nationalversammlung hat diese Regel der Klugheit für unnötig gehalten, und sieht bis auf
diesen Tag die schönen Folgen davon!“ (AaO., 75).479
Hedemann, Freiheit, 25.480
Vgl. hierzu: Kondylis, Konservatismus, 210-217.481
N.N., Votum, 298.482
Hedemann, Freiheit, 4.483
Vgl. ebd., 28.484
Vgl. N.N., Votum, 303 f.
77
französische Freiheit zu diskreditieren und die traditionelle Ordnung zu stützen.485
Die
Jakobiner werden mit dem Vorwurf konfrontiert, es sei „stets bloßes Gaukelspiel, wenn
ihr in euren Sistemen von Freiheit sprechet.“486
Beständig kursiert auf konservativer
Seite die Überzeugung, Freiheit sei nicht ein Ideal, sondern die addierte Summe
einzelner Freiheiten, die in Form von Privilegien seitens des dafür verantwortlich
zeichnenden Staates zu gewährleisten sei.487
Zahlreiche Liberale wehrten sich vehement gegen diese national geprägten
Vereinnahmungsversuche des Freiheitsbegriffs und bekannten, die Freiheit stünde über
der Nation.488
Doch auch ausgewiesene Freiheitsverfechter des Vormärz äußerten sich
kritisch gegenüber der Gestalt der in dieser Zeit vertretenen Freiheitsidee, wie eine
Bemerkung des Journalisten Arnold Ruge489
aus seiner 1843 im Rückblick auf die
historische Entwicklung verfassten Selbstkritik des Liberalismus490
eindrücklich belegt:
„Diese kleinstaatliche Freiheit und die Freiheit der Untertanen wie wir Deutsche
sie jetzt genießen, konnte nun freilich keinen anderen Geist, als den des
Liberalismus hervorbringen, den guten Willen zur Freiheit, aber nicht den
wirklichen Willen der Freiheit. Die Untertanen gehorchen vielleicht nur ihren
Gesetzen, aber diese sind ihnen geschenkt, sie sind nicht wirklich autonom, sie
haben keinen Begriff davon, daß die Gesetze freier Wesen ihr eigenes Produkt sein
müssen [...] Der politische Liberalismus hat das alte Spießbürgerbewußtsein zur
Voraussetzung: er ist nur scheinbar ein neuer Geist.“491
Liberalismus und Konservatismus sind als verschiedene Antworten auf strukturelle
politische Probleme aufeinander bezogen.492
Der konservative Freiheitsbegriff wird
oftmals in Untersuchungen gegenüber der fortschrittlicheren Richtung vernachlässigt.493
Doch gerade für die Formulierung einer als spezifisch deutsch perzipierten Freiheits-
vorstellung hat er wesentliche Beiträge geleistet, die beispielsweise in der häufig auch
in liberalen Vorstellungen anzutreffenden Ineinssetzung von Gleichheit und Mittelmaß
485 Vgl. Schlumbohm, Freiheitsbegriff, 48 f.
486 N.N., Votum, 299 f.
487 Vgl. Kondylis, Konservatismus, 222; Nipperdey, Deutsche Freiheit, 317.
488 Vgl. Schlumbohm, Freiheitsbegriff, 50 f.
489 Vgl. Backes, Liberalismus, 98-101.
490 Arnold Ruge, Eine Selbstkritik des Liberalismus, zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 2,
158-183.491
Ebd., 166.492
So Barbara Vogel in Anlehnung an Karl Mannheims Konservatismusstudien (dies.,
Beamtenliberalismus, 47; Mannheim, Konservatismus).493
Vgl. zu einer kurzen Charakterisierung des konservativen Freiheitsbegriffs aus moderner Sicht: Noack,
Freiheitsbegriffe, 94. Auf die zeitgenössische Vermengung der Begriffe konservativ und liberal deutet ein
Gedicht mit dem Titel „Kehraus“ anlässlich der Wahl von Wahlmännern im aufrührerischen Mannheim
zur Zeit Heckers und Struves: „In Mannheim da hab’n wir / Jetzt Wahlmänner-Wahl / ’S gibt
Konservative / Die nenn’n sich ‚liberal’; / Und was diese wollen / Das sagen’s fürwahr, / Sie huld’gen
dem Fortschritt / Das ist ja ganz klar! / ’S is aber Alles nit wahr / ’S is aber alles nit wahr“ (Der Kerhaus,
zit. nach: Boberach/Koops [Hgg.], Erinnerungsstätte, 119).
78
ihren Ausdruck finden.494
In dieser Perspektivierung erscheint es durchaus sinnvoll,
nach den Auswirkungen konservativer Vorstellungen und Ziele auf die liberale
Tradition und umgekehrt zu fragen.495
Die Bedrohung der Freiheit durch Vermassung
und Volkssouveränität wird in der abwehrenden Argumentation zum Schreckgespenst
erhoben, dem Einhalt geboten werden müsse. Eine eigentliche, wahre Freiheit stehe
über der als bloßem Vorwand bezeichneten Libertät der Masse. Besonders kritisch
werden von konservativer Seite die rationalistischen und antireligiösen Tendenzen der
„zügellose[n] und freiheitssüchtige[n] Ketzerei beäugt.“496
Die Franzosen, die „in ihren
bis nun eroberten deutschen Provinzen das Evangelium der Freiheit predigen“,
missachteten, so die Meinung eines Anonymus, die althergebrachten Religionsüberein-
künfte, die im Augsburger Religionsfrieden und in den entsprechenden Bestimmungen
des Westfälischen Friedens getroffen worden waren: „Gar zu gern möchten aber die
weltbürgerschen Bunt- und Schwarzröcke, diese heiligen Urkunden germanischer
Freiheit, uns und unsern Fürstenhöfen als bloßes Pfaffengemächts darstellen, um uns
und ihnen eine spanische Wand vorzuschieben, hinter welcher wir ihre Operationen
nicht sehen sollten.“497
Auch wenn der namentlich nicht in Erscheinung tretende Autor
überzeugt ist, dass „ihre Herrlichkeit auf deutschem Boden [...] am längsten gedauert
haben dürfte“, vertritt er andere Ansichten über die longitudinalen Auswirkungen des
revolutionären Gedankengutes auf das kollektive Gedächtnis. Ihr „Freiheits- und
Unglaubenssystem lassen sie nun, nicht mehr theoretisch und als idealistisches
Phantom, sondern in aller praktischen Wirksamkeit auf dem deutschen Boden
zurück.“498
Er spricht im Vertrauen auf die bestehenden Herrschaftsverhältnisse die
Überzeugung aus, dass „nur die entschlossenste Gegengewalt der Fürsten sie wieder zur
494 Als prominentestes Beispiel dieser Argumentationsweise in liberalem Kontext sei hier auf Alexis de
Tocquevilles These von der die kritische Öffentlichkeit ausschaltenden Tyrannei der Mehrheit und der
damit verbundenen Befürchtung verwiesen, es könne sich durch mediale Verstärkung Mittelmäßigkeit,
Konformitätsdruck und Moralitätszwang auf die Gedankenfreiheit der Individuen auswirken
(Tocqueville, Freiheit, bes. Schlussbetrachtungen zu Bd. 2). Dass sich dieses kulturkritische Argumen-
tationsmuster bis in die Gegenwart fortsetzt, kann anhand eines Kommentars über die Rolle des
Fernsehens als „geistiger Strömungsgenerator“ und „unausweichlicher Machtfaktor im politischen
Geschäft“ stellvertretend für viele andere ähnliche Äußerungen aufgezeigt werden: „Fernsehen,
Boulevard und politische Illustrierte entwickeln sich in Deutschland unübersehbar zu einem Kartell.
Darin wird rund um die Uhr in glänzendes Blech geprägt, was böse, was ‚in’ ist und was ‚out’, wer oben
und wer unten ist, was denkbar ist, was nicht. So etwas kann man Öffentlichkeit nennen. Öffentlichkeit
im demokratischen Sinne ist es bestimmt nicht. Denn die soll mit rationalen Mitteln, nicht dem
Bewegungsgesetzt des Mobs, Teilhabe durch Transparenz verwirklichen: die Durchschaubarkeit der
politischen Entscheidung durch Ordnung in formalisierten, wiederholbaren und überprüfbaren Verfahren.
Was, nebenbei bemerkt, bedeutet, daß demokratische Politik auch eine Sache der Qualität ist.“ (Volker
Zastrow, Zelebritäten, in: FAZ, Nr. 18 vom 16.04. 2005, 1). 495
Vgl. von Thadden, Defizit, 55.496
N.N., Votum, 362.497
N.N., Folgen, 359; 356.498
Ebd., 360.
79
Räson und Autoritäts-Respektierung zurückführen kann.“499
Der organische
Zusammenhang500
habe sich in der Ordnung des Staatswesens widerzuspiegeln und
müsse sich aufgrund der unterschiedlichen quantitativen und qualitativen Ausprägung
der einzelnen Teilbereiche des Volkes in einer auf ständischer Organisation beruhenden
Verfassungsform ausdrücken, lautet eine weit verbreitete Meinung.501
Dem Staat, um zu
präzisieren: dem Monarchen, nicht der Gesellschaft, wird die Aufgabe zugesprochen,
mittels benevolenter Eingriffe über das Allgemeinwohl zu befinden. Freiheit und
Herrschaft sind in dieser Auffassung identisch. So kann Johann Christoph Gottlieb
Schaumann unumwunden feststellen: „nur das beherrschte Volk kann frei sein“502
. In
staatszentristischer Perspektive stellt auch Karl Gottfried Neuendorf fest, bürgerliche
Freiheit bestehe durch Ordnung und Gesetze, die die Wohlfahrt des Ganzen zum Zweck
hätten.503
Es kommt selbst für das Gros gemäßigter Liberaler nur ein als organisch
gedachter Prozess der nationalen und sozialen Reform in Betracht.504
Freiheit ist somit
die Gabe der Regierung an die Untertanen. Aus christlich-konservativer Warte lautet
diese Freiheitsvorstellung in den Worten des Poeten Matthias Claudius: „Freiheit und
Knechtschaft sind wohl zwei, / Doch oft im Grunde einerlei.“505
Freiheit ist spätestens
durch die Reaktion auf die Französische Revolution zu einem schillernden
Kampfbegriff506
in der Legitimation von Herrschaft geworden.507
4.1.3 Vom deutschen Frühliberalismus zur Etatisierung des Deutungsmusters –
„Zu der hohen Freyheit Ehre“
Der deutsche Liberalismus besteht aus den verschiedenartigsten politischen Richtungen,
die häufig aufgrund der unterschiedlichen Perspektivierung in der Einschätzung des
Verhältnisses von Einheit und Freiheit zu noch weiterer Ausdifferenzierung durch
499 Ebd.
500 Vgl. für die im frühen Konstitutionalismus vorherrschende staatstheoretisch-verfassungspolitische
Vorstellung, die davon ausgeht, der Staat sei ein Organismus: Böckenförde, Staat; Greiffenhagen,
Dilemma, 200-218.501
Vgl. die zahlreichen Einzelbelege für den Zusammenhang von Freiheit und Ordnung bei
Bleicken/Conze/ Dipper u.a., Freiheit, 525-531. 502
Schaumann, Naturrecht, 67.503
Vgl. Neuendorf, Belehrung, 137.504
Vgl. Kaschuba, Nation, 102 f.505
Matthias Claudius, Bemerkung, in: ders., Asmus (7. Teil), 541.506
Vgl. zum Vorstellungsmuster „Kampfbegriff“: Hermans, Sprachgeschichte, 81-83; Zur Umkämpftheit
von Begriffen seit der Französischen Revolution: Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte,
113.507
Fraas, Karrieren, 4.
80
innere Abspaltungsbewegungen neigten.508
Einige Kernelemente des deutschen
Liberalismus im 19. Jahrhundert können jedoch hervorgehoben werden: 1. der progres-
sivistische Impetus, 2. die Vorreiterschaft innerhalb der umfassenderen nationalen
Bewegung, die bis an die Gründung des Nationalstaates heranreichte, 3. die Affinität
zum Protestantismus, 4. die Renaissance des Sozialliberalismus am Ausgang des
Jahrhunderts, 5. die klassen- und schichtenübergreifende Attraktivität des Liberalismus
und 6. die Beamtenlastigkeit in der Führungsebene und die bürokratiegestützte
Implementation der staatlich verordneten Modernisierung.509
Die klassisch liberale Richtung der ersten nachrevolutionären Jahrzehnte hat ihren
prominentesten Vertreter in Wilhelm von Humboldt.510
Er trachtete, das Ideengut John
Lockes in Deutschland zu vermitteln.511
Humboldt kämpfte auf der Basis eines
aristotelischen Individualismus gegen die Tendenz an,512
im Staat den ausschließlichen
Agenten und Garanten der Freiheit und Modernität zu sehen.513
Der Verfechter des
politischen Individualismus stellt eine bemerkenswerte Ausnahme mit wenig tatsäch-
lichem Einfluss innerhalb der liberalen Debatte im deutschen Sprachraum dar.514
Er
beschreibt die Einwirkung der Freiheit auf die Herausbildung der menschlichen
Persönlichkeit und die damit interferierenden staatlichen Eingriffe, die die Entwicklung
persönlicher Fähigkeiten regulieren.515
Humboldt nimmt mit seinen Ansichten eine
Vermittlerrolle zwischen dem Neuhumanismus und der Politik ein, indem er das dem
Gedanken des Pluralismus verwandte Konzept der Mannigfaltigkeit verficht.516
Infolge
seiner umfassenden Bildung stand er in engem Kontakt mit zahlreichen Vertretern des
staatlich-politischen Lebens.517
Am deutlichsten ist die anti-etatistische Haltung, die Humboldt mit der Forderung
nach größtmöglicher individueller Freiheit verbindet, in seinen Ideen zu einem Versuch
die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen518
dargelegt. Dort empfiehlt der
508 Vgl. Gall, Einführung, 23; Langewiesche, Liberalismus, 11; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 730.
509 Vgl. zu diesen Punkten: Langewiesche, Liberalismus, 13-18.
510 So z.B. [Art. Humboldt, in:] Heuss, Politik, 85.
511 Vgl. Raico, Partei, 12.
512 Vgl. Kliemt, Solidarität, 34-46. Zur Individualität des Menschen bei Humboldt: Schiller, Sprache, 123-
163.513
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 61.514
Vgl. Vorländer, Tradition, 103; 105.515
Vgl. De Ruggerio, Geschichte, 211; Kaehler, Wilhelm von Humboldt, 138-140. Zu Humboldts
Auseinadersetzung mit dem Staats- und Freiheitsbegriff: Schulze, Humboldt.516
Vgl. hierzu: Kronenbitter, Wilhelm von Humboldt, 322-324.517
Vgl. Sell, Tragödie, 37.518
So der Titel der von Humboldt wohl im Frühjahr 1792 verfassten Abhandlung, die allerdings erst 1851
in Buchform erschien (ders, Ideen). Humboldts Werk wurde intensiv von John Stuart Mill rezipiert. Auch
Alexis de Tocqueville lehnt sich in vielen seiner Gedankengängen an Humboldt an. Vgl. zur Entstehungs-
geschichte von Humboldts staatskritischer Schrift: Spitta, Ideen, 2-39.
81
Universalgelehrte: „[D]er Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand
der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst
und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke
er ihre Freiheit.“519
Der Staat ist in seiner Sichtweise also nicht dazu da, das Wohl der
Individuen durch Transferleistungen und positive Eingriffe zu fördern, sondern nur, um
Übel abzuwehren. Jeder Versuch des Staates, seine Bürger zu erziehen, müsse, argu-
mentiert Humboldt in einem klassisch liberalen Ansatz, in der Entwürdigung und im
Entzug des Selbstvertrauens münden und stelle eine Verletzung der sittlichen
Autonomie dar.520
Der Mensch bildet damit den Ausgangspunkt der Staatsbe-
trachtung.521
Humboldt begründet dies mit der naturrechtlichen Tradition, die er dahin
gehend auslegt, dass lediglich der Mensch dazu geschaffen sei, eine organische Totalität
zu bilden, wohingegen diese Fähigkeit dem Staat nicht zukomme.522
Hiermit steht sein
Denken genau entgegengesetzt zu konservativen Staatsvorstellungen.523
Humboldt sieht
den fundamentalen Konflikt in der Polarität von Kollektiv und Individuum angelegt.524
Nicht dem Individuum, das sich in seiner Freiheit entfalten soll, sondern der staatlichen
Machtausübung kommt in dieser Vorstellung die Legitimationspflicht zu, was eine
Inversion des zeitgenössischen Verhältnisses von Staat und Individuum darstellt.525
Die
wesentlichen Aufgaben des Staates in Humboldts Konzept sind die Gewährleistung der
äußeren und der inneren Sicherheit. Erstere impliziert einen Schutz gegen auswärtige
Feinde. Letztere hat die Sicherheit der Bürger untereinander zu verbürgen.526
Die
Tragödie dieser im Resultat durchweg antiautoritären Schrift Humboldts liegt, wie
bereits Friedrich Sell anmerkt,527
in ihrer um nahezu sechzig Jahre verschleppten
519 Humboldt, Ideen, 52.
520 Vgl. hierzu: Talmon, Messianismus, 283 f. Talmon schätzt Humboldt gegenüber Tocqueville als „noch
tief in der Atmosphäre des achtzehnten Jahrhunderts befangen“ ein, der ebenfalls dem liberalen „Glauben
an die überragende Bedeutung der individuellen Freiheit als Grundbedingung für alles andere“ anhänge.
Vgl. auch Sell, Tragödie, 40, der betont, dass Humboldts Einstellung zu einem Erziehungsauftrag des
Staates gegenüber den Bürgern durchweg eine negative Auffassung sei.521
Vgl. Spitta, Ideen, 50-60. Spitta schlägt mit Humboldt vor: „Da der Staat nichts ist, sollte man besser
vom staatlichen Leben oder vom Staatsleben der Menschen, als von dem Abstraktum ‚Staat’ sprechen“
(aaO., 60). Der Mensch sei Sinn und Zweck des Daseins des Staates (aaO., 61).522
Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 466. Vgl. hierzu auch das achte Kapitel in Humboldts
Schrift, das sich mit der „Sittenverbesserung“ befasst. (Humboldt, Ideen, 98-115).523
Vgl. zum Totalitätsanspruch konservativer Staatslehre: Greiffenhagen, Dilemma, 216-218.524
Vgl. Krieger, Idea, 168.525
Vgl. Biedenkopf, Fortschritt, 73.526
Vgl. Spitta, Ideen, 106.527
Kritisch gegenüber der häufig vertretenen These einer Tragödie oder eines Verfalls des deutschen
Liberalismus (z.B. Sell, Tragödie) äußert sich Geoff Eley. Er schlägt vergleichende Betrachtungen als
Ausweg aus diesem Dilemma vor (ders., Liberalismus, 260 f.). Vgl. zu der Dekadenzthese des deutschen
Liberalismus innerhalb der Historiographie und zu neueren Ansätzen auch den in Form eines kritischen
Literatur- und Debattenberichts gehaltenen Artikel von Jarausch und Jones (dies., Liberalism). Die
Autoren verfechten angesichts der Nachkriegserfahrungen eine bi- oder trimodale Konzeption (aaO., 21).
82
Veröffentlichung.528
Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass die im
Vergleich zu Autoren aus dem englischen Liberalismus recht schwache Rezeption
Humboldts auch als „wirkungsgeschichtliches Indiz für die industriegesellschaftliche
Inadäquanz dieses Radikalindividualismus der deutschen Klassik“ angesehen werden
kann.529
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der 14. Juli von revolutionär gesinnten
Kreisen in Deutschland feierlich begangen. So kam es dazu, dass bei einem Freiheitsfest
in Harvestehude 1801 ein von Friedrich Schulz und Johann Heinrich Voß verfasstes
Freiheitslied gesungen wurde. Es wiegt die in den Anfängen der Revolution
geschehenen Gräueltaten mit der errungenen Freiheit auf und wendet sich in der ersten
Strophe an die deutschen Freiheitsverfechter: „Freye Deutsche! singt die Stunde, / Die
der Knechtschaft Ketten brach, / Schwöret Treu’ dem großen Bunde / Unsrer Schwester
Frankreich nach! / Eure Herzen sey’n Altäre, Zu der hohen Freyheit Ehre.“530
Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel kennt die vielfach beschworene „Sage von der
Deutschen Freiheit“.531
Die vergangenen Jahrhunderte hätten sich durch einen Zustand
– „die deutsche Freiheit“ – ausgezeichnet, in dem „nicht Gesetze, sondern Sitten eine
Menge zu einem Volk verbanden, gleiches Interesse, nicht ein allgemeiner Befehl das
Volk als Staat darstellte“.532
Die Zeit der „alten deutschen Freiheit“ sei durch das Fehlen
eines Gesamtstaates gekennzeichnet.533
Die „deutsche Freiheit“ sollte, wie Hegel seine
Ideen zusammenfasst, trotz der Veränderung des Freiheitsbegriffes durch die
Französische Revolution gegenüber der Universalmonarchie behauptet werden, da sie
„nichts anderes als die Unabhängigkeit der Stände vom Kaiser“ sei.534
Doch, stellt sich
Langewiesche, Liberalism, 217 f., schlägt vor, genauer zwischen dem parteilich organisierten
Liberalismus und der generellen Wirkung des Liberalismus zu trennen. Ähnlich tut dies Vierhaus, der die
These aufstellt, „daß der deutsche Liberalismus nach seinem politischen Scheitern eine geistige Kraft
darstellte, die den Nationalsozialisten die Durchsetzung ihres Totalitätsanspruches erschwerte und partiell
unmöglich machte“ (ders., Liberalismus, 126). Vierhaus, Ideologie, 96 f., spricht von der Ideologie eines
deutschen Weges der politischen und sozialen Entwicklung innerhalb dessen er die Vorstellung von der
deutschen Abkehr von der westlichen Tradition des Liberalismus verortet. Für eine Renaissance der
Dekadenz-Debatte am Ende der 70er-Jahre vgl. Gall, Gesellschaft; Mommsen, Liberalismus. Eisenstadt
sieht die Entwicklung totalitärer Bewegungen und Regime als eine wesentliche Folge der Krise des
Liberalismus (ders., Tradition, bes. 10 f.).528
Vgl. Sell, Tragödie, 43 f.529
Trautmann, Herausforderung, 39 f.530
Johann Heinrich Voß/Friedrich Schulz, Freiheitslied, zit. nach: Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.),
Freyheit, 154.531
Hegel, Verfassung, 453. 532
Ebd.533
Vgl. ebd., 466.534
Ebd., 570. Auch schreibt Hegel: „Kampf für deutsche Freiheit hieß negativ das Bestreben gegen die
Universalmonarchie, positiv wurde er zu einem Erringen der völligen Selbständigkeit der Glieder. Die
Länder standen darin ihren Fürsten bei, waren eins mit ihnen, aber sie mußten finden, daß in der
Souveränität ihrer Fürsten die deutsche Freiheit nicht errungen war; im Gegenteil.“ (AaO., 576).
83
Hegel in die positive Staatstradition, das „Interesse dieser deutschen Freiheit sucht
natürlich bei einem Staate Schutz, der selbst auf diesem System der Freiheit beruht.“535
Noch in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, die mehr als
zwanzig Jahre später als die zuerst zitierte Verfassungsschrift erschienen, erwähnt
Hegel, dass die Deutschen seit den Germanen ihrer Freiheitsliebe gerühmt würden und
die „Freiheit in Deutschland [...] bis auf die neuesten Zeiten das Panier gewesen“ sei.536
Der Philosoph bemerkt zu diesem über die freiheitsliebende Gemeinschaft
abgesicherten Verständnis: „Dieses Element der Freiheit, indem es zu einem gesell-
schaftlichen Verhältnisse übergeht, kann nichts setzen als Volksgemeinden, so daß
diese Gemeinden das Ganze ausmachen und jedes Mitglied der Gemeinde als solches
ein freier Mann ist.“537
Hegel ist ein Verfechter einer Staatsidee, in der er „die
Vereinigung der beiden Verhältnisse, der individuellen Freiheit in der Gemeinde und
des Zusammenhangs der Genossenschaft“ vollzogen sieht.538
Damit ist er Vertreter
eines an dialektischer Austarierung interessierten dritten Weges, der zwischen
Individuum und Gemeinschaft vermitteln möchte, und lässt sich durch seinen
Sprachgebrauch als Vertreter einer „deutschen Freiheit“ ausweisen.
In Hinblick auf die Ideengeschichte der Vorstellung einer spezifisch „deutschen
Freiheit“ ist die von Hegel in seiner Geschichtsphilosophie vertretene Vorstellung, der
Gang der Weltgeschichte sei als Geschichte der Entwicklung der Freiheit aufzufassen,
von eminenter Bedeutung.539
Die „Idee der Freiheit ist der absolute Endzweck“540
und
kann in Hegels teleologischer Perspektive541
nicht ohne Notwendigkeit bestehen,542
was
zur Synthese des rationalistischen mit dem geschichtlichen Staatsbegriff beiträgt.543
Hegels Verknüpfung von Freiheit mit Notwendigkeit wurde insbesondere von Friedrich
Engels in dessen Schrift gegen Eugen Dühring modifizierend rezipiert.544
Die Tendenz
535 Ebd., 573.
536 Hegel, Vorlesungen, 425.
537 Ebd.
538 Ebd., 426.
539 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 342 (504): „Die Weltgeschichte ist ferner nicht das bloße Gericht seiner
Macht, d. i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals, sondern weil er an
und für sich Vernunft und Für-sich-Sein im Geiste Wissen ist, ist sie die aus dem Begriffe nur seiner
Freiheit notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft und damit seines Selbstbewußtseins und
seiner Freiheit – die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes.“ Vgl. zum Freiheitsbegriff
Hegels allgemein: Ungler, Freiheitsbegriff. Zur Auswirkung der Geschichtsphilosophie auf den
Freiheitsbegriff: Becker, Freiheit, 140.540
Hegel, Vorlesungen, 68.541
Vgl. Lakebrink, Idee, 13 f.; 420-440.542
Vgl. Angehrn, Freiheit, 449.543
Vgl. Cassirer, Freiheit, 374.544
Vgl. ebd., 57 f.; Zentralinstitut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.), MEW, Bd. 20.
Vgl. hierzu ausführlich unten: Kap. 4.6.1, 483-488.
84
zu einer totalitären Vergötzung des gemeinschaftsbildenden Staates kann in unzähligen
Aussagen zum Staat angetroffen werden.545
Insofern Hegel das germanische Reich an das Ende der traditionellen geschichts-
teleologischen Weltreichsreihenfolge stellt, ist er ein geistiger Wegbereiter germanisch-
er, spezifisch deutscher Freiheitsvorstellungen. In der durch den Weltgeist ausgelösten
Umwendung von der „absoluten Negativität“ in die „unendliche Positivität“ erscheine
„das Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, die Versöhnung als der
innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven
Wahrheit und Freiheit, welche dem nordischen Prinzip der germanischen Völker zu
vollführen übertragen“546
sei. Erst in der „germanischen Phase“ der Geschichte ist dem
Philosophen zufolge konkrete Freiheit in einem stabilen, selbsterhaltenden System
realisiert.547
Im Zuge der romantischen Rückbesinnung auf organisch-ganzheitliche Ansätze
wurde die von Humboldt hochgehaltene Lockesche Freiheitsidee, die auf den drei durch
Naturrecht verbürgten Säulen Leben, Freiheit und Besitz aufruht, aus den Augen
verloren.548
Vermehrt kam es – wie dies auch bei Hegel anzutreffen ist – zu einer
Annäherung an etatistische Freiheitsauffassungen, was das den positiven Eingriffen
konträre Deutungsmuster Individualismus in den Hintergrund treten ließ. Die
Vorstellung der Gesellschaft als organische Totalität erlebte einen immensen Populari-
sierungsschub. In einer Restauration der Staatswissenschaft wurde die „Theorie des
natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegen-
gesetzt“,549
was zur Ausbreitung korporatistischer Argumentationsweisen beitrug.550
Ausgehend von diesen auf Wiederherstellung der alten Ordnung abgestellten
Überlegungen gelang die durch den Wiener Kongress eingeleitete Zeitspanne zu ihrer
Benennung.551
Komplementär hierzu schreckten Intellektuelle vor konkreten
Freiheitsaktionen zurück und flüchteten sich in Theoretisierungs- oder Verinner-
lichungsanstrengungen, wie dies beispielsweise anhand der Philosophie Fichtes und
Schellings nachvollzogen werden kann.552
545 Vgl. Rüstow, Ortsbestimmungen, 266.
546 Hegel, Grundlinien, § 358 (511).
547 Vgl. zur historischen Lesart der Hegelschen Freiheitsidee: Patten, Idea, 27-34; hier: 29.
548 Vgl. zum Einfluss der Romantik auf die konservative Politik: Baxa, Romantik.
549 So Titel und Nebentitel des ab 1816 erschienenen und äußerst einflussreichen sechsbändigen
Hauptwerks Karl Ludwig von Hallers, das epochenbenennende Wirkung hatte. Vgl. hierzu: Schildt,
Konservatismus, 48 f. 550
Vgl. Gall, Liberalismus, 170.551
Vgl. Fenske, Denken, 419.552
Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 485. Dort mit weiterführender Literatur. Vgl. zu Fichte
unten: Kap. 4.1.4, 90-93.
