12
1 D. Sackmann, »Improvisa- tion«, in: Rampe / Sack- mann 2000, S. 365–371. Ders., »Ornamentik«, in: ebenda, S. 371–379. 2 Zitiert nach der Ausgabe J. A. Scheibe, Critischer Musicus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1745; Faks., Hildes- heim / New York / Wiesba- den 1970, S. 62 (= Dok II/ 400). 3 Dok II/409, S. 302. 4 Th. Synofzik, »Johann Gottlieb Preller und seine Abschriften Bachscher Cla- vierwerke. Kopistenpraxis als Schlüssel zur Auffüh- rungspraxis«, in: R. Kaiser (Hrsg.), Bach und seine mit- teldeutschen Zeitgenossen, Eisenach 2001, S. 45–64. Th. Synofzik, »Avec des Agrements – Beobachtun- gen zur Verzierungspraxis des Bachkreises«, in: Bachs Musik für Tasteninstru- mente. Bericht über das 4. Dortmunder Bach-Sym- posion 2002 (Dortmunder Bach-Forschungen 6, hrsg. von M. Geck), hrsg. von M. Geck, Dortmund 2003, S. 51–71. Th. Synofzik, »Ornamentik: Wesentliche und willkürliche Manie- ren«, in: S. Rampe (Hrsg.), Bachs Klavier- und Orgel- werke (Das Bach-Hand- buch 4/1–2), Laaber 2007, Bd. 1, S. 236–260. ORNAMENTIK Die Sekundärliteratur zur Ornamentik in Bachs Tastenmu- sik ist zahlreich, zur Ornamentik in seinen Kompositionen für Melodieinstrumente existieren bis heute jedoch nur zwei Arbei- ten. 1 Das mag mehrere Ursachen haben. Zum einen hatte Johann Adolph Scheibe (1708–1776) in seiner Bach-Kritik von 1737 festgestellt: »Weil er [Bach] nach seinen Fingern urtheilt, so sind seine Stücke überaus schwer zu spielen; denn er verlanget die Sänger und Instrumentalisten sol- len durch ihre Kehle und Instrumente eben das machen, was er auf dem Claviere spielen kan. Dieses aber ist unmöglich. Alle Manieren, alle kleine Auszierungen, und alles, was man unter der Methode zu spielen verstehet, druckt er mit eigentlichen Noten aus; und das entziehet seinen Stücken nicht nur die Schönheit der Harmonie, sondern macht auch den Gesang durchaus unvernehmlich.« 2 Dieses Diktum bezog Bachs Verteidiger Johann Abraham Birn- baum (1702–1748) 1738 auf dessen »kirchenstücke, ouvertu- ren, concerten und andern musicalischen arbeiten«. 3 Scheibes Bemerkungen führten im 20. Jahrhundert zu der irrigen Auf- fassung, in Bachs Musik gelte allein, was der Komponist no- tiert habe, die Ergänzung weiterer Ornamentik sei ausgeschlos- sen. Dabei äußerte Scheibe nur Unverständnis dafür, dass Bach seine Interpreten allzu sehr durch den Notentext festlege und ihnen deshalb keine hinreichenden künstlerischen Freiheiten zubillige. Von einem Verzierungsverbot aber war keine Rede und tatsächlich überzogen beispielsweise Bachs Schüler dessen Tastenmusik grundsätzlich mit einer Vielzahl von Ornamenten und freien Auszierungen, die den Autografen nicht zu entneh- men ist. 4 Demnach war es damals üblich, mit Bachs Musik eben so frei umzugehen wie mit jener anderer Zeitgenossen, und eine Urtext-Philosophie, wie sie im späten 19. Jahrhundert aufkam, entspricht in keiner Weise den Vorstellungen des Komponisten, der etwa in seinen Cembalokonzerten BWV 1052–1057 selbst wiederholt die Ornamentik änderte. Zum anderen notierte Bach in instrumentalen Ensemble- kompositionen, abgesehen von den Partien für obligates oder konzertierendes Cembalo, nur gelegentlich Triller, Wellenlinien

ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

1 D. Sackmann, »Improvisa-tion«, in: Rampe / Sack-mann 2000, S. 365–371. Ders., »Ornamentik«, in: ebenda, S. 371–379.

2 Zitiert nach der Ausgabe J. A. Scheibe, Critischer Musicus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1745; Faks., Hildes-heim / New York / Wiesba-den 1970, S. 62 (= Dok II/ 400).

