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Jahrgang 58, Nr. 4 (2007) DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN 105 Gelenkbelastung beim Nordic Walking Originalia Kleindienst FI 1 , Michel KJ 1 , Stief F 2, 4 , Wedel F 2 , Campe S 3 , Krabbe B 1 Vergleich der Gelenkbelastung der unteren Extremitäten zwischen den Bewe- gungsformen Nordic Walking, Walking und Laufen mittels Inverser Dynamik Comparison of Joint Loading of Lower Extremities between the Locomotion Patterns Nordic Walking, Walking and Running using Inverse Dynamics 1 adidas innovation team, Biomechanisches Labor Scheinfeld 2 Institut für Sportwissenschaft, Technische Universität Darmstadt 3 Institut für Sportwissenschaft, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg 4 Orthopädische Kinderklinik Aschau i. Chiemgau Aufgrund des nachgewiesenen kardio-pulmonalen und kardio- vaskulären Benefit und einer postulierten Reduzierung der mechani- schen Belastung des Bewegungsapparates wird Nordic Walking (NW) ein hohes Wachstumspotential bescheinigt. Die vorliegende Studie über- prüft, ob biomechanische Unterschiede zwischen den Bewegungsformen NW, Walking und Laufen existieren und hieraus unterschiedliche Belas- tungsmuster resultieren. An der Studie nahmen 15 Probanden teil, die bereits mit der NW-Technik vertraut waren. Die kinematische Daten- aufnahme erfolgte mittels eines 6-Kamera-VICON-Systems. Synchron dazu wurden die Bodenreaktionskräfte aufgezeichnet. Mittels Inverser Dynamik wurden die 3-dimensionalen Gelenksmomente in den einzel- nen Ebenen für das Knie-, Sprung- sowie Metatarsophalangealgelenk berechnet. Beim NW und Walking ist die mechanische Belastung der unteren Extremitäten in der Frontal- und Sagittalebene geringer als beim Laufen. Die Knie- und Sprunggelenksmomente sind in der Trans- versalebene beim Laufen niedriger als beim NW/Walking. Der Stockein- satz beim NW führt im Vergleich zum Walking nicht zu einer Reduzie- rung der mechanischen Belastung. Zudem wird beim NW eine höhere Belastung des Kniegelenks innerhalb der Landephase beobachtet, was auf die NW- (Diagonal-) Technik zurückzuführen ist. Daher sollte über- dacht werden, ob im Vergleich zum Walking, NW aufgrund seiner ver- sprochenen „biomechanischen Vorteile“ Übergewichtigen sowie Personen mit bestehenden Kniebeschwerden tatsächlich zu empfehlen ist. Schlüsselwörter: Nordic Walking, Walking, Laufen, Gelenkbelastung Zusammenfassung Based on the cardio-pulmonary and cardio-vascular benefit and a pro- mised reduction of mechanical load on the musculoskeletal system Nor- dic Walking (NW) shows an increasing market potential. The present study investigates, whether there exist biomechanical differences between the locomotion patterns NW, walking and running which would result in different loading patterns. In this experiment 15 subjects participated, who were already experienced with the NW technique. Kinematic data were collected using a 6-camera-VICON-system. Simul- taneously kinetic data were recorded using a force plate. An Inverse Dynamics approach was applied to determine 3-dimensional joint moments of each plane regarding knee-, ankle- and metatarso-phalan- geal joint. During NW and walking the joint loads of the lower extremity with respect to the sagittal and frontal plane are lower compared to run- ning. The knee- and ankle joint moments in the transverse plane are lower during running compared to NW/walking. The use of the poles during NW does not lead to a reduction of joint loads compared to walking. Moreover, for NW a higher knee joint loading during landing could be observed, which is caused by the NW (diagonal-) technique. Consequently it should be reconsidered, whether NW – based on its promised „biomechanical benefit“ compared to walking – should be still recommended for overweight people and for people with existing knee problems. Key words: Nordic walking, walking, running, joint loading Summary Eine Anfang 2005 veröffentlichte GfK-Studie (6) be- scheinigt der Trendsportart NW ein hohes Wachstumspotential, mit einem immer noch stark steigenden Interessentenkreis. Nicht zuletzt wird dieser Trend durch eine Anzahl wissenschaftlicher Studien unterstützt, die einen höheren cardio-pulmonalen und cardio-vaskulären Benefit (10-30 %) beim NW im Ver- gleich zum Walking feststellten (3, 14, 18, 20). Einleitung Zudem wird sowohl in der populärwissenschaftlichen Literatur als auch in den Medien von einer Reduzierung der mechanischen Belastung (~30 %) des Bewegungsapparates aufgrund des Stockeinsatzes beim NW gegenüber dem Wal- king berichtet (5, 8, 15, 24). Dem gegenüber berichten die Autoren von Runners World (19), dass es nur dann zu einer Gelenkentlastung beim NW kommt, wenn steile und vor allem unwegsame Bergabstrecken bewältigt werden. Im fla- chen Gelände hat das Mitführen von Stöcken keine entla- stende Auswirkung auf die Gelenke an Fuß, Knie oder Hüfte (13, 19).