85
Trotz der restaurativen Tendenzen brachte die Phase zu Beginn des 19. Jahrhunderts
mit den Stein-Hardenbergschen Reformen553
den Versuch hervor, das Bürgertum und
den Landadel mit einem protoliberalen System zu versöhnen, um die Sozialstruktur des
preußischen Staates fundamental neu zu ordnen.554
Keinesfalls ruhte der eingeschlagene
Reformansatz auf der Idee des pluralen Parlamentarismus auf.555
Vielmehr sind die
Reformen insgesamt durch einen etatistisch-korporativen Freiheitsbegriff gekenn-
zeichnet, der Anleihen beim Idealismus nimmt und Freiheit als Freiheit zum Staat
definiert.556
Letztendlich sind die Reformen als Produkte einer defensiven Modernisier-
ung zu verstehen, die in Reaktion auf die Französische Revolution entstanden ist.557
Ihr
Protagonist Stein wurde, da er sich auf eine behutsame Anpassungsstrategie berief, die
mit der Figur des Gemeinschaftshabitus operiert, als Vertreter eines deutschen
Freiheitswollens angesehen.558
Durch Mitwirkung am Ganzen, so ist das methodische
Ziel der Reform umschrieben, soll den Einzelnen autoritativ am Gemeingeist und der
Freiheit teilgegeben werden.559
Freiherr vom Stein sah in der Gemeinschaft, die durch
Individuen gebildet werde, die einen starken Drang nach Selbstverwirklichung hätten,
eine Kollektivpersönlichkeit. Sie sollte dem Einzelnen bei der Umsetzung der Selbstver-
wirklichung helfen, wobei dem Staat eine entscheidende Funktion bei der Initiierung
von gesellschaftlichen Reformen zukam.560
Die umfassendste Form der Hilfe wird dem
Reformkonservativen Stein zufolge durch den in der materiellen Reihenfolge am
höchsten stehenden Staat als Ausgleichs- und Vermittlungsinstanz gewährt.561
In
seinem politischen Testament zählte der Freiherr resümierend die unter seiner Ägide
ausgeführten Reformen auf, die allerdings nicht von Freiheit als einer Gesamtheit,
sondern im althergebrachten Sinn von einzelnen Freiheiten ausgehen. Es geht ihm
weniger um die Installation einer neuen, sondern vielmehr um die Rückkehr zur alten
und rechten Ordnung:
„Der letzte Rest der Sklaverei, die Erbuntertänigkeit, ist vernichtet, und der
unerschütterliche Pfeiler jedes Throns, der Wille freier Menschen, ist gegründet.
Das unbeschränkte Recht zum Erwerb des Grundeigenthums ist proclamiert. Dem
Volke ist die Befugnis, seine ersten Lebensbedürfnisse sich selbst zu bereiten,
wiedergegeben. Die Städte sind mündig erklärt, und andere minder wichtige
553 Vgl. umfassend hierzu: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 95-313.
554 Vgl. Frotscher/Peiroth, Verfassungsgeschichte, 97-104.
555 Vgl. De Ruggerio, Geschichte, 206.
556 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 34.
557 Vgl. für diese These, Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, bes. 345 f.
558 Vgl. Abusch, Irrweg, 63-65; vgl. hierzu auch den Untertitel der Studie: Ostdeutsche Forschungsstelle
in Nordrhein-Westfalen (Hg.), Freiherr vom Stein („ein Vorkämpfer deutscher Einheit und Freiheit“).559
Vgl. Beyme, Theorie, 471.560
Vgl. Schildt, Konservatismus, 43.561
Vgl. Fenske, Denken, 466.
86
Bande, die nur einzelnen nützten und dadurch die Vaterlandsliebe lähmten, sind
gelöset.“562
Für die Zukunft gibt von Stein, der sich zum Rückzug aus der aktiven Politik
gezwungen sah, als Vermächtnis zur Fortsetzung seiner moderaten Reformpolitik einige
Punkte an. Beispielsweise fordert er, dass die Regierung nur von der höchsten Gewalt
ausgehen kann; dass derjenige, der Recht sprechen soll, nur von der höchsten Gewalt
abhängen soll; dass Residuen bei der Erbuntertänigkeit abgeschafft werden; dass die
allgemeine Nationalpräsentation durch den König zu gewährleisten ist; dass die
Verbindung zwischen Adel und Bürgertum verbessert wird; dass die allgemeine
Wehrpflicht zur Verteidigung der Nation eingeführt wird und dass Frohndienste
abgeschafft werden.563
Diese Vorhaben sind in Steins Vorstellung nur dann möglich,
wenn keine grundlegenden Veränderungen vorgenommen werden – wenn, wie er es
formuliert, „Treue und Glauben, Liebe zum Könige und Vaterlande in der That
gedeihen“.564
Hierzu müsse der religiöse Sinn des Volkes neu belebt werden, da Vor-
schriften und Anordnungen allein noch längst keine Garantien für das Gelingen der
Reformvorhaben seien.
Die durch liberale Beamte getragene Reformpolitik gründete in der Überzeugung,
dass die Freiheitsrechte aller Bürger die Vorraussetzung für einen erfolgreichen Prozess
des Staatsaufbaus bilden.565
Durch die Modernisierung von Staat und Gesellschaft kam
es zu zahlreichen Erleichterungen, wie zu der juristischen Aufhebung der Erbunter-
tänigkeit; zu dem Recht der kommunalen Selbstverwaltung; zu Verbesserungen für die
jüdische Bevölkerung, zu der allgemeinen Wehrpflicht; zu Wirtschafts- und
Gewerbefreiheit und zu Reformen im Staats-, Verwaltungs- und Bildungswesen.566
Steins Reformen wurden nach dessen durch Napoleon erwirkter Entlassung aus dem
Staatsdienst im Jahr 1808 durch den preußischen Staatskanzler Karl August Fürst von
Hardenberg fortgesetzt.567
Die aufgeklärte liberale Bürokratie trug mit ihren Verfassungsversprechen diffusen
gesellschaftlichen Liberalisierungswünschen innerhalb der Bevölkerung und der
sozialen Problematik des beginnenden 19. Jahrhunderts Rechnung.568
Freiheit wurde in
562 Freiherr vom Stein: Politisches Testament, zit. nach: Musulin (Hg.), Proklamationen, 92-96; hier: 92.
563 Vgl. ebd. 93-95.
564 Ebd. 96.
565 Vgl. Vogel, Beamtenliberalismus, 53.
566 Vgl. für diese Auflistung: Winkler, Weg, Bd. 1., 55 f.
567 Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 31.
568 Vgl. Obenaus, Region, 72. Kritisch äußert sich Wolfgang J. Mommsen gegenüber der von Obenaus
vertretenen These, dass der bürokratische Liberalismus auf starke gesellschaftliche Interessen einging.
87
diesem Rahmen allerdings nicht durch eine Verlebendigung der Verfassung von unten,
sondern direktiv durch Verwaltung zu verwirklichen erhofft.569
Die Stärkung der
Lokalverwaltung ist ein den freiheitlichen Ideen gemäßes Resultat der Reform.570
In
einer Eingabe der Deputierten des Wetterschen Kreises an Stein, der von anderer Seite
als der „wahre Führer unseres Befreiungskampfes“571
bezeichnet wurde, zeichnet sich
die Wirkung der beginnenden Reformmaßnahmen auf das Freiheitsgefühl der Bevölker-
ung deutlich ab: „Da wurde das Übel mit seinen Folgen getilgt. Eine Besteuerung ward
eingerichtet, die dem Staate seine Bedürfnisse und der Gesellschaft den Genuss der
möglichen bürgerlichen Freiheit gewährt.“572
Freiheit konnte leibhaftig verspürt
werden.573
4.1.4 Nationalisierung des Deutungsmusters im antinapoleonischen
Befreiungskampf – „Frei auf deutschem Boden walten“
Der nationale Befreiungskampf „um Freiheit und Würde des Vaterlandes“574
gegenüber
der napoleonischen Herrschaft stellte für kurze Zeit ein durch äußere Faktoren hervor-
gerufenes, einigendes Band dar und machte dadurch auf das spannungsgeladene
Interferenzcluster von Freiheit und Einheit aufmerksam.575
Um für die „deutsche
Freiheit“ nach außen hin einzutreten, fanden die verschiedensten Gruppierungen
zueinander.576
Die nationale Befreiungsbewegung äußerte sich nicht in einer spontanen
Massenerhebung, sondern wurde hauptsächlich von einer schmalen Schicht von
Patrioten getragen, die zu einem großen Teil in öffentlichen Ämtern als Staats-
bedienstete tätig waren.577
Erstmals trat in diesem Zusammenhang der Liberalismus als
Mommsen führt die Hoffnung auf die Schaffung einer modernen Wirtschaftsgesellschaft zur Bewältigung
der Massenarmut als Hauptmovens an (ders., Einführung, 215). Vgl. auch Gall, Gesellschaft, 325 f.569
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 322.570
Vgl. De Ruggerio, Geschichte, 207. Er weist darauf hin, dass Steins liberale Reform in der Folgezeit
als die dem deutschen Geist gemäßeste Form mit großer Achtung beurteilt worden sei.571
Heinrich von Sybel, Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, zit. nach: Wende (Hg.),
Reden, Bd. 1, 448-470; hier: 450. 572
Eingabe der Deputierten des Wetterschen Kreises 1795, zit. nach: Donath/Markov (Hgg.), Kampf, 60
f.; hier: 60.573
Vgl. zum Konzept der leibhaftigen Freiheit: Blickle, Leibeigenschaft, bes. 16-21. 574
Carl von Clausewitz, Erstes Bekenntnis (1812), zit. nach: Schwartz, Leben, 437.575
Vgl. für umfassende Einzelbelege zur Auseinandersetzung um das Verhältnis von Freiheit und Einheit:
Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 503-512. Vgl. für eine synthetisierende Darstellung des
Verhältnisses: Mommsen, Freiheit.576
Vgl. Schlumbohm, Freiheitsbegriff, 49 f.577
Vgl. Krieger, Idea, 175.
88
organisierte politische Bewegung zum Vorschein,578
die sich in einem Beamten- oder
Geheimrats-Liberalismus579
manifestierte, der einer staatszentrierten Ideologie
anhing.580
Bildung galt den Vertretern dieser Richtung als die zentrale Kategorie, die
zur Erlangung der bürgerlichen Freiheit einzusetzen und in einem autoritativen
Verfahren durchzuführen sei.581
Im Liberalismus entwickelten sich parallel zu dem
Prozess der Politisierung – und damit ist ein weiteres Charakteristikum der zeitge-
nössischen liberalen Bewegung, das sich unmittelbar auf das Freiheitsverständnis
auswirkte, benannt – nationalistische Strömungen, die auf die militärische Erringung
der nationalen Einheit im Abwehrkampf gegen die napoleonische Herrschaft
drängten.582
Friedrich Schleiermacher, der bedeutendste protestantische Theologe an der Wende
vom 18. zum 19. Jahrhundert, sprach anlässlich der Ausrüstung von Soldaten, die in den
Kampf gegen die napoleonischen Truppen zogen, davon, dass sich eine große
Veränderung ankündige und der Übergang von der Knechtschaft zur Freiheit unmittel-
bar bevorstehe.583
Und der Militär von Gneisenau machte sich im Umfeld der
Befreiungskämpfe über ganz konkrete Umsetzungen der Freiheitsidee in seinem
Einflussbereich Gedanken. Schon 1808 reklamierte er im Königsberger Volksfreund
„die Freiheit der Rücken“, die kurze Zeit später für die preußische Armee verbrieft
wurde. In den preußischen Reformen wurde der Grundstein dafür gelegt, dass auch die
Bürger in die Armee integriert wurden.584
Der Militär Gneisenau sah die Ehre seines
Standes durch eine überkommene Züchtigungsmethode herabgesetzt. Im Rahmen seiner
Ausführungen stellt er einige generelle Betrachtungen zum Thema Freiheit an und
resümiert die Zeitspanne seit der Französischen Revolution, wodurch der grundlegende
semantische Wandel und die stetig zunehmende Ideologisierung erkenntlich werden, die
dem Deutungsmuster in der Spanne von zwei Dezennien seit der Französischen
Revolution widerfuhren: „Vor zwanzig Jahren“, konstatiert Gneisenau, „begann das
Wort Freiheit durch Europa zu tönen. Wir fühlen seine Erschütterungen noch, obgleich
578 Vgl. Gall, Liberalismus, 167.
579 Zum Begriff: Vogel, Beamtenliberalismus.
580 Vgl. Vorländer, Tradition, 103.
581 Vgl. Vogel, Beamtenliberalismus, 53 f. Für eine umfassende historisch-semantische Darstellung des
Bildungsbegriffs: Bollenbeck, Bildung.582
Vgl. Mommsen, Freiheit, 18 f.583
Vgl. Friedrich [Daniel Ernst] Schleiermacher, Zum Besten der Auszurüstenden, in: Wende (Hg.),
Reden, Bd. 1, 78-97; hier: 79.584
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 52.
89
dem Wort nun ein ganz anderer Sinn unterlegt worden ist.“585
Aufmerksamen
Beobachtern war der Bedeutungswandel des Freiheitsbegriffes offensichtlich geworden.
Nicht nur Militärs und patriotisch gesinnte Intellektuelle, sondern im besonderen
Maß auch vaterlandstreue Dichter forderten, indem sie sich als Artikulatoren nationaler
Anliegen in einer noch nicht konstituierten Nation gerierten, in der Zeit des Anti-
napoleonismus zum Befreiungskampf auf, um – in Verwendung pseudohistorischer
Erklärungsmuster – „nach dem Brauch der Alten“ „[f]rei auf deutschem Boden
walten“586
zu können. Junge Soldaten aus dem gesamten Reichsgebiet sollten, rief man
Freiwillige zum Wehrdienst auf, in den Kampf gegen Napoleon eintreten und so lange
gemeinsam fechten, bis „deutsche Freiheit mit Gottes Hilfe errungen“ sei.587
Ernst
Moritz Arndt, später für seinen agitatorischen Einsatz im Befreiungskrieg von den
Abgeordneten der Paulskirche geehrt, seit der preußischen Niederlage gegen Napoleon
1806 im russischen Exil der Entwicklung harrend, tat sich bei den
Massenmobilisierungsbemühungen besonders hervor.588
Der nationalistisch orientierte
Reformkonservative589
formulierte in der vierten Strophe seines Gedichts Der
Fahnenschwur an die Kämpfenden gerichtet: „Hebt das Herz! Hebt die Hand! / Heil uns
dieser Ehrenweihe! / Ewig lebe deutsche Treue! / Ewig blühe deutsches Land! /
Freiheit, deutsche Freiheit, schwebe / Um die Hütten, um den Thron! / Trug und Lug
und Schande bebe, / Und zur Hölle fahre Hohn!“590
Arndt, der stets eingängige Formu-
lierungen zu finden wusste, tritt für Glück und Freiheit der Bürger ein, was durch die
Befreiung von der französischen Fremdherrschaft erlangt werden soll, wofür er
zahlreiche Argumente anführt, die dem Naturrecht entstammen.591
Doch füllt er in
seinen propagandistisch wirkungsvollen Werken den Freiheitsbegriff lediglich mit
außenpolitischen Forderungen nach der Ablösung der napoleonischen Herrschaft, die er
durchweg als Tyrannei brandmarkt. Innere Freiheit bedeutet für ihn hingegen den Bruch
mit dem Althergebrachten – explizit verbindet Arndt, wie auch der zitierte Gedicht-
abschnitt belegt, die Erlangung der „deutschen Freiheit“ mit der Restitution der
Monarchie –, weshalb sie ihm infolge ihres Innovationspotenzials nicht erwünscht ist.
585 August Graf Neidhardt von Gneisenau, Über die Freiheit der Rücken, zit. nach: Donath/Markov
(Hgg.), Kampf, 131 f.; hier: 131. 586
Heinrich von Kleist, Germania an ihre Kinder (4. Fassung), in: ders., Werke, 713-716; hier: 716. So
auch in der 6. Fassung, aaO., 716-719; dort: 719. 587
Aufruf Ludwig Adolph Peter Graf von Sayn-Wittgenstein-Berleburgs, Berlin, 23.03. 1813, zit. nach:
Schies (Hg.), Erhebung, 258 f.; hier: 259.588
Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 223-225.589
Vgl. Beyme, Theorie, 426-430.590
Ernst Moritz Arndt, Der Fahnenschwur, zit. nach: Donath/Markov (Hgg.), Kampf, 279 f.; hier: 280.591
Vgl. für das Nachfolgende Sell, Tragödie, 61-67.
90
Arndts Freiheitsverständnis, das an eine Sakralisierung des Deutschtums gekoppelt ist –
und insofern dem Deutungsmuster der „deutschen Freiheit“ korreliert –592
verbürgt
keineswegs das Recht des Individuums, nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben,
sondern lediglich die Freiheit der Gesamtheit, der Nation. Zugehörigkeit zu ihr definiert
sich vor allem durch die Fähigkeit, die „deutsche Zunge“ sprechen zu können,593
weshalb sich die nationale Gemeinschaft für Arndt vorrangig durch Sprache und der
darauf aufruhenden Kultur- und Kognitionskonstruktionen konstituiert. Dem Geist der
Zeit594
nachlaufend verträten hingegen viele die falsche Meinung, kritisiert Arndt
pluralistische Regierungsformen, „Vielherrschaft sei das Palladium deutscher Frei-
heit“.595
Ihm schwebt jedoch nicht „das Unglück und die Zerreißung des deutschen
Vaterlandes“ vor, sondern „ein großes und heiliges Bild, das mit vielen Namen Kaiser
und Reich, deutsche Freiheit, Deutschland, Vaterland, verschieden genannt und doch
von allen verstanden“ werde.596
In einem Katechismus für die ins Feld ziehenden
Soldaten – in der Wahl dieser Textsorte zeigt sich ein weiteres Element der
Deutungstradition: die Sakralisierungstendenz – betont er den unverbrüchlichen
Zusammenhang von Vaterland und Freiheit, da sie „das Allerheiligste auf Erden“
darstellten.597
Immer wieder wurde Arndts Freiheitsverständnis, dessen Grundlagen die
„Selbstzucht des Gehorsams und der Sinn für Gesetzlichkeiten“ gewesen seien, zur
Rechtfertigung einer deutschen Sondertradition aufgegriffen.598
Zwischen den Zielvor-
stellungen Einheit und Freiheit unterschieden Vertreter dieser national ausgerichteten
Freiheitsbewegung – eben aufgrund der nationalen Überzeichnung, wie sie beispiels-
weise auch von Johann Gottlieb Fichte repräsentiert wird – nicht.599
Ein wichtiger Protagonist dieser mit staatszentristischen Zügen und Vernunftge-
leitetheit ausgestatteten Richtung ist ebendieser in Jena und Berlin wirkende Philosoph,
der sich vom engagierten Jakobiner zum Nationalrevolutionär mit antiindividual-
592 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 63. Vgl. z.B. die Gedichtzeilen „O Deutschland, heil’ges Vaterland!“ (zit.
nach: Wallenwein [Hg.], Freiheit, 19); „Gott! Freiheit! Vaterland!“ (zit. nach: aaO., 23).593
Vgl. Fenske, Denken, 479.594
Vgl. Arndt vierbändiges Werk mit dem Titel Der Geist der Zeit, in dem er seine Erfahrungen aus dem
Kampf für die nationale Freiheit in den Jahren 1805 bis 1818 schildert. Arndt, Geist, Bd. 1-4).595
Arndt, Geist, Bd. 3, 233.596
Ebd., 245.597
Ernst Moritz Arndt, Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann, Februar 1813, zit. nach:
Spies, Erhebung, 236-244; hier: 242.598
So z.B. Stapel, Fiktion, 14. Aus Arndts Werk wurden immer wieder zahlreiche Zitate und Texte
entnommen, um beispielsweise im ersten und zweiten Weltkrieg, aber auch anlässlich nationaler
Gedenktage für einen nationalen Freiheitskampf unter dem Vorzeichen der (Volks-)Einheit aufzurufen. 599
Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 66.
91
istischen und zum Teil totalitären Tendenzen600
entwickelte.601
In seinem Selbstver-
ständnis ist das von ihm entfaltete System ein System der Freiheit.602
Fichte verschärfte,
um seine Grundausrichtung kurz zu skizzieren, den bei Kant noch weitgehend
verborgenen monistischen Zug der Argumentation, der gleichfalls schon bei Hegel
anzutreffen ist.603
Der angeblich durch den französischen Geist ausgelösten
mechanistischen Zerspaltung – ein häufig eingesetzten Argumentationsmuster
romantischer Staats- und Gesellschaftsbetrachtung – setzt Fichte die organische
Verbindung von Staats- und Kulturnation entgegen, in deren Verwirklichung die
Menschen in eine überindividuelle Gemeinschaft eintreten.604
In dem von Fichte
angestrebten Vernunftstaat,605
den er wesentlich in seiner Abhandlung Der geschlossene
Handelsstaat606
skizziert, sind alle Menschen Diener und Nutznießer des Ganzen, was
im Resultat auf eine autokratische Wohlstandsdiktatur hinausläuft,607
in der dem Staat
infolge seiner Vorrangstellung in der Hierarchie die Rolle eines disziplinierenden
Emanzipators zukommt.608
Der Staat soll durch Erziehung zur Revolutionierung des
deutschen Volkes von oben beitragen,609
wodurch ein ungleichgewichtiges Gesell-
schaftsmodell konstituiert ist. Sobald der Staat der Aufgabe, die Freiheit der Individuen
zu entfalten, nachgekommen ist, wird er in seiner Eigenschaft als Zwangsanstalt
überflüssig, sofern er nicht bloß unter diesem Vorwand als Instrument zur Durchsetzung
anderweitiger Interessen eingesetzt wurde.610
In ähnlicher, allerdings weniger univer-
salistischer Ausrichtung findet sich die von Fichte propagierte Vorstellung eines
kollektiven Staatsindividuums, das die gleichzeitige Verkörperung holistischen und
600 Vgl. zur Diskussion um den „totalitären“ Fichte: Saage, Nachwort, 372-387. Saage spricht sich gegen
diese Vereinfachung aus, indem er sich auf die Ambivalenz im politischen Denken Fichtes beruft (aaO.,
387-392). Vertreter der Totalitarismus-These sind z.B. Hahn, Staat; Schottky, Untersuchungen; Talmon,
Messianismus und Willms, Freiheit. Besonders von Anhängern der Frankfurter Schule wie z.B. von Zwi
Batscha wird dies als unberechtigter Vorwurf benannt. Auch Carl Joachim Friedrich steht einer
rückwärtsgewandten Verlängerung totalitärer Ideologie aufgrund der Qualitätsdifferenz der verglichenen
Gedankensysteme insgesamt skeptisch gegenüber, bekundet aber gleichzeitig die geschichtlichen
Wurzeln der totalitären Ideologie bei Marx, Hegel, Nietzsche, Hobbes, Kant, Rousseau, Plato, Aristoteles,
Augustin, Luther und Calvin (ders., Diktatur, 32-35). 601
Vgl. Fenske, Denken, 426.602
Vgl. Becker, Freiheit, 20 f.603
Vgl. Willmann, Geschichte, 402.604
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 303 f.605
Vgl. Zippelius, Geschichte, 154-158; zu Fichtes Staatslehre: Berber, Staatsideal, 383-388; Stadler,
Freiheit, 373-427. 606
Vgl. Fichte, Schriften, 59-167.607
Vgl. zum Weg vom Sozialstaat zum Totalstaat: Braun, Freiheit, 26-47 mit einer Stellensammlung aus
Fichtes Werken, mit der die Autorin die „Gleichschaltung der Bürger“ skizziert (aaO., 44-47).608
Vgl. Quesel, Emanzipation, 92 f.609
Vgl. Batscha, Einleitung, 20 f.610
Vgl. Batscha, Gesellschaft, 34; 172.
92
individualistischen Denkens darstellt und zur Vernunft erzieht, auch bei Herder.611
Die
in Anschluss an Rousseau und Locke von Fichte, dem jugendlichen Verfechter der
Französischen Revolution und Verteidiger der deutschen Nation, angestellten
Überlegungen basieren auf der Verwirklichung einer rein sittlichen Vorstellung von
Freiheit.612
Fichte transponiert den Schwerpunkt vom Individuum auf die Gesamtheit.613
Nicht dem Individuum, sondern dem Staat kommt es in paternalistischer Absicht zu, die
Autonomie des Einzelnen zu sichern und damit dessen phylogenetisches „Urrecht auf
Freiheit“ zu verbürgen.614
Der hier geschilderten Berufung Fichtes auf eine transindivi-
duelle Vernunft ist, damit die asymmetrische Tendenz seiner auf pseudohistorischer
Legitimation aufgebauten Idee einer nationalen Kulturgemeinschaft verdeutlicht sei, die
Unterwerfung jeglichen Handelns unter die Gemeinschaft inhärent.615
In seinen Reden an die deutsche Nation616
vertritt Fichte mit einem herausgehobenen
Sendungsbewusstsein die Idee, dass Freiheit etwas spezifisch Deutsches sei. Jeder, der
an Freiheit und Fortschritt glaube, sei, argumentiert er, indem er auf die Errichtung einer
Kognitionsgemeinschaft abzielt, im Geiste ein Deutscher.617
Die Vorstellung des Staates
und des Deutschtums werden von ihm, ähnlich zu Arndt, miteinander verschmolzen.618
In der ersten der insgesamt vierzehn Reden propagiert Fichte mit der durch den Staat zu
vollbringenden „Erziehung der Nation“ das „Rettungsmittel“, um „die deutsche Nation
am Dasein zu erhalten“.619
Spezifische Nationalcharakteristika der Deutschen, die sie
vor den anderen germanischen Völkern auszeichneten, seien die Geistesbildung, das
sich daraus ergebende Eingreifen der Geistesbildung in das Leben, Ernst und Fleiß
sowie die Tatsache, ein besonders bildsames Volk zu sein.620
Freiheit ist in diesem
Zusammenhang also vor allem eine mentale Qualität, die auf der übergeordneten Ebene
des Volkes angesiedelt ist.621
„Unterordnung des persönlichen Selbst unter das Ganze“
ist der von Fichte vorgegebene, hierzu komplementäre Weg zur Erlangung der
Sittlichkeit.622
In dem nationalkollektiven Formationsprozess kommt dem Staat die
611 Vgl. Dumont, Individualismus, 133.
612 Vgl. Sell, Tragödie, 33 f.
613 Vgl. Batscha, Theorie, 85.
614 Vgl. Batscha, Einleitung, 35.
615 Vgl. Braun, Freiheit, 86.
616 Vgl. Fichte, Reden.
617 Vgl. Sell, Tragödie, 61.
618 Vgl. Cassirer, Freiheit, 366.
619 Fichte, Reden, 12 (1. Rede).
620 Vgl. ebd., 59 (4. Rede).
621 Vgl. ebd., 109 (8. Rede).
622 Fichte, ebd., 137 (10. Rede). Fichte spricht fernerhin davon, dass es eine Unterordnung des Einzelnen
unter das Ganze gebe, die nicht gefordert sei, sondern nur freiwillig geleistet werden könne, um durch die
eigene Aufopferung den Wohlstand desselben zu steigern (aaO., 138).
93
Funktion einer dem positiven Freiheitsideal nachstrebenden „Pflanzschule“ der
Erziehung zu.623
Um der edukativen Vorgabe mit gebührender Ernsthaftigkeit nach-
kommen zu können, müsse, so Fichte in der Akzentuierung vehementer Maßnahmen,
ein staatlicher Zwang zu „vollendeter Erziehung“ aufgerichtet werden, der „die ganze
persönliche Freiheit zurückgibt und gar keine andern denn die heilbringenden Folgen
haben kann.“624
Kritik an den autoritativ geprägten Auffassungen wurde von
verschiedener Seite wegen deren Idealismus, Innerlichkeit, Abstraktheit, Praxis-
abstinenz und wegen deren totalitären Potenzials geübt.625
Der „absolute Staat“, den
Fichte konstituiert sehen möchte, stellt für ihn das Mittel dar, das alles Individuelle auf
das Leben der Gattung ausrichtet und beide sozialen Existenzweisen in einem
synthetisierenden Prozess miteinander amalgamiert.626
Fichtes Denken wurde, um auf die langanhaltende Prägewirkung der Fichteschen
Staats- und Freiheitsidee zu verweisen, hauptsächlich von sozialkonservativen Kräften
wie Robert von Mohl, Friedrich Julius Stahl, Lorenz vom Stein, Gustav Schmoller und
Wilhelm Stapel dienstbar gemacht, was eine äußerst einseitige Rezeption zur Folge
hatte.627
Letzterer bescheinigt aus der Sicht eines mit der Weimarer Reichsverfassung
unzufriedenen Autors des Jahres 1928, Fichte habe „das Idealbild eines Staatswesens zu
zeichnen“ versucht, und habe daher eine Art Demokratie entworfen, „die sich bis in die
innerste Gesinnung von dem unterscheidet, was heute als Demokratie bei uns eingeführt
ist.“628
Im Dritten Reich wurde Fichtes Freiheitsauffassung instrumentalisiert, um den
völkischen Aspekt in den Vordergrund zu stellen. Die Freiheit eines Volkes, schreibt
Heinz Linden 1939 über das Wesen der Freiheit bei Fichte, bestehe „nicht nur darin, frei
zu sein von fremdem Zwange, sondern frei zu sein, zu der höheren Bestimmung, die
jedes Volk im Weltplan erfüllt.“629
Die Literaten griffen, womit nach dem kurzen Exkurs über die Rezeption Fichtes
wieder zur Zeit der antinapoleonischen Erhebungen zurückgelenkt wird, beherzt in das
Kampfgeschehen ein. Emphatisch und mit der beständig wiederkehrenden Tendenz, den
Wert der Freiheit zu sakralisieren, dichtete Theodor Körner, der sich als Freiwilliger
zum Lützowschen Freikorps gemeldet hatte, einen Aufruf an die Freiheitskämpfer, der
auf die enge Verzahnung von nationalem und freiheitlichem Anliegen verweist:
623 Ebd., 146-160; hier: 148 (11. Rede).
624 Ebd., 154 (11. Rede).
625 Vgl. Becker, Freiheit, 40-52.
626 Cassirer, Freiheit, 362.
627 Vgl. Trautmann, Herausforderung, 41 f.
628 Stapel, Fiktionen, 47.
629 Linden, Freiheit, 6.
94
„Frisch auf, mein Volk! – Die Flammenzeichen rauchen, / Hell aus dem Norden
bricht der Freiheit Licht. / Du sollst den Stahl in Feindes Herzen tauchen, / Frisch
auf mein Volk! – Die Flammenzeichen rauchen, / Die Saat ist reif, ihr Schnitter,
zaudert nicht! / Das höchste Heil, das letzte liegt im Schwerte! / Drück dir den
Speer ins treue Herz hinein, / Der Freiheit eine Gasse! – Wasch die Erde, / Dein
deutsches Land mit deinem Blute rein.“630
Zum Rückzug der vereinigten Armee über die Elbe schrieb Körner einen letzten Trost,
der die Alternativen der Soldaten klar vor Augen hält und sie martialisch zum bedin-
gungslosen Kampf für Freiheit und Vaterland anspornt:
„Woll’n nicht vom Rechte lassen, / Die Freiheit retten, das Vaterland, / Oder
freudig sterben, das Schwert in der Hand, / Und Knechtschaft und Wüt’riche
hassen. // Das Leben gilt nichts, wo die Freiheit fällt. / Was gibt uns die weite,
unendliche Welt / Für des Vaterlandes heiligen Boden? – / Frei woll’n wir das
Vaterland wieder sehn / Oder frei zu den glücklichen Vätern gehen, / Ja, glücklich
und frei sind die Toten.“631
Dieser Einblick in die mit viel Pathos daherkommende Dichtung Körners, die dazu
aufruft, für die Freiheit ins Feld zu ziehen, könnte mit zahlreichen Beispielen weiterer
Kollegen des während der Befreiungskriegs gefallenen Dichters belegt werden. Der
rhetorische Kampf gilt, um die dabei vorrangig verwendete Argumentationsfigur
theoretisch in Hinblick auf den in ihm verwendeten Freiheitsbegriff zu reflektieren,
immer der äußeren Freiheit des Nationalstaates, des prospektiv zu konstituierenden
Kollektivs, nur selten wird dahingegen die Frage nach der individuellen Freiheit aufge-
worfen. Eine Ausnahme bildet hier lediglich Heinrich Heine, der einen idealistisch
geprägten Bildungsindividualismus verficht, welcher jedoch auf wenig Verständnis bei
seinen Zeitgenossen stieß.632
Nicht nur auf dem philosophischen und literarischen Schlachtfeld wurde – wie
Körners wort- und tatkräftiger Einsatz belegt – für die „deutsche Freiheit“ gekämpft.
