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Onkologe 2013 · 19:806–808 DOI 10.1007/s00761-013-2501-5 Online publiziert: 19. September 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 A. Hochhaus 1  · P. M. Schlag 2  · N. Cordes 3  · K. Höffken 4 1  Klinik für Innere Medizin II, UniversitätsTumorCentrum, Universitätsklinikum Jena 2  Charité Comprehensive Cancer Center, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte 3  National Center of Radiation Research in Oncology, OncoRay, Dresden 4  Universitätsklinikum Jena Paul Ehrlichs  „magic bullets“ 1906 prophezeite Paul Ehrlich (1854–1915), dass in naher Zukunft die Pharmazie in der Lage wäre, Substanzen zu produzie- ren, die spezifisch krankheitsauslösende Agenzien erkennen könnten. Er nannte diese Substanzen „magic bullets“. Sie sind Grundlage der modernen zielgerichteten Therapie von Tumoren. Ohne Zweifel ist diese zielgerichte- te Therapie ein großer Fortschritt in der Onkologie. Hierbei wirken die Medika- mente gegen definierte Strukturen an der Tumorzelle, beispielsweise gegen Rezep- toren an der Zelloberfläche oder deren Liganden oder gegen Enzyme, die einen Einfluss auf die Zellteilung und das Zell- überleben haben. »   Zielgerichtete  Therapien orientieren  sich an Molekulargenetik,  Molekularbiologie und  Tumorimmunologie Zielgerichtete Therapien beruhen auf den Erkenntnissen der modernen Molekular- genetik, Molekularbiologie und Tumor- immunologie. Voraussetzung für ihren Einsatz ist der flächendeckende Zugang zur individuellen molekularpathologi- schen Diagnostik. Auch bei bisher rein morphologisch und immunologisch dia- gnostizierten Tumoren spielt die moleku- lare Klassifikation nun eine therapieent- scheidende Rolle. Seit langem etabliert ist die molekularzytogenetische Klassi- fikation der Leukämien, die HER2-Dia- gnostik beim Mammakarzinom oder der Nachweis spezifischer Punktmutationen bei gastrointestinalen Stromatumoren. Beispiele für neue molekulare Marker, die wegen ihrer therapeutischen Relevanz rasch in die Routinediagnostik übernom- men werden sollten, wurden für häufige Tumoren wie das kolorektale Karzinom, das nichtkleinzellige Bronchialkarzinom oder das maligne Melanom beschrieben. Die medikamentöse Tumortherapie wird somit zunehmend komplexer. Ne- ben 130 verschiedenen zytotoxisch wirk- samen Arzneimitteln wurden in den letz- ten 15 Jahren mit den monoklonalen Anti- körpern (-mabs) und den gezielt wirken- den kleinen Molekülen (-mibs) zwei neue Substanzklassen eingeführt. Frühe Vertre- ter waren Trastuzumab und Rituximab als Antikörper bzw. Imatinib als kompetitiver ATP-Bindungsinhibitor. Die Perspektiven für gezielt wirksame immunmodulieren- de Medikamente werden das Spektrum darüber hinaus erweitern. Das vorliegende Heft hat sich dem Leitthema „Neue Substanzen und neue Wirkprinzipien in der Onkologie“ aus der Perspektive der kooperativen Behandlung in den verschiedenen Fachrichtungen der Onkologie gewidmet. Beleuchtet werden die Möglichkeiten der modernen patho- logischen Diagnostik als Voraussetzung des Einsatzes zielgerichteter Medikamen- te. Am Beispiel der systemischen Behand- lung von Bronchial- und Nierenzellkarzi- nomen sowie Melanomen wird die enge Verzahnung der Grundlagen- und trans- lationen Forschung sowie der Diagnostik mit der Therapie erläutert. Die Einbringung zielgerichteter Me- dikamente in die klassischen onkologi- schen Therapiekonzepte hatte zunächst meist palliatives Potenzial. In Kombina- tion mit chirurgischen und strahlenthe- rapeutischen Maßnahmen werden neue kurative Konzepte ermöglicht. Dies er- fordert eine enge Kooperation der Sys- temtherapie mit den chirurgischen Diszi- plinen und der Strahlentherapie zur Pla- nung der zeitlichen Abfolge und mögli- cher Interaktionen der einzelnen Thera- pieverfahren. Die Flut der neuen Medika- mente und die damit verbundenen Kos- ten erfordern eine kritische Diskussion über die zukünftige Organisation klini- scher Studien, über geeignete patienten- relevante Endpunkte, über Nutzenbewer- tung, über Kostenerstattung und über die Anpassung der Strukturen des Gesund- heitswesens. »   Zielgerichtete  Medikamente haben neue,  z. T. klassenspezifische  Nebenwirkungen Goldstandard für den Nachweis eines kli- nischen Nutzens ist die Messung der Ge- samtüberlebenszeit. Dieser Endpunkt wird ergänzt durch weitere Parameter wie das progressionsfreie Überleben und Sur- rogatparameter, die das Ansprechen auf zielgerichtete Therapien sehr früh im Be- handlungsverlauf beschreiben. Die Mes- sung der Änderung der Lebensqualität gehört ebenfalls zu den Endpunkten gut geplanter klinischer Studien und sollten auch zur Nutzenbewertung herangezo- gen werden. 806 | Der Onkologe 10 · 2013 Einführung zum Thema