SPM 4 2007 24.4. - germanjournalsportsmedicine.com · Jahrgang 58, Nr. 4 (2007) DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN 105 Gelenkbelastung beim Nordic WalkingOriginalia Kleindienst

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Jahrgang 58, Nr. 4 (2007) DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN 105

Gelenkbelastung beim Nordic Walking OriginaliaKleindienst FI1, Michel KJ1, Stief F2, 4, Wedel F2, Campe S3, Krabbe B1

Vergleich der Gelenkbelastung der unteren Extremitäten zwischen den Bewe-gungsformen Nordic Walking, Walking und Laufen mittels Inverser Dynamik

Comparison of Joint Loading of Lower Extremities between the Locomotion PatternsNordic Walking, Walking and Running using Inverse Dynamics

1adidas innovation team, Biomechanisches Labor Scheinfeld2Institut für Sportwissenschaft, Technische Universität Darmstadt3Institut für Sportwissenschaft, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg4Orthopädische Kinderklinik Aschau i. Chiemgau

Aufgrund des nachgewiesenen kardio-pulmonalen und kardio-

vaskulären Benefit und einer postulierten Reduzierung der mechani-

schen Belastung des Bewegungsapparates wird Nordic Walking (NW) ein

hohes Wachstumspotential bescheinigt. Die vorliegende Studie über-

prüft, ob biomechanische Unterschiede zwischen den Bewegungsformen

NW, Walking und Laufen existieren und hieraus unterschiedliche Belas-

tungsmuster resultieren. An der Studie nahmen 15 Probanden teil, die

bereits mit der NW-Technik vertraut waren. Die kinematische Daten-

aufnahme erfolgte mittels eines 6-Kamera-VICON-Systems. Synchron

dazu wurden die Bodenreaktionskräfte aufgezeichnet. Mittels Inverser

Dynamik wurden die 3-dimensionalen Gelenksmomente in den einzel-

nen Ebenen für das Knie-, Sprung- sowie Metatarsophalangealgelenk

berechnet. Beim NW und Walking ist die mechanische Belastung der

unteren Extremitäten in der Frontal- und Sagittalebene geringer als

beim Laufen. Die Knie- und Sprunggelenksmomente sind in der Trans-

versalebene beim Laufen niedriger als beim NW/Walking. Der Stockein-

satz beim NW führt im Vergleich zum Walking nicht zu einer Reduzie-

rung der mechanischen Belastung. Zudem wird beim NW eine höhere

Belastung des Kniegelenks innerhalb der Landephase beobachtet, was

auf die NW- (Diagonal-) Technik zurückzuführen ist. Daher sollte über-

dacht werden, ob im Vergleich zum Walking, NW aufgrund seiner ver-

sprochenen „biomechanischen Vorteile“ Übergewichtigen sowie

Personen mit bestehenden Kniebeschwerden tatsächlich zu empfehlen

ist.

Schlüsselwörter: Nordic Walking, Walking, Laufen, Gelenkbelastung

ZusammenfassungBased on the cardio-pulmonary and cardio-vascular benefit and a pro-

mised reduction of mechanical load on the musculoskeletal system Nor-

dic Walking (NW) shows an increasing market potential. The present

study investigates, whether there exist biomechanical differences

between the locomotion patterns NW, walking and running which

would result in different loading patterns. In this experiment 15 subjects

participated, who were already experienced with the NW technique.

Kinematic data were collected using a 6-camera-VICON-system. Simul-

taneously kinetic data were recorded using a force plate. An Inverse

Dynamics approach was applied to determine 3-dimensional joint

moments of each plane regarding knee-, ankle- and metatarso-phalan-

geal joint. During NW and walking the joint loads of the lower extremity

with respect to the sagittal and frontal plane are lower compared to run-

ning. The knee- and ankle joint moments in the transverse plane are

lower during running compared to NW/walking. The use of the poles

during NW does not lead to a reduction of joint loads compared to

walking. Moreover, for NW a higher knee joint loading during landing

could be observed, which is caused by the NW (diagonal-) technique.

Consequently it should be reconsidered, whether NW – based on its

promised „biomechanical benefit“ compared to walking – should be still

recommended for overweight people and for people with existing knee

problems.

Key words: Nordic walking, walking, running, joint loading

Summary

Eine Anfang 2005 veröffentlichte GfK-Studie (6) be-scheinigt der Trendsportart NW ein hohesWachstumspotential, mit einem immer noch starksteigenden Interessentenkreis. Nicht zuletzt wird dieserTrend durch eine Anzahl wissenschaftlicher Studienunterstützt, die einen höheren cardio-pulmonalen undcardio-vaskulären Benefit (10-30 %) beim NW im Ver-gleich zum Walking feststellten (3, 14, 18, 20).

Einleitung Zudem wird sowohl in der populärwissenschaftlichen

Literatur als auch in den Medien von einer Reduzierung dermechanischen Belastung (~30 %) des Bewegungsapparatesaufgrund des Stockeinsatzes beim NW gegenüber dem Wal-king berichtet (5, 8, 15, 24). Dem gegenüber berichten dieAutoren von Runners World (19), dass es nur dann zu einerGelenkentlastung beim NW kommt, wenn steile und vorallem unwegsame Bergabstrecken bewältigt werden. Im fla-chen Gelände hat das Mitführen von Stöcken keine entla-stende Auswirkung auf die Gelenke an Fuß, Knie oder Hüfte(13, 19).

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106 DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN Jahrgang 58, Nr. 4 (2007)

Originalia Gelenkbelastung beim Nordic Walking

Auch in der wissenschaftlichen Literatur gibt es Autoren,die aufgrund ihrer Resultate zu dem Schluss kommen, dassNW im Vergleich zu Walking zu einer Reduzierung dermechanischen Belastung führt (17, 21). Insbesondere neuereUntersuchungen können diesen belastungsreduzierendenEffekt aufgrund des Stockeinsatzes beim NW (bei Anwen-dung der Diagonaltechnik in der Ebene) gegenüber Walkingnicht bestätigen (2, 7, 9, 11, 26).

Unabhängig von den unterschiedlichen Schlussfolgerun-gen wurden bei den angeführten Studien (2, 7, 9, 11, 26), diesich mit dem Vergleich NW (Diagonaltechnik in der Ebene)versus Walking beschäftigten, ausschließlich von „außen“analysierte Parameter, also eher beschreibende Variablen,gemessen und interpretiert. Diese von „außen“ analysiertenParameter lassen nur mittelbare Schlussfolgerungen inBezug auf Gelenkbelastungen zu. Um direkte Schlussfolge-rungen zu formulieren, ist es notwendig, eine Bestimmungder (tatsächlichen) Belastung im Hüft-, Knie-, Sprung- undMetatarsophalangealgelenk (MPG) mittels Momentenbe-rechnung (Inverse Dynamik) durchzuführen (12, 22, 23).