Auch die Staatswissenschaft entwickelte sich zu einem Bereich argumentativen
Abwehrkampfs. So unternimmt der Staatsrechtsgelehrte Adam Heinrich Müller in
seinen 1809 unter dem Titel Die Elemente der Staatskunst633
herausgegebenen Dresdner
Vorlesungen den Versuch, durch ein dynamisches Organismusmodell das Problem des
Kollektivs in seiner Totalität zu lösen,634
um damit zugleich die umfassende Aufhebung
aller Individualprobleme herbeizuführen.635
Müller wendet sich explizit gegen den
630 Theodor Körner, Aufruf, zit. nach: Donath/Markov (Hgg.), Kampf, 282.
631 Theodor Körner, Letzter Trost. Beim Rückzug der vereinigten Heere über die Elbe, zit. nach:
Donath/Markov (Hgg.), Kampf, 364.632
Vgl. Betz, Prosa, 22 f.; Sell, Tragödie, 69.633
Müller, Elemente.634
Vgl. zum Topos der Totalität bei Müller: Müller-Schmid, Adam Müller, 125 f.635
Vgl. Landry, Elemente.
95
seiner Meinung nach seit der Französischen Revolution toten „Begriff der Freiheit“ und
setz ihm seine auf Burke zurückgreifende „Idee der Freiheit“ entgegen.636
Hiermit ist er
ein wichtiger Vertreter der politischen Romantik,637
der den Parlamentarismus wegen
seiner nicht vorhandenen Organizität ablehnt.638
In den Elementen der Staatskunst unterbreitet Müller eine naturtheoretisch-
organische Herleitung des Staates, die in ihrem Wachstums- beziehungsweise
Entwicklungsgedanken typisch für romantische und naturtheoretische Organismus-
vorstellungen ist,639
und skizziert mit seiner Schrift die Grundlinien einer ganzheitlichen
Staatslehre.640
Im Staat kulminiere das gesamte innere und äußere Leben einer Nation,
um die Worte Müllers aufzugreifen, zu einem „einheitlichen, großen, energischen,
unendlich bewegten und lebendigen Ganzen“.641
Auch den Freiheitsbegriff integriert
Müller in sein Vorstellungssystem.642
Der allgemeine Begriff der Freiheit sei, womit er
auf die Komplementarität des Deutungsmusters hinweist,
„die Erzeugerin, die Mutter des Gesetzes. In dem tausendfältigen Streite der
Freiheit des einen Bürgers mit der Gegenfreiheit aller übrigen entwickelt sich das
Gesetz; in dem Streite des bestehenden Gesetzes, worin sich die Freiheit der
vergangenen Generation offenbart, mit der Freiheit der gegenwärtigen, reinigt sich
und wächst die Idee des Gesetzes. Die Idee der Freiheit ist die große, nie
nachlassende Centrifugal-Kraft der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch die andere
ihr ewig entgegen stehende Centripetal-Kraft derselben, nehmlich die Idee des
Rechtes, erst wirksam wird.“643
Dieser Gegenstreit wirke sich bei zunehmender Intensität auf die Lebendigkeit des
Gesetzes und der sich daraus ableitenden Ordnung aus.644
Den konservativen Topos
einer der Gleichheit widerstrebenden Freiheit hat Müller wesentlich mitgeprägt. In
seiner Argumentation spricht er sich für die Denkfigur der „Eigentümlichkeit“ aus, was
eine produktive Gedankengrundlage für die Herausbildung einer den deutschen
Freiheitsdiskurs späterhin mitbestimmenden sowie kollektivcharakteristisch fundierten,
636 Müller, Idee, 19 f. Müller steht in seinem Denken in der Nachfolge Edmund Burkes, auf den er sich als
Person bezieht, die das ganze Gewicht seines Herzen und seiner Beredsamkeit zur Ehre der Freiheitsidee
eingesetzt habe (aaO, 19). Der ideengeschichtliche Einfluss des politischen Denkens der Romantiker auf
die Ausgestaltung der Revolution von 1848 ist ein weitgehendes Forschungsdesiderat (vgl. Stammen,
Romantik, bes. 40 f.).637
Vgl. Schildt, Konservatismus, 47 f. Zur Verhältnisbestimmung zur deutschen Romantik: Aris,
Staatslehre; Kluckhohn, Ideengut, 79-86.638
Vgl. Durner, Antiparlamentarismus, 20-22.639
Vgl. Böckenförde, Staat, 269 f.640
Vgl. Müller-Schmid, Adam Müller, 117-123.641
Vgl. Müller, Elemente, 51.642
Vgl. zu Müllers Staatsauffassung, die sich aus seinen Reflexionen über Gesellschaft, Wirtschaft,
Philosophie, Religion und Kunst speist: Müller-Schmid, Adam Müller.643
Müller, Elemente, 149. Besonders deutlich wird Müllers konservativ-kollektivistische Freiheits-
auffassung aus der siebten Vorlesung, die er am 10. Dezember 1808 hielt. Sie beschäftigt sich damit,
„Wie sich die Partheien zum Richter, der Contract zum Gesetze, und die Freiheit zum Rechte verhalten“.644
Vgl. ebd.
96
nationalen Sonderwegthetik bietet. Egalitäre Freiheitsvorstellungen, also die Annahme,
dass „die Freiheit nichts anderes als das allgemeine Streben der verschiedenartigsten
Naturen nach Wachsthum und Leben ist,“ lehnt Müller vehement ab, denn man könne
sich „keinen größeren Widerspruch ausdenken, als indem man, mit Einführung der Frei-
heit zugleich, die ganze Eigenthümlichkeit, d.h. Verschiedenartigkeit, dieser Naturen
aufhebt.“645
Bemerkenswert ist die Entstehung der freiheitskritischen Gedanken innerhalb der
patriotisch-begeisterten Befreiungskriegsstimmung. Sie wurzelt in den theologischen
Grundlagen des Müllerschen Denkens. Erst die „weiseste Fügung Gottes“ macht Müller
zufolge den Menschen zum Gemeinschaftswesen.646
„Der Hauptgebrauch, den er von
seiner Freiheit machen kann, und das einzige Mittel, sie zu stärken und zu erweitern,
ist,“ merkt der Staatsrechtler daher zu seiner asymmetrischen Freiheitsvorstellung an,
„daß er sich unterordne, füge, diene, Glied eines größeren oder eines anderen Staates
werde – kurz, der Gehorsam“.647
Zu der Asymmetrie der Argumentation innerhalb des
Deutungsmusters tritt häufig eine antithetische, auf Gemeinschaftskonstituierung
ausgelegte Haltung gegenüber als feindlich wahrgenommenen Nationen hinzu, die sich
ebenfalls im Freiheitsbegriff widerspiegelt.
Als fanatische Anhängerin der Freiheitskämpfer entpuppt sich die aufgrund ihrer
Novelle Die Judenbuche mit dem Nachruhm der Toleranz ausgestattete Annette von
Droste-Hülshoff. In zeittypischem Franzosenhass spricht sie in Zukunftshoffnung über
Das befreite Deutschland: „Blutend floh vor euch das Räuberheer, / Freiheit kehrt zum
Vaterherde, / Und kein Frankenfußschritt schändet mehr / unsre heil’ge deutsche
Erde!“648
In diesem Gedicht zeigt sich einmal mehr die Verquickung des Freiheits-
strebens mit der Abwehr äußerer Unterdrückung durch Fremdherrschaft. Sie bildet im
Diskurs um die „deutsche Freiheit“ eine Konstante. Antiwestliche, in diesem Fall
antifranzösische Ressentiments sind ein weiteres konstitutives Element, zu dem die
antidemokratische Ausrichtung hinzutritt.
Ueber teutsche Freiheit erschien 1814 eine anonyme Denkschrift, die „Teutschlands
gerechten Fürsten gewidmet“ war.649
Nach dem Sieg gegen die napoleonischen
645 Ebd., 151. Müller bemerkt, dass „alle diese gerupften, der ganzen, stolzen, eigenthümlichen
Bekleidung ihres Lebens beraubten, Creaturen“ einander „an Ohnmacht und sklavischer Gesinnung“
glichen (ebd.). 646
Müller, Nothwendigkeit, 45.647
Ebd.648
Annette von Droste-Hülshoff, Das befreite Deutschland, zit. nach: Boberach/Hartkopf/Koops u.a.
(Hgg.), 38. Vgl. zur Stellung der Aussagen im Werk der Droste, Morgan, Annette von Droste-Hülshoff,
27 f. 649
N.N., Freiheit.
97
Belagerer, der unter dem Leitspruch „Fürst, Freiheit und Vaterland“650
stand, beschwört
der namentlich nicht in Erscheinung tretende Autor mit Emphase die „Morgenröthe
einer neuen Zeit“ herauf. „Ja! wir sind frei!“ verkündet der Anonymus voller Stolz auf
den errungenen Sieg und die Restitution der alten Ordnung, „Denn wir haben frei das
Vaterland, haben frei gemacht die unterjochten Brüder, und haben mit den jenseits des
Rheins die von dem Eroberer entfesselten Armeen umgepflügten alten Grenzsteine
wieder aufgerichtet, und haben mächtige Gottheiten uns wieder befreundet, die lange
von uns ihr Antlitz abgewendet haben.“651
Die äußere „Freiheit von dem Joche der
Feinde“ wird gepriesen, da die Selbständigkeit und Vollständigkeit des Staates als
Bedingung und notwendige Voraussetzung allen Glücks jedes menschlich würdigen
Daseins unerlässlich sei.652
Das problematische Verhältnis zu der Regierungsform der
Demokratie steht im Mittelpunkt der Betrachtungen, die – in Opposition zu dem
Konstrukt einer französischen Nationalfreiheit – von einem dem Charakter der
Deutschen eigentümlichen Freiheitsverständnis ausgeht:
„Die Freiheit, welche der Teutsche sein Eigen nennt, ist nicht die Freiheit des
Demokraten, welche feindselig den Thronen blos da gefunden werden soll, wo das
Volk allein mit einer idealen Souverainetät und Majestät bekleidet ist. Noch
weniger hat die teutsche Freiheit gemein mit jener neufränkischen, welche mit
Anarchie und Pöbelherrschaft gleichbedeutend, Alles von Allen, mithin auch vom
Gesetze frei macht, und unter deren Herrschaft nichts frei ist, als die Gewalt und
das frevelnde Unrecht.“653
Der Anonymus spricht dem deutschen Volk eine vergleichsweise überdurchschnittlich
hohe Moralität zu, weshalb es anders als die Gesellschaften der meisten umliegenden
Handelsstaaten auch keine republikanisch-demokratische Freiheit vertrage. Nur jene
Freiheit – führt die Schrift Ueber teutsche Freiheit aus – „welche allein unter dem
heiligen Fürstenzepter gedeiht, aber auch nur in einer Staatsverfassung vorhanden ist,
wo die höchste Gewalt blos eine Macht hat, frei das Rechte zu thun, und in anerkannten,
durch Gesetze gesicherten Rechten der Nation ihre Schranken findet: – sie ist der
teutschen Völker unveräußerliches Eigenthum, das heilige Erbteil ihrer Väter.“654
„Deutsche Freiheit“ kennzeichne sich nicht durch Umstürze, sondern sei eine Form der
Freiheit, die – in Betonung monarchischer Kontinuität – mit der Tafel des Gesetzes
neben den Thronen stehe. Indem der Anonymus eine unbekannte Stimme zitiert, äußert
650 Ebd., 26. Dies sei das Feldgeschrei gewesen, „womit die teutschen Völker sich um ihre angestammten
Fürsten versammelten, um diesen die verlorne Krone oder die geraubte Ehre des Fürstenthrones wieder zu
erobern.“651
Ebd., 1.652
Ebd., 2 f.653
Ebd., 8.654
Ebd.
98
er sich über weit verbreitete Ordnungsvorstellungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die
gemeinschaftlich orientiert sind und auf ständischen Ordnungsmustern basieren. Fürsten
und Völker, Hohe und Niedrige, gelangt der sozialstratifikatorisch-asymmetrische
Aspekt des Deutungsmusters zur Geltung, hätten „in schöner Gemeinschaft und durch
diese schöne Gemeinschaft das herrliche mit Gott begonnene und von Gott gesegnete
Werk vollführt [...], auf daß kein Stand und kein Geschlecht über dem anderen sich
ungebührlich erhebe und durch verwerfliche Äußerungen die Segnungen, welche Alle
errungen und Allen gebühren, sich über Recht aneigne.“655
Für die Konturierung des
Vorstellungszusammenhangs „deutsche Freiheit“ erweist sich die Epoche der anti-
napoleonischen Kriege als prägend, da in ihr eine Vielzahl von Komponenten – vor
allem die antithetische und die asymmetrische – des Deutungsmusters mitbedingt durch
die Kriegssituation und die Auseinandersetzung mit Napoleon an argumentatorischer
Schärfe und öffentlicher Präsenz gewannen, und sich hierdurch auf langfristige Sicht,
nicht zuletzt auch durch eingängige Gedichtverse, in das kollektive Gedächtnis
einprägten. Als letzte Illustration hierfür sei das von Max von Schenkendorf 1815
geschaffene Gedicht mit dem vielzitierten Titel Freiheit, die ich meine, angeführt.656
Freiheit wird dort als ein „süßes Engelsbild“ präsentiert, was eindeutig auf den positiv
besetzen Charakter des semantischen Begriffspotenzials verweist. Dass die Freiheit – es
ist selbstverständlich eine national gebundene gemeint – endlich in der Welt Einzug
halten solle, ist die vom Gedicht genährte Zukunftshoffnung, die sich aus dem Erfolg
der antinapoleonischen Bewegung speist. Die letzte Strophe bringt die in den
Befreiungskriegen kultivierte Vorstellung einer engen, phylogenetisch bedingten
Verbindung der Freiheit mit einem gedachten deutschen Sondercharakter zum
Ausdruck: „Freiheit, holdes Wesen, / Gläubig, kühn und zart, / Hast ja lang erlesen / Dir
die deutsche Art.“657
655 Ebd., 46.
656 Max von Schenkendorf, Freiheit, zit. nach: Conrady (Hg.), Gedichtbuch, 378.
657 Ebd.
99
4.1.5 Patriotisierung des Deutungsmusters während des Zeitalters der
Restauration – „Ehre, Freiheit, Vaterland“
In zahlreichen Memorialfeiern wurde nach dem Ende der kriegerischen Auseinan-
dersetzungen den „für die deutsche Freiheit Gefallenen“ gedacht.658
Der Freiheitsbegriff
der im Krieg Aktiven blieb relativ einseitig auf den nationalen Kontext beschränkt und
wirkte fort. Ein Tübinger Burschenschaftler trug beispielsweise 1817 in sein Stamm-
buch einen Vierzeiler ein, der die in der beginnenden Restaurationszeit vorherrschenden
Vorstellungen deutschnational gesinnter Studenten prägnant zusammenfasst: „Deutsche
Freiheit, deutscher Gott, / Deutscher Glaube, ohne Spott, / Deutsches Herz und
deutscher Stahl / Sind vier Helden allzumal.“659
An der Frage nach der Höherwertigkeit beziehungsweise der Realisierungs-
reihenfolge der miteinander verwobenen, dennoch konkurrierenden Ideale von Freiheit
und Einheit entzündeten sich im Nachgang der Befreiungskriege bald neue
Uneinigkeiten. Die allgemeine Erschöpfung durch den Kriegszustand trug zu einer
Revolutionsmüdigkeit bei, die sich auch im Übergang vieler liberaler Intellektueller zu
romantischem Gedankengut widerspiegelt.660
Nach dem Ende der napoleonischen
Herrschaft kam es nicht, wie progressive Kräfte dies ersehnt hatten, zur Beseitigung des
alten Regimes, sondern wurde im Gefolge des Wiener Kongresses der Grundstein dafür
gelegt, dass sich – nicht in revolutionären Erhebungen, sondern in evolutionären
Modifikationen – die konstitutionelle Monarchie als Regierungsform zunehmend in den
Einzelstaaten und ab 1871 dann auch auf der Ebene des Deutschen Reichs
durchzusetzen vermochte.661
Als einigendes Band und wesentlicher Akteur im
nationalen Spannungsverhältnis von Einheit und Freiheit entstand in Wien der Deutsche
Bund.662
Artikel XIII der Bundesakte663
bestimmte: „In allen Bundesstaaten wird eine
landständische Verfassung statt finden.“664
Die Verfassung des deutschen Bundes, die
seit 1815 die Einzelstaaten politisch miteinander verknüpfte, enttäuschte die
Erwartungen der Reformer, weshalb Liberale wie Dahlmann in der konstitutionellen
658 Vgl. z.B.: Nebe, Gedächtnisfeier; Rosenmüller, Predigt.
659 Zit. nach: Klose, Freiheit, 142.
660 Vgl. Schildt, Konservatismus, 49 f.
661 Vgl. Vorländer, Tradition, 103.
662 Vgl. Winkler, Weg., Bd. 1, 71. Vgl. zur Struktur des Bundes: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1,
475-820.663
Vgl. für den Text: Deutsche Bundesakte (1815), in: Blanke (Hg.) Verfassungen, 61-69.664
Zit. nach: Ebd., 65.
100
Monarchie und der engen Verzahnung von Fürst und Volk die beste Bürgschaft für eine
stabile Ordnung und damit auch für die Freiheit sahen.665
Alexander Abusch, ein Vertreter der so genannten Misere-Theorie,666
kommentierte
den verebbten Schwung der Befreiungskriege aus dem Jahr 1946 zurückblickend mit
den Worten: „Die Völker Deutschlands waren von Napoleon befreit, doch die Freiheit
war nicht auf die deutsche Erde gekommen.“667
Im Jahr 1870 sah man das noch anders:
Nach den Befreiungskriegen sei im Innern von Deutschland „das constitutionelle
Princip [...] als der Hort deutscher Freiheit anerkannt und dem deutschen Volk als Lohn
und Preis für seinen Opfermut“ zuerkannt worden.668
Vor allem im süddeutschen Raum kam es nach 1815, um den Faden der Konstitu-
tionalisierungswelle weiter zu flechten, zu der Verabschiedung von Verfassungen oder
konstitutionellen Statuten.669
Der Kleinstaat Nassau war im Jahr 1814 der erste, der sich
eine Verfassung gab.670
Insbesondere Bayern im Mai 1818, Baden im August desselben
Jahres und Württemberg im September 1819 sind hervorzuheben, da die Staaten
aufgrund ihrer Größe und Bedeutung durch Verfassungen mit dualistischer Anlage als
Vorbilder wirkten.671
Im Kompromiss zwischen alter, privilegiengestützter Ordnung
und den neuen konstitutionellen Prinzipien fanden verschiedentlich Grundrechts-
kataloge in die Verfassungen Aufnahme, die dem Individuum eine eng umgrenzte
665 Vgl. Fenske, Denken, 399. Zu Dahlmann um 1815: Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann, 330 f.
666 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 46-49.
667 Abusch, Irrwege, 80. Ihm zufolge sollte erst 1848 im Zusammenhang mit der nach dem Scheitern der
Ereignisse von 1848/49 einsetzenden Konstitutionsgebung durch Friedrich Wilhelm IV. „die Freiheit aus
dem ‚Reich der Träume’ auf die deutsche Erde“ heruntergeholt werden (aaO., 88).668
Die deutsche Christliche Freiheit, 6.669
Vgl. zum Frühkonstitutionalismus: Weber-Fas, Verfassung, 35-43; Siehe auch die Auflistung von:
Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 46 f.: „Von den 41 Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes
(1815) erhalten bis zur Revolution von 1848 23 Staaten neue Verfassungen: Nassau (01./02.09. 1814) –
Schwarzburg-Rudolstadt (08.01. 1816) – Schaumburg-Lippe (15.01. 1816) – Waldeck (19.04. 1816) –
Sachsen-Weimar-Eisenach (05.05. 1816) – Sachsen Hildburghausen (19.03. 1818) – Bayern (26.05.
1818) – Baden (22.08. 1818) – Liechtenstein (09.11. 1818) – Württemberg (15.09. 1819) – Hannover
(07.12. 1819, geändert 26.09. 1833, aufgehoben 01.11. 1837, neue Verfassung 06. 08. 1840) –
Braunschweig (15. 04. 1820, geändert 12.10. 1832) – Hessen-Darmstadt (17.02. 1820) – Sachsen-Coburg
(08.08. 1821) – Sachsen-Meiningen (04.09. 1824). Nach der Revolution von 1830 folgen Kurhessen
(05.01. 1831) – Sachsen-Altenburg (29.04. 1831) – Holsten (28.05. 1831) – Sachsen (04.09. 1831) –
Hohenzollern-Sigmaringen (11.07. 1833) – Lippe (06.07. 1836) – Schwarzburg-Sondershausen (24.09.
1841) – Luxemburg (12.10.1841). Ständische Stadtverfassungen, die unter der napoleonischen Herrschaft
aufgehoben waren, werden wiederhergestellt in Lübeck (19.03. 1813) – Hamburg (27.05. 1814) – Bremen
(20.03. 1816-11.12. 1818) – Frankfurt (19.07.-18.10. 1816). Ohne landständische Verfassungen bleiben
bis 1848 Österreich (aber die einzelnen Länder der Monarchie erhalten Landtage) – Preußen – Oldenburg
– Hessen Homburg. Ständische Verfassungen, die den längst überwundenen Zuständen im alten Reich
entsprechen, bleiben mit gewissen Veränderungen erhalten in drei Anhaltinischen Staaten (1625) – den
Reußischen Staaten (1668) – Mecklenburg-Schwerin (1755) – Mecklenburg-Strelitz (1755) –
Hohenzollern-Hechingen (1796).“670
Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 46; Sell, Tragödie, 74, hingegen setzt Schaumburg
Lippe im Jahr 1816 als ersten Kleinstaat an. Doch selbst wenn er ihn erst nach 1815 ansetzt, ging
Schwarzburg-Rudolstadt noch voran.671
Vgl. Krieger, Ideal, 229. Vgl. zu den Verfassungen auch: Krieger, aaO., 231-261.
101
staatsfreie Sphäre zugestanden.672
Vor allem im Südwesten wurde der Prozess der
Verfassunggebung von einer regen Diskussion begleitet, in der progressive Kräfte
gemeinsam mit konservativen eine weitgehende Oppositionshaltung gegenüber den
Konstitutionen einnahmen.673
Erstere stießen sich an den Verfassungen, da sie als
Oktroye daherkamen, letztere, da sie sich ihrer Privilegien beraubt sahen.674
Die Generation, die von den Wiener Beschlüssen des Jahres 1815, vor allem von der
Initiative der antiliberal ausgerichteten Heiligen Allianz, enttäuscht war,675
setzte sich
nun, unter anderen Vorzeichen, erneut für eine sittliche Rechtfertigung der politischen
Ordnung auf national-freiheitlicher Basis ein.676
In Eisenach trafen sich zum Gedenken
an die 300. Jährung der Reformation und zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei
Leipzig ungefähr 500 Burschenschaftsvertreter, die patriotische und freiheitliche Reden
hörten.677
Zum Abschluss der Kundgebungen, die an die Verfassungsversprechen
erinnerten und die Einheit Deutschlands forderten, fand eine Verbrennung unliebsamer
Schriften statt.
Heinrich Hermann Riemann, Anhänger der 1815 in Jena unter dem Wahlspruch
„Ehre, Freiheit, Vaterland“ begonnenen Burschenschaftsbewegung,678
resümierte auf
dem Wartburgfest 1817 die Entwicklungen der napoleonischen Herrschaft und der
Befreiungskriege aus der Sicht eines Patrioten und kündigte Redebeiträge an, die
getragen seien „von dem Gedanken an Freiheit und Vaterland“.679
Der Theologiestudent
Riemann vermutet in den reaktionären Ereignissen der Jahre 1815 bis 1817 und der
dadurch verhinderten Nationalstaatsgründung eine Strafe Gottes, da das deutsche Volk
„die ewigen Gesetze, den Völkern von der Vorsehung weise vorgeschrieben, nicht
befolgt“ und „Volkstümlichkeit und des Vaterlands Einigkeit“ verachtet habe:680
„Sie [i.e. die Strafe Gottes] kam über uns durch den Arm des welschen Volks, das,
anfangs zur Freude der Welt, der Freiheit Fackel entzündend, bald der frühern
Schwüre, nur für des eignen Herdes Sicherheit und Unabhängigkeit zu kämpfen,
uneingedenk ward, und einer schändlichen Raub- und Herrschsucht Raum gab.
Auch wir wurden geknechtet und seufzten Jahre lang in schmählichen Ketten. Da
allmählich ward die Sehnsucht rege nach der verloren gegangenen Freiheit, nach
der Herstellung des zertretenen Vaterlandes; bald ward sie laut und Alles rief nach
672 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 347.
673 Vgl. ebd., 273.
674 Vgl. Kaschuba, Nation, 92 f.
675 Vgl. Schildt, Konservatismus, 50 f.
676Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 278 f.
677 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 73.
678 Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 48.
679 Heinrich Hermann Riemann, Rede auf dem Wartburgfest 1817, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1,
123-129; hier: 129.680
Ebd., 126.
102
einem Retter. Endlich loderte uns die Flamme der Freiheit empor, in dem Brande
Moskau’s; wir verstanden die Stimme Gottes und folgten ihr.“681
Im abschließenden Gebet erhofft sich Riemann, Gott möge auf das deutsche Vaterland
herabschauen und es in Freiheit und Gerechtigkeit gedeihen lassen. Freiheit wird in
diesem Verständnis als göttliches Gnadengeschenk betrachtet, die Nation, die sich
durch Abgrenzung gegenüber Frankreich definiert, zum gleichwertigen Komplement
erhoben.
4.1.6 Der frühe Vormärz bis zum Ende der 30er-Jahre – „Strahlen der
Morgenröte deutscher Freiheit“
In den Schriften des Vormärz erscheint der Staat häufig als Schutzeinrichtung zur
Abwehr sozialer Ungleichgewichte, was sich darin niederschlägt, dass Freiheits-
einschränkungen und Staatseingriffe offensiv zur Behebung sozialer Missstände
eingefordert wurden.682
So trat beispielsweise Robert von Mohl dafür ein, unter
Umständen das Eheschließungsrecht zu beschränken, um eine bessere Kontrolle über
die Bevölkerungsentwicklung zu erlangen, oder liberale Berliner Stadträte verlangten
nach der Einschränkung der Freizügigkeit innerhalb ihrer Stadt, um abzuwenden, dass
durch den Zuzug armer Bevölkerungsschichten weitere soziale Schieflagen ent-
stünden.683
Die liberale Bewegung dieser Jahre wurde zum größten Teil von Universitätspro-
fessoren getragen, die freiheitliche Deutungsmuster an ihre Studenten weiterver-
mittelten.684
Universitätsabsolventen sollten, um die prägende Kraft der dem
akademischen Diskurs entstammenden Argumentationsfiguren zu verdeutlichen, auch
in der Nationalversammlung von Frankfurt die entscheidende Rolle spielen und das
Gesicht und die Perzeption des deutschen Liberalismus wie seines Freiheitsbegriffs auf
lange Zeit prägen.685
Zugleich muss betont werden, dass die ungleichgewichtige
681 Ebd.
682 Vgl. Sheehan, Liberalismus, 218; 223.
683 Vgl. ebd., 218.
684 Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 231. Zu nennen wären v.a. Rotteck, Welcker, von Gagern, J. Grimm,
Stockmar, Rümelin, R. Mohl und Gervinius. 685
Vgl. Sheehan, Liberalismus, 209-211. 80% der Parlamentsangehörigen der Frankfurter
Paulskirchenversammlung verfügten über eine Universitätsbildung. Verwaltungsbeamte, Lehrer,
Justizbeamte und Rechtsanwälte machten das Gros der Abgeordneten aus. Vgl. auch die Tabelle zur
beruflichen Zusammensetzung der Frankfurter Nationalversammlung in: Müller, Revolution, 87. Von den
812 Abgeordneten waren ca. 600 Akademiker.
103
Zusammensetzung auf hohe Akzeptanz in der Bevölkerung stieß,686
vor allem was ein
gewisses Expertendenken und die Achtung vor der staatlichen Hierarchie anbelangte.