3 Dok II/409, S. 302.4 Th. Synofzik, »Johann

Gottlieb Preller und seine Abschriften Bachscher Cla-vierwerke. Kopistenpraxis als Schlüssel zur Auffüh-rungspraxis«, in: R. Kaiser (Hrsg.), Bach und seine mit-teldeutschen Zeitgenossen, Eisenach 2001, S. 45–64. Th. Synofzik, »Avec des Agrements – Beobachtun-gen zur Verzierungspraxis des Bachkreises«, in: Bachs Musik für Tasteninstru-mente. Bericht über das 4. Dortmunder Bach-Sym-posion 2002 (Dortmunder Bach-Forschungen 6, hrsg. von M. Geck), hrsg. von M. Geck, Dortmund 2003, S. 51–71. Th. Synofzik, »Ornamentik: Wesentliche und willkürliche Manie-ren«, in: S. Rampe (Hrsg.), Bachs Klavier- und Orgel-werke (Das Bach-Hand-buch 4/1–2), Laaber 2007, Bd. 1, S. 236–260.

ornamentik

Die Sekundärliteratur zur Ornamentik in Bachs Tastenmu-sik ist zahlreich, zur Ornamentik in seinen Kompositionen für Melodieinstrumente existieren bis heute jedoch nur zwei Arbei-ten.1 Das mag mehrere Ursachen haben.

Zum einen hatte Johann Adolph Scheibe (1708–1776) in seiner Bach-Kritik von 1737 festgestellt:

»Weil er [Bach] nach seinen Fingern urtheilt, so sind seine Stücke überaus schwer zu spielen; denn er verlanget die Sänger und Instrumentalisten sol-len durch ihre Kehle und Instrumente eben das machen, was er auf dem Claviere spielen kan. Dieses aber ist unmöglich. Alle Manieren, alle kleine Auszierungen, und alles, was man unter der Methode zu spielen verstehet, druckt er mit eigentlichen Noten aus; und das entziehet seinen Stücken nicht nur die Schönheit der Harmonie, sondern macht auch den Gesang durchaus unvernehmlich.«2

Dieses Diktum bezog Bachs Verteidiger Johann Abraham Birn-baum (1702–1748) 1738 auf dessen »kirchenstücke, ouvertu-ren, concerten und andern musicalischen arbeiten«.3 Scheibes Bemerkungen führten im 20. Jahrhundert zu der irrigen Auf-fassung, in Bachs Musik gelte allein, was der Komponist no-tiert habe, die Ergänzung weiterer Ornamentik sei ausgeschlos-sen. Dabei äußerte Scheibe nur Unverständnis dafür, dass Bach seine Interpreten allzu sehr durch den Notentext festlege und ihnen deshalb keine hinreichenden künstlerischen Freiheiten zubillige. Von einem Verzierungsverbot aber war keine Rede und tatsächlich überzogen beispielsweise Bachs Schüler dessen Tastenmusik grundsätzlich mit einer Vielzahl von Ornamenten und freien Auszierungen, die den Autografen nicht zu entneh-men ist.4 Demnach war es damals üblich, mit Bachs Musik eben so frei umzugehen wie mit jener anderer Zeitgenossen, und eine Urtext-Philosophie, wie sie im späten 19. Jahrhundert aufkam, entspricht in keiner Weise den Vorstellungen des Komponisten, der etwa in seinen Cembalokonzerten BWV 1052–1057 selbst wiederholt die Ornamentik änderte.

Zum anderen notierte Bach in instrumentalen Ensemble-kompositionen, abgesehen von den Partien für obligates oder konzertierendes Cembalo, nur gelegentlich Triller, Wellenlinien

Page 2: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

195ornamentik

1 Eine Abbildung des Autografs in: Bach-Hand-buch 4/1, S. 257.

2 J. A. Scheibe, Critischer Musicus, S. 894.

3 Dok II/409, S. 304f.

und Vorschläge sowie in einem einzigen Fall (BWV 1063/2) auch Mordente. Dadurch entsteht der Eindruck, dass ein reichhalti-ges Spektrum an Ornamentik, das aus der allgemein bekannten Tabelle Explication unterschiedlicher Zeichen, so gewiße ma-nieren artig zu spielen, andeuten zu Beginn des Clavier-Büch-leins vor Wilhelm Friedermann Bach (angefangen 1720) her-vorgeht1, für Melodieinstrumente nicht bestand. Auch dieses Urteil ist, wie unten zu zeigen sein wird, sachlich unrichtig. Vielmehr erscheint es so, dass Bach lediglich jene Ornamen-te aufzeichnete, deren Festlegung er für unbedingt notwendig hielt. Für andere, ja selbst bei Schlusstrillern rechnete er indes mit der Eigeninitiative seiner Interpreten.