Paul Ehrlichs „magic bullets“; Paul Ehrlich’s “magic bullets”;

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Page 1: Paul Ehrlichs „magic bullets“; Paul Ehrlich’s “magic bullets”;

Onkologe 2013 · 19:806–808DOI 10.1007/s00761-013-2501-5Online publiziert: 19. September 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

A. Hochhaus1 · P. M. Schlag2 · N. Cordes3 · K. Höffken4

1 Klinik für Innere Medizin II, UniversitätsTumorCentrum, Universitätsklinikum Jena2 Charité Comprehensive Cancer Center, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte3 National Center of Radiation Research in Oncology, OncoRay, Dresden4 Universitätsklinikum Jena

Paul Ehrlichs „magic bullets“

1906 prophezeite Paul Ehrlich (1854–1915), dass in naher Zukunft die Pharmazie in der Lage wäre, Substanzen zu produzie­ren, die spezifisch krankheitsauslösende Agenzien erkennen könnten. Er nannte diese Substanzen „magic bullets“. Sie sind Grundlage der modernen zielgerichteten Therapie von Tumoren.

Ohne Zweifel ist diese zielgerichte­te Therapie ein großer Fortschritt in der Onkologie. Hierbei wirken die Medika­mente gegen definierte Strukturen an der Tumorzelle, beispielsweise gegen Rezep­toren an der Zelloberfläche oder deren Liganden oder gegen Enzyme, die einen Einfluss auf die Zellteilung und das Zell­überleben haben.

»  Zielgerichtete Therapien orientieren sich an Molekulargenetik, Molekularbiologie und Tumorimmunologie

Zielgerichtete Therapien beruhen auf den Erkenntnissen der modernen Molekular­genetik, Molekularbiologie und Tumor­immunologie. Voraussetzung für ihren Einsatz ist der flächendeckende Zugang zur individuellen molekularpathologi­schen Diagnostik. Auch bei bisher rein morphologisch und immunologisch dia­gnostizierten Tumoren spielt die moleku­lare Klassifikation nun eine therapieent­scheidende Rolle. Seit langem etabliert ist die molekularzytogenetische Klassi­fikation der Leukämien, die HER2­Dia­gnostik beim Mammakarzinom oder der Nachweis spezifischer Punktmutationen

bei gastrointestinalen Stromatumoren. Beispiele für neue molekulare Marker, die wegen ihrer therapeutischen Relevanz rasch in die Routinediagnostik übernom­men werden sollten, wurden für häufige Tumoren wie das kolorektale Karzinom, das nichtkleinzellige Bronchialkarzinom oder das maligne Melanom beschrieben.