Dennoch entwickelte sich der Liberalismus dieser Zeit zum wichtigsten Träger der
Verfassungsreformbewegung.687
Der Wunsch, einen einheitlichen Nationalstaat zu konstituieren, förderte allerdings
nationalistische Tendenzen, die sich zusehends vor den Freiheitsgedanken schoben.
Karl Ludwig von Sand, der zu den Besuchern des Wartburgfestes gehört hatte,
ermordete, angestachelt durch die weit reichende Propaganda, am 23. März 1819 in
Mannheim August von Kotzebue. Sand wurde hierfür auf dem Mannheimer Marktplatz
hingerichtet; als Reaktion auf das Attentat wurden die maßgeblich von Metternich
initiierten Karlsbader Beschlüsse in Kraft gesetzt, die mit repressiven Mitteln gegen die
so genannten Demagogen vorgingen.688
Die auf ihnen ruhende Universitätsgesetz-
gebung des Deutschen Bundes wurde erst im Jahr der Märzrevolution aufgehoben.689
Eine Polarisierung, die sich anhand der Konfliktlinie Einheit – Freiheit auftat, zeichnete
sich ab.
So bemerkte Heinrich Heine gegen Ende der 20er-Jahre eine Veränderung der
gesamtgesellschaftlichen Atmosphäre, indem er konstatiert, es sei eine neue Religion
der Armen im Begriff sich zu entwickeln.690
Angeregt durch eine Reise nach England691
setzte er sich mit der heraufkommenden Industriegesellschaft und deren Folge-
wirkungen auseinander692
und stellt die These auf, dass Freiheit zu einem wesentlichen
Wert der Moderne aufsteigen wird. „Alle Kraft der Menschenbrust“, erklärt der Dichter,
„wird jetzt zu Freyheitsliebe und die Freyheit ist vielleicht die Religion der neuen Zeit,
und es ist wieder eine Religion, die nicht den Reichen gepredigt wurde, sondern den
Armen und sie hat ebenfalls ihre Evangelisten, ihre Märtyrer und ihre Ischariots!“693
Der Boden für eine freiheitliche Bewegung, die sich gegen die verhängten Repressionen
erheben konnte, schien äußerlich bereitet, doch steht in der Sicht Heines der National-
charakter der Deutschen einem revolutionären Vorhaben im Weg: „Was die Deutschen
betrifft, so bedürfen sie weder der Freiheit noch der Gleichheit. Sie sind ein spekulatives
686 Vgl. Sheehan, Liberalismus, 211.
687 Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 384.
688 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 732-752.
689 Vgl. Weber-Fas, Verfassung, 25.
690 Vgl. zum Thema Freiheit als Religion bei Heine: Koßek, Begriff, 72-78.
691 Vgl. Decker, Heinrich Heine, 159-166; Hädecke, Heinrich Heine, 200-205.
692 Vgl. Hinck, Land, 185.
693 Heinrich Heine, Englische Fragmente, in: ders., Gesamtausgabe, 207-273; hier: 209. Vgl. zu den
Fragmenten: Kortländer, Heinrich Heine, 184-187.
104
Volk, Ideologen, Vor- und Nachdenker, Träumer, die nur in der Vergangenheit und der
Zukunft leben und keine Gegenwart kennen.“694
Selbst innerhalb der republikanisch ausgerichteten Linie der Freiheitstradition ist der
nationale Charakter des Freiheitsbestrebens, auf den sich Heine mit seinen Über-
legungen zum freiheitsindifferenten Nationalcharakter der Deutschen ebenfalls berief,
nicht zu übersehen, wie ein Gedicht des Schriftstellers Ferdinand Freiligrath mit einer
Gleichsetzung anschaulich zum Ausdruck bringt: „Die Freiheit ist die Nation! / Ist aller
gleich Gebieten! / Die Freiheit ist die Auktion / Von dreißig Fürstenhüten! / Die Freiheit
ist die Republik! / Und abermals: die Republik!“695
Infolge seiner politischen
Einstellung verzichtete Freiligrath auf einen ihm durch Friedrich Wilhelm IV.
gewährten Ehrensold; späterhin musste er aufgrund seiner radikalen Dichtungen
emigrieren,696
was ihn – und damit ist auf die weitere Entwicklung vorausverwiesen –
nicht davon abhielt, sich im Alter zu einem begeisterten Anhänger des Feldzuges gegen
Frankreich aufzuschwingen.697
Die beginnenden 30er-Jahre allerdings standen unter dem Einfluss des französischen
Liberalismus.698
Mit der Julirevolution und deren gesamteuropäischen Ausstrahlungen,
die sich in Deutschland in einer zweiten Konstitutionalisierungswelle niederschlugen,699
kam es zu einer kurzfristigen Wende innerhalb der wertenden Reihenfolge von Freiheit
und Einheit, worin sich zugleich die diskursive und dann auch praktische Vermengung
der Konzeption einer autoritären Gesellschaft revolutionären Typs mit den Forderungen
nach liberalen Prinzipien und nationalstaatlicher Einheit zeigte.700
Der Sturz König Karl
X. und die Erhebung von Louis Philippe zum Bürgerkönig hatte europaweite
Wirkungen: So erklärte beispielsweise Belgien seine Unabhängigkeit und Polen erhob
sich gegen die zaristische Oberherrschaft. Gewaltsame Ausschreitungen fanden in
diesem Kontext auch in zahlreichen deutschen Städten wie in Braunschweig, Hannover,
694 Heinrich Heine, Englische Fragmente, in: ders., Gesamtausgabe, 207-273; hier: 211.
695 Ferdinand Freiligrath, Schwarz-Rot-Gold, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur, Nr.
13 vom 01.04. 1848, 594.696
Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 78.697
Vgl. zur literarischen Haltung Freiligraths 1870/71: Pape, Germania, 117-122.698
Vgl. zu der These vom „Eindringen des französischen Liberalismus 1830-1840“ Treitschkes vierten
Band seiner Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (1889), wo er im Vorwort bemerkt: „Um
die Geschichte der dreißiger Jahre hat sich ein vierfacher Sagenkreis gelagert. Die französisch-polnischen
und die nahe verwandten partikularistisch-liberalen Märchen geraten zwar allmählich in Vergessenheit;
die englisch-koburgische Legende aber und die Legende des Literatentums behalten einen Teil ihrer alten
Macht. Leicht ist es nicht, durch diese Fabelwelt zu einer unbefangenen, schlicht deutschen Auffassung
der Ereignisse durchzudringen.“ (Treitschke, Geschichte, VII).699
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 366 f.700
Vgl. Mommsen, Freiheit, 15.
105
Leipzig, Dresden und Hanau statt.701
In dem Kampf um die Freiheit als Menschenrecht
und Verfassungsgut profilierten sich erneut die Liberalen,702
die die Forderung „ohne
Vaterland keine Freiheit“ für eine kurze Zeitspanne durch den Satz „ohne Freiheit kein
Vaterland“ ersetzten, um im Sinne Arndts für „ein Volk, ein Vaterland, eine Freiheit“
einzutreten.703
Carl Theodor Welcker trat 1831, nachdem die Unruhen sich bereits wieder gelegt
hatten und die Aussichtslosigkeit der Forderungen zutage getreten war, unter Verweis
auf die süddeutschen Verfassungen für die „Vervollkommnung und organische
Entwicklung des deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher National-
einheit und staatsbürgerlicher Freiheit“704
ein.705
Ihm zufolge sollte es bei der Erlangung
dieses Doppelziels keine Rupturen geben, sondern vielmehr auf der bereits vorhandenen
konstitutionellen Basis für nationale Einheit in Verbindung mit Freiheit eingetreten
werden. In seinen Schriften spricht sich Welcker gegen eine bloß negative Bestimmung
des Freiheitsbegriffs aus,706
was mit seiner Theorie des Rechtsstaates interferiert, die
von Organismusvorstellungen und Harmoniepostulaten geprägt ist.707
Ihr liegt als
Strukturprinzip die Vertragsidee zugrunde,708
die in einer mit Bürgerrechten ausge-
statteten Verfassung konkrete Gestalt finden soll.709
Der in Bonn und Freiburg tätige
Staatsrechtslehrer Carl Theodor Welcker ließ es sich trotz der vordergründig unter-
schiedlichen Staatsauffassungen nicht nehmen, Justus Möser,710
einen wesentlichen
Ahnherrn des deutschen Konservatismus,711
in einem Artikel des von ihm gemein-
schaftlich mit Carl Wenzeslaus Rodecker von Rotteck veröffentlichten Staats-Lexikons
wegen seines Einsatzes für die „deutsche Freiheit“ zu rühmen;712
„er leuchtet uns [...]
vor“, formuliert der Liberale lobend auf den Konservativen Möser, „als tiefer Kenner
und warmer Freund ächt deutscher Freiheit.“713
Welcker war sich seiner Nähe zu
konservativen Positionen also durchaus bewusst, worin jedoch keine Ausnahme zu
701 Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 52-54.
702 Vgl. Koch, Liberalismus, 42.
703 Zit. nach: Wallenwein (Hg.), Freiheit, 6.
704 So der Titel seiner 1831 in Karlsruhe erschienenen verfassungstheoretischen Schrift (Welcker,
Vervollkommnung).705
Vgl. zu Welcker: Backes, Liberalismus, 81-84.706
Vgl. Schöttle, Freiheit, 47 f.707
Vgl. ebd., 52-57.708
Vgl. zu Welckers politischer Theorie: Schöttle, Theorien, 115-181; hier: 130-136; zu dessen
Freiheitsbegriff: Schöttle, Freiheit, 46-52.709
Vgl. Schöttle, Theorien, 137-147.710
Vgl. zu Mösers altständischem Freiheitsbegriff: Möser, Werke, Bd. 10, 67-69; zu Möser: Bäte, Justus
Möser.711
Mannheim, Konservatismus, 158, rechnet Möser dem „Urkonservatismus“ zu.712
Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 95.713
Welcker, Justus Möser, 281.
106
sehen ist, denn auch andere Akteure vertraten zu Beginn der 30er-Jahre ständisch-
organizistische Freiheitsvorstellungen. Franz von Baader etwa war „die Freiheit des
sozialen Lebens [...] sowie die des organischen Lebens überhaupt nur durch Gliederung
(subordinierende und koordinierende Korporation)“714
vorstellbar.
Mit Ludwig Börne und Heinrich Heine, um auf zwei vehemente Kritiker solcher
assimilierenden Positionen zu sprechen zu kommen, nahmen aufgrund der veränderten
Situation die exponiertesten Vertreter des so genannten Jungen Deutschland,715
das
vehement für Rede- und Gedankenfreiheit eintrat, in Paris Exil.716
Dorthin, wo „der
europäische Zeitgeist nach der Julirevolution sein Quartier aufgeschlagen“717
hatte,
mussten die beiden radikalsten literarischen Kritiker einer organischen, auf eine
evolutionäre Verwirklichung der Freiheit ausgerichteten Position fliehen.718
Die
Langsamkeit der Entwicklung in Deutschland trug maßgeblich zur Radikalisierung
nicht nur der Exilanten bei, sie schlug sich vor allem auch in vermehrter Öffentlich-
keitspräsenz der Verfechter liberaler Forderungen nieder719
Das Hambacher Fest Ende Mai 1832 bildete eine vorläufige Klimax in den
angesprochenen Freiheitsbestrebungen. Die Studentenschaft, die sich im Gleichschritt
mit den Exilanten beständig radikalisierte, gab – ein Ausblick sei erlaubt – ihren
angestauten Unmut dann im Frankfurter Wachensturm, der ein Jahr später stattfand,
handgreiflich zu erkennen.720
Freiheit und Einheit wurden von den Teilnehmern beider
Ereignisse als miteinander verwobene Ziele verstanden, zu deren Verwirklichung
allerdings unterschiedliche Strategien vorgeschlagen wurden.721
Unter der Voraus-
setzung bestimmter Bedingungen räumte man jedoch dem einen oder anderen Ziel,
meist der Einheit, vor allem für den hypothetischen Fall einer Nationalstaatsgründung,
eine Vorrangstellung ein.722
Rund um das Hambacher Schloss in der Pfalz kam es zu
einer volksfestartigen Zusammenkunft, die auch deshalb Festcharakter hatte, da
714 Franz von Baader, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den
Vermögen besitzenden Classen der Societät, in Betreff ihres Auskommens sowohl in materieller als
intellectueller Hinsicht aus dem Standpuncte des Rechts betrachtet, München 1835 zit. nach: Brandt
(Hg.), Restauration, 302-309; hier: 306.715
Vgl. zur Charakteristik des Jungen Deutschland: Koopmann, Deutschland; Windfuhr, Opposition, 331-
336. Zum Freiheitsbegriff des Jungen Deutschland: Wülfing, Schlagworte, 237-272; 310-316.716
Vgl. Eke, Einführung, 64-74; Labuhn, Literatur, 235-268; Rippmann, Börne und Heine. Vgl. zu
Heines Pariser Exil: Aufenanger, Heinrich Heine; Bech, Exil.717
Kalkschmidt, Freiheit, 26. Der Autor der 1928 erschienenen Studie Deutsche Freiheit und deutscher
Witz betont im Vorwort, er wolle dem Leser anhand eines Einblicks in die zeitgenössische Satire die
geistige Spiegelung der Kämpfe um die deutsche Freiheit im Vormärz vermitteln.718
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 373 f.719
Vgl. Sell, Tragödie, 103.720
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 369.721
Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 83.722
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 308 f.
107
politische Veranstaltungen von vornherein verboten waren. Das dort anzutreffende
Erwartungsspektrum spannte sich von der Versöhnung zwischen Fürst und Volk auf der
einen Seite bis zu der Etablierung eines Freistaates auf der anderen, wobei das
Schwergewicht auf der republikanischen Option lag. Gemeinsame Überzeugungen
fanden sich in der antirestaurativen Grundhaltung und der Forderung nach einer freiheit-
lichen, gleichen und brüderlichen Wiedergeburt der Nation.723
Ein Gedicht, das
anlässlich des Festes verfasst wurde, gibt die wesentlichen drei Themen – Nation,
Freiheit und Deutschtum, welche gleichfalls Hauptbestandteile des Deutungsmusters
„deutsche Freiheit“ ausmachen – der Zusammenkunft an:
„Es leuchten drei freundliche Sterne / Weit aus dem Hambacher Schloß / Sie
leuchten hin über ganz Deutschland / Erweckend, erwärmend und groß // Die
Sterne sind Vaterland, Freiheit, / Echt deutsche hochherrliche Ehr’ / Die tragen
noch Männer im Herzen, / Sonst leuchten die Sterne nicht mehr.“724
In seiner Rede auf der Veranstaltung vom 27. Mai 1832, die von circa 20 bis 30.000
Anhängern freiheitlicher Ideen vorrangig aus dem südlichen Deutschland besucht war,
ging der fränkische Jurist Johann Georg August Wirth725
in einer Vermengung liberaler
und nationaler Argumente auf die Situation der Freiheit in Deutschland ein.726
In
scharfer Kritik an der Aristokratie beklagte Wirth, der später als Mitinitiator des Festes
verhaftet wurde, in der Ansprache, dass das „große, reiche, mächtige Deutschland“ aus
der Liste der europäischen Staaten gestrichen sei, obgleich es von Natur aus dazu
berufen sei, „um in Europa der Wächter des Lichts, der Freiheit und der völker-
rechtlichen Ordnung zu sein“.727
Vielmehr werde „die deutsche Kraft geradezu
umgewendet zur Unterdrückung der Freiheit aller Völker und zur Gründung eines
ewigen Reiches der Finsternis, der Sklaverei und der rohen Gewalt“.728
Gleichzeitig
stellt Freiheit für Wirth kein Absolutum dar, da die Freiheit keinesfalls auf Kosten der
Integrität des Staatsgebietes erkauft werden dürfe, einzig der autochthone Kampf ohne
fremde Intervention könne eine Lösung darstellen, was ihn zu der Forderung führt, dass
innere Streitigkeiten zugunsten der gemeinsamen Sache überwunden werden müs-
sten.729
723 Vgl. Quesel, Emanzipation, 180.
724 Schlink, Die Hambacher Sterne, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 60.
725 Vgl. zu Wirth als „Hambacher“: Hüls, Johann Georg August Wirth, 269-312.
726 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 82 f.
727 Hambacher Fest, 27. Mai 1832. Rede Wirth, zit. nach: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 117-122;
hier: 117 f.728
Ebd., 118.729
Vgl. ebd.,120.
108
Ein weiterer Teilnehmer am Hambacher Fest, Philipp Jakob Siebenpfeiffer, bedient
sich ähnlicher Argumentationsmuster, die ebenfalls durch die Synthese von Freiheits-
und Einigungsbestrebungen gekennzeichnet sind. Der Verfasser des Versammlungs-
aufrufes verwendet, wie viele andere Verfechter der Freiheitsidee vor und nach ihm, die
Lichtmetaphorik, um den „Gottesfunke[n] der Liebe zum Vaterland, zur Freiheit“
abzusetzen gegenüber den Dienern der Gewalt, die ihm zufolge „im Finstern
schleichen“.730
Sein emphatisches Eintreten für „Vaterland – Freiheit – ja! ein freies
deutsches Vaterland“ lässt vor seinem geistigen Auge gar „leuchtende Strahlen der
Hoffnung“, „die Strahlen der Morgenröte deutscher Freiheit“ aufblitzen,731
die den
Juristen Siebenpfeiffer überzeugt von der schöpferischen und kulturbildenden Kraft, die
die Freiheit auf die Deutschen habe, erklären lassen, dass die „Hände, welche
Opernhäuser und Zwingburgen errichteten, [...] auch Hallen erbauen“ werden, „worin
die Repräsentanten deutscher Nation über das Wohl des gemeinsamen Vaterlandes
beratschlagen; mitten aus den Schwärmen der Elenden, die um wankende Throne sich
lagern, oder sonst im Schlamm abscheidender Selbstsucht sich wälzen, richten sich
Tausende männlich empor, glühend für deutsche Freiheit und Volkstum“.732
In
Frankfurt, wo die finstere Gewalt aristokratischer Häuptlinge lauere – damit ist,
wiederum unter Einsatz der Hell-Dunkel-Kontrastierung, der Bundestag gemeint –,
flimmere schon der Funke der Freiheit, der im deutschen Volkssaal sich zur hell
leuchtenden Flamme entzünden werde.733
In einem Gedicht desselben Jahres, das er Der
Deutsche Mai betitelt, spielt Siebenpfeiffer auf das Hambacher Fest und die in es
gesetzten Erwartungen an:
„Hinauf, Patrioten, zum Schloß, zum Schloß! / Hoch flattern die deutschen Farben.
Es keimet die Saat, und die Hoffnung ist groß, / Schon binden im Geiste wir
Garben: / Es reifet die Ähre mit goldnem Rand, / Und die goldne Ernt’ ist das –
Vaterland. [...] Wir wollen uns gründen ein Vaterhaus / Und wollen der Freiheit es
weihen: / Denn vor der Tyrannen Angesicht / Beugt länger der freie Deutsche sich
nicht.“734
Im Gefolge des Hambacher Festes, auf dem, wie es in Siebenpfeiffers Gedicht anklingt,
die Idee einer „deutschen Freiheit“ kultiviert wurde, kam es in der südwestdeutschen
Region mit Schwerpunkten in Baden und der Pfalz zu weiteren Manifestationen
liberaler und republikanischer Proteste, bei denen es unter anderem zu kleineren
730 Philipp Jakob Siebenpfeiffer, Rede auf dem Hambacher Fest, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1,
180-191; hier: 180 f.731
Ebd.732
Ebd., 186.733
Ebd., 187.734
Philipp Jakob Siebenpfeiffer, Der Deutsche Mai, zit. nach: Volkmann (Berab.), Einheit, 109 f.
109
Ausschreitungen und oftmalig zu der Errichtung von Freiheitsbäumen kam.735
Wenige
Wochen nach dem Hambacher Fest erklärte der 1833 zum Bürgermeister von Freiburg
gewählte, aber nicht inaugurierte Rotteck,736
dem die Reise in die Pfalz infolge seiner
Anstellung als badischer Beamte verboten blieb, auf einer Veranstaltung in Badenweiler
seine Position im Wechselspiel von Freiheit und Einheit: „Ich will die Einheit nicht
anders als mit Freiheit, und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne
Freiheit.“737
Konkret trat er für einen föderativen Staatenbund ein, der ihm zur
Bewahrung der Freiheit geeigneter erschien,738
da er generell von der vernunft-
rechtlichen Grundlegung des Freiheitsbegriffs überzeugt war und somit eine völlige
Ablösung von dem ständischen Sozialstatus des Menschen hin auf die bloße Eigen-
schaft des Menschseins qua Geburt vollzog.739
Aufgabe des Staates ist es in diesem
vernunftrechtlichen Zusammenhang, dem Individuum die ursprüngliche Freiheit zu
garantieren,740
was dem von Rotteck verfochtenen Verständnis im Gegensatz zu einer
ständisch gebundenen Freiheitsidee eine sozialrevolutionäre Note verleiht.741
Paul Achatius Pfizer macht in seinen Gedanken über das Ziel und die Aufgaben des
deutschen Liberalismus, die 1832, ein Jahr nach seiner Entlassung aus dem
württembergischen Justizdienst, in Tübingen erschienen,742
auf ein von ihm wahrge-
nommenes Kulturgefälle in Hinblick auf die Freiheit aufmerksam. Noch 1831 hatte er
die lethargische Situation im nationalen Einigungsprozess in einem Gedicht bedauert:
„O Deutscher ohne Vaterland! / O Vogel ohne Nest! / O Träumer an der Klippe Rand, /
Wie ist dein Schlaf so fest!“743
Bezeichnend für das Hin- und Her-gerissen-Sein der
Zeitgenossen in der Frage von Einheit und Freiheit wendet sich Pfizer je nach
Stimmungslage schwerpunktmäßig dem einen oder anderen Ziel zu, präferiert jedoch
letztendlich die nationale Lösung. Die kryptoreligiöse Sprache, die das spätere Mitglied
der Frankfurter Nationalversammlung für die Propagierung seiner Ideen verwendet, ist
bezeichnend für den Eifer mit der er seine Überzeugung verficht.744
Inzwischen sei die
735 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 371.
736 Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 100 f. Zu Rottecks Freiheitsverständnis: Fach,
Regierung, 7 f.; zu seiner politischen Theorie: Beyme, Theorie: 179-189.737
Zit. nach: Meyer, Freiheit und Macht, 149.738
Vgl. für Rottecks Staatsvorstellungen: Backes, Liberalismus, 80 f.739
Vgl. Schöttle, Theorien, 20-28.740
Vgl. zu Rottecks Vorstellungen eines „hausväterlichen Liberalismus“: Brandt, Karl von Rotteck, 369-
372.741
Vgl. Schlumbohm, Freiheit, 45 f.742
Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 37.743
Paul A. Pfizer, Des Deutschen Vaterland, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 105.744
Z.B. weist der Pfarrerssohn Friedrich Naumann im Jahr 1908 auf einen über das sprachliche hinaus-
gehenden Zusammenhang von Freiheit und Religion hin: „[D]er Untergrund aller Freiheiten aber ist mit
110
Freiheit – stellt er in Rekurs auf nationale Stereotype fest – ausgehend vom erneut in
einen revolutionären Zustand versetzten Frankreich, „dem Lande der Bewegung und des
äußerlichen Lebens“, wieder in Deutschland, der „Heimat des Gemüts und des
Gedankens“745
, angelangt: „Der Geist der Freiheit, der, nach scheinbarem Schlummer
wieder erwacht, von Frankreich aus die europäische Welt durchdringt, hat daher in
Deutschland allenthalben von Jüngern und Verehrern eine große Zahl gefunden. Nicht
weniger entschieden ist dagegen auch der Widerstand, den dieser Geist der neuen Zeit
in Deutschland zu bekämpfen hat“.746
Der Kampf für die Freiheit in Deutschland müsse
mit eigenen Mitteln geführt werden, da eine Freiheit, die sich nur unter dem Schutz
fremder Bajonette und Kanonen erhalte, Sklaverei sei.
Der im württembergischen Liberalismus beheimatete Pfizer möchte in Nähe zu
pietistischer Diktion, dass „die Wiedergeburt Deutschlands zur Freiheit und zur
Einigkeit“747
vom südwestlichen Deutschland ausgeht. Hier befand sich mit einfluss-
reichen Vertretern wie Carl von Rotteck und Carl Theodor Welcker748
eine Hochburg
des Liberalismus. In der Lösung der deutschen Frage sieht Pfizer – im Gegensatz zu den
beiden vorgenannten – die wesentliche Vorbedingung für die Verwirklichung individu-
eller Freiheit und bemerkt zu der Umsetzungsrangfolge von Freiheit und national-
staatlicher Einheit:
„[E]s kann nicht Sünde gegen den heiligen Geist der Freiheit sein, wenn
Deutschland, solange ihm die Wahl bleibt, wartet und vertagt, bis es zu seiner
Befreiung keiner auswärtigen Hilfe mehr bedarf, oder doch bis ein Bündnis mit
dem Ausland nicht mehr eine Unterwerfung ist. Es muß wenigstens noch eine
andere Art, der Sache der Freiheit zu huldigen, geben, als mit der fremden Hilfe
auch den fremden Oberherrn und Unterdrücker bei uns einzuführen, oder beim
ersten Auflodern der Kriegsfackel die Waffen Deutschlands begierig gegen
Österreich und Preußen zu kehren. [...] Freiheit im Innern und Unabhängigkeit
nach außen, oder persönliche Freiheit und Nationalität, sind die beiden Pole, nach
denen alles Leben des Jahrhunderts strömt“.749
Gegen den individualistischen Freiheitsdrang Einzelner weist Paul Achatius Pfizer auf
die kollektive Durchschlagskraft einer Nationenbildung hin:
„Mit allem Freiheitsdrang der einzelnen“, befindet er, „werden die Deutschen ewig
eine armselige Rolle spielen und ein mitleidiges Belächeln ihrer schwachen
Gutmütigkeit wird im Ausland der ganze Lohn für ihren Enthusiasmus sein,
Religion sehr verwandt, denn er ist ein Seelenzustand, der voll von Glauben und Hingabe ist.“ (Naumann,
Ideal, 39).745
Paul Achatius Pfizer, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des deutschen Liberalismus (Tübingen
1832), zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 3, 67-94; hier: 73.746
Ebd., 68 f. 747
Ebd., 76.748
Vgl. Sell, Tragödie, 120.749
Paul Achatius Pfizer, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des deutschen Liberalismus (Tübingen
1832), zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 3, 67-94; hier: 74.
111
solange sie nicht als Nation die Freiheit wollen, oder gar zu glauben scheinen, daß
Abhängigkeit vom Ausland zum Begriff der deutschen Freiheit gehöre. Es ist
freilich eine Torheit, zu verlangen, daß die Deutschen die innere Freiheit ganz
vergessen sollen, bis sie ihre äußere Unabhängigkeit gesichert haben; es ist aber
ebenso verkehrt oder noch verkehrter, die letztere der ersteren aufopfern zu wollen.
[...] Auch Deutschland hat, vermöge der ihm eigenen hohen Empfänglichkeit für
alles, was die Brust der Menschheit bewegt, jenes Doppelstreben nach innerer und
nach äußerer Freiheit nicht abwehren können. Nur ist es dem geteilten, zer-
splitterten und in sich zerfallenen Volke nicht geglückt, einen Führer zu finden, der
diese beiden Tendenzen gleichmäßig befriedigt hätte.“750
Da auswärtigen Mächten wie Österreich, Preußen und Frankreich nicht daran gelegen
sei, den deutschen Freiheitsfreunden zu helfen, wäre es vonnöten, dass die Freiheits-
freunde in Deutschland es versuchten, endlich auch einmal auf eigenen Füßen zu
stehen,751
gerade weil der Idee der Freiheit eine Zaubergewalt innewohne, für die es zu
kämpfen lohne.752
Dieses Vorhaben scheiterte in der Wahrnehmung der von den
politischen Entwicklungen Enttäuschten nicht zuletzt auch daran, dass, wie Heinrich
Heine kontrastierend zu der französischen Freiheitstradition bemerkt,753
„[n]ur in der
Tiefe des Gemüthes / Ein deutscher Mann die Freyheit trägt.“754
Pfizer schwebt ein
Kollektivfreiheitsideal vor, so dass er sich explizit gegen den von ihm wahrge-
nommenen egoistischen Geist der Zeit auflehnt, der dazu neige, „die persönliche
Freiheit und Unabhängigkeit der Freiheit und Unabhängigkeit der Gesamtheit vorzu-
ziehen“.755
Pfizer erblickt in der deutschen Nation die organisch gewachsene
Verkörperung einer politischen Individualität, deren Einigung durch die evolutionäre
Umsetzung eines nationalpolitischen Programms unter preußischer Hegemonie
herbeigeführt werden soll.756
Zu einer handgreiflichen Radikalisierung der Freiheitsbestrebungen kam es durch
den Sturm auf die Frankfurter Wache. Freiheitliche Aktivisten verstanden den
Deutschen Bund als reaktionär, und die Frankfurter Wache galt als stellvertretender
Symbolbau für den Bund, weshalb sie im April 1833 von einer kleinen Gruppe
burschenschaftlich organisierter Verschwörer in der Hoffnung erstürmt wurde, durch
750 Ebd., 74.
751 Vgl. ebd., 75.
752 Vgl. ebd., 78.
753 Vgl. zu Heines Freiheitsbegriff: Koßek, Begriff, bes. 13-30; 71-78; 119-126; Wülfing, Schlagworte,
243-245.754
Heinrich Heine, Bey des Nachtwächters Ankunft in Paris, in: ders., Gedichte, 112 f.; hier: 112. Vgl. zu
Heines Vorstellung einer „deutschen Freiheit“ auch: Koßek, Begriff, 124 f.755
Paul Achatius Pfizer, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des deutschen Liberalismus (Tübingen
1832), zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 3, 67-94; hier: 90.756
Vgl. Schöttle, Theorien, 208-221. Im Zollverein sah Pfizer das einigende nationale Band (vgl. hierzu:
aaO., 219-222).