Deshalb besteht das Ziel der vorliegenden Studie darin,mittels der Methode der Inversen Dynamik die Gelenkbelas-tung in Knie- und Sprunggelenk sowie im MPG basierendauf der Momentenberechnung beim NW, Walking und Lau-fen zu bestimmen. Es soll die Frage beantwortet werden, obbiomechanische Unterschiede zwischen den Bewegungsfor-men NW, Walking und Laufen basierend auf kinematischenund kinetischen Parametern in Bezug auf die unteren Extre-mitäten existieren und hieraus unterschiedliche Belastungs-muster zwischen den einzelnen Bewegungsformen resultie-ren. Zudem soll analysiert werden, ob der Stockeinsatz beimNordic Walking bei Anwendung der Diagonaltechnik im Ver-gleich zum Walking tatsächlich zu einer Reduzierung dermechanischen Belastung im Knie- und Sprunggelenk sowieim MPG führt.

Um diese Fragestellung zu beantworten wurde eineLaborstudie mit 15 Probanden durchgeführt (Tab. 1), diebereits langjährige Erfahrung im Ausdauersport (Laufen,Trekking, MTB) nachwiesen. Bei 10 Probanden derGesamtpersonenstichprobe handelte es sich um ausgebil-dete Nordic Walking Instruktoren.

Die 3-dimensionale kinematische Datenaufnahme(200 Hz) erfolgte mittels eines 6-Kamera-VICON-Systems(VICON, Oxford Metrics). Drei reflektierende Marker pro Seg-ment wurden an der Hüfte, dem Oberschenkel, dem Unter-schenkel sowie am Rück- und Vorfuß platziert. Mit Hilfeeines Models der unteren Extremitäten (12) konnten dieeinzelnen Gelenkszentren sowie die Winkel zwischen denSegmenten in allen drei Ebenen (sagittal, frontal, transver-sal) bestimmt werden („local coordinate system“). Zudemwurde die Segmentbewegung des Fußes bzw. Schuhs imRaum („global coordinate system“) gemessen. Dies erlaubtedie Analyse der „konventionellen“ kinematischen Parameter,

Material und Methoden

wie beispielsweise die Auswertung des Eversions- und Soh-lenwinkels respektive Geschwindigkeiten.

Synchron zur Kinematik erfasste eine Kraftmessplatte(KISTLER) die vertikalen und horizontalen Bodenreaktions-kräfte (1000 Hz).

Mittels Inverser Dynamik wurden die 3-dimensionalenGelenksmomente in den einzelnen Ebenen für das Kniege-lenk und das Sprunggelenk während des Bodenkontaktesbestimmt. In Anlehnung an die Ausführungen vonStefanyshyn und Nigg (22) erfolgte die Bestimmung desMPG-Momentes während des Bodenkontaktes aus der Sagit-talebene. Aus Vereinfachungsgründen wurden hier die fünfMPGs zu einem Gelenk zusammengefasst. Das MPG-Rotationszentrum dieses „fiktiv“ gebildeten MPGs wird

durch den Mittelpunkt zwischen den beiden Markern des er-sten und des fünften MPG repräsentiert, die aufgrund derFlexionszone (Haut- bzw. Schuhartefakte) etwas distaler vonden Gelenksspalten platziert wurden. Dabei wird angenom-men, dass das MPG-Moment ausschließlich während der Ab-stoßphase auftritt (MPG-Dorsalflexion > 0°). Zudem werdenbei der Anwendung dieser Methode die Trägheitskräfte, diean den Phalangen auftreten, vernachlässigt (22).

Um die Phasenunterteilung (1) des Bodenkontaktes beimFersenlauf bzw. –gang zu analysieren wurde ein Hochge-schwindigkeitskamerasystem (HCC, Vosskühler) aus derSagittalebene von lateral rechtwinklig zur Kraftmessplattepositioniert (200Hz). Das Kamerasystem filmte parallel zurkinetischen und kinematischen Datenaufnahme die Fuß-bzw. Schuhbewegung während des Bodenkontaktes. Die so-mit erhobenen Daten sollten später eine Zuordnung der ana-lysierten Parameter hinsichtlich der einzelnen Bewegungs-phasen zulassen.

Vor den eigentlichen „dynamischen“ Versuchen hattejeder Proband einen statischen Versuch zu absolvieren. BeimProzessieren des statischen Versuches wurden alle Gelenk-stellungen als Neutral-0 definiert. Während der dynami-schen Versuche wurde die absolute Stellung der Segmentezueinander gemessen und somit die „Winkeländerung“ vonder Neutral-0-Position angegeben.

Die NW-Versuche erfolgten in der Diagonaltechnik mitNordic Walking Stöcken (exel®), die der Körpergröße (x 0,66)jedes einzelnen Probanden angepasst waren (16, 17). JederProband absolvierte in dem gleichen Schuhmodell (adidas®adistar Trail, UK 8,5) 5 valide Versuche auf einer etwa 20 mlangen Laufbahn in allen drei Bewegungsformen in der vor-

Tabelle 1: Anthropometrische Daten und Daten zur Trainingsgestaltung, Ge-samtpersonenstichprobe, n=15 (NW: Nordic Walking; L: Laufen)

Parameter Mittelwert Standard-abweichung

Alter (Jahre) 31 ± 5Körpergewicht (kg) 77 ± 8Körpergröße (cm) 177 ± 4Trainingsumfang (NW) (km/Woche) 13 ± 14Trainingshäufigkeit (NW) (Einheiten/Woche) 2 ± 1NW-Erfahrung (Jahre) 2 ± 1Trainingsumfang (L) (km/Woche) 33 ± 21Trainingshäufigkeit (L) (Einheiten/Woche) 3 ± 1