Drittens fehlt es vielen Spielern von Melodieinstrumenten seit dem 20. Jahrhundert ebenso wie Sängern an Erfahrung mit der Ornamentikpraxis. Die Unsicherheit, was man tun soll, muss und darf, ist groß. Dies mag freilich zur Bach-Zeit nicht immer anders gewesen sein. Jedenfalls antwortete Bachs Ver-teidiger Johann Abraham Birnbaum auf Scheibes Forderung (1738), den »Sängern und Instrumentalisten die Freyheit [zu] lassen, ihre Geschicklichkeit zu zeigen«2, mit der Replik:

»Allein da die wenigsten hiervon genugsame wissenschafft haben; den-noch aber durch eine ungeräumte [ungereimte] anbringung ihrer me-thode die haupt melodie verderben; ja auch wohl offt solche passagen hinein machen, welche von denen, die um der sache eigentliche beschaf-fenheit nicht wissen, dem componisten leicht als ein fehler angerechnet werden könnten; so ist ja wohl ein jeder componist, und also auch der Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, durch vorschreibung einer richti-gen und seiner absicht gemäßen methode, die irrenden auf den rechten weg zu weisen, und dabei auf die erhaltung seiner eigenen ehre zu sorgen. Vermöge dieser erklährung fält die meinung des verfassers [Scheibe], daß dieses verfahren den stücken des Herrn Hof-Compositeurs die schönheit der harmonie entzöge, und den hauptgesang unannehmlich mache, von selbsten hinweg.«3

Schließlich mangelt es an Quellen, die über die deutsche Or-namentikpraxis der Bach-Zeit jenseits der Tastenmusik Aus-kunft zu geben vermögen. Eine handschriftliche Verzierungs-tabelle wie für diese existiert nicht und vor Johann Joachim Quantz’ ( 1697–1773) Versuch einer Anweisung die Flöte tra-versiere zu spielen (1752) findet man auch keine gedruck-ten Schriften zum Thema. Dass eine deutsche Ornamentik-tradition bestand, legen jedoch die Gesangstraktate aus dem 17. Jahrhundert nahe. Will man mehr über jene mündlich vermittelte Praxis erfahren, die der junge Bach selbst erlernt

Page 3: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

196 ornamentik

1 J. S. Beyer, Primæ Lineæ Musicæ Vocalis. Das ist: Kurtze/ leichte/ gründliche und richtige Anweisung/ Wie die Jugend/ so wohl in den öffentlichen Schulen/ als auch in der Privat-Infor-mation, ein Musicalisches Vocal-Stück wohl und rich-tig singen zu lernen, Frei-berg (Sachsen) 1703; Faks., Leipzig 1977.

2 M. H. Fuhrmann, Musicali-scher Trichter, dadurch ein geschickter Informator sei-nen Informandis die edle Singe-Kunst nach heutiger Manier bald und leicht ein-bringen kan, Frankfurt an der Spree (= Berlin) 1706.

3 J. G. Walther, Præcepta der Musicalischen Composition ([Manuskript Weimar 1708] Jenaer Beiträge zur Mu-sikforschung 2, hrsg. von H. Besseler), Leipzig 1955.