112
diese Tat ein Zeichen für die Freiheit zu setzten.757
Der Versuch, die einsitzenden
Gefangenen zu befreien, die Bundesgesandten zu verhaften, eine provisorische
Regierung zu installieren und dadurch eine spontane Freiheitsbewegung zu initiieren,
schlug trotz der kurzzeitigen Einnahme der Haupt- und Konstablerwache aufgrund
rechtzeitiger Abwehrmaßnahmen und mangelnder Resonanz innerhalb der Frankfurter
Bevölkerung fehl.758
Es kam zu drastischen Bestrafungen für die Beteiligten. Die
Gegenmaßnahmen seitens des Bundes wurden verschärft,759
was das kritische Auftreten
gegenüber der Staatsmacht insbesondere auch angesichts der noch immer bestehenden
Karlsbader Beschlüsse erschwerte.
Ein verzögertes Aufbegehren freiheitlich-revolutionär gesinnter Gruppierungen im
Nachgang der Julirevolution fand ein Jahr später, wiederum in Hessen, statt, als der
Schriftsteller Georg Büchner, Mitglied der im selben Jahr gegründeten Gesellschaft für
Menschenrechte, befand, die Fürstenherrschaft sei endgültig überkommen.760
„Weil das
deutsche Reich morsch und faul war, und die Deutschen von Gott und von der Freiheit
abgefallen waren,“ urteilt Büchner, indem er seine Hoffnung auf Veränderung zum
Ausdruck bringt, „hat Gott das Reich zu Trümmern gehen lassen, um es zu einem
Freistaat zu verjüngen.“761
Zur Durchsetzung seiner Ziele kooperierte der studierte
Mediziner und antibürgerlich ausgerichtete Büchner mit liberalen Gruppierungen und
schrieb vor allem leidenschaftliche Flugschriften762
gegen die bedrückenden Zeitum-
stände.763
In dem von ihm mitverfassten Hessischen Landboten kritisiert er die
Übermacht des autoritären Staates,764
wozu er die Losung „Friede den Hütten! Krieg
den Palästen!“765
aus der Französischen Revolution aufgriff und sich damit vorrangig an
ärmere, ländliche Bevölkerungsschichten wandte.766
Dem Staat schreibt Büchner die
Absicht zu, mit militanten Mitteln verhindern zu wollen, dass die Menschen auch nur zu
denken wagten, sie könnten frei sein.767
Das ganze deutsche Volk, dessen Herz „von der
Freiheit und Gleichheit seiner Voreltern und von der Furcht des Herrn abgefallen
757 Vgl. Quesel, Emanzipation, 186.
758 Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 63 f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 373.
759 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 83.
760 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 373.
761 Georg Büchner, Der Fürsten Maß ist voll, zit. nach: Arnold (Hg.), Deutschland, 245-248; hier: 245.
762 Vgl. zur politischen Sprache Büchners: Burkhardt, Sprache.
763 Vgl. Greiner, Nachwort, 56 f.
764 Vgl. hierzu: Hauschild, Georg Büchner, bes. 313-393.
765 Vgl. zu diesem Schlachtruf: Büttner, Friede.
766 Vgl. zur Einreihung des Hessischen Landboten in die Tradition der Revolutionsaufrufe: Grab,
Hessischer Landbote.767
Vgl. Büchner, Landbote, 36; 39 f.
113
war“,768
müsse sich die Freiheit auf kämpferischem Weg wiedererobern, um sich durch
„einen Sommer [Arbeit] im Weinberge der Freiheit“ loszusagen von den „Dornäckern
der Knechtschaft“; erst dann könne „der Freiheit Haus“ errichtet werden.769
Steckbrief-
lich wurde der nach Straßburg geflüchtete Dichter sogleich wegen „indizierter Teil-
nahme an staatsverräterischen Handlungen“770
gesucht.
Die prominente Stellung der Professorenschaft in der Freiheitsfrage zeigte sich
einmal mehr im Jahr 1837, als die späterhin so genannten Göttinger Sieben am 18.
November ein Protestschreiben an Ernst August von Hannover richteten.771
In der
Aufhebung der Verfassung seitens der Regierung sahen sie einen Machtmissbrauch, der
nicht nur lediglich eine Verletzung der Freiheit der Universität darstelle, sondern eine
Verletzung der Freiheit von größerer Tragweite sei.772
Als Konsequenz ihrer Ein-
lassungen kam es zum hannoverschen Verfassungskonflikt.773
Die Gelehrten beriefen
sich in ihrer „Unterthänigste[n] Vorstellung“,774
die auf die Vergehen des Monarchen an
der Konstitution einging, auf den Eid, den sie zu Amtsantritt auf die Verfassung
abgelegt hatten und der sie verpflichtete, notfalls die Verfassung auch gegen den König
in Anspruch zu nehmen.775
Das in liberalen Kreisen mit Sympathie aufgenommene
Aufbegehren der sieben Universitätsprofessoren, die aus Legalitätsprinzip an dem 1833
verabschiedeten Staatsgrundgesetz festhielten, zeugt von einem neuen Selbstver-
ständnis.776
Jedoch wurde das „Zeugnis der Zivilcourage“777
mit Amtsenthebung beant-
wortet. Eine in dieser Angelegenheit alerte deutsche Öffentlichkeit erklärte die beiden
Grimms,778
Dahlmann, Gervinius, Ewald, Albrecht und Weber trotz des Scheiterns ihres
Anliegens zu Helden und Märtyrern der Freiheitsbewegung.779
Im Verlauf der Ausein-
andersetzung entstanden liberale Programm- und Verteidigungsschriften mit über-
regionaler Ausstrahlungskraft, und es kam zu der Bildung von Vereinen, die dem
768 Ebd., 47.
769 Ebd., 50 f.
770 Steckbrief auf Georg Büchner, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 70.
771 Vgl. Die Protestation der sieben Professoren, in: Musulin (Hg.), Proklamationen, 98-100. Vgl.
Gerstner, Brüder Grimm, 223-241.772
Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 231 f.773
Vgl. hierzu: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 139-142.774
Die Protestation der sieben Professoren, zit. nach: Musulin (Hg.), Proklamationen, 98-100; hier: 98.775
Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 67.776
Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 84.777
Vgl. zu dieser Einschätzung: Krockow, Göttinger Sieben.778
Vgl. zu der politischen Betätigung der Grimms: Harder/Kaufmann (Hgg.), Brüder Grimm, Bd. 3, Teil
1.779
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 376.
114
freiheitlichen Gedankengut zu neuem Auftrieb verhalfen.780
Vier der Göttinger Sieben
fanden sich später in der Paulskirchenversammlung wieder.781
Ein – wie letztendlich auch die Göttinger Sieben – ebenfalls in Bahnen der
staatszentristischen Argumentation verbleibender Vertreter des Liberalismus ist Karl
Salomo Zacharia. Im ersten Band seines 1839 erschienenen Hauptwerks Vierzig Bücher
vom Staat verweist er auf die paternalistischen Aufgaben des Staates, indem er ihn als
wichtigsten Erfüllungsgehilfen für die Umsetzung einer kollektiv gesteuerten
Personalität betrachtet. Staaten sind für den Rechtsprofessor „Erziehungsanstalten,
Anstalten für die Kultur und Zivilisation des menschlichen Geschlechts.“782
Mit seiner
Meinung gingen zahlreiche Liberale konform, da sie durch die autoritäre Verwirk-
lichung einer weit gespannten Kognitions- und Kulturgemeinschaft die Grundlagen der
„deutschen Freiheit“ legen wollten.
Das Aufbegehren gegen einen freiheitseinengenden Staat war mit den wenigen
geschilderten Ausnahmen, die oftmals die Grundüberzeugungen obrigkeitszentrierter
Modelle teilten, schon in seinen Wurzeln eher zögerlich angelegt, weil Freiheit vor
allem aus staatlich-nationaler Sicht gedacht und erst in zweiter Linie als Aufgabe des
Individuums begriffen wurde. Spätestens seit dem Hambacher Fest gewann das
Deutungsmuster einer „deutschen Freiheit“ die Oberhand, da es geschickt beide
zentralen Diskursgegenstände als miteinander verwobene Zielvorstellungen verband,
aufgrund seiner prädikativen Qualifizierung durch das Adjektiv „deutsch“ eine zusätz-
liche Zentrierung auf die nationale Komponente erlaubte, die sich im Lauf der Zeit
immer stärker Bahn brach und eine eindeutige semantische Engführung des Freiheits-
begriffs auf das Konstrukt einer progressiv mittels staatsbildnerischer Maßnahmen zu
konstituierenden Nation zur Folge hatte.
4.1.7 Der späte Vormärz bis zur Märzrevolution – „Einigkeit und Recht und
Freiheit / Für das deutsche Vaterland!“
Erneute Hoffnung schöpfte die Freiheitsbewegung Anfang der 40er-Jahre aus dem
Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV., der 1840 den Thron Preußens bestieg.783
780 Vgl. Sell, Tragödie, 130 f.
781 Vgl. Einigkeit und Recht und Freiheit, 101.
782 Karl Salomo Zacharia, Von dem Zwecke des Staates, zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 1,
317-333; hier: 323.783
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 396; Winkler, Weg, Bd. 1, 86.
115
David Hansemann formulierte in einer Denkschrift an den neuen König den Rat, womit
er den Regenten für konstitutionelle Reformen und als Vorreiter der nationalen
Einigungsbewegung gewinnen wollte, Freiheit wirke sich positiv auf das Nationalgefühl
aus.784
Der von den Theorien Adam Müllers geprägte Monarch aber verfolgte das
Leitbild eines christlichen Staates, der einen Mittelweg zwischen Liberalismus und
Absolutismus beschreiten sollte.785
Mit zunehmender Zeit verschärfte jedoch der neue
Throninhaber, der den Ideen der Romantik nachhing, entgegen der von vielen seiner
Untertanen gehegten Erwartungen, die reaktionäre Ausrichtung seines Amtsvorgängers.
Zum Kölner Dombaufest am 4. September 1842 eignete Robert Prutz Friedrich
Wilhelm ein Gedicht zu, das ihn dazu auffordert, den Dombau als symbolischen Auftakt
zur Errichtung der Nation in Freiheit zu betrachten. Prutz richtete sich in fragend-
forderndem Ton direkt an den König, auf den er bildhaft die Konstruktionsleistung einer
Nationaleinheit – dem Deutungsmuster einer „deutschen Freiheit“ folgend – auf die
Freiheit übertrug:
„O lockt’s dich nicht, den Tempel auch zu gründen, / Bauherr der Freiheit auch zu
sein? [...] / Gib frei den Weg! Denn Freiheit ist das Beste, / Du baust mit ihr
zugleich den eignen Thron: / So sprich das Wort zum zweiten Dombaufeste, /
Sprich aus das Wort: Konstitution! // Das ist der Bau, zu welchem du berufen, / auf
diesen Säulen gründe sich dein Ruhm! / Hier knie du mit uns auf denselben Stufen!
/ Denn auch die Freiheit ist ein Heiligtum. / Paläste fallen, Dome können brechen, /
Die Freiheit nur währt ewig, ewig fort, / Und ewig dann zu deinem Ruhm wird
sprechen, / Das heut dich grüßt, das freie Wort!“786
In einer selbst konzipierten Thronrede bei der Eröffnung des ersten Vereinigten
Landtages sprach Friedrich Wilhelm zwar von diesem Organ als „kostbare[m] Kleinod
der Freiheit“,787
die Auflösung der Versammlung am 26. Juni 1847 und die nach-
revolutionäre Revision der preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 sind hingegen
deutliche Indikatoren für den Wandel der liberalen Zeitverhältnisse in restaurative
Tendenzen.788
Doch bis es dahin kommen sollte, riefen viele, wie auch der evangelische Theologe
und Schriftsteller Georg Herwegh, zum Kampf für die „deutsche Freiheit“ auf. Herwegh
weist in einem Gedicht auf die damit verbundenen Mühen und Gefahren hin: „Habt die
grünen Fragezeichen / Deutscher Freiheit ihr gewahrt? / Nein, sie soll nicht untergehen!
784 David Hansemann, Denkschrift für Friedrich Wilhelm IV., 1840, zit. nach: Fenske (Hg.), Vormärz, 24-
34; hier: 25.785
Vgl. Schildt, Konservatismus, 57 f.786
Robert E. Prutz, Dem Könige von Preußen, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 174.787
Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Thronrede zur Eröffnung des Ersten Vereinigten Landtags, zit.
nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 223-235; hier: 225.788
Vgl. Eley, Liberalismus, 269. Vgl. für den Text: Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat
(1850), in: Blanke (Hg.), Verfassungen, 209-223.
116
/ Doch ihr fröhlich Auferstehen / kostet eine Höllenfahrt.“789
Herwegh forderte von
seinen Landsleuten immense Kraftanstrengungen, eine Sichtweise, die von anderen
Kulturschaffenden geteilt wurde, die ihm bei der Einwerbung von Mitstreitern zur Seite
sprangen. In dem Jahr, in dem Herwegh das zitierte Gedicht veröffentlichte, schöpfte
der erst kürzlich zuvor seines Amtes enthobene Professor für deutsche Sprache und
Literatur, Heinrich Hoffmann von Fallersleben,790
das Lied der Deutschen.791
Hoffmann
betätigte sich im Vormärz wie Herwegh als politischer Literat.792
Seine Dichtung, die
1841 entstand, propagiert, indem sie „Einigkeit und Recht und Freiheit / Für das
deutsche Vaterland!“ einfordert,793
eine nationalstaatlich fundierte „deutsche Freiheit“
auf der Basis einer Verfassung.794
Wie die zahlreichen Gedichtverse und Meinungs-
bekundungen empirisch nachweisen, nahm das Deutungsmuster „deutsche Freiheit“,
das mit dem Begriffsgeflecht nationalstaatlicher Einheit und Freiheit korrelierte, eine
prominente Stellung im Sprachgebrauch und insgesamt im gesellschaftspolitischen
Diskurs des Vormärz ein, was sich ebenso prägend auf konkrete Handlungsangebote –
etwa den Wunsch nach Nationalstaatsgründung oder Konstitutionalisierung – auswirkte.
Bereits vor 1848 mischten sich auch einige kritische Stimmen in die Diskussion um
die in den Augen ungeduldiger Liberaler festgefahrene „deutsche Freiheit“. Arnold
Ruge, der als Burschenschaftsangehöriger eine sechsjährige Haftstrafe verbüßen musste,
später als Mitglied der Fraktion Donnersberg in der Nationalversammlung tätig war und
nach dem Scheitern der liberalen Konstitutionalisierungsversuche sowie der Beteiligung
am Dresdner Aufstand im Jahr 1849 nach England übersiedelte,795
nahm im Jahr 1843
eine Selbstkritik des Liberalismus vor.796
Darin sucht er die Freiheitsidee seiner Zeit als
Abwehrerscheinung der Ideen der Französischen Revolution darzustellen, und findet im
deutschen Nationalcharakter einen Erklärungsansatz für den problembeladenen Umgang
seiner Landsleute, deren politische Bewusstseinslage er kritisch reflektiert, mit der Frei-
heit:
„Aber es wäre sehr oberflächlich, wenn man die ganze Schiefheit unseres
politischen Bewußtseins von dem Gespenst des alten deutschen Reichs ableiten
wollte: im Gegenteil, dies Gespenst ist aus unserer schiefen, tiefen und unsäglich
konfusen Deutschheit abzuleiten, aus der Deutschheit, die alles andere haben
789 Georg Herwegh, Aufruf, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 75.
790 Vgl. zur Biographie: Wintzigerode-Knorr, Hofmann von Fallersleben.
791 Vgl. zu Werk und Wirkung des Liedes: Eke, Einführung, 122-128; Rohse, Lied. Für eine historisch-
semantische Interpretation des Liedes: Berschin, Deutschland, 59-70.792
Vgl. Schuster, Poesie.793
Heinrich Hofmann von Fallersleben, Handschrift des Deutschlandliedes, zit. nach: Boberach/
Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 41 (Abb. Kat.-Nr. 161). 794
Vgl. zum Leitkonzept Freiheit bei Hofmann: Kämper, Schlagwort, 116-118; hier: 117.795
Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 83.796
Vgl. auch das Zitat Ruges oben: Kap. 4.1.2 , 77.
117
wollte, als die ‚Franzen’, und die nun mit ihrer gewaltigen Originalität nichts von
allem, als den leeren Schein davon hat, aus dem einfachen Grunde, weil es
jederzeit nur eine Freiheit gibt und die Freiheit unserer Zeit zufällig die Franzosen,
nicht die guten Deutschen erfunden haben. [...] Wir wollen es daher nicht weiter
rügen, sondern nur den Schluß daraus ziehn, daß unsere Freiheit nichts anderes ist
als unser Bewußtsein und seine Produkte.“797
Ruge reflektiert mit seinen liberalismuskritischen Ausführungen die weit reichende
Prägekraft der Freiheitssemantik, der er Auswirkungen einerseits auf die mentale Dis-
position, andererseits aber vor allem auch auf die daraus resultierenden Handlungen
zuschreibt, und sensibilisiert für Interferenzen des durch äußere Abgrenzung gegenüber
Frankreich gewonnenen, nationalstaatlichen Konstrukts mit dem Freiheitsbewusstsein.
Kritik am Freiheitspathos erhob sich nun nicht nur mehr von konservativer Seite,
sondern kam auch aus den Reihen des liberalen Bürgertums.
So geht Balthasar Reber in einem Gedicht mit den von ihm so genannten Freiheits-
küstern ins Gericht, die sobald sie die Regierungsmacht im Staat übernommen hätten,
nichts mehr von der Freiheit wissen wollten,798
womit er auf den herrschafts-
legitimatorischen Aspekt des Deutungsmusters anspielt. Ähnlich argumentiert Wilhelm
Jordan, der sich von den verhassten Freiheitsphrasen der Dichter abwendet, obgleich er
immer noch in der Freiheit selbst die initiale Triebkraft für alles menschliche Handeln
sieht. Bevor jedoch andere befreit werden könnten, gibt er den Ratschlag: „Befreie erst
dich selbst in aller Stille, / Sonst hilfst du nur die Freiheit morden.“799
Eine deutliche Abkehr von der Freiheitsemphase der Befreiungskriege ist also bereits
im Vorfeld der Märzrevolution zu konstatieren,800
weil viele Freiheitsbegeisterte
enttäuscht von der erlahmten Dynamik freiheitlicher Bewegungen – das Hambacher
Fest lag eineinhalb Jahrzehnte zurück – darauf reagierten, dass über dichterische
Phantasien und Absichtserklärungen hinaus sich wenig am realen Zustand der Freiheit
im Sinn von im Alltagsleben spürbaren Erleichterungen verändert hatte.
797 Arnold Ruge, Eine Selbstkritik des Liberalismus, zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 2,
158-183; hier: 167.798
Vgl. Balthasar Reber, Ein Rätsel, in: Volkmann (Bearb.), Einheit, 207: „Ihr predigt Freiheit auf den
Dächern, / Ihr lärmt von ihr in den Gemächern; / Von Freiheit eure Zungen schmettern, / Von Freiheit
rauscht’s in euern Blättern; / Freiheit laßt ihr in Prosa schreiten, / Freiheit laßt ihr auf Versen reiten: /
Kurz, alle möglichen Register, / Ihr orgelt sie, ihr Freiheitsküster. // [...] // Wenn diese Freiheits-Goliathe /
Die ersten worden sind im Staate, / In einem Hui sind sie Despoten, / Und alle lebenden und toten / Und
allerhärtsten Völkerhämmer / Sind neben ihnen weiche Lämmer. / Ich werde drob zum Narren schier; / O
sagt: wer löst das Rätsel mir?“799
Wilhelm Jordan, Schaum, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 244.800
Vgl. auch Nestroys Posse Freiheit in Krähwinkel, wo der Adlige Sperling Edler von Spatz im
Gespräch mit dem geheimen Stadtsekretär Reakzerl Edler von Zopfen sich abschätzig über die
Freiheitsemphase der Dichter äußert: „Als Poet hab ich nichts gegen die Freiheit, sie gewährt den
Dichtern ein weites Feld zur Tummlung ihrer Pegasusse. Reakzerl: Der Staatsmann muß sie unbedingt
verdammen; denn alles faselt jetzt schon von Menschenrechten, der subalterne Beamte sogar wagt
Äußerungen, wenn er sich malträtiert fühlt.“
118
Im Jahr 1847 erschien in Leipzig unter dem Titel Schwarz, Roth, Gold! eine
dreiteilige Abhandlung „Ueber teutsche Freiheit und Einheit“.801
Darin wird die
Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, dass das vielfach angekündigte „Morgenroth der
Freiheit“ bisher ausgeblieben ist.802
Als Ursache hierfür wird der „flüssige Zustand“ des
Liberalismus angesehen, was der Autor, der einen kritischen Überblick über die
personelle und ideelle Landschaft des Liberalismus gibt, am revolutionsfeindlichen
Verhalten Siebenpfeiffers festmacht. „Im Namen der Freiheit und Ordnung“, meint der
Anonymus, „war der erste Feldschrei ergangen, seit jenem ‚schrecklichen Stoß der
französischen Revolution’“,803
weitere Taten seien jedoch infolge innerer
Richtungskämpfe, Zwistigkeiten und vor allem mangelnder Einsatzbereitschaft unterge-
gangen. Die Abhandlung erachtet das Veränderungspotential des Liberalismus als durch
den Nationalcharakter der Deutschen gefährdet, da das deutsche Volk in seiner Anlage
langmütig und unpolitisch sei.804
Der Liberalismus sei zu partiell ausgerichtet, da er
lediglich die politische Freiheit verwirklichen wolle, dabei aber vergesse, „die
allgemeine, die eine und ganze Freiheit“ umzusetzen.805
Nur „in der individuellen
Entwicklung mit dem Leben der Gemeinschaft“ kann, wie von dem anonymen Autor in
Anlehnung an Julius Fröbel806
zu erfahren ist, „das Glück und die Freiheit gefunden
werden“.807
Fröbel selbst schlug in seinem zweibändigen System der socialen Politik eine
Verschränkung individueller Freiheit und gesellschaftlicher Interessen als Problem-
lösungsmuster vor.808
Das von ihm vertretene Anliegen beruht auf dem Versuch, das
idealistische Gedankensystem auf die gesellschaftliche Realität zu übertragen.809
In
seinem Denken, das auf die Errichtung einer Kulturgemeinschaft abzielt, ist der
„persönliche Zweck des Menschen“ zugleich „der subjective und objektive persönliche
Kulturzweck.“810
Individuelles und allgemeinmenschliches Prinzip sollen verbunden
werden, so dass auch die „Prinzipien der Freiheit als positives Element der Politik“ zur
801 So der Untertitel der Abhandlung.
802 Schwarz, Roth, Gold!, Teil I, 1.
803 Ebd., 5.
804 Vgl. ebd., 18.
805 Schwarz, Roth, Gold!, Teil II, 5. Vgl. die ähnliche Argumentation zur Einheit von sozialer und
geistiger Freiheit: Moses Heß, Die Eine und ganze Freiheit!, in: Fenske (Hg.), Vormärz, 92-97.806
Vgl. Backes, Liberalismus, 96-98.807
Schwarz, Roth, Gold!, Teil II, 22.808
Vgl. Fröbel, System. Vgl. zu Fröbel, seiner Schrift und ihrer Rezeptionsgeschichte: Nagel, Seele, 119-
130.809
Vgl. Nagel, Seele, 106. Vgl. auch ihre Ausführungen zu Ruges und Fröbels politischer Programmatik
als Vertreter der radikaldemokratischen Richtung: aaO., 106-119.810
Fröbel, System, Bd. 1, 67.
119
Geltung kommen können.811
Mit diesen Überlegungen liefert Fröbel einen der wenigen
polittheoretischen Ansätze der Revolutionszeit, die individuelle Freiheit als Ausgangs-
punkt der auf Vermittlung angelegten Argumentation aufweisen.812
Eine auf anderen, nahezu entgegengesetzten Grundlagen aufruhende Argumentation,
die ebenfalls den freiheitsförderlichen Charakter der Gemeinschaft propagierte – und
diese Möglichkeit zu nahezu arbiträrer Bedeutungsmodulation ist dem Charakter des
Freiheitsbegriffs als semantisches Deutungsmuster inhärent –, wurde von kommunis-
tischer Seite vertreten. In einem Probeblatt der Londoner Kommunistischen Zeitschrift
veröffentlichte der anonym auftretende Carl Schapper ein Glaubensbekenntnis
kommunistischen Denkens. Er und seine Mitstreiter möchten den Lesern des neuge-
gründeten Blattes „zu beweisen suchen, daß in keiner Gesellschaft die persönliche
Freiheit größer sein kann, als in derjenigen, welche sich auf Gemeinschaft gründet.“813
Freiheit sei, wie Wilhelm Jordan über die nahezu universell einsetzbare meliorative
Potenz des pseudosakralen Begriffs im Vormärz unkt, „zu einem Rauschmittel
geworden. Man hat sie zu etwas Überirdischen, zu einem himmlischen Popanz gemacht,
mit dem man Götzendienerei treibt, die Freiheit ist eine Art von Religion geworden, und
das ist eben der Unsinn.“814
Tagespolitische Äußerungen sowie Programm- und
Gebrauchsschriften beschäftigten sich in ausgedehntem Maß mit Fragen der Freiheit,
was dazu führte, dass die bisher weniger alltagspraktisch ausgerichteten Überlegungen
zunehmend in konkreten Forderungen präzisiert wurden. Im Offenburger Programm
vom 12. September 1847, das in Form eines Flugblattes Verbreitung fand, forderten die
Verfasser im Namen des Volkes von Baden die Niederlegung der repressiven
Beschlüsse von Karlsbad, Frankfurt und Wien.815
Auch Presse-, Gewissens- und
Lehrfreiheit sowie die Beeidigung des Heeres auf die Verfassung wurden angemahnt.
Im Bereich der persönlichen Freiheit protestierte das Flugblatt gegen die Willkür der
Polizei und plädierte für ein Vereins- und Versammlungsrecht sowie für die
Freizügigkeit der Person. Eine Vertretung beim Deutschen Bund, eine volkstümliche
Wehrverfassung, Einsetzung von Geschworenengerichten und eine volkstümliche
Staatsverwaltung sowie die Abschaffung aller Privilegien sind weitere politische
Forderungen. Auf sozialem Gebiet treten die Verfasser für eine gerechte Besteuerung
811 So eine Kapitelüberschrift, in: Ebd., 52-160.
812 Vgl. zu den Grundüberzeugungen seiner Staatslehre auch: Koch, Julius Fröbel, 389 f.
813 Kommunistische Zeitschrift, Probeblatt, London im September 1847, zit. nach: Fenske (Hg.),
Vormärz, 234-238; hier: 237.814
Wilhelm Jordan, Ihr träumt! Weckruf an das Ronge-berauschte Deutschland, Leipzig 1845, zit. nach:
Fenske (Hg.), Vormärz, 157-164; hier 161.815
Vgl. Das Offenburger Programm, 12. September 1847, in: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte,
121 f.
120
ein. Darüber hinaus fordern sie eine bessere Bildung und den Ausgleich zwischen
Arbeit und Kapital. Die enge Verbindung von politischer Freiheit und sozialer Sicher-
heit in der deutschen Freiheitsbewegung kommt bei diesem Aufruf deutlich zum Vor-
schein.
Die Heppenheimer Versammlung, die am 10. Oktober 1847 tagte, gab einer Anzahl
liberal gesinnter Sprecher ein Podium. Als Resultat der Zusammenkunft entstand eine
programmatische Schrift, deren sieben Punkte in der Deutschen Zeitung zur Veröffent-
lichung kamen. Im vorletzten Punkt, der eine großdeutsche Lösung fordert, heißt es,
dass es „unbestritten bleibt, daß die Mitwirkung des Volkes durch gewählte Vertreter
hierbei unerläßlich, und unbezweifelt, daß bei dem Entwicklungsdrang des Jahrhunderts
und Deutschlands die Einigung durch Gewaltherrschaft unmöglich, nur durch die Frei-
heit und mit derselben zu erringen ist.“816
In einem fiktiven Brief an einen Freund, der die zentrale Frage „Vaterland oder
Freiheit?“ stellt, errichtet Robert Prutz817
im Jahr 1847 das Primat des Nationalwesens
gegenüber den freiheitlichen Ideen mit einer mentalitätsbezogenen Begründung. Sie
spielt in ihrem Resultat auf die strukturelle Konservativität und Traditionsverhaftung
der Bevölkerung an:
„Das Volk weiß mehr vom Vaterlande, von dem es sich umgeben fühlt, das zu ihm
spricht im Rauschen seiner Bäume, im Duft seines Weines, im geheiligten Laut
seiner Sprache, in tausend und aber tausend Erinnerungen und Denkmalen, als von
der Freiheit, von der es nicht weiß, wo sie wohnt, deren Zauber es nie empfunden
hat, die ihm keine Gestalt, kein Bild, keine Anschauung gewährt, auch wenn Du
ihm sagen wolltest, daß sie krapprote Hosen trägt: darf es uns befremden, wenn es
sich das Bekannte, Verstandene nicht nehmen lassen will zugunsten eines
Unbekannten, Unverstandenen? Am Vaterland hängt es, Patriotismus, Aufopferung
für das Vaterland, Nationalgefühl, Nationalehre hält es für höchst wesentliche,
höchst schätzenswerte Güter: nun kommst Du und erklärst ihm, das alles sei
Plunder, romantischer Quark, heraufgeholt aus der Grube des Mittelalters, auf die
Freiheit allein komme es an, und die Freiheit habe kein Vaterland und dulde keinen
Patriotismus – im Ernst, lieber Freund, hältst Du dies wirklich für eine Empfehlung
der Freiheit? Glaubst Du wirklich auf diesem Wege die Herzen des Volkes Deiner,
unsrer Göttin zu gewinnen?“818
Die Menschen schienen aufmerksamen Beobachtern zufolge mit der abstrakten
Forderung nach Freiheit überfordert zu sein, was radikales Vorgehen als kontra-
produktiv diskreditierte und zu der Einsicht gelangen ließ, Veränderungen, sofern sie
überhaupt möglich erschienen, auf moderatem Weg herbeizuführen.