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Jahrgang 58, Nr. 4 (2007) DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN 107

Gelenkbelastung beim Nordic Walking Originaliagegebenen und durch Lichtschranken kontrolliertenGeschwindigkeit in randomisierter Reihenfolge:

– Nordic Walking (Diagonaltechnik mit Stöcken): 2,0±0,2 m/s

– Walking (Diagonaltechnik ohne Stöcke): 2,0±0,2 m/s– Laufen: 4,0±0,2 m/s

Zur Gewährleistung eines entsprechenden Armeinsatzesbeim NW wurde auf Empfehlung erfahrener Nordic WalkingInstruktoren eine Geschwindigkeit von 2,0 m/s gewählt. Derangegebene Geschwindigkeitsbereich für das Laufen ent-sprach der durchschnittlichen Geschwindigkeit von Freizeit-läufern im Grundlagenausdauerbereich I und Dauerlauftem-po II und repräsentiert einen hinsichtlich des Trainingsum-fangs bedeutsamen Intensitätsbereich (10).

Aus den 5 validen Versuchen pro Bewegungsform wurdefür jeden Probanden eine Mittelwertskurve, normalisiert zumprozentualen Bodenkontakt, berechnet. Aus den Mittel-wertskurven wurden wiederum für jeden Probanden die dis-kreten Werte für die entsprechenden Parameter ermittelt und

danach das arithmetische Mittel von allen 15 Probandenbestimmt, welches dann wiederum für die statistische Ana-

lyse verwendet wurde. Dadie Gesamtpersonenstichpro-be nicht immer eine Normal-verteilung aufwies, kamenausschließlich nonparame-trische Testverfahren zumEinsatz. Zur Überprüfung

von Signifikanzen wurde der Wilcoxon-Test angewendet(Signifikanzniveau: p≤ 0,05). Ein p-Wert zwischen 0,051 und0,100 wurde als statistischer Trend interpretiert und als sol-cher gekennzeichnet.

Die Analyse des Bodenkontaktes erfolgte auf Grundlageeines Drei-Phasen-Modells und zeigt, dass für alle dreiBewegungsformen die Landephase die kürzeste (Ø24 %)und die Abstoßphase (Ø44 %) die längste prozentualeKontaktzeit aufweist (Tab. 2). Dabei fällt auf, dass beim NWim Vergleich zum Walking und Laufen in der Standphase amkürzesten und in der Abstoßphase am längsten verweilt wird.

Das max. Extensionsmoment im Knie (Tab. 3) ist beimLaufen signifikant größer als beim NW (Ø47 %) und Walking

(Ø51 %), und induziert für das Lau-fen eine deutlich höhere Kniegelenk-belastung in der Sagittalebene. Zwarzeigt das max. Extensionsmomentim Knie für NW gegenüber Walkingein höheres max. Moment (Ø7 %),jedoch fällt dieser Unterschied nichtsignifikant aus (p=0,140). DasExtensionsmoment im Knie erreichtsein Maximum während der Lande-phase, wo aufgrund der NW-Diagonaltechnik kein belastungsre-duzierender Effekt durch einenStockeinsatz zu erwarten ist. Erst inder Abstoßphase kommt es zu einemaktiven Stockeinsatz. Auch die Aus-wertung der Kniegelenksmomente inder Frontalebene zeigt für das max.Abduktionsmoment (Tab. 3) eine sig-nifikant höhere Belastung beim Lau-fen gegenüber NW (Ø30 %) und Wal-king (Ø40 %). Dabei ist auffällig,dass der Kurvenverlauf beim Laufennur ein Maximum (Standphase) undbeim NW und Walking zwei Maxima(Landephase und Abstoßphase) be-sitzt (Abb. 1).

Der Vergleich NW versus Walkingzeigt für das max. Knie-Abduktions-moment während der Landephaseeine signifikant größere Belastung

Ergebnisse

Tabelle 2: Unterteilung des Bodenkontaktes beim Fersenlauf bzw. –gang basierend auf einem Drei-Phasen-Modell (1), n=15

Bewegungsform Geschwindigkeit Bodenkontaktzeit Dauer der Dauer der Dauer der(ms-1) (ms) Landephase Standphase Abstoßphase

Nordic Walking 2,0 ± 0,2 603 ± 31 143ms / 24% 178ms / 29% 282ms / 47%Walking 2,0 ± 0.2 562 ± 26 141ms / 25% 194ms / 34% 228ms / 41%Laufen 4,0 ± 0.2 231 ± 19 50ms / 22% 79ms / 34% 103ms / 44%