Die medikamentöse Tumortherapie wird somit zunehmend komplexer. Ne­ben 130 verschiedenen zytotoxisch wirk­samen Arzneimitteln wurden in den letz­ten 15 Jahren mit den monoklonalen Anti­körpern (­mabs) und den gezielt wirken­den kleinen Molekülen (­mibs) zwei neue Substanzklassen eingeführt. Frühe Vertre­ter waren Trastuzumab und Rituximab als Antikörper bzw. Imatinib als kompetitiver ATP­Bindungsinhibitor. Die Perspektiven für gezielt wirksame immunmodulieren­de Medikamente werden das Spektrum darüber hinaus erweitern.

Das vorliegende Heft hat sich dem Leitthema „Neue Substanzen und neue Wirkprinzipien in der Onkologie“ aus der Perspektive der kooperativen Behandlung in den verschiedenen Fachrichtungen der Onkologie gewidmet. Beleuchtet werden die Möglichkeiten der modernen patho­logischen Diagnostik als Voraussetzung des Einsatzes zielgerichteter Medikamen­te. Am Beispiel der systemischen Behand­lung von Bronchial­ und Nierenzellkarzi­nomen sowie Melanomen wird die enge Verzahnung der Grundlagen­ und trans­lationen Forschung sowie der Diagnostik mit der Therapie erläutert.

Die Einbringung zielgerichteter Me­dikamente in die klassischen onkologi­schen Therapiekonzepte hatte zunächst

meist palliatives Potenzial. In Kombina­tion mit chirurgischen und strahlenthe­rapeutischen Maßnahmen werden neue kurative Konzepte ermöglicht. Dies er­fordert eine enge Kooperation der Sys­temtherapie mit den chirurgischen Diszi­plinen und der Strahlentherapie zur Pla­nung der zeitlichen Abfolge und mögli­cher Interaktionen der einzelnen Thera­pieverfahren. Die Flut der neuen Medika­mente und die damit verbundenen Kos­ten erfordern eine kritische Diskussion über die zukünftige Organisation klini­scher Studien, über geeignete patienten­relevante Endpunkte, über Nutzenbewer­tung, über Kostenerstattung und über die Anpassung der Strukturen des Gesund­heitswesens.

»  Zielgerichtete Medikamente haben neue, z. T. klassenspezifische Nebenwirkungen

Goldstandard für den Nachweis eines kli­nischen Nutzens ist die Messung der Ge­samtüberlebenszeit. Dieser Endpunkt wird ergänzt durch weitere Parameter wie das progressionsfreie Überleben und Sur­rogatparameter, die das Ansprechen auf zielgerichtete Therapien sehr früh im Be­handlungsverlauf beschreiben. Die Mes­sung der Änderung der Lebensqualität gehört ebenfalls zu den Endpunkten gut geplanter klinischer Studien und sollten auch zur Nutzenbewertung herangezo­gen werden.

806 |  Der Onkologe 10 · 2013

Einführung zum Thema

Page 2: Paul Ehrlichs „magic bullets“; Paul Ehrlich’s “magic bullets”;
Page 3: Paul Ehrlichs „magic bullets“; Paul Ehrlich’s “magic bullets”;

Zielgerichtete Medikamente haben neue, z. T. klassenspezifische Nebenwir­kungen, die bei der Indikationsstellung und Verlaufskontrolle berücksichtigt wer­den müssen. Die Kenntnis der zu erwar­teten Symptomatik, der Möglichkeiten ihrer Vermeidung oder Linderung gehö­ren zum Handwerkszeug eines jeden On­kologen, der zielgerichtete Medikamen­te einsetzt. Zur Vermeidung von Interak­tionen mit anderen Medikamenten, z. B. Lipidsenkern, Antiarrhythmika, Antide­pressiva oder Antibiotika ist die enge Ko­operation mit den Hausärzten und Apo­thekern besonders wichtig.

Nach 100 Jahren ist Ehrlichs Traum vom „Magischen Geschoss“ Wirklichkeit geworden.