816 Programm der Heppenheimer Versammlung, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte,
123 f.; hier: 124.817
Vgl. zu Prutz auch oben: Kap. 4.1.7, 115.818
Robert E. Prutz, Brief an einen Freund, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 10.
121
Um unnötigen Schwierigkeiten mit der Zensur aus dem Weg zu gehen, ließ der
republikanisch gesinnte Jacob Venedey819
seine Brief- und Aufsatzsammlung, die unter
dem Titel Die Spanische Tänzerin und die Deutsche Freiheit erschien, in Paris
verlegen.820
Ohnehin befand er sich dort für insgesamt sechzehn Jahre im Exil.821
Erst
mit der Märzrevolution war es dem Rheinländer vergönnt, wieder in seine Heimat
zurückzukehren. Der Herausgeber der ebenfalls in Paris verlegten Zeitschrift Der
Geächtete, der 1848 Mitglied der Nationalversammlung wurde, forderte in seinem
Aufsatz über die deutsche Freiheit dazu auf, vom bewaffneten Kampf für die Freiheit
abzusehen,822
insofern in seiner Sicht die französischen Revolutionsereignisse negativ
im kollektiven Gedächtnis haften geblieben sind: „O mein Volk! Nimm Dir eine Lehre
an dem Unglück, das über Frankreich gekommen, und die schönsten Blüthen seines
Lebensbaumes verhinderte zur Frucht zu werden. Wahr Dich, zum Schwerte zu greifen,
denn das Wort ist allein berufen, die Welt zum Besten zu lenken.“823
Mit diesen
Aussagen bewegt sich Venedey innerhalb der idealistischen Freiheitstradition, seine
Begriffsauffassung ist egalitär und kollektivistisch. Venedey warnt diejenigen, die
„schon heute etwas sind, [...] Alles sein zu wollen. Nur Alle dürfen Alles sein; und nur
in diesem Gedanken liegt auch der Sieg Aller über jeden einzelnen und jeden Stand, der
sich da einbildet und anmaßt, Alles sein zu wollen.“824
Immer wieder wurden im Vormärz prominente Ahnherren zur Legitimation des
Freiheitskampfes angeführt. „Große Männer und denkwürdige Zeiten, worin sich des
Volkes eigenthümliches Wesen und sein Anstreben zu höherer Vollkommenheit aus-
drückt,“ erwuchsen zu Vorkämpfern der „deutschen Freiheit“. Neben Ulrich von Hutten
wurden als weit über die kirchliche Reformation hinausgreifende Reformatoren einer
„freiheitsatmenden Aera“ beispielsweise Konrad Reuchlin, Erasmus von Rotterdam,
Willibald Pirkheimer, Konrad Peutinger, Luther, Melanchthon, Zwingli, Kaiser
Maximilian, Sebastian Brandt, Geiler von Kaisersberg, Jacob Wimpfeling, Heinrich
Bebel, Albrecht Dürer, Hans Sachs in eine Ahnengalerie der „Streiter für deutsche
819 Vgl. zu Venedey: Bublies-Godau, Strom.
820 Vgl. Venedey, Tänzerin. Die Wendung „deutsche Freiheit“ erscheint lediglich im Titel des zweiten
Buchteils. Jedoch listet Venedey eine Anzahl von Freiheitsrechten (Freiheit des Gedankens, des
Glaubens, der Presse, der Person und des Eigentums sowie Teilhabe an der Gesetzgebung, Vertretung der
Verfassung gegenüber den Landesherren, Überwachung der Staatsschulden, Bewilligung von Staats-
anleihen) und Pflichten (der Gesamtheit, des Königs, der Gemeinden, der Stände, der Korporationen und
der einzelnen Bürger) zur Umsetzung der „deutschen Freiheit“ auf, die durch positiv ererbte Naturrechte
(Staatsverfassung, Volks- und Ständevertretung) ergänzt werden sollen.821
Bublies-Godau, Strom, 159.822
Vgl. Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 52.823
Venedey, Tänzerin, 84.824
Ebd., 85.
122
Freiheit“ eingereiht.825
Mit der Berufung auf sie hoffte man, dass der unbedingte
Einsatz, den sie ihrer Sache widmeten, sich positiv auf das Streben für „die deutsche
Freiheit“ auswirken werde.
4.1.8 Die Märzrevolution und ihr Verlauf – Der „Tag staatlicher Freiheit aber ist
noch keineswegs angebrochen“
Die revolutionären Ereignisse nahmen Ende Februar 1848 ihren Lauf, indem in
verschiedenen größeren Städten Volksmengen auf die Straße gingen, um ihrem Unmut
Ausdruck zu verleihen und für freiheitliche Forderungen einzutreten. Am 18. März
erreichten die Unruhen, nachdem sie in Wien bereits Metternich zur Flucht veranlasst
hatten,826
die Hauptstadt Preußens, wo drei Tage später Zugeständnisse zu einer
Verfassung Preußens und der Einheit Deutschlands gemacht wurden.827
Johann Jacoby,828
Mitglied des Vorparlaments, das am 31. März 1848 als Folge der
Ereignisse in Frankfurt in der Paulskirche zusammentrat, um über die bevorstehenden
Aufgaben zu beraten,829
ist sich der bevorstehenden schwierigen Herausforderungen
bewusst: „Die Tage unserer politischen Unschuld, des vertrauensseligen Sichregieren-
lassens sind unwiederbringlich vorüber, – der Tag staatlicher Freiheit aber ist noch
keineswegs angebrochen, die sorglose Hingabe an ein ruhiges Familienleben noch
keineswegs an der Zeit.“830
Doch sieht Jacoby in der staatlichen Freiheit Deutschlands
nicht den höchsten Zweck, sondern in der idealistisch geprägten, völkerübergreifenden
„Erhebung und Veredelung des Menschen“, welche auf ein in sittlicher Freiheit
begründetes Wohlergehen aller Menschen abzielt.831
Der konservative Begründer des Berliner Wochenblattes und spätere Mitherausgeber
der Kreuzzeitung,832
Ernst Ludwig von Gerlach,833
schrieb am 26. März 1848, statt
825 Vgl. Brunnow, Ulrich von Hutten, Bd. 1, VI. Vgl. auch den Untertitel, der Ulrich von Hutten als
„Streiter für deutsche Freiheit“ ausweist. Nahezu zeitgleich: Bürck, Ulrich von Hutten, der diesen als
„Kämpfer für deutsche Freiheit“ reklamiert.826
Vgl. für eine zeitgenössische literarische Darstellung der Ereignisse in Wien unter dem Focus der
Freiheit die mit dem Krähwinkelmotiv operierende Posse von Johann Nestroy, die den Umgang der
Revolution und der Reaktion mit dem Deutungsmuster Freiheit widerspiegelt: ders., Freiheit, bes. 13-15;
27 f.; 50-53.827
Vgl. für den chronologisch-geographischen Ablauf: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 147.828
Vgl. Backes, Liberalismus, 101-103.829
Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 104.830
Johann Jacoby, Meine politischen Grundsätze, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 296-303; hier:
298.831
Ebd., 302.832
Vgl. Schildt, Konservatismus, 54-56.
123
seinem üblichen sonntäglichen Kirchbesuch nachzukommen, einen „Panier erhebenden
Aufruf für Bismarck und andere“.834
In ihm verteidigt er antithetisch die „deutsche
Freiheit“ gegenüber den revolutionären Ereignissen: „Die Revolution von Paris aus
angezündet“, beschreibt er die Lage aus konservativer Sicht, „hat ganz Deutschland, hat
mit besonderer Heftigkeit den Preußischen Staat ergriffen. Nicht nur unser Wohlstand,
unser Besitz, sondern alle Grundlagen deutschen Rechts, deutscher Verfassung,
deutscher Freiheit, alles was uns auf Erden theuer und heilig ist, wird bedroht.“835
Gerlach war darauf bedacht, die Kräfte der Gegenrevolution zu sammeln,836
weshalb
der Protestant zum gemeinsamen Vorgehen gegen die revolutionären Umtriebe alle
Stände aufforderte, „welche deutsches Recht und deutsche Freiheit, welche insbe-
sondere den Preußischen Staat, ohne welchen deutsches Recht und deutsche Freiheit
nicht bestehen kann, gegen revolutionäre Tyrannei zu verteidigen entschlossen sind.“837
Untergeordnete Meinungsverschiedenheiten müssten unbedingt beigelegt werden, um in
einmütigem Entschluss Preußen, das deutsche Recht und die deutsche Freiheit gegen
die revolutionäre Gewalt verteidigen zu können.838
Obgleich Gerlach in einer nach-
revolutionären Parlamentsdebatte darauf verweist, dass er den „Ausdruck ‚deutsches
Recht und deutsche Freiheit’ gebraucht“ habe, um die Rückkehr zur angestammten
Ordnung zu umschreiben, möchte der glaubenstreue Politiker „dem schlimmen Irrtum
keinen Vorschub leisten, der gegenwärtig in der Politik so vielen Schaden anrichtet,
dem Irrtum, die Nationalität als oberstes Rechtsprinzip hinzustellen.“839
Angestoßen
durch die revolutionären Ereignisse erwies sich das Deutungsmuster „deutsche
Freiheit“, auf dessen Reservoir Gerlach zurückgreifen konnte, einmal mehr als
antithetische Argumentationsfigur, die zur Verteidigung der althergebrachten Ordnung
und zur Abwehr unliebsamer Modernisierungsschübe eingesetzte wurde.
Die Dynamik der Ereignisse ließ sich allerdings durch den Rückgriff auf den
deutschfreiheitlichen Sprachgebrauch nur wenig beeinflussen. So gaben am 26. April
1848 die 17 Vertrauensleute Artikel IV der Verfassung, die Grundrechte des deutschen
Volkes, bekannt.840
Das Reich verbürgt nach deren Vorschlag in Paragraph 25 „dem
deutschen Volke [...] Grundrechte, welche zugleich der Verfassung jedes einzelnen
833 Vgl. umfassend zu Gerlach: Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach.
834 Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 518 f.; hier: 518.
835 Ebd.
836 Vgl. Kraus, Von Gerlach, 163 f.
837 Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 519.
838 Vgl. ebd.
839 Ernst Ludwig von Gerlach, Rede zum § 1 der Unionsverfassung, 11. Sitzung des Volkshauses des
Erfurter Parlaments, 15.04. 1850, zit. nach: Fenske (Hg.), Weg, 27-30; hier: 29.840
Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, bes. 774-784 (§ 57 „Der Kampf um die Freiheit“).
124
deutschen Staates zur Norm dienen sollen.“841
In die Diskussion um die Einsetzung
einer provisorischen Zentralgewalt, die die Anfänge der Arbeit im Parlament bestimmte,
schaltete sich der gebürtige Kölner Robert Blum ein, der ein einflussreicher Vertreter
der gemäßigten Linken war, die sich in der Gaststätte „Frankfurter Hof“ versammelte.
Seiner Ansicht nach, die mit dem Verweis auf die historische Sondersituation des
Reiches einhergeht, ist es eine „Gotteslästerung der Freiheit, wenn man ihr aufbürdet,
daß sie krankt an dem Erbe, welches sie von der Despotie unfreiwillig hat mit
übernehmen müssen.“842
Stets hatte Blum für ein beherztes Eintreten zur Erlangung der
Nationaleinheit als Königsweg zur Freiheit plädiert: „Deutsche, nützt die hehren
Stunden! / Wenn sie einmal hingeschwunden, / Sind sie ewig uns vorbei; / Laßt das
große Völkerringen / Etwas wenigstens uns bringen: / Werdet eins! Dann sind wir –
frei!“843
Blum galt als einer der hoffnungsvollsten Vertreter der Freiheitsbewegung,
dem sogar von seinen ernsthaftesten Widersachern zugetraut wurde, künftiger Präsident
einer deutschen Republik werden zu können. Im November 1848 wurde Robert
Blum,844
der in seiner Eigenschaft als Leipziger Theatersekretär die Schillerfeiern
mitbegründete, durch eine standrechtliche Erschießung in Wien845
seinen Mitstreitern
zum „Märtyrer der deutschen Freiheit“846
. Um die Toten der Revolution entstanden, wie
Blums Beispiel belegt, regelrecht Kulte, die jedoch stärker politischer Code als sakrales
Bekenntnis waren.847
Als Mitglied einer Abordnung der Linken innerhalb der National-
versammlung war Blum in die Österreichische Hauptstadt aufgebrochen, um den
dortigen Aufständischen eine Sympathieadresse zu überbringen, die Mitte 1848 die
Gewalt an sich gerissen hatten. Nach der Rückeroberung Wiens durch kaiserliche
Truppen wurde Blum von diesen am 9. November 1848 in der Brigittenau trotz seiner
Abgeordnetenimmunität wegen Beteiligung an den Barrikadenkämpfen hingerichtet.
841 Verfassungsentwurf der 17 Vertrauensleute, 26. April 1848, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.),
Erinnerungsstätte, 193. Wesentliche Punkte des Entwurfs sind: Volksvertretung mit Budgetrecht und
Ministerverantwortlichkeit; kommunale Selbstverwaltung; Unabhängigkeit der Justiz; Gleichheit aller
Stände; allgemeine Bürgerwehr; Vereins- und Versammlungsfreiheit; Petitions- und Beschwerderecht;
Pressefreiheit; Postgeheimnis; Unverletzlichkeit der Wohnung und Schutz vor polizeilicher Willkür;
Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit; freie Berufswahl; Wissenschaftsfreiheit; Glaubensfreiheit und
Minderheitenschutz.842
Robert Blum, Einsetzung einer provisorischen Zentralgewalt, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1,
304-311; 310 f.843
Robert Blum, An Germania, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 100.844
Vgl. zu Blums Freiheitsbegriff: Schmidt, Freiheitsverständnis.845
Vgl. für einen Überblick der Revolutionsereignisse in Österreich: Müller, Revolution, 46-48; 114-118.846
Vgl. die „Gedächtnistafel unseres verewigten Robert Blum“, in: Hirsch, Robert Blum, o.S.847
Vgl. hierzu: Hachtmann, Epochenschwelle, 194 f.
125
Seine letzten Worte waren angeblich: „Ich sterbe für die deutsche Freiheit, für die ich
gekämpft habe – möge das Vaterland meiner eingedenk sein!“848
Von konservativer Seite erhob sich unter dem Banner der „deutschen Freiheit“
wiederholt Kritik an der revolutionären Freiheitsrhetorik. Das Gründungsprogramm der
Kreuzzeitung849
vom 16. Juni 1848 verwehrt sich, indem es die longitudinalen
Auswirkungen der Ereignisse auf das kollektive Gedächtnis abzuschätzen sucht, heftig
dagegen,
„daß die Revolution, die als Tatsache nicht ungeschehen zu machen ist, sich als
Prinzip unseres öffentlichen Lebens festsetze, daß dem deutschen Volke im Namen
der Freiheit und des Fortschritts fremde und undeutsche Institutionen aufgedrungen
werden, die uns mit dem Verluste wie der heiligsten sittlichen Güter, so auch der
ganzen Summa an Recht, Gesittung und Bildung bedrohen, die ein kostbares Erbe
unserer geschichtlichen Vorzeit, der Schmuck und Ruhm unseres deutschen
Vaterlandes sind.“850
Eine Spaltung der Nation in Freiheitsfragen – in eine konservative und eine progressive
Interpretationslinie – ist vor der Folie der unterschiedlichen Deutungsangebote zu kon-
statieren.
Im Entwurf des Verfassungs-Ausschusses der konstituierenden Nationalver-
sammlung vom 4. Juli 1848 zu den Grundrechten des deutschen Volkes wird die
Bedeutung der Verfassung, die von den Autoren als „Wendepunkt in der deutschen
Geschichte“ bezeichnet wird, für die prospektive Begründung von „Einheit und Freiheit
Deutschlands“ betont.851
In letzterer Formulierung ist die selbstgestellte Doppelaufgabe
der Liberalen, Einheit und Freiheit gleichzeitig zu erlangen, die, wie zahlreiche
Meinungsbekundungen zum Ausdruck bringen, vor dem historischen Hintergrund des
deutschen Partikularismus852
besonders schwer zu verwirklichen gewesen sei, als
zentraler historischer Bezugspunkt der Bewegung erkennbar. Ein egalitärer Einschlag,
der allerdings keine grundlegende sozialstaatliche Reform vorsah, war den Formu-
lierungen der Grundrechte zu Eigen.853
Laut Artikel 2 Paragraph 6 der Grundrechte
sollten sämtliche Standesprivilegien dem Gleichheitsgrundsatz weichen. Die Ab-
schaffung des Adels, eine Konsequenz dieser Formulierung, wurde in der National-
848 Zit. nach: Gyseke, Volk, 105. Diese Vermutung wird insbesondere von Nationalkonservativen wie
Gyseke vertreten, die damit in geschichtsrevisionistischer Absicht „einen anderen 9. November“
konstituieren wollen. 849
Vgl. zur Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung: Rohleder/Treude, (Kreuz-) Zeitung.850
Gründungsprogramm der Kreuzzeitung, 1848, zit. nach: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 38 f.;
hier: 38.851
Die Grundrechte des deutschen Volkes. Entwurf des Verfassungs-Ausschusses der constituierenden
Nationalversammlung vom 4. Juli 1848, zit. nach: Freund (Hg.), Liberalismus, 29-37; hier: 30.852
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 289.853
Vgl. ebd.
126
versammlung am 1. August 1848 thematisiert.854
Vor diesem Hintergrund stellte der
Germanist Jacob Ludwig Grimm,855
einer der Göttinger Sieben, kurz vor seinem Aus-
tritt aus der Versammlung Reflexionen über den Freiheitsbegriff an:856
„Der Adel ist eine Blume, die ihren Geruch verloren hat, vielleicht auch ihre Farbe.
Wir wollen die Freiheit, als das Höchste, aufstellen, wie ist es dann möglich, daß
wir ihr noch etwas Höheres hinzugeben? Also schon aus diesem Grunde, weil die
Freiheit unser Mittelpunkt ist, darf nicht neben ihr noch etwas anderes Höheres
bestehen. Die Freiheit war in unserer Mitte, so lange deutsche Geschichte steht, die
Freiheit ist der Grund aller unserer Rechte von jeher gewesen; so schon in der
ältesten Zeit. Aber neben der Freiheit hob sich eine Knechtschaft, eine Unfreiheit
auf der einen und auf der anderen Seite eine Erhöhung der Freiheit selbst. In dieser
Gliederung scheint mir ein Beweis gegen den Adel zu liegen. Als die härtere Un-
freiheit sich in eine mildere auflöste und neben der härteren bestand, da entsprang
auch eine Erhöhung der Freiheit in den Adel und des Adels in die fürstliche Würde.
Nachdem diese Erhöhung der Unfreiheit aufgehört hat, muß auch die des Adels
fallen.“857
In der Beratung der Grundrechte im Spätjahr 1848 stellte der fraktionslose Jacob
Ludwig Grimm den Antrag, dem ersten Artikel einen weiteren vorzulagern.858
„Das
deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft.
Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei“, lautete sein Ergänzungs-
vorschlag,859
womit Grimm an die Forderungen des Befreiungskampfes anknüpft, doch
blieb seine Eingabe unberücksichtigt.
Der grundlegende Konflikt in der Nationalversammlung lag, so der Historiker
Droysen in einer kurz nach dem Scheitern der Verfassungsbewegung verfassten
Analyse, im Gegensatz derer, die „aus der größten Freiheit der einzelnen den besten
Staat zu schaffen gemeint waren, und derer, welche in der gesicherten Festigkeit und
Ordnung des Ganzen auch die Freiheit des einzelnen bedingt sahen.“860
Das Verhältnis
von individueller und kollektiver Freiheit wird in Droysens Bewertung als umfassender
Rahmen erkenntlich, innerhalb dessen sich die Positionierung des jeweiligen Freiheits-
verständnisses vornehmen lässt.
Am 5. Dezember 1848 oktroyierte König Friedrich Wilhelm IV., um einen Ausblick
auf das Ende der revolutionären Dynamik zu wagen, eine Verfassung für Preußen, die
854 Christof Dipper weist darauf hin, dass ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Abgeordneten der
Frankfurter Nationalversammlung, etwa 15 %, dem Adel angehörte (ders., Adelsliberalismus, bes.: 176
f.). 855
Vgl. zu Jacob Grimm: Denecke, Jacob Grimm, 40-182; Grünert, Begriff.856
Vgl. zu Jacob Grimm als Redner in der Paulskirche: Erben, Jacob Grimm.857
Jacob Grimm, Über die Abschaffung des Adels, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 388-394; hier:
389.858
Vgl. zu Grimms Tätigkeit in der Nationalversammlung: Vogel, Jacob Grimm.859
Antrag Jacob Grimms zur Beratung der Grundrechte in der Nationalversammlung, zit. nach: Einigkeit
und Recht und Freiheit, 177 (dort auch eine Abb. des handschriftlichen Originals). 860
Droysen (Hg.), Verhandlungen, 21.
127
sich in etlichen Punkten – außer dem des nun wieder unbeschränkten Vetorechts des
Königs – an die in der Paulskirchenversammlung erarbeitete Konstitution anlehnte.861
Am 28. Dezember 1848 traten die von der Nationalversammlung in dreifacher Lesung
behandelten Grundrechte durch ihre Veröffentlichung im Reichs-Gesetzblatt in Kraft.862
Die Verfassung sollte am 28. März 1849 folgen.863
Die Paulskirchenversammlung, in der sich die Freiheitsbewegung eine konstitu-
tionelle Form gab und eine allgemeinverbindliche Verfassung mit einem Grundrechts-
katalog erarbeiten wollte, bildete den Kumulations- und zugleich Wendepunkt der
Entwicklung, da sie von großer Euphorie getragen und mit vielen Hoffnungen verbun-
den zusammentrat, jedoch in Desillusionierung und Resignation auseinanderbrach.864
Sie sah sich während ihrer Sitzungszeit vorrangig mit zwei Aufgaben betraut: einerseits
mit der Gründung eines Nationalstaates, andererseits mit der Formulierung einer Ver-
fassung. Die Herstellung von Einheit und Freiheit war also – wenn man unscharf
formuliert – ihre Aufgabe,865
was mit den in die Versammlung gesetzten Hoffnungen
korrelierte. Der Abgeordnete Marquard Barth äußerte sich im Zusammenhang mit der
Frage nach dem neuen Staatsoberhaupt darüber, dass das deutsche Volk sich die
Freiheit im März wiedererobert habe. „Das deutsche Volk“, führte er aus, „hat uns
hierher gesendet, um ihm die wiedererrungene Freiheit sicherzustellen für alle Zukunft.
Wir haben den ersten Schritt dazu getan durch die Grundrechte, den zweiten, bei
weitem wichtigeren, wollen wir tun durch die Verfassung. Um aber der Nation die
Freiheit zu sichern, müssen wir sie umgeben mit Macht, denn Freiheit ohne Macht ist
ein leerer Schein.“866
Die Tagungen, während derer eine Tendenz zum Doktrinarismus vorherrschte,
endeten mit einem Paukenschlag – der Ablehnung der angetragenen Krone durch
Friedrich Wilhelm IV. –, der sich nachhaltig im kollektiven Gedächtnis festschrieb.867
In einer Adresse an das Volk sprach der preußische König von „einer Einheit in der
Verschiedenheit, einer Einheit mit Freiheit“, die es durch die allgemeine „Einführung
861 Vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte, 312-317; Winkler, Weg, Bd. 1, 115.
862 Vgl. Schenk, Nationalversammlung, 151; Willoweit, Verfassungsgeschichte, 304.
863 Vgl. Obenland, Kampf, 212 f. Vgl. zur Verortung in der deutschen Verfassungsgeschichte: Boldt,
Reichsverfassung. Vgl. zum Text: Verfassung des deutschen Reiches (1849), in: Blanke (Hg.),
Verfassungen, 169-208.864
Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 107 f.865
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 613. 866
Rede des Abgeordneten Marquard Barth über die Oberhauptsfrage, 154. Sitzung der Deutschen
Nationalversammlung, 18. Januar 1849, zit. nach: Fenske (Hg.), Vormärz, 396-399; hier: 397.867
Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 239.
128
wahrer konstitutioneller Verfassungen“ zu verwirklichen gelte.868
Ernst Ludwig von
Gerlach vermerkte in seinen Aufzeichnungen spöttelnd zu diesem Ereignis: „Der alte
Ernst Moritz Arndt beschwor in diesen Tagen den König in einem Briefe, in welchem er
in hohem Tone den König Du nannte, eine Krone anzunehmen. Der König antwortete
alsbald, freundlich aber ablehnend.“869
Die Idee der Freiheit, die zu den bewegenden Kräften um die Mitte des 19.
Jahrhunderts gehörte, zu realisieren und in deutschen Gefilden heimisch zu machen,
hatten sich zahlreiche Gruppierungen auf das Banner geschrieben,870
obgleich das
Freiheitspathos auf geteilte Resonanz in der Bevölkerung stieß.871
Die nach der Auf-
lösung der Nationalversammlung in Auseinadersetzung mit der staatlichen Gewalt
ausgetragenen Rückzugsgefechte der radikal-republikanischen Freiheitskämpfer unter
der Ägide von Hecker und Struve wurden nach kurzem Intermezzo brachial beendet,
was konstitutionell verbürgte Freiheitsforderungen infolge der erlittenen Niederlage in
den Hintergrund des Diskurses treten ließ.
„Eine andere Kraft, welche neben dem immer reger werdenden Bestreben nach
Freiheit in den Kampf der Gegenwart geraten und die höchste Bedeutung gewonnen, ist
das Gefühl der Nationalität und der daran von Natur selbst geknüpften unvertilgbaren
Rechte.“872
Sie vermochte zunehmend den Diskurs zu prägen. Friedrich Julius Stahl,873
Wegbereiter einer konservativen Revolution und enger Berater Friedrich Wilhelm IV.,
begrüßte diese Entwicklung und sprach sich explizit gegen den Liberalismus aus, indem
er antiparlamentarisches Gedankengut vertrat.874
Ein organisch gestaltetes göttliches
Recht sollte als Grundlage einer konstitutionellen Monarchie dienen.875
Er fürchtet, wie
er bekennt, nicht die „akute Krankheit der Demokratie“. Ihr zu widerstehen sei der
Organismus des Staatskörpers in Deutschland noch stark genug. Vielmehr fürchtete er
die „chronische Krankheit des Liberalismus“.876
Leopold von Gerlach, der Bruder Ernst
868 Proklamation König Friedrich Wilhelm IV., 21. März 1848, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.),
Erinnerungsstätte, 170.869
Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 43 (vom 24. März 1849).870
Vgl. das Programm zur Gründung der „Rheinischen Volkshalle“, einer katholischen Tageszeitung,
vom 13. Mai 1848 in: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 200-202.871
Vgl. Steinmetz, Sprechen, 1110-1112.872
Programm zur Gründung der „Rheinischen Volkshalle“ vom 13. Mai 1848, zit. nach: Mommsen (Hg.),
Parteiprogramme, 200-202; hier: 202.873
Vgl. Beyme, Theorie, 475-483; zur Person: Masur, Friedrich Julius Stahl.874
Vgl. Durner, Antiparlamentarismus, 33-35.875
Vgl. zu Stahls Rechtsphilosophie und Staatstheorie: Füßl, Friedrich Julius Stahl, 184-186; Grosser,
Grundlagen.876
Friedrich Julius Stahl, Gegen den Liberalismus, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 435-442; hier:
438.
129
Ludwigs,877
befindet, der von der Revolution hervorgebrachte Konstitutionalismus sei
ein so totes Ding, dass er ihn bei gutem Regiment der „wahren Freiheit“ nicht einmal
hinderlich und der Zerstörung nicht wert erachtet.878
4.1.9 Die realpolitische Wende mit dem Paradigmenwechsel von der Freiheit zur
Einheit – „als ob die Freiheit bei uns blos eine Jastrolle jejeben“
Das Erlahmen der Dynamik des Aufbruchs zur Freiheit von 1848 und 1849879
trug zur
De-Idealisierung der progressiven Kräfte bei und erbrachte eine zunehmende Orientier-
ung an den realpolitischen Gegebenheiten.880
Dies wirkte sich auch auf das im
öffentlichen Diskurs vertretbare Deutungsspektrum aus und führte dazu, dass nun
äußere, nationalstaatliche Freiheit und politische Einheit der Nation den Vorrang vor
inneren Reform- und Verfassungsbestrebungen genossen und somit endgültig in den
Vordergrund traten.881
Das von den 48-ern angestrebte Doppelziel von Freiheit und
Einheit hingegen rückte ferner, was eine Entwicklung innerhalb des Liberalismus
beschleunigte, die der Einheit voraussetzungslos das Prä einräumte.882
Die „Besiegten“
von 1848/49 versuchten in der realistischen Einschätzung ihrer längerfristigen
Perspektiven den fortschreitenden Weg zu mehr Freiheit nun verstärkt auf inner-
konstitutionellem Terrain, im Rahmen der vorhandenen, wenngleich sie nicht zufrieden
stellenden Verfassungen, einzuschlagen.883
Ein zentralistischer Einheitsstaat erschien
als die angemessenere Form zur Verwirklichung einer spezifisch „germanischen
Freiheit“884
und ermöglichte es, dass revisionistische Bewegungen innerhalb des
liberalen Spektrums die Oberhand gewannen.885
Der Nachmärz sollte daher unter dem
Apriori der Einheit stehen,886
weshalb weder dem idealpolitisch orientierten
877 Vgl. zum Brüderpaar Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach: Kraus, Von Gerlach.
878 Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 67 (vom 24.08. 1849).