Parameter Ebene/Richtung

Mittelwerte

NW W L

Kniegelenksmoment - max. Extension (Nm) sagittal 94 87 176Kniegelenksmoment - max. Abduktion (Landung) (Nm) frontal 68 59 98Kniegelenksmoment - max. Abduktion (Abstoß) (Nm) frontal 38 42 -Kniegelenksmoment - max. internale Rotation (Nm) transversal -9 -10 -11Kniegelenksmoment - max. externale Rotation (Nm) transversal 13 11 10Sprunggelenksmoment - max. Dorsalflexion (Nm) sagittal -37 -37 -23Sprunggelenksmoment - max. Plantarflexion (Nm) sagittal 130 134 233Sprunggelenksmoment - max. Inversion (Nm) frontal 6 6 23Sprunggelenksmoment - max. Abduktion (Nm) transversal -16 -15 -7MPG - Moment - max. Plantarflexion (Nm) sagittal 78 78 1241. max. Kraftspitze (Landung) (N) vertikal 1144 1144 14122. max. Kraftspitze (Abstoß) (N) vertikal 811 865 2049Kraftanstiegsrate (Landung) (N/s) vertikal 35146 32381 646631. max. Kraftspitze (Bremsphase, a-p) (N) horizontal -293 -262 -3422. max. Kraftspitze (Beschleunigungsphase, a-p) (N) horizontal 263 242 268Kraftanstiegsrate (Bremsphase, a-p) (N/s) horizontal 12161 11201 21732Kniegelenkswinkel - max. Flexion (°) sagittal 22,0 18,5 33,9Kniegelenkswinkel - max. Adduktion (°) frontal 13,1 8,6 12,5Kniegelenkswinkel - max. internale Rotation (°) transversal 17,6 14,6 0,8Sprunggelenkswinkel - max. Plantarflexion (°) sagittal -16,5 -15,0 -6,5Sprunggelenkswinkel - max. Dorsalflexion (°) sagittal 5,4 5,7 14,8Sprunggelenkswinkel - max. Eversion (βmax.) (°) frontal 4,8 3,6 7,3Sprunggelenkswinkel - max. Adduktion (°) transversal -4,7 -5,2 -6,3MPG - Winkel - max. Dorsalflexion (°) sagittal -26,8 -26,1 -19,6Aufprallwinkel - γ0 (°) (gcs) frontal 3,3 2,3 6,0Max. Eversionswinkel - γmax. (°) (gcs) frontal -1,6 -0,9 -2,1Max. Eversionsgeschwindigkeit - γv (°/s) (gcs) frontal 63 70 161Max. Bewegungsamplitude (POM) γPOM(°) (gcs) frontal 5,0 3,8 8,2Sohlenwinkel - δ0 (°) (gcs) sagittal -37,1 -35,0 -25,2Max. Sohlenwinkelgeschwindigkeit - δv (°/s) (gcs) sagittal 549 521 695

Tabelle 3: Kinetische und kinematische Daten (Mittelwerte) für die Bewegungsformen Nordic Walking (NW), Wal-king (W) und Laufen (L), n=15 (gcs → Segmentbewegung in Bezug auf das „global coordinate system“)

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108 DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN Jahrgang 58, Nr. 4 (2007)

Originalia Gelenkbelastung beim Nordic Walking

für NW (Ø13 %). Demgegenüber ist innerhalb der Abstoß-phase ein signifikant geringeres max. Abduktionsmomentfür NW (Ø12 %) zu registrieren, welches auf den Stockein-satz zurückgeführt werden kann. Bei der Analyse des inter-

nalen Rotationsmomentes (Transversalebene) im Kniegelenk,das für alle drei Bewegungsformen während der Landepha-se auftritt (Tab. 3, Abb. 2), können keine signifikanten Un-terschiede zwischen den einzelnen Bewegungsformen regi-striert werden.

Für das max. externale Knie-Rotationsmoment, welches in-nerhalb der Abstoßphase sein Maximum erreicht, wird ein sig-nifikant höherer Wert (Ø13 %) für NW gegenüber Walking be-obachtet. Zwar fällt das externale Knie-Rotationsmoment beimLaufen im Vergleich zu NW und Walking deutlich geringer aus,jedoch sind aufgrund der hohen Standardabweichung beim Lau-fen keine signifikanten Unterschiede zu registrieren. Dies bedeu-tet aber, dass beim NW und Walking die Kniegelenkbelastung inder Transversalebene nicht geringer ist als beim Laufen.

Die Auswertung der Sprunggelenksmomente in derSagittal- und Frontalebene (Plantarflexion/Abstoßphase undInversion/Standphase) zeigt für das Laufen signifikant höhe-re Werte gegenüber NW (Ø44 % respektive Ø74 %) und Wal-king (Ø33 % respektive Ø74 %). Demgegenüber fällt dasmax. Dorsalflexionsmoment (Sagittalebene, Landephase)und das Abduktionsmoment (Transversalebene, Abstoßpha-se) beim Laufen, verglichen zu NW und Walking, signifikantgeringer aus. Demzufolge ist die Sprunggelenkbelastung inder Sagittalebene während der Landephase, x sowie in derTransversalebene während der Abstoßphase beim NW undWalking annährend doppelt so hoch wie beim Laufen. BeimVergleich NW versus Walking sind für die Sprunggelenks-momente in allen drei Ebenen bei keinem der evaluierten Pa-rameter (Dorsal- und Plantarflexion, Inversion, Abduktion)signifikante Unterschiede zwischen den beiden Bewegungs-formen zu identifizieren.

Auch bei Betrachtung des Plantarflexionsmomentes (Sagit-talebene) im MPG ist kein signifikanter Unterschied zwischenNW und Walking festzustellen. Jedoch fällt dieses Momentbeim Laufen, verglichen mit NW (Ø37 %) und Walking (Ø37 %),signifikant größer aus und induziert für das Laufen eine deut-lich höhere MPG-Belastung während der Abstoßphase.

Sowohl die kinematischen als auch die kinetischen Datenzeigen Unterschiede zwischen den einzelnen Bewegungs-formen, die daraus resultierend zu unterschiedlichen Be-lastungsmustern führen. Dies trifft sowohl für das Laufenin Abgrenzung zum NW/Walking, als auch für NW versusWalking zu. Insofern werden die Ergebnisse von Klein-dienst und Mitarbeiter (11) bestätigt, die in ihrer Studieausschließlich von „außen“ analysierte Parameter (Bo-denreaktionskräfte, 2D Kinematik) erfassten.