Für die Schriftleiter

A. Hochhaus

Für die Herausgeber

K. Höffken

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. A. HochhausKlinik für Innere Medizin II, UniversitätsTumorCentrum, Universitätsklinikum JenaErlanger Allee 101, 07740 [email protected]

Einhaltung der ethischen Richtlinien

Interessenkonflikt.  A. Hochhaus, P. M. Schlag, N. Cordes und K. Höffken geben an, dass kein Interes-senkonflikt besteht. 

Unterstützung klinischer Studien und anderer wissen-schaftlicher Untersuchungen

Klinische Studien und präklinische Unter-

suchungen sind unerlässlich, um neue The-

rapien und Diagnostika zu erproben und die 

Behandlung unserer Patienten nachhaltig zu 

verbessern. Erfreulicherweise steigt die Zahl 

klinischer Studien an und hierbei werden 

die Pathologie und die gewebebasierte For-

schung vermehrt einbezogen. Die Deutsche 

Gesellschaft für Pathologie e.V. (DGP) und die 

durch sie vertretenen Pathologen wollen und 

können zu diesem Prozess als gleichwertige 

Partner beitragen und unsere klinischen 

Partner dabei bestmöglich unterstützen. Mit 

unseren Technologien und unserer spezi-

fischen Expertise können wir zur Qualität und 

zum Gelingen präklinischer Untersuchungen, 

klinischer Studien und der Implementierung 

der Ergebnisse in der klinisch-pathologischen 

Diagnostik beitragen. Wir wollen Forschung in 

und mit der Pathologie fördern und uns aktiv 

an der Gestaltung von Forschung beteiligen. 

Die DGP hat ein großes Interesse an (guter) 

klinischer Forschung und unterstützt diese 

nachdrücklich. Vor dem Hintergrund immer 

komplexer werdender Anforderungen und 

Interessenlagen stellt die DGP einen sachlich 

begründeten und strukturierten Kriterien-

katalog vor, der für die Leiter und Organi-

satoren klinischer Studien und Pathologen 

gleichermaßen als Informationsquelle und 

Entscheidungshilfe bei Studien und anderen 

wissenschaftlichen Untersuchungen dienen 

soll. Die von der DGP erarbeitete Stellung-

nahme zur Beteiligung und Unterstützung 

klinischer Studien und anderer wissen-

schaftlicher Untersuchungen (Der Pathologe 

2013;34:466-475) beinhaltet eine Checkliste 

für die Planung klinischer Studien mit und an 

Gewebeproben und stellt einen Fragebogen 

vor, der als Vorlage für Materialanforderungen 

dienen kann. Beide berücksichtigen allgemei-

ne Aspekte (Studieninitiator, Studienfinanzie-

rung, Studienart, Studienziel, Art und Menge 

des angefragten Materials), rechtliche Grund-

lagen (Einverständniserklärung des Patienten, 

Sachwalterschaft für Studiengut, Verbleib 

des Studienmaterials), Datenschutzbestim-

mungen, Ethikvotum, Fachstandards (z.B. 

Studienpathologie ist Facharzt für Pathologie, 

Befund- und Materialarchivierung) und Auf-

wandsentschädigungen. Eine kritische Ausei-

Fachnachrichten

nandersetzung mit der Stellungnahme durch 

andere medizinische Fachgesellschaften und 

Organisationen ist erwünscht und soll zur 

nachhaltigen Verbesserung der Forschung 

mit und an humanem Gewebe beitragen.

Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für 

Pathologie e.V.: Christoph Röcken, Heinz 

Höfler, Michael Hummel, Richard Meyermann, 

Christian Zietz, Peter Schirmacher

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Christoph Röcken 

Institut für Pathologie

Christian-Albrechts-Universität

Arnold-Heller-Str. 3, Haus 14

24105 Kiel

Tel: +49(0)431-597-3401

Fax: +49(0)431-597-3462

E-mail: [email protected]

www.dgp-berlin.de

808 |  Der Onkologe 10 · 2013