879 Vgl. Gall, Aufbruch, 16-21.
880 Vgl. Jansen, Einheit, 256-265 spricht in Bezug auf die Paulskirchenlinke von einem
Paradigmenwechsel (aaO., 259); vgl. auch: Koch, Liberalismus, 47 f.; Michalka, Weg, 254 f.; Mommsen,
Freiheit, 26 f.; ders., Jahrhunderte, 387 f.; Offermann, Liberalismus, 109; Vorländer, Liberalismus, 11 f.;
Winkler, Weg, Bd. 1, 137. Vgl. hierzu auch die beiden letzten Kapitel in Kriegers Darstellung zur
deutschen Idee der Freiheit, die in der Verbindung mit der Realpolitik von einem personellen und
institutionellen Niedergang des Liberalismus für die Zeit bis etwa 1870 sprechen (ders., Idea, 341-397;
398-457).881
Vgl. Dyson, State, 130.882
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 726; Winkler, Weg, Bd. 1, 128; 130 f.883
Vgl. Nipperdey, aaO., 718-720.884
Vgl. Jansen, Einheit, 510-520; bes. 517.885
Vgl. Gall, Liberalismus, 176 f.886
Vgl. Kaschuba, Nation, 89.
130
Liberalismus des Vormärz noch dem realpolitisch orientierten der zweiten Jahr-
hunderthälfte eine umfassende Durchdringung des politischen Diskurses und eine
institutionelle Verankerung gelang.887
Nur in der resignativen Flucht in den Spott bot
sich eine Kompensationsmöglichkeit. So formulierte eine Karikatur aus dem komischen
Volkskalender des Berliner Satirikers und Humoristen Adolf Glasbrenner, auf der die
Freiheit in Kittelschürze mit Jakobinerhut und Freiheitskranz auf einer Bühne abge-
bildet ist, in Berliner Dialekt konsterniert: „Ich weiß nicht, mir kommt es immer vor, als
ob die Freiheit bei uns blos eine Jastrolle jejeben un sehr unjlücklich gespielt, debutiert
hat, nennt man das. Sie trat als ‚Weib aus dem Volke’ auf, aber das Bürjerwehr-
Kommando hat se jleich austrommeln lassen.“888
Nicht nur die Männer stritten, wie das obige Zitat nahe legt, für mehr Freiheit und
machten sich dabei bekannte Deutungsmuster dienstbar. Luise Otto verfocht eine Mitte
des 19. Jahrhunderts keinesfalls selbstverständliche Position, wenn sie die Ausweitung
freiheitlicher Errungenschaften auch auf das weibliche Geschlecht verlangte. In einem
Artikel in der ersten Nummer ihrer Frauen-Zeitung forderte sie im April 1849 unter der
Überschrift „Die Freiheit ist untheilbar“ die Gleichberechtigung der Frauen ein.889
Sie
argumentierte: „Also freie Männer dürfen keine Sklaven neben sich dulden – also auch
keine Sklavinnen. Wir müssen den redlichen Willen oder die Geisteskräfte aller
Freiheitskämpfer in Frage stellen, welche nur die Rechte der Männer, aber nicht
zugleich auch die der Frauen vertreten.“890
Nur ein Staat, der auf den Grundpfeilern der
Freiheit ruhe, könne sie gewährleisten.891
Für die Vorkämpferin der Frauen-
emanzipation ist „wahre Freiheit [...] die Gottheit, die man nicht auf dem oder jenem
Berge nur anbeten kann, sondern die man verehren und ihr dienen muß und kann
allenthalben, wo ihr auch noch kein Tempel errichtet ist.“892
Louise Ottos Wahlspruch
„Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen“ zierte den Kopf des in Meißen
verlegten Blattes.
Demokratie, bekundete eine Beiträgerin der Frauen-Zeitung, sei die Religion der
Frauen; Dienst an der Freiheit ist daher eine weibliche Aufgabe, wie einer jener Artikel
bekundet, der „unter den Vornamen schüchterner Frauen, die sich scheuten, ihren
887 Vgl. Vierhaus, Ideologie, 105.
888 Die Freiheit auf der Bühne, in: Glasbrenners komischem Volkskalender 1849, zit. nach: Kalkschmidt,
Freiheit, 83.889
Louise Otto, Die Freiheit ist unteilbar, in: Frauen-Zeitung Nr. 1 vom 21.04. 1849, 2.890
Ebd.891
Vgl. ebd.892
Ebd.
131
ganzen Namen der Öffentlichkeit zu verraten“, erschien.893
Die Autorin Martha gibt
eine Charakterskizze der freiheitsliebenden Frauen, wenn sie ausführt: „Liebe ist der
Grundzug unseres Charakters, wir dienen leicht und freudig der Freiheit, denn wohl
freier von Selbstsucht als der Mann gönnen wir allen ihre Rechte, ihre freie individuelle
Entwicklung.“894
In Erwartung neuerlicher, restriktiver werdender Pressegesetze stellte
die Zeitung mit Jahresende 1850 vorsorglich ihr Erscheinen ein. Louise Otto resümierte
vor der „Suspensation“ nicht ohne Stolz, dass die Frauen-Zeitung „dem Reich der
Freiheit Bürgerinnen geworben“ hat.895
Deutschlands bessere Hälften mussten aller-
dings noch bis 1919 warten, bis sie beispielsweise gleichberechtigt an freien Wahlen
teilnehmen konnten.
In etwa parallel mit dem Verlauf der Märzrevolution, um die längerfristige Qualitäts-
veränderung des Freiheitsbegriffs zu charakterisieren, ist der endgültige Umschwung
vom ständischen Freiheitsverständnis zu einem naturrechtlich basierten Gedanken-
modell zu verzeichnen.896
Die Vorrangstellung wurde nun, wie bereits herausgearbeitet,
der nationalstaatlichen Einigung eingeräumt. Statt des nach innen gerichteten Freiheits-
gedankens idealistischer Prägung entwickelte sich ein außenpolitisch dominiertes
Begriffsverständnis zum vorherrschenden im Diskurs der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Die größte Gebietskörperschaft des Reiches, Preußen, setzte sich an die
Spitze der Einigungsbewegung, weil ihr Protagonist Bismarck erkannte, dass in diesem
Zusammenhang die Möglichkeit für eine Profilierung der preußischen Position und die
damit verbundene Option eines Vorherrschaftsanspruchs Preußens verborgen lag. Dem
Bürgertum, das ein besonderes Vertrauen in die Wohltätigkeit des Staates hatte, kam
dies entgegen, woraufhin das Spannungsverhältnis von Einheit und Freiheit wuchs.897
Schon bald übertraf das moralische Ansehen von Blut und Eisen898
dasjenige der
Freiheit.899
Jacob Talmon bezeichnete die Mitte des 19. Jahrhunderts als Epoche der Hochflut
des politischen Messianismus und Kollektivismus, in der die Hauptkonfliktlinie
zwischen Freiheit und Spontaneität der Menschen einerseits, und Massen-
organisationen, organischen Wesenheiten und der Komplexität der industriellen
893 Louise Otto, Abschiedswort, in: Frauen-Zeitung Nr. 52 vom 31.12. 1850, 1-3; hier: 3.
894 Martha, Demokratie, die Religion der Frauen, in: Frauen-Zeitung Nr. 25 vom 22.06.1850, 2 f.; hier: 2.
895 Louise Otto, Abschiedswort, in: Frauen-Zeitung Nr. 52 vom 31.12. 1850, 1-3; hier: 3; 1.
896 Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 490; Maier/Oberreuter, Herkunft, 167.
897 Vgl. Kaschuba, Nation, 96. Vgl. auch: Mommsen, Freiheit, der die Spannung zwischen den Postulaten
der Freiheit und der nationalen Einheit als „Grundthema der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahr-
hunderts“ benennt (aaO., 15).898
Vgl. zu dieser Parole: Jähne, Blut.899
Vgl. Anderson, Freedom, 10.
132
Beziehungen andererseits, anzusiedeln sei.900
Auch Ludwig von Mises, ein konse-
quenter Vertreter eines methodologischen Individualismus,901
sieht in ähnlicher
Perspektivierung das wichtigste Ereignis der politischen Geschichte des 19. Jahr-
hunderts in der Verdrängung des Liberalismus durch den Etatismus, der in Sozialismus
und Interventionismus übergegangen sei.902
Gerade auf dem rechten Flügel des Liberalismus wurden stark organizistisch-
staatsbezogene Vorstellungen vertreten, die davon ausgingen, der überindividuellen
Kollektivwirklichkeit komme ein Vorrang gegenüber dem Individuum zu.903
Indem der
Versuch unternommen wird, eine übergeordnete Ebene zu konstruieren, innerhalb derer
dem Staat die Schutzfunktion für Recht und Freiheit zukommt, wird nicht mehr Freiheit
vom Staat, sondern die pflichtgemäße Bindung an diesen im Interesse der Gesamtheit
betont.
Die Abschaffung der so genannten Vielstaaterei, die als historische Hypothek
fingierte, ging außerhalb der republikanischen Freiheitsvorstellung mit dem vielfach
vertretenen Bedürfnis nach Unterordnung unter einen einzigen Herrscher einer geeinten
deutschen Nation einher.904
Im Gegenstreit zu dieser Argumentation wurde nach 1848
nur vereinzelt auf eine durch die Landeshoheit begründete spezifisch „teutsche Libertät“
verwiesen, die sowohl innerstaatliche wie auch äußere Selbständigkeit verbürge, sofern
900 Vgl. Talmon, Messianismus, 9: „Die Annahme, der individuelle Selbstausdruck würde um so freier
und vollkommener sein, je gebundener die Kollektivordnung ist, leitete sich nicht von dem Begriff des
Menschen, wie er tatsächlich ist, her, sondern von der Vorstellung, wie er sein sollte und sicherlich
werden würde; gegebenenfalls sollte man ihn dazu bringen, so zu werden. Die Nichtanpassung des
Rebellen oder Widerspenstigen sei nicht als Argument gegen den Anspruch des Systems auf
Verkörperung der Harmonie zu werten, sondern als Beweis für die verderbte Natur des sich nicht
anpassenden Individuums. In einer höchst komplexen Gesellschaft würde sich dies als ernster erweisen
als in einer verhältnismäßig einfachen vorindustriellen Zeit.“901
Vgl. Vanberg, Soziologien, 85-94, hier: 86.902
Vgl. Mises, Gefahren, 65. Zu dem etatistischen Mythus führt er in seiner 1939 entstandenen Studie zu
den Gefahren des transzendental überhöhten Kollektivismus aus: „Hand in Hand mit der Staatsvergottung
geht der Heroenkult. Der strahlende Held wird, durch den Weltgeist erleuchtet, Volk und Staat dem Heil
entgegenführen. Nichts macht der Etatist der modernen Gesellschaftslehre und Geschichtsschreibung
mehr zum Vorwurf als das, daß sie den Glauben an die übermenschliche Leistung großer Männer zerstört
hat. Er träumt vom Retter, vom Führer, vom Diktator. Überflüssig ist es, sich den Kopf zu zermartern, um
den Weg der Verwirklichung der Utopien zu entdecken. Dem Führer wird es der Weltgeist schon
eingeben. Dem Heros zur Seite stehen seine Paladine, die Beamten. Sie sind die Priesterschaft des Gottes
Staat. [...] Der Kultus des Staates mündet naturgemäß in den Kultus der Gewalt ein. [...] Wie der arme
Sünder vor Gott arm und bloß dasteht, so sieht der Etatismus den einzelnen in erbärmlicher Nichtigkeit.
Das Wohl des einzelnen gilt nichts, wenn die höheren Interessen des Staates auf dem Spiele stehen. [...]
Die etatistische Ethik spricht dem Individuum die Fähigkeit ab, selbst zu erkennen, was ihm und dem
Ganzen frommt. Was als nützlich oder als schädlich angesehen werden soll, wird von der Regierung
bestimmt. Der Untertan hat blind dem Führer zu folgen. Nicht der Untertan, der Führer allein hat zu
bestimmen, was gut, richtig und sittlich ist. Man kann diese Lehre nur dann aufrechterhalten, wenn man
überzeugt ist, daß der Führer oder die Führer nicht irrende Menschen sind wie alle übrigen Sterblichen,
sondern Statthalter Gottes auf Erden. Jede nichtliberale Gesellschaftslehre mündet unausweichlich in die
Theokratie ein.“ (AaO., 89-91).903
Vgl. für das Nachfolgende: Nipperdey, Deutsche Geschichte, 386 f.904
Vgl. z.B. das Gedicht Wilhelm Raabes unten: Kap. 4.1.10, 137.
133
sie sich nicht gegen das Reich richte.905
In den Parolen „durch die Freiheit zur Einheit“
und „durch die Einheit zur Freiheit“ fand die Kontroverse ihren Ausdruck,906
wobei
Freiheit in der letzten Perspektive nicht als primordial angesehen wird, sondern als
subordinierte Komplementärbedingung der nationalen Einheit. Nicht eine Erklärung der
Menschenrechte, sondern die Rechte des deutschen Volkes waren gemäß diesem
Interpretationsansatz das vorläufige Resultat der letztendlich gescheiterten Verfassungs-
gebung.
Die beiden in der Paulskirche verhandelten Hauptproblempunkte von nationaler
Einheit und konstitutionell garantierter Freiheit blieben also weiterhin virulent, ihre
Lösung schien gar in noch weitere Ferne gerückt zu sein.907
Freiheit sollte, so die sich
nun immer stärker durchsetzende Mehrheitsmeinung, deduktiv von außen herbeigeführt
werden, da induktive freiheitliche Konstitutionalisierungsversuche, wie sie als Ergebnis
der revolutionären Ereignissen von 1848 und 49 intendiert waren,908
nicht zu den
gewünschten Erfolgen geführt hatten. Die Revolution wurde in den Augen des
bürgerlichen Liberalismus daher immer mehr zu einer Niederlage umgedeutet.909
Doch
trotz der aus liberaler Sicht unerfreulichen Resultate hatte die bürgerliche Freiheitsidee
gemeinsam mit dem Bestreben nach der deutschen Einheit im so genannten Vormärz,
gerade auch in Form der Studentenbewegung, ihre Blütezeit.910
Das Deutungsmuster
der „deutschen Freiheit“ war in aller Munde und kam sowohl für als auch gegen die
Revolutionäre zum Einsatz.
4.1.10 Der nachrevolutionäre Freiheitsbegriff und die Beschwörung der deutschen
Assoziationskraft – „so geht leicht über einer neuen Einheit die längst
besessene Freiheit unter“
Trotz der Rücknahme der Verfassungsbemühungen waren die 50er- und 60er-Jahre eine
Übergangsphase mit wichtigen Errungenschaften.911
Die „Aufhebung des National-
bewusstseins in Freiheitsbewusstsein, der Liebe zum Stamm in Liebe zur Demokratie“,
905 Vgl. [Art. Landeshoheit, in:] Heuss, Politik, 114.
906 Vgl. Heuss, 1848, 221; Miller, Problem, 142.
907 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 661 f.
908 Vgl. zum Hergang der Ereignisse z.B.: Botzenhart, 1848/49; Hachtmann, Epochenschwelle; Hein,
Revolution; Siemann, Revolution; Valentin, Geschichte.909
Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 387.910
Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 80 f. Vgl. zum Verhältnis von politischer Jugendbewegung und Vormärz
insgesamt: Hardtwig, Vormärz, bes. 9-20.911
Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 390; zur Nachhaltigkeit der Revolution: Wehler,
Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, 776-779.
134
wie es sich Arnold Ruge zur Aufgabe gesetzt hatte, blieb allerdings Idee.912
Dennoch
hatten etliche Regelungen, die aus der Revolution und deren Umsetzung in der
Paulskirchenversammlung hervorgingen, weiterhin Bestand, wie sich zusätzlich ein
sozialer Liberalismus mit dem industriellen Aufschwung Deutschlands herausbildete.913
Friedrich Naumann und Hermann Schulze-Delitzsch914
gehören zu den bekanntesten
Vertretern dieser Richtung, die auf der Erkenntnis beruht – um Schulze-Delitsch zu
zitieren –, „daß es die soziale Frage ist, deren Lösung eine der Hauptaufgaben der
Gegenwart bildet“.915
Ihnen zufolge sollte die klassische liberale Lehre im Licht der
neuen gesellschaftlichen Verhältnisse reformuliert werden,916
was effektiv darin zum
Ausdruck kam, dass sich Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum konzeptionell
aneinander annäherten.917
Der sozialliberalen Überzeugung lag die Einsicht zugrunde,
dass es infolge der sich stets verschärfenden gesellschaftlichen Differenzen zu einer
Abkehr von dem Ideal eines individuumsgestützten Fortschritts kommen müsse, um die
Ablehnung positiver staatlicher Eingriffe zu beendigen und aktive freiheitliche Sozial-
politik zum Wohl der Gesamtheit zu betreiben.918
Mit der Gründung von
Genossenschaften und durch verstärkte Volksbildungsmaßnahmen sollten die stets
dringlicher werdenden sozialen Probleme behoben werden.919
Hier setzte sich eine
ökonomisch begründete Staatsbetrachtung, die vom Staat als einer übergeordneten
Genossenschaft ausging, ab von der Vorstellung der noch stärker auf Einheitlichkeit
ausgerichteten Ideen vom Staat als Anstalt oder als Ordnung.920
Gleichwohl muss
angemerkt werden: Die liberalen Genossenschaften stellten keine Gewerkschaften dar,
sondern waren als Vereinigungen zur selbstverantwortlichen Vertretung von Interessen
zugunsten des Gemeinwohls konzipiert.921
Otto von Gierke erteilt in seinem Deutschen
Genossenschaftsrecht922
einem kollektiven Denkmodell innerhalb des Liberalismus
seine Zustimmung. In ähnlicher Weise arbeitete Schulze-Delitzsch die auf den Indivi-
912 Arnold Ruge an Legationsrath B., London, 10. November 1851, zit. nach: Jansen (Bearb.), Revolution,
245-251; hier: 245.913
Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 253-259. Als Vertreter dieser Richtung werden von ihm v.a. Brentano
und Schulze-Gaevernitz genannt. 914
Vgl. zu den Bemühungen Schulze-Delitschs, eine liberale Arbeiterbewegung zu initiieren: Conze,
Möglichkeiten.915
Hermann Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen, zit. nach: Gall/Koch
(Hgg.), Liberalismus, Bd. 4, 163-184; hier: 163.916
Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 395 f.917
Vgl. Offermann, Arbeiterbewegung, 158-267.918
Vgl. Gall, Gesellschaft, 351.919
Vgl. Fenske, Denken, 469.920
Vgl. Dyson, State, 138 f.921
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 738.922
Vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1-4.
135
dualismus reagierende Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe aus.923
Die Assoziation
wird von beiden als vermittelndes Element begriffen, das den Einzelnen aus seiner
Individualität herausführt, ohne jene vollständig zu zerstören.924
Insbesondere Gierke
schildert eindrücklich den Widerstreit zwischen den konkurrierenden Ideen von
Gesamtheit und Individuum und markiert damit zugleich eine weitere Verschiebung des
Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ zugunsten der Kollektivität:
„So tritt auch meist eine neu sich bildende, dem Umfang oder dem Inhalt nach
ausgedehnte Einheit in scharfen Gegensatz gegen die ihr untergeordneten Einheiten
und sucht Gestaltungen, die weiser wären nur zu beschränken, völlig zu
unterdrücken; so versagt umgekehrt die neu errungene Freiheit häufig der
Allgemeinheit auch das, was sie notwendig opfern muß, wenn sie nicht zum
Individualismus führen will. Wird dann nicht eine annähernde Ausgleichung ge-
troffen, so geht leicht über einer neuen Einheit die längst besessene Freiheit unter,
oder eine neue Freiheit löst eine altbegründete Einheit auf, bis allmählich, wenn
überall noch Entwicklungsfähigkeit vorhanden ist, das niedergeworfene Prinzip
sich mit neuem Gehalt füllt und neuer Kampf entbrennt.“925
Freiheit soll in Gemeinschaft verwirklicht werden, deshalb sind in Otto von Gierkes
Denken Individuum und Gemeinschaft gleichursprünglich und gleichberechtigt.926
Den
Germanen spricht der Staats- und Privatrechtler dabei in einem bis auf Tacitus
zurückgehenden, nahezu topischen Interpretationsmuster zu, eine besonders ausgeprägte
Liebe zur Freiheit gehabt zu haben.927
Bei der Übernahme der Idee einer „germanischen Freiheit“, auf deren Ursprünge und
Problematik hier zu verweisen ist, wird nicht reflektiert, dass es sich um ein bewusst
stilisierend eingesetztes Kontrastmittel des Tacitus handelte, um die Situation des
Römischen Reichs zu dramatisieren.928
Die von Tacitus vorgezeichnete Gleichsetzung
des Germanischen mit dem Deutschen griffen späterhin die Humanisten auf, in deren
Folge pietistische Kreise aufgrund der damit verbundenen Anknüpfungsmöglichkeit an
die angebliche Sittenstrenge der Germanen den Vorstellungszusammenhang weiter-
tradierten.929
Fichtes Reden an die deutsche Nation und Arndts Geist der Zeit sind
Texte, die vergleichbare Argumentationsmuster aufnehmen,930
wie insgesamt die
politische Dichtung und Publizistik der Befreiungskriegszeit auf germanische oder
923 Vgl. Aldenhoff, Selbsthilfemodell, bes. 60-62 (zur Konzeption); 63-66 (zu Realisierungsversuchen).
924 Vgl. ebd., 60.
925 Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 2.
926 Vgl. zu Gierkes an der Idee des Gemeinwohls orientierter politischer Theorie: Malowitz, Freiheit, bes.
144 f.927
Vgl. hierzu eine aus dem Jahr 1935 stammende Untersuchung von Wolfgang Samtleben, der die
politische Nutzbarmachung der Idee einer altgermanischen Volksfreiheit im vormärzlichen deutschen
Liberalismus (bei Dahlmann, Welcker, Rotteck, Benzenberg und Gervinius) für seine Gegenwart
untersucht (ders., Idee). Zum Verhältnis von Topik und Politik: Hennis, Politik, 89-115. 928
Vgl. Hermand, Vorwort, bes. 6 f.929
Vgl. Hermand, aaO., 9 f.; Kipper, Germanenmythos, 31-73.930
Vgl. Fichte, Reden; Arndt, Geist, Bd. 1-4.
136
deutsche Freiheitsvorstellungen rekurriert931
und die pseudo-historische Begründung der
Freiheit im deutschen Kontext verstärkt neben die naturrechtlich-rationalistische und die
individualistische Interpretationsrichtung treten lässt.932
Nicht die französischen Vor-
bilder, gegen die man sich antithetisch auflehnt, sondern die Traditionen einer genos-
senschaftlichen Selbstorganisation primärer Gesellschaftsformationen stehen hier-bei im
Vordergrund.933
Das deutsche Volk, welchem Otto von Gierke einen nationalhabituellen Zug hin zur
Universalität und die Fähigkeit zu staatlicher Organisation zuschreibt, besitze zudem
noch eine Gabe, die der Freiheitsidee einen besonderen Gehalt und der Einheitsidee eine
festere Grundlage verleihe: die Genossenschaftsbildung.
„Diese engeren Gemeinwesen und Genossenschaften, welche der Allgemeinheit
gegenüber aber selber Allgemeinheiten sind,“ ist Gierke überzeugt, „bieten allein
die Möglichkeit, eine große und umfassende Staatseinheit mit einer tätigen
bürgerlichen Freiheit, mit einer Selbstverwaltung zu vereinen. [...] Unser deutsches
Volk, ob es gleich, oder vielleicht weil es jene germanischen Grundanschauungen,
welche zur Universalität wie zur individuellen Freiheit drängen, beide aber durch
den Genossenschaftssinn versöhnen, tiefer noch als seine Schwesternationen aus-
bildete, hat länger und schwerer unter den Gegensätzen gelitten als jene. Vor
kurzem konnte man noch sagen, daß, wo es der Einheit bedurfte, die Selbständig-
keit der Glieder einen traurigen Triumph feierte, während in den Einzelstaaten vor
einer übertriebenen Staatseinheit die Freiheit der Gemeinden und Genossen-
schaften zu kümmerlichem Schein herabgesunken war. [...] Und jene Kraft, welche
die Germanen vom Beginn der Geschichte an auszeichnete und aus allen verhäng-
nisvollen Wechseln siegreich wieder hervorging, die schöpferische Assoziations-
kraft, lebt und wirkt mehr als in irgendeinem Volk im deutschen Volk von
heute.“934
Die Vorstellung von einer höheren Daseinsordnung, die auf korporativen
Vereinigungen beruht, zu denen unter anderen auch der Staat gehört, ist der theorie-
leitende Gesichtspunkt in Gierkes Werk.935
Neben die Genossenschaftsidee trat das
Konzept der Bildung als zweite Komponente liberaler Arbeiterpolitik, das zur Lösung
der individuellen wie der gesellschaftlichen Problemlagen eingesetzt werden sollte.936
Auf der Grundlage solcher pseudohistorisch argumentierenden Überlegungen kam es
immer wieder zu dem Versuch, die Eigenheiten eines deutschen Nationalcharakters
gegenüber anderen Nationen hervorzuheben. Mitte des 19. Jahrhunderts vermerkte
beispielsweise Theodor Fontane, durch einen Englandaufenthalt zum Vergleich der
931 Vgl. Hermand, Traum, 19-44; bes. 33-42.
932 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 290.
933 Vgl. ebd.
934 Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 3 f.
935 Vgl. Malowitz, Freiheit, 145.
936 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 738 f.
137
Freiheitstraditionen angeregt,937
Unterschiede und „Parallelen zwischen deutschem und
englischem Wesen“.938
Den Inselbewohnern spricht er ein besonderes Verhaftetsein an
Formen zu, wohingegen die Deutschen den Inhalt bevorzugten.939
Andererseits sei
England praktisch und Deutschland ideal.940
Über die besonderen
Kollektivcharakteristika seiner Landsleute berichtet Fontane mit der Perspektive auf
eine den Eigenarten angemessene Regierungsform:
„Wir haben Bevormundung und Polizei, und der ‚beschränkte Untertanenverstand’
bildet immer noch die Basis von allerhand Gut- und Schlechtgemeintem; wir
werden klein genommen und sind’s in unserer Jagd nach Titeln und Orden, wir
sind zu Hunderttausenden noch die Philister und Krähwinkler der Weltgeschichte
und stehen doch da als die Träger und Apostel einer echten Demokratie. Das Wort
von der Freiheit und Gleichheit ist nirgends weniger eine Phrase, als bei uns. Wir
haben keine politische Demokratie, aber eine soziale.“941
Fontane beobachtet die gesellschaftlichen Entwicklungen kritisch,942
obgleich er von
der Spezifik einer deutschen Freiheitstradition mit ihren sozialen Zügen, die sich bis auf
die Wahrnehmung des politischen Ordnungssystems übertragen, überzeugt ist.
Nachdem die Bemühungen des liberaldemokratischen Bürgertums um freiheitlichere
Gestaltung des öffentlichen Lebens nahezu zum Stillstand gekommen waren, bot der
100. Geburtstag Friedrich Schillers Gelegenheit zur Sammlung der Kräfte.
Deutschlandweit fanden Festakte zu Ehren Schillers statt, was selbst den eher für seine
humorvollen Schilderungen der kleinbürgerlichen Sphäre bekannten Wilhelm Raabe
dazu veranlasste, gelegentlich einer Manifestation auf dem Wolfenbütteler Marktplatz
aufzutreten,943
um die erschwerlichen Zeitumstände zu beklagen.944
In pathetischem
Ton fragte der vom bisherigen Hergang der Freiheitsbewegungen enttäuschte
Dichter:945
„Wird nie ein Retter kommen diesem Lande? / Wird kein Befreier lösen
unsere Bande? / Wird der Messias nie erscheinen in der Welt?“946
937 Vgl. zum Englandaufenthalt Fontanes: Ahrens, Leben, 133-140.
938 Fontane, Sommer, 167. Vgl. den mit „Parallelen“ überschriebenen Abschnitt in Fontanes „Ein
Sommer in England“ (aaO., 166-178). Fontane hielt sich im Jahr 1852 für mehrere Monate in London
auf.939
Vgl. ebd., 167.940
Vgl. ebd., 171.941
Ebd.942
Vgl. zum Verhältnis Fontanes zur Gesellschaft: Lübbe, Fontane.943
Vgl. zu Raabes Wirken in Wolfenbüttel: Fuld, Wilhelm Raabe, 99-162; bes. 143-48; Studnitz,
Wilhelm Raabe, 119-148 (allerdings ohne Erwähnung der Schillerfeier).944
Vgl. zum Hergang der Schillerfeier am 10. November 1859: Noltenius, Dichterfeiern, 113-143. Vgl.
zu Raabes Zeitkritik: Göttsche, Zeitreflexion.945
Pongs weist darauf hin, dass Raabe sich später satirisch von der Schillerfeier und dem von ihm dort
vorgetragen Festgedicht distanziert hat: ders., Wilhelm Raabe, 130.946
Wilhelm Raabe, Zum Schillerfest 1859, zit. nach Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 56.
Vgl. zu den zitierten Versen auch: Noltenius, Dichterfeiern, 122 f.