Diskussion

-10

0

10

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30

40

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0 20 40 60 80 100

Bodenkontakt (%)

Kn

ie-A

bduk

tion

smom

ent(

Nm

)

LaufenWalkingNordic Walking

Abbildung 1: Knie – Abduktionsmoment. Mittelwertskurven der einzelnen Be-wegungsformen normalisiert zum Bodenkontakt (n=15)

-10-8-6-4-202468

101214

0 20 40 60 80 100

Bodenkontakt (% )

Kn

ie-

Rot

atio

nsm

om

ent

(Nm

)

LaufenWalkingNordic Walking

external

internal

Abbildung 2: Knie – Rotationsmoment. Mittelwertskurven der einzelnen Be-wegungsformen normalisiert zum Bodenkontakt (n=15)

-350-300-250-200-150-100-50

050

100150200250300

0 20 40 60 80 100

Bodenkontakt (%)

Bod

enre

aktio

nsk

raft

(a-p

)(N

)

LaufenWalkingNordic Walking

Abbildung 3: Horizontale Bodenreaktionskräfte in Fortbewegungsrichtung (a-p: anterior-posterior-Richtung). Mittelwertskurven der einzelnen Bewe-gungsformen normalisiert zum Bodenkontakt (n=15)

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Jahrgang 58, Nr. 4 (2007) DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN 109

Gelenkbelastung beim Nordic Walking OriginaliaSowohl beim NW als auch beim Walking ist aufgrund der

analysierten Gelenksmomente die mechanische Belastung

der unteren Extremitäten in der Frontal- und Sagittalebenegeringer als beim Laufen. Dies trifft auch auf alle analysier-ten Parameter in Bezug auf die Bodenreaktionskräfte (Abb.3) zu und ist primär durch die höhere Fortbewegungsge-schwindigkeit (Flugphase versus permanenten Bodenkon-takt) beim Laufen zu erklären. Eine Ausnahme stellt das max.Dorsalflexionsmoment (Sagittalebene) des Sprunggelenkswährend der Landphase dar. Dieses geringere Moment beimLaufen ist auf den geringeren Sohlenwinkel und dem darausresultierend kleineren max. Plantarflexionswinkel imSprunggelenk zu Beginn der Landephase zurückzuführen.Interessanterweise sind die Knie- und Sprunggelenksmo-mente in der Transversalebene (Rotation) beim Laufen nied-riger und somit die Gelenkbelastung geringer als beimNW/Walking. Dieses Muster ist aufgrund der geringeren Ge-lenksexkursion in der Transversalebene, verbunden mit klei-neren horizontalen Bodenreaktionskräften in medio-latera-ler Richtung während der Abstoßphase, die hier nicht expli-zit dargestellt sind, erklärbar. Daher sollte überdacht werden,ob Sportlern mit bestehenden Knie- bzw. Sprungelenksbe-

schwerden, die durch eine ausgeprägte Rotationsbewegung(mit-)verursacht wurden bzw. werden, NW oder Walking alsrehabilitative Maßnahme zu empfehlen ist.

Beim Vergleich NW versus Walking ist auffällig, dass aus-schließlich die Kniegelenksmomente durch den Stockeinsatz

bzw. die NW-Technik beeinflusst werden. Es sind keine un-terschiedlichen Belastungsmuster zwischen NW und Wal-king für das Sprunggelenk und das MPG zu analysieren.Demzufolge führt sowohl die spezielle NW-(Diagonal-)Tech-nik als auch der Stockeinsatz nicht zu einer Belastungsredu-zierung im Sinne eines gelenkschonenden bzw. –entlasten-den Effekts im Sprunggelenk und im MPG.

Die Analyse der Kniegelenksmomente in der Sagittal- undFrontalebene weist für NW im Vergleich zu Walking auf einegrößere Kniegelenkbelastung während der Landephase hin.Diese Tatsache ist primär durch die deutlich größeren Ge-lenksexkursionen des Kniegelenks in der Sagittal- und Fron-talebene beim NW zu erklären. Überraschenderweise fällt derKniegelenkwinkel in der Frontalebene (Adduktion) für NWim Vergleich zum Laufen signifikant größer aus (Tab. 3, Abb.4). Das bedeutet, dass während der Landephase das Kniebeim NW am stärksten nach lateral abweicht. Zudem sind diehorizontalen Bodenreaktionskräfte (Abb. 3) während derLandephase sowie die vertikale und horizontale Kraftan-stiegsrate zu Beginn der Landephase beim NW höher. Höhe-re vertikale Bodenreaktionskräfte während der Landephase,wie bei Brunelle und Miller (2), Kleindienst und Mitarbeiter(11), Rist und Mitarbeiter (17) sowie Schwirtz und Mitarbei-ter (21) berichtet, können in der vorliegenden Studie nichtbeobachtet werden. Wird nunmehr versucht, die größerenKniegelenksexkursionen sowie Bodenreaktionskräfte unddie daraus resultierenden höheren Kniegelenksmomentewährend der Landephase zu erklären, so ist auffällig, dasswährend des ersten Bodenkontaktes sowohl der Knie- alsauch der Sprunggelenkswinkel (Sagittalebene) für NW undWalking nahezu identisch sind (Tab. 4). Bei beiden Bewe-gungsformen wird mit gestreckten Kniegelenken und mitrechtwinklig zum Unterschenkel ausgerichtetem Sprungge-lenk gelandet. Ausschließlich der Hüftgelenkswinkel und derSohlenwinkel (Tab. 4) zeigen in der Sagittalebene signifi-kante Unterschiede zwischen den beiden Bewegungsformen.

Der größere Hüftgelenkswinkel ist aufgrund der größerenSchrittlänge beim NW zu erklären (17, 21). Zudem provoziertdie größere Schrittlänge beim NW einen größeren Sohlen-winkel. Dies bedeutet, dass der Fuß bzw. Schuh beim NW inBezug zum Raumkoordinatensystem (gcs) zu Beginn derLandephase steiler aufgesetzt wird. Dieses Ergebnis wird

durch die Untersuchungen vonKleindienst und Mitarbeiter (11) so-wie Rist und Mitarbeiter (17) be-stätigt. Der Aufprallwinkel aus derFrontalebene zu Beginn der Lande-phase fällt beim NW nur geringfügiggrößer aus als beim Walking. Das be-deutet, dass der Fuß bzw. Schuhbeim NW etwas invertierter als beimWalking aufgesetzt wird. Demzufol-

ge provoziert die größere Schrittlänge beim NW primär ei-nen größeren Sohlenwinkel (17), der als ursächlich für dieveränderte kinetische und kinematische Situation angesehenwerden muss. Diese veränderte Situation zu Beginn des Bo-denkontaktes ruft wiederum die größere Kniegelenkbela-

Parameter Ebene/Richtung

Mittelwerte

NW W L

Hüftgelenkswinkel - Flexion während t0 (°) sagittal 49,6 44,7 41,0Kniegelenkswinkel - Flexion/Extension während t0 (°) sagittal -0,7 -1,3 2,7Sprunggelenkswinkel - Dorsiflexion während t0 (°) sagittal 0,8 0,3 2,5Sohlenwinkel - δ0 (°) (gcs) sagittal -37,1 -35,0 -25,2

Tabelle 4: Kinematische Daten (Mittelwerte) während des ersten Bodenkontaktes (t0) aus der Sagittalebene fürdie Bewegungsformen Nordic Walking (NW), Walking (W) und Laufen (L), n=15 (gcs → Segmentbewegung inBezug auf das „global coordinate system“)

-4

-2

0

2

4

6

8

10

12

0 20 40 60 80 100

Bodenkontakt (% )

Kn

ie-A

dd

ukt

ion

swin

kel(

°)

LaufenWalkingNordic Walking

Abbildung 4: Knie – Adduktionswinkel. Mittelwertskurven der einzelnen Be-wegungsformen normalisiert zum Bodenkontakt (n=15)

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Vergleich zum Walking. Zu einem ähnlichen Ergebnis kom-men auch Kleindienst und Mitarbeiter (11).

Bezug nehmend auf die eingangs formulierte Fragestel-lung und basierend auf den vorliegenden Ergebnissen er-scheint es mehr als fraglich, ob ausschließlich die Reduzie-rung des Knie-Abduktionsmomentes während der Abstoß-phase beim NW im Vergleich zu Walking zu einer generellenReduzierung der mechanischen Belastung von bis zu 30 %auf den menschlichen Bewegungsapparat – wie sie in der po-pulärwissenschaftlichen Literatur (5, 8, 15, 24) postuliertwird – führt. Die vorliegenden Ergebnisse können dies nichtbestätigen. Die Daten zeigen, dass beim NW „im Mittel“ einehöhere Kniegelenkbelastung – insbesondere während derLandephase – im Vergleich zu Walking auftritt. Daher sollteüberdacht werden, ob NW (in seiner ursprünglich typischenTechnik) aufgrund seiner versprochenen „biomechanischenVorteile“ im Vergleich zu Walking, Übergewichtigen sowiePersonen mit bestehenden Schäden an Gelenken und Sehnender unteren Extremitäten, insbesondere in Bezug auf dasKniegelenk, tatsächlich zu empfehlen ist. Diese Überlegunggewinnt an Bedeutung, wenn die positive Korrelation zwi-schen Adipositas und der Inzidenz einer Gonarthrose berück-sichtigt wird (25). Möglicherweise kann durch eine Modifi-kation der „Landetechnik“ das Risiko einer Über- bzw. Fehl-belastung reduziert werden. In diesem Zusammenhang wirdempfohlen, die Schrittlänge zu verkürzen. Dies führt zu ei-nem reduzierten Sohlenwinkel und der Fuß bzw. der Schuhwird flacher aufgesetzt. Darüber hinaus sollte während derLandung bewusst auf eine leichte Beugung im Kniegelenkgeachtet werden, da dies als „natürlicher Dämpfungsmecha-nismus“ angesehen werden kann (13, 16).

Sowohl die kinematischen als auch die kinetischen Datenzeigen Unterschiede zwischen den einzelnen Bewegungs-formen, die daraus resultierend zu unterschiedlichen Be-lastungsmustern führen. Dies trifft sowohl für das Laufenin Abgrenzung zum NW/Walking, als auch für NW versusWalking zu.

Sowohl beim NW als auch beim Walking ist aufgrund deranalysierten Gelenksmomente die mechanische Belastungder unteren Extremitäten in der Frontalebene und Sagittal-ebene geringer als beim Laufen. Interessanterweise sind dieKnie- und Sprunggelenksmomente in der Transversalebene(Rotation) beim Laufen niedriger und somit die Gelenkbela-stung geringer als beim NW/Walking. Stefanyshyn und Mit-arbeiter (23) konnten in einer prospektiv ausgerichteten La-bor- und Feldstudie eine positive Korrelation zwischen demexternalen Knie-Rotationsmoment und der Inzidenz vonPFPS (Patellofemoral Pain Syndrom) nachweisen. Dahersollte überdacht werden, ob Sportlern mit bestehenden Knie-bzw. Sprungelenksbeschwerden, die durch eine ausgeprägteRotationsbewegung (mit-)verursacht wurden bzw. werden,NW oder Walking als rehabilitative Maßnahme zu empfeh-len ist. Grundsätzlich muss jedoch betont werden, dass „im

Schlussfolgernde Überlegungen

110 DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN Jahrgang 58, Nr. 4 (2007)

Originalia Gelenkbelastung beim Nordic Walking

stung während der Landephase beim NW im Vergleich zuWalking hervor. Der steilere Sohlenwinkel beim NW, welcherauch als ursächlich für die größere Plantarflexion imSprunggelenk angesehen werden muss, führt nicht nur zu ei-ner größeren ersten max. vertikalen Kraftspitze (Landepha-se), ähnlich den Ergebnissen von Brunelle und Miller (2),Kleindienst und Mitarbeiter (11) sowie Rist und Mitarbeiter(17), sondern auch zu einer schnelleren Sohlenwinkelge-schwindigkeit und einer höheren ersten max. horizontalenKraftspitze sowie einer höheren vertikalen und horizontalenKraftanstiegsrate (Lande- respektive Bremsphase) im Ver-gleich zu Walking (11). Dieses Muster im Zusammenhang miteiner exzentrischen Kraftentwicklung der vorderen Unter-schenkelmuskulatur während der Landephase kann als Ursa-che für das häufig beim NW auftretende und mit „Shinsplints“ umschriebene Beschwerdemuster angesehen werden(16).