138
Ferdinand Lasalle947
ist sicherlich nicht die Idealbesetzung, die dem Bildungsbürger
Raabe als „Befreier“ vorschwebte, doch fand Lasalle Zuspruch in breiten
Bevölkerungsschichten. Vielfach wurde er als Messias des Jahrhunderts angesehen.948
Anfang der 60er-Jahre war er mehrfach öffentlich dazu aufgefordert worden, an die
Spitze der Werktätigen zu treten.949
Lasalle entgegnete der 1862 in Briefform an ihn
herangetragenen Bitte, „Führer“950
der Arbeiterbewegung zu werden, mit einem offenen
Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen Deutschen
Arbeiterkongresses zu Leipzig.951
Ende März rang Lasalle sich mit der Veröffentlichung des Antworttextes dazu durch,
einen zentralen Arbeiterverband mitzubegründen, wobei er sich darüber im Klaren ist,
dass „der Arbeiter die Erfüllung seiner legitimen Interessen nur von der politischen
Freiheit erwarten“ kann.952
Die von ihm kritisierte Fortschrittspartei sei mit dem
Anliegen, „auch nur die geringste reelle Entwicklung der Freiheitsinteressen herbeizu-
führen“, gescheitert.953
Eine Partei, die „in der preußischen Regierung den berufenen
Messias für die deutsche Wiedergeburt“ sehe, beraube sich jeden Anspruchs, den
deutschen Arbeiterstand zu repräsentieren.954
Auch einer großdeutschen Lösung unter
Einschluss Österreichs erteilt Lasalle eine Absage, da eine Partei in diesen
geopolitischen Ausmaßen von vornherein „jede Hoffnung, [beseitige,] eine reelle
Entwicklung der Freiheit des deutschen Volkes zu erwarten“.955
Die Gründer des konservativen Preußischen Volksvereins traten vehement gegen den
auch von Lasalle und seiner neu gegründeten Organisation eingeklagten „Bruch mit der
Vergangenheit im Innern unseres Staates“ und für einen Ausbau der Verfassung „im
Sinne deutscher Freiheit“ ein, was ihrer Ansicht nach „in Liebe und Treue zu König und
Vaterland“ geschehen sollte.956
Der rechtsliberal eingestellte Heinrich von Treitschke957
mischte sich mit seinem 1861 erschienenen Aufsatz, der den Titel Die Freiheit958
trägt,
in die durch die Schrift Humboldts mitinitiierte Diskussion über die Grenzen der
947 Vgl. Beyme, Theorie, 781-789.
948 Vgl. Schreiner, Messias, 9.
949 Vgl. Ramm, Ferdinand Lasalle, 487-492.
950 Vgl. zur Verwendung des Wortes „Führer“ in der Arbeiterbewegung: Bartholmes, Gebrauch.
951 Vgl. Ferdinand Lasalle, Offenes Antwortschreiben an des Zentralkomitee zur Berufung eines
allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig, 1863, in: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente,
112-142.952
Ebd., 112.953
Ebd., 114.954
Ebd., 115.955
Ebd.956
Gründungsprogramm des Preußischen Volksvereins vom 20.09. 1861, zit. nach: Fenske (Hg.), Weg,
227 f.957
Vgl. Trautmann, Herausforderung, 40.958
Treitschke, Freiheit, 11.
139
Wirksamkeit des Staates ein959
und konnte damit auch in England und Frankreich auf
Aufmerksamkeit rechnen.960
Treitschke setzt sich mit seiner klassischen
Inhaltsbestimmung des nachrevolutionären Freiheitsbegriffs,961
die in analytischer
Betrachtungsweise etliche Wandlungen des Deutungsmusters erkennen lässt, die Auf-
gabe zu prüfen, ob von den Anhängern der Schule, die wie Mill „das nordamerikanische
Staatsleben [...] preisen, welches von der schönen Menschlichkeit des deutsch-
hellenischen Klassizismus wenig oder gar nichts aufzuweisen hat“, wirklich die
Grundsätze echter Freiheit gepredigt würden.962
Im Gegensatz zu Humboldt weist der
Nationalliberale Treitschke dem Staat eine eher positive Ausrichtung zu, was sich
selbstverständlich im Freiheitsbegriff abbildet.963
Seine Hauptthese ist, dass der Staat
als ein notwendiges Übel sein Ziel in sich selbst hat und ebenso wie jeder Staatsbürger
ein reales Leben führt.964
Durch den Zuwachs an persönlichen und sozialen Rechten
müsse dem Staat als Gegengewicht zu dieser Entwicklung mehr Einfluss zugesprochen
werden, um dadurch in deduktiver Weise individuelle Freiheit zu ermöglichen.965
Treitschkes Vorstellung impliziert die Rechtfertigung positiver Staatsaktivitäten mit der
Begründung, diese seien zum Wohl des Individuums.966
Deshalb übt Treitschke Kritik
daran, dass viele Beobachter im Gefolge Mills im Staat nur die erschreckende Macht
sähen, welche die Freiheit des Menschen bedrohe.967
Dahingegen stellt der Historiker,
der an der Schaffung einer deutschen Tradition interessiert ist,968
einen paternalistischen
Staats- und Freiheitsbegriff, der in einer überzeitlichen Vorstellung auf die organische
Gesamtheit der Bevölkerung abgestellt ist.
„Der Staat, der die Ahnen mit seinem Rechte schirmte, den die Väter mit ihrem
Leibe verteidigten, den die Lebenden berufen sind auszubauen und höher ent-
wickelt Kindern und Kindeskindern zu vererben, der also ein heiliges Band bildet
zwischen vielen Geschlechtern, er ist eine selbständige Ordnung, die nach ihren
eigenen Gesetzen lebt. Niemals können die Ansichten der Regierenden und der
Regierten sich gänzlich decken; sie werden im freien und reifen Staate zwar zu
demselben Ziel gelangen, aber auf weit verschiedenen Wegen. Der Bürger fordert
vom Staate das höchstmögliche Maß persönlicher Freiheit, weil er sich selber
ausleben, alle seine Kräfte entfalten will. Der Staat gewährt es, nicht weil er dem
959 Treitschke ernennt in seiner ihm eigenen, scharfzüngigen Diktion Humboldt zu einem „Apostel der
Humanität“.960
Als bekanntester Rezipient der Humboldtschen Jugendschrift, die erst Jahrzehnte nach ihrer
Entstehung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist, darf John Stuart Mill gelten.961
Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 518.962
Treitschke, Freiheit, 11. Andererseits führt Treitschke den Materialismus des englischen Lebens im
Vergleich zur „Freiheit von jenseits des Rheins“ als beispielhaft an (Treitschke, Aufsätze, 732).963
Vgl. Knoll, Führungsauslese, 100.964
Vgl. Krieger, Idea, 367.965
Vgl. ebd., 368.966
Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 251.967
Vgl. Treitschke, Freiheit, 19.968
Vgl. Talmon, Myth, 104.
140
einzelnen Bürger gefällig sein will, sondern weil er sich selber, das Ganze im Auge
hat.“969
Alle Vorstellungen von Freiheit, die die Freiheit nicht innerhalb des Staates suchen,
lehnt Treitschke ab, da für ihn Staatsmacht und Volksfreiheit unumgänglich miteinander
verknüpft sind. So verweist er auf historische Besonderheiten innerhalb der deutschen
Entwicklung, indem er erklärt, dass auch der Absolutismus als Träger der Freiheit
auftreten könne, was sich im Wirken von Leibnitz, Pufendorf, Thomasius und anderen
gezeigt habe,970
und macht auf die regionale Ausdifferenzierung des Freiheitsgedankens
aufmerksam, wenn er sich dazu äußert, dass Freiheit im Fall des Deutschen Reichs stark
von einem in Anlehnung an die englische Theoriebildung so genannten „self-
government“ geprägt werde.971
Staat und Individuum gehen im Denken Treitschkes eine symbiotische Beziehung
ein, die sich zum Vorteil aller Beteiligten auswirken soll: „Für den Staat besteht die
physische Notwendigkeit und die sittliche Pflicht, alles zu befördern, was der
persönlichen Ausbildung seiner Bürger dient. Und wieder besteht für den einzelnen die
physische Notwendigkeit und die sittliche Pflicht, an einem Staate teilzunehmen und
ihm jedes persönliche Opfer zu bringen, das die Erhaltung der Gesamtheit fordert, sogar
das Opfer des Lebens.“972
Der moderne Staat dürfe fernerhin auf die ausgedehnte positive Tätigkeit für die
Wohlfahrt des Volkes nicht verzichten, weshalb der Staat nicht als Gegner der Freiheit
angesehen werden dürfe, da jede Wirksamkeit der Regierung, die die Selbständigkeit
der Bürger fördere, segensreich sei, wohingegen jedes Regierungshandeln, das die
Selbständigkeit der Einzelnen unterdrücke, negative Auswirkungen zeitige.973
Kritisch
sieht Heinrich von Treitschke im kontrastiven Vergleich zu den Gepflogenheiten in
Großbritannien einige konkrete Bestimmungen in der preußischen Verfassung, die,
obgleich sie die Unverletzlichkeit der Wohnung gewährleisteten, starken Einschränk-
ungen unterliege.974
In der Verbindung der Freiheitsidee mit der Hoffnung auf den Nationalstaat zeigt
sich in Treitschkes Beurteilung der Lage im Deutschen Reich die überindividuelle
969 Treitschke, Freiheit, 19.
970 Vgl. Treitschke, Politik, Bd. 1, 160.
971 Treitschke, Politik, Bd. 2, 162.
972 Treitschke, Freiheit, 20.
973 Vgl. ebd., 22.
974 Treitschke, Aufsätze, 741.
141
Prägung des von ihm erwünschten „Freiheitskampfes“.975
Selbst wollte das Individuum
sich frei entfalten, tut es dies in seiner Sicht immer unter der Obhut des umfassenderen
Staates: „Wie die persönliche Freiheit, welche wir meinen, nur gedeihen kann unter der
Segnung der politischen Freiheit; wie die allseitige Ausbildung der Persönlichkeit,
welche wir erstreben, nur da wahrhaft möglich ist, wo die selbsttätige Ausübung
mannigfaltiger Bürgerpflichten den Sinn des Menschen erweitert und adelt: so führt uns
heute jedes Nachdenken über sittliche Fragen auf das Gebiet des Staates.“976
Treitschkes
Schrift verleiht der weiteren Verschiebung des Deutungsmusters einer spezifisch
deutschen Freiheit hin zu einem positiven Freiheitsverständnis Ausdruck und kann als
Beleg dafür angesehen werden, dass sich eine auf kollektivistische Argumentation
gestützte Begriffsperzeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat.
4.1.11 Weitere Verschiebung zum Primat der Einheit – „Die Freiheit ist der
Einheit gegenübergestellt worden“
Die 60er- und beginnenden 70er-Jahre waren bestimmt vom Primat der Einheit, das
durch die restriktive politische Konstellation mitgeprägt war. Rückblickend suchte man
nach historischen Rechtfertigungen für das Versanden der Freiheitsbestrebungen, nur
vereinzelt hielten gemäßigte Liberale weiterhin Forderungen nach Verfassungsreformen
aufrecht.977
Im Vorfeld der Auseinandersetzung mit Dänemark, in der die Forderung
„Schleswig-Holstein-meerumschlungen“978
mit kriegerischen Mitteln entschieden
wurde, äußerte sich Ernst Ludwig von Gerlach süffisant über das Eintreten der
Liberalen für ein schleswig-holsteinisches Staatsganzes und skizziert die Veränderung
des Diskurses, in dem plötzlich der gesamte deutsche Liberalismus, „dem urkundliches,
aus der Geschichte der Jahrhunderte geschöpftes Recht und besonders ständische und
provinzielle Sonderrechte stets äußerst zuwider gewesen waren, und der solche Rechte
975 Treitschke, Freiheit, 26. Als ein vorbildliches Beispiel für einen erfolgreichen Freiheitskampf „in
einem Lande ohne Hauptstadt“ sieht Treitschke den durch Gustav Adolf herbeigeführten „Tag der
Befreiung“, durch den der deutsche Protestantismus gerettet und die Parität der Bekenntnisse gesichert
worden sei (Treitschke, Gustav Adolf, 275-286; hier: 282).976
Ebd., 42.977
Vgl. Mommsen, Freiheit, 28.978
Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 258 (vom 15.11. 1863). Vgl. zu der Wendung „Schleswig-Holstein,
meerumschlungen, / Deutscher Sitte hohe Wacht“ das „Lied von Schleswig-Holstein“, das Matthäus
Friedrich Chemnitz 1844 dichtete (ders., Das Lied von Schleswig-Holstein, zit. nach: Volkmann [Bearb.],
Einheit, 224).
142
überall und besonders in Preußen nach Möglichkeit brach und vertilgte“,979
begeistert
für die nationale Sache eintrete.
Die von Franz Duncker verlegte, demokratisch gesinnte Volkszeitung referierte im
Zusammenhang mit der Schleswig-Holstein-Frage auf das umstrittene Problemcluster
von Freiheit und Einheit.980
In der Ausgabe vom 16. August 1864 stand zu lesen, viele
Anhänger der Deutschnationalen Partei gäben in einem Kompensationstauschverfahren
für die Verwirklichung der deutschen Einheit freiwillig zehn Jahre der Freiheit her. Die
Volkszeitung trat der Losung der Nationalzeitung, die von der Einheit zur Freiheit
gelangen wollte, entgegen und spottete, diese wolle der Göttin der Freiheit einen Wech-
sel ausstellen, der erst nach der Einheit einzulösen sei.981
Der umgekehrte Weg, also von
der Freiheit zur Einheit, sei, so der Tenor der Argumentation der Volkszeitung, jedoch
zu bevorzugen.
Mit kriegerischen Mitteln drängten die Verfechter der Einheitsidee auf die
kämpferische Aneignung einer äußeren Einheit, da davon ausgegangen wurde, sie
bringe auch die Freiheit im Äußeren wie im Inneren mit sich. Immerhin hatte das
Geschehen seit 1864 diesen Weg als vielversprechend erwiesen. Das viel strapazierte
Verhältnis von Freiheit und Einheit sorgte immer wieder für Auslassungen, wie sie
beispielsweise Eduard Lasker vortrug, der sich im unmittelbaren Umfeld des Sieges von
Königgrätz im Jahr 1866 in einer Rede vor dem Preußischen Landtag für die Indemni-
tätsvorlage Bismarcks aussprach und zum Widerstreit der beiden Ziele erläuterte:
„Die Freiheit ist der Einheit gegenübergestellt worden. Ich [i.e. Eduard Lasker] für
meine Person sage – und das ist meine tiefe Überzeugung –, daß wir nie die
Freiheit erlangen werden, ehe nicht die Einheit in Deutschland hergestellt ist. Was
ist die Quelle aller Freiheit? Die Quelle aller Freiheit ist die Sicherheit des Staates.
[...] Erst wenn Deutschland zur vollen Einheit gelangt sein wird, erst dann wird die
Freiheit gewonnen sein und nicht bloß für Deutschland, sondern für ganz Europa.
Bis dahin bleiben wir dem ärgsten Feinde der Freiheit unterworfen, dem bewaff-
neten Frieden.“982
In der Zeit des Sieges gegen Dänemark gab also ein großer Teil des Liberalismus, der
sich mit Bismarcks Politik arrangierte hatte, die dynamische Konzeption der Gleich-
zeitigkeit von Freiheit und Einheit auf, indem reaktionäre Entwicklungen zur
Verwirklichung der Einheit anerkannten wurden.983
Ludwig Bamberger stellte im
Dezember 1866 wohl von der These geleitet, dass die deutsche Einheit der
979 Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 258 (vom 15.11. 1863).
980 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 166.
981 Vgl. ebd., 168.
982 Eduard Lasker, Liberales Votum für die Indemnität, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 594-604;
hier: 603.983
Vgl. Winkler, Nationalismus, 6.
143
Machtstellung des Bürgertums und damit der Freiheit zugute käme, die aus seiner Sicht
rhetorische Frage:984
„Ist denn die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit?“985
Am 9. März 1867 sprach Karl Twesten als Abgeordneter der Nationalliberalen Partei
vor dem Reichstag des Norddeutschen Bundes über dessen Verfassung. Er nimmt auf
die konkrete Situation der Neukonstitution dieser Körperschaft Bezug und spricht mit
dem Hinweis auf die Einheitspräferenz in der Bevölkerung davon, dass
„in dem Deutschen Volke der Einheitsgedanke auch darum stets wieder mächtig
geworden ist, weil nur von der Einheit auch eine freiheitliche volkstümliche
Entwicklung der politischen Gestaltung Deutschlands erwartet werden konnte. Der
stets wiederholte Kampf um freiheitliche Staatsformen blieb fast hoffnungslos, so
lange in jedem einzelnen Territorium unter den naturgemäßen Schwankungen
zwischen politischer Anspannung und Erschlaffung stets der Kampf zugleich um
die Einheit Deutschlands und um die Freiheit geführt werden mußte. Und mit
Recht erwartet das deutsche Volk auch die freiheitliche Entwicklung gesichert zu
sehen, wenn der Kampf um die Einheit endlich einen glücklichen Abschluß
gewonnen hat, weil für die ruhige, friedliche, volkstümliche Entwicklung in einem
mächtigen Einheitsstaat weniger Schwierigkeiten stattfinden können, als unter dem
steten Gegenspiel der Kämpfe um die Macht und die Freiheit in den verschiedenen
äußerlich nebeneinanderstehenden Territorien.“986
In diese Zeit Ende der 60er-Jahre fällt auch die an den Konfliktlinien Freiheit und
Einheit ausgerichtete, bereits latent vorhandene Spaltung der liberalen Bewegung in
einen eher linksgerichteten und einen eher national orientierten, rechtsgerichteten
Teil.987
Am 12. Juni 1867 konstituierte sich unter Leitung von Rudolf von Benningsen
die Nationalliberale Partei, womit die Teilung einen institutionellen Ausdruck erhielt.988
Sie avancierte zur Partei der Reichsgründung.989
In ihrem Gründungsprogramm erkor
sich die Partei Folgendes zum Wahlspruch:
„Der deutsche Staat und die deutsche Freiheit müssen gleichzeitig mit denselben
Mitteln errungen werden. Es wäre ein verderblicher Irrtum, zu glauben, daß das
Volk, seine Fürsprecher und Vertreter nur die Interessen der Freiheit zu wahren
brauchen, die Einheit dagegen auch ohne uns durch die Regierung auf dem Weg
der Kabinettspolitik werde aufgerichtet werden. Die Einigung des ganzen Deutsch-
lands unter einer und derselben Verfassung ist uns die höchste Aufgabe der Gegen-
wart“990
.
984 Vgl. ebd., 8.
985 Die Frage des Wahlpreußen Bamberger findet sich in der Morgenausgabe der Nationalzeitung vom 4.
12. 1866, zit. nach: Winkler, Nationalismus, 8.986
Karl Twesten, Über die Verfassung des Norddeutschen Bundes, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1,
605-628; hier: 610. Vgl. zum Norddeutschen Bund z.B.: Weber-Fas, Verfassung, 75-81.987
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 385.988
Vgl. Schieder, Krise, 199 f.989
Vgl. Botzenhart, Verfassungsgeschichte, 106.990
Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei, Juni 1867, zit. nach: Mommsen (Hg.),
Parteiprogramme, 147-151; hier: 148.
144
Am Ende des Programms wird das Thema nochmals aufgegriffen. Die Gegenwart
beweise, dass jeder Schritt zur verfassungsmäßigen Einheit zugleich ein Fortschritt auf
dem Gebiete der Freiheit sei oder wenigstens den Antrieb hierzu in sich trage.991
Selbst der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein trat einer ausdrücklich erwähnten
organischen Tendenz zur „Unterordnung unter das große Ganze“ folgend für den frei-
heitlichen deutschen Einheitsstaat als Ziel seiner Politik ein.992
Der föderalistisch
organisierte Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine beschloss auf seiner Zusammen-
kunft 1868 in Nürnberg unter Vorsitz von August Bebel ein gemeinsames Programm,
dessen Leitgedanken den Gründungsschriften der Internationalen Arbeiterassoziation
entstammten.993
Neben der unter Punkt eins aufgestellten Forderung nach „Emanzi-
pation (Befreiung) der arbeitenden Klassen“ durch einen eigenständigen Kampf trat
unter Punkt drei die Forderung nach politischer Freiheit. Letztere Forderung wurde als
eine „unabdingbare Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden
Klassen“ eingeschätzt,994
obgleich die Solidarität der Arbeiterschaft in dem Dokument
im Vordergrund steht. In nahezu identischer Formulierung fand der erwähnte Passus
Eingang in das 1869 auf dem Eisenacher Kongress beschlossene Programm der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.995
Ihr Vorsitzender August Bebel, um auf einen konkreten Umsetzungsversuch dieser
Positionen zu sprechen zu kommen, kritisierte am Nikolaustag des Jahres 1870 vor dem
Norddeutschen Bundestag, dass der dort vorgeschlagene Verfassungsentwurf „in
freiheitlicher Hinsicht keine Garantien bietet“.996
Bebel sieht im Vergleich mit dem
vorhergehenden Dokument eher Verschlechterungen. 1871 beklagte er in einem Rück-
blick vor dem Reichstag, der Liberalismus habe seine 1866 noch teilweise vorhandenen
Anstrengungen aufgegeben, „die in den Verfassungen liegenden Keime freiheitlich
auszubauen.“997
Notwendigerweise leide die Freiheit unter einer starken Regierung.998
991 Vgl. ebd., 151.
992 Grundzüge der Bestrebungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereines, 1867, zit. nach: Mommsen
(Hg.), Parteiprogramme, 308-310; hier: 310.993
Vgl. Miller, Grundwerte, 19.994
Programm des Vereinstages der Deutschen Arbeitervereine, beschlossen in Nürnberg 1868, in:
Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente, 170.995
Vgl. Programm und Statuten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, beschlossen auf dem Kongress
in Eisenach 1869, in: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente, 172-176; hier: 172. Dort heißt es: „Die
politische Freiheit ist die unentbehrlichste Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden
Klassen.“ Vgl. hierzu: Potthoff/Miller, Geschichte, 38-41.996
August Bebel, Rede im Norddeutschen Reichstag zum Entwurf der Verfassung für das deutsche Reich,
in: ders., Reden, 130-135; hier: 130.997
August Bebel im Deutschen Reichstag über Verfassungsfragen (17. Sitzung, 8. November 1871), zit.
nach: Fenske (Hg.), Reich, 60-64; hier: 63.998
Ebd.
145
Mit den Entwicklungen von 1866 bis 1871, die in der vielfach erhofften militärisch
herbeigeführten Einigung – im Sinn einer „Revolution von oben“999
– ihren vorläufigen
Abschluss fanden, waren induktive Freiheitsbestrebungen desavouiert, wenngleich den
positiven Forderungen des Deutungsmusters einer „deutschen Freiheit“ Genüge getan
wurde und ein autoritär geprägter Nationalstaat entstand.1000
Die gedachte Existenz
einer übergeordneten staatlichen Kollektivpersönlichkeit, die in der Idee der Nation als
gemeinschaftliche Integrationsform von Staat und Gesellschaft ihren Ausdruck fand,
und der postulierte Vorrang der Nation vor dem Einzelmenschen, bestimmten von nun
an noch stärker das Wesen und Erleben des Individuums. Innerhalb dieses Vorstellungs-
rahmens wussten sich dessen Anhänger zudem gemeinsamer Kultur, Sprache, Sitten
und Gebräuche versichert.1001
Aus Furcht vor Rückfällen in Schwäche und Macht-
losigkeit wichen die Vertreter liberaler Positionen vor Werten wie individueller Freiheit,
Pluralismus und Toleranz zurück, um sich an kollektiver Einheit, Solidarität und
gemeinschaftlichem Zusammenhalt als Zielvorstellungen eines neu zu schaffenden
Reichs zu orientieren.1002
So trat beispielsweise der gemäßigte Linksliberale Theodor Fischer in einer Wahl-
rede im Jahr 1870 für eine deduktive Lösung auf dem Weg zur nationalen Einheit ein,
als er versuchte für die Deutsche Partei in die Politik zurückzukehren. Er äußert sich in
seiner Ansprache nun trotz seiner politischen Herkunft aus dem liberalen Lager explizit
antifreiheitlich:
„Ich [i.e. Theodor Vischer] trete hiermit als Gegner gegen eine Partei auf, zu der
ich lange gestanden habe, jedoch immer als ein Mann, der auch selber denkt und
der Partei nie blind auf allen ihren Wegen nachtritt. Die demokratische Partei, die
Volkspartei, oder sagen wir einfach die Partei, deren Hauptbestreben die Freiheit
ist, die Freiheitspartei – Niemand wird die Verdienste dieser Partei leugnen [...] Ich
bin aber mit dieser Partei in Zwiespalt gekommen und habe mich von ihr trennen
müssen in der Frage der Einheit, in der Frage, auf welche Weise Deutschland in
einen Bundesstaat verwandelt werden soll. Ja, einst, – einst träumte ich auch mit
dieser Partei einen schönen Traum; ich meine, Deutschland werde eins werden
durch freie Verständigung der Glieder und Stämme der Nation in einem Parlament;
frei, ganz frei sollte jedes Glied so viel opfern als nötig ist, um ein Organ
herzustellen, das die Einheit vertritt und beständig vollzieht“.1003
Statt des erträumten freien Einigungsveruschs sieht Vischer die Chance durch den
Krieg, der wie die „Meisterin Notwendigkeit“1004
einfach so gekommen und, wie er
999 Vgl. Michalka, Weg, 255; Mommsen, Einführung, 217; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 251-
376. Kritisch hierzu: Grebing, Sonderweg, 101-103.1000
Vgl. Ullmann, Politik, 1-9.1001
Vgl. Arieli, Geschichtsschreibung, 81.1002
Vgl. Von Thadden, Defizit, 59 f.1003
Friedrich Theodor Vischer, Wahlrede, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 2, 28-46; hier: 28 f.1004
Ebd., 35.
146
ausdrücklich betont, von niemandem gesucht worden sei, die Einheit zu verwirklichen,
denn lediglich auf diesem Weg sei eine organische Vereinigung der einzelnen Staaten
zu einem natürlichen Ganzen möglich.1005
Die kriegerische Auseinandersetzung vor allem um Elsass und Lothringen wurde in
Fortschreibung antifranzösischer Ressentiments als Vorgehen gegen die „Brutstätte,
welche die Unfreiheit und Zentralisation bereitet“, gesehen.1006
In einer Rede zur
Bewilligung von Kriegsmitteln wirft etwa der Abgeordnete Reichensperger den
Franzosen, die als äußere Reichsfeinde wahrgenommen werden, vor, sie förderten unter
Verwendung des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ die Zwietracht und Zerrissenheit
des Reiches, „natürlich ‚um die deutsche Freiheit zu schützen’“.1007
Die „zügellosen
Freiheitsbestrebungen“ während der Französischen Revolution hätten späterhin zum
Cäsarismus geführt, bemerkt Reichensperger. „Wir in Deutschland aber,“ ist sich der
Redner im Kontrast dazu – und indem er eine Burkesche Denkfigur aufgreift – sicher,
„werden die echte männliche Freiheit gründen, ihr eine feste Stätte bereiten, und zwar
eine solche, die gehütet sei von Gesetz und Recht, von Ordnung und Treue.“1008
Die Reichsgründung im Jahr 1871,1009
der sowohl die Deutung als Erreichen als auch
die Interpretation als Verlust der Freiheit widerfuhr, wurde als vorläufiges Ergebnis
perzipiert. Sie war in vielerlei Hinsicht das Resultat der kriegerischen Auseinander-
setzungen Preußens mit Dänemark, Österreich und Frankreich1010
und führte dazu, dass
liberales Gedankengut auf der Basis individualistischer Argumentation immer mehr in
den Hintergrund trat. Der „Zauber der Freiheit“,1011
der bis Mitte des 19. Jahrhunderts
vorherrschte, war, um drastisch zu formulieren, erloschen, denn die Intellektuellen
feierten die neugewonnene Einheit, was die Forderungen nach politischer Freiheit
verblassen ließ.1012
Es wurde eine äußere Einheit ohne innere Freiheit der Bürger
verwirklicht,1013
in deren Kontext der Liberalismus ordnungs- und sozialpolitisch
begründete Loyalitäten zum Obrigkeitsstaat einging.1014
Lujo Brentano, ein – nach der
von Heinrich Oppenheim geprägten Bezeichnung – liberaler Kathedersozialist, der
1005 Vgl. ebd., 39.
1006 Reichstag des Norddeutschen Bundes, Debatte über die Bewilligung der ferneren Mittel für die
Kriegsführung, 2. Sitzung vom 26.11. 1870, zit. nach: Fenske (Hg.), Weg, 428-434; hier: 430.1007
Ebd., 428.1008
Ebd., 429.1009
Vgl. hierzu z.B.: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 702-1074; Stürmer, Reichsgründung. 1010
Vgl. Einigkeit und Recht und Freiheit, 266.1011
Weber, Nationalstaat, 552.1012
Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 265. Angesichts dieser Tatsache spricht Winkler davon, dass der deutsche
Liberalismus gescheitert war. 1013
So z.B. Gustav W. Heinemann in einer umstrittenen Fernsehansprache zum 100. Jahrestag der
Reichsgründung (17.1. 1971), in: ders, Reden, 45-51; hier: 47.1014
Vgl. Koch, Liberalismus, 53 f.
147
Mitbegründer des Vereins für Socialpolitik1015
war, trat mit der Begründung, es könne
überhaupt nicht von staatlicher Intervention gesprochen werden, wenn diese offen-
sichtlich akzeptiert werde und sich organisch ergebe, für eine umfassende Stellung des
Staates ein. Da der Staat die Organisation des Volkes sei und die Regierung das
natürliche Zentrum des Volkslebens, argumentiert er scharfsinnig, „kann, wenn der
Staat den Willen des Volkes erfüllt, von Staatseinmischung gar nicht die Rede sein.
Denn man kann von niemandem, der seinen eigenen Willen gemäß handelt, sagen, er
greife unberechtigt in seine Angelegenheiten.“1016
Der Zweifel an der Problemlösungs-
fähigkeit der konventionellen volkswirtschaftlichen Theorien ließ soziale Reformen aus
Sicht der Kathedersozialisten unumwindbar erscheinen; der Staat sei – so die im Verein
für Socialpolitik vertretene Meinung – kein zu minimierendes Übel, sondern ein
hervorragend geeigneter Präzeptor zur Erziehung des Menschengeschlechts.1017
Diese
individuellen Freiheitsbestrebungen konträre Position wurde im neu konstituierten
Kaiserreich unter Verwendung des Deutungsmusters einer spezifisch deutschen Freiheit
weiter ausgebaut.
1015 Vgl. Sell, Tragödie, 258 f.
1016 Brentano, Arbeitergilden, 126 f.
1017 Vgl. Fenske, Denken, 468.