Die Analyse der Abstoßphase zeigt für NW ein geringeresKniegelenksmoment in der Frontalebene, welches auf denStockeinsatz zurückgeführt werden kann. Dies geht einhermit einer geringeren max. vertikalen Kraftspitze während derAbstoßphase. Auch Kleindienst und Mitarbeiter (11), Rist undMitarbeiter (17) sowie Schwirtz und Mitarbeiter (21) berich-ten von einer geringeren max. vertikalen Kraftspitze auf-grund des Stockeinsatzes während der Abstoßphase. Dem-gegenüber wird für das max. externale Rotationsmoment(Transversalebene), welches auch innerhalb der Abstoßpha-se sein Maximum erreicht, eine höhere Kniegelenkbelastungfür NW gegenüber Walking beobachtet. Dieses Muster ist miteiner größeren internalen Rotationsbewegung des Ober-schenkels gegenüber dem Unterschenkel während der Ab-stoßphase beim NW zu erklären. Interessanterweise zeigt dieAnalyse des Fußwinkels (4, 11) bzw. der Fußstellung (displa-cement angle, Stellung des Fußes mit Bezug zum Raumko-ordinatensystem in der Transversalebene) für NW in der Ab-stoßphase eine größere Exorotation im Vergleich zu Walking.Das bedeutet, dass der Fuß während der Abstoßphase nachlateral bzw. der Rückfuß nach medial rotiert und dieses Be-wegungsmuster beim NW ausgeprägter durchgeführt wirdals beim Walking. Da der Sprunggelenkswinkel in der Trans-versalebene während der Abstoßphase (max. Adduktions-winkel einschließlich dazugehöriges max. Abduktionsmo-ment) nahezu keinen Unterschied zwischen NW und Walkingaufweist, muss angenommen werden, dass diese „externaleRotationsbewegung“ des Fußes im Raum ausschließlichdurch die internale Rotationsbewegung im Kniegelenk(Oberschenkel gegenüber dem Unterschenkel) kompensiertund somit ein höheres externales Kniegelenksmoment beimNW provoziert wird. Zudem sind die horizontalen Bodenre-aktionskräfte (Abb. 3) während der Beschleunigungsphase(Abstoßphase) beim NW höher als beim Walking (11). Folg-lich kann nicht von einer generellen Gelenkentlastung beimNW aufgrund des Stockeinsatzes während der Abstoßphaseausgegangen werden.

Auch die „konventionellen“ kinematischen Parametermax. Eversionswinkel, POM und max. Eversionsgeschwin-digkeit zeigen keinen „biomechanischen Benefit“ des NW im

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Jahrgang 58, Nr. 4 (2007) DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN 111

Gelenkbelastung beim Nordic Walking OriginaliaMittel“ die Gelenkbelastung beim Laufen im Vergleich zuNW und Walking als höher einzuschätzen ist und somit so-wohl NW als auch Walking generell eine Alternative zumLaufsport darstellen. Dies gilt insbesondere für übergewich-tige Menschen und Leute, die nach längerer Sportabstinenzeinen „sanften“ Wiedereinstieg in den Sport planen.

Aufgrund der in dieser Studie erhobenen Daten führt derStockeinsatz beim NW bei Anwendung der Diagonaltechnikim Vergleich zum Walking nicht – wie in den Medien postu-liert – zu einer Reduzierung der mechanischen Belastung imKniegelenk, Sprunggelenk und MPG. Ausschließlich für dasKnie-Abduktionsmoment ist während der Abstoßphase eineBelastungsreduzierung zu registrieren, dem jedoch eine Be-lastungssteigerung für das externale Rotationsmoment ent-gegensteht. Zudem wird beim NW eine höhere Belastung desKniegelenks innerhalb der Landephase beobachtet, was aufdie NW-Technik zurückzuführen ist. In Bezug auf den Lauf-sport ist bekannt, dass erhöhte Kniemomente, insbesonderedas max. Abduktionsmoment und das max. externale Rota-tionsmoment, unmittelbar mit der Inzidenz von PFPS korre-lieren (23). Es kann nur vermutet werden, dass ein ähnlicherZusammenhang auch für NW und Walking zutrifft. Des Wei-teren sollte die inzwischen weit verbreitete Integration vonNW (in seiner ursprünglich typischen Technik) bei der Mo-bilisation und Gehschule/Terraintraining im Rahmen vonRehabilitationsmaßnahmen, insbesondere nach Kreuzband-ersatz sowie knie-endoprothetischer Versorgung, kritischüberdacht werden. Deshalb ist es notwendig, prospektiveepidemiologische Labor- und Feldstudien durchzuführen,um den Einfluss von Gelenksmomenten der unteren Extre-mität einschließlich des Hüftgelenks auf die Inzidenz vonsportartspezifischen Beschwerdemustern zu manifestieren.

Unabhängig von den angeführten kritischen Überlegungendarf nicht vergessen werden, wie viele Menschen Nordic Wal-king zum bzw. wieder zum Sporttreiben aktiviert hat. Geradeunter dem cardio-pulmonalen und cardio-vaskulären Aspekteignet sich Nordic Walking als präventives Gesundheitstraining.

Wir danken der Firma prophysics und Karsten Westphal(adidas®) für die technische Unterstützung.

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Korrespondenzadresse: Dr. Frank Kleindienst

adidas AGait. Research, Biomechanisches Labor SEF

Adi-Dassler-Straße 24-26D - 91443 Scheinfeld

e-Mail: [email protected]