4 Th. Synofzik, »Ornamentik: Wesentliche und willkür-liche Manieren«.

5 M. H. Fuhrmann, Musica-lischer Trichter, S. 64.

6 J. G. Walther, Præcepta der Musicalischen Composition, S. 36–40.

7 J. S. Beyer, Primæ Lineæ Musicæ Vocalis, S. 57–64.

8 J. J. Quantz, Versuch ei-ner Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Ber-lin 1752; Faks., hrsg. von H. Augsbach, Kassel etc. / München 1992, S. 118.

haben muss, verbleiben nur drei Schriften, die im ersten Jahr-zehnt des 18. Jahrhunderts in seiner näheren oder weiteren Umgebung entstanden:

a) der Gesangstraktat Primæ Lineæ Musicæ Vocalis (1703) des Kantors Johann Samuel Beyer (1669–1744) in Freiberg (Sachsen).1 Beyer war ein Schüler des Weißenfelser Hofkapellmeisters Johann Philipp Krie-ger (1649–1725), den Bach spätestens 1729 als externer Hofkapell-meister beerbte;

b) das Gesangslehrbuch Musicalischer Trichter (1706) von dem Berliner Kantor Martin Heinrich Fuhrmann (1669–1745)2, einem Enkelschü-ler Dieterich Buxtehudes (1637–1707) und Schüler von Händels Leh-rer Friedrich Wilhelm Zachow (1663–1712) in Halle an der Saale;

c) die handschriftliche Abhandlung Præcepta der Musicalischen Com-position3, die Johann Gottfried Walther (1684–1748) im März 1708 für seinen 12-jährigen Kompositionsschüler Prinz Johann Ernst von Sachsen-Weimar (1696–1715) zum Namenstag anfertigte, also unmit-telbar bevor Bach in Weimar Hoforganist wurde.

Diese drei Traktate dienen im folgenden als Hauptquellen für die Ornamentik in Bachs Musik für Melodieinstrumente. Nicht berücksichtigt werden dabei die Partien für obligates oder kon-zertierendes Cembalo, da hier überwiegend die stark franzö-sisch beeinflusste Ornamentikpraxis der Tastenmusik herrscht. Ein diesbezüglicher Beitrag von Thomas Synofzik wurde be-reits in Bach-Handbuch 4 veröffentlicht.4

Ornamente jeder Art nannte man zur Bach-Zeit »Manie-ren«. Laut Fuhrmann sind

»Manieren in einer guten Composition das Centrum und Mittel-Punct; Also/ daß wenn ein Vocalist ein Stück schon fertig nach dem Tact wegsin-gen kan/ aber keine tüchtigen Manieren darin zu finden oder anzubringen weiß/ so wird man von ihm sagen: daß er zwar den musicalischen Schul-sack mit Noten, Tact, Pausen, Intervallen &c. gantz auffgefressen/ aber es wären keine Manieren drin gewesen«.5

Auch für Walther sind Manieren essentiell. Er rechnet sie nach den Noten- und Taktsymbolen unter die »übrigen Characteri-bus«, worunter auch Vorzeichen und Wiederholungszeichen zu verstehen sind.6 Beyer unterscheidet zwischen »Trillo«, »Tira-ta«, »Tremulo« sowie »Passaggi« und »Variation der Noten«.7 Letztere sind freie, aber formelhafte Verzierungen, die der Sän-ger grundsätzlich an geeigneten Stellen improvisieren soll. Erst jedoch seit Johann Joachim Quantz ist von »wesentlichen« und »willkürlichen Manieren« die Rede8 – Begriffe, die sich offen-bar im Lauf von Bachs Lebenszeit entwickelten. Wesentliche

Page 4: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

197ornamentik

1 Staats- und Universitäts-bibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, ND VI 25.

2 Erstausgabe in: Vincent Lübeck, Neue Ausgabe sämtlicher Orgel- und Cla-vierwerke, 2 Bde., hrsg. von S. Rampe, Kassel etc. 2003 / 2004, Bd. II, S. 66.

3 S. Rampe, »Ornamentik bei Buxtehude. Wesentli-che Manieren, nicht nur für Organisten«, in Concerto 217 (2007/2008), S. 20–24 (S. 23f.).

Ornamente sind jene knappen Figuren, für die ein Symbol wie »tr« besteht, willkürliche Manieren frei gestaltete Verzierungen ohne Beschränkung auf gewisse Schemata. Das vorliegende Ka-pitel berührt zunächst die einzelnen wesentlichen Ornamente und widmet sich zum Schluss den willkürlichen Manieren, weil diese wiederum auf die wesentlichen Bezug nehmen.

Beyer und Fuhrmann lassen keinen Zweifel daran, dass jeg-liche Arten der Manieren von Gesangs- und Instrumentalsolis-ten auch dort improvisiert wurden, wo sie nicht eigens notiert sind. Wie oft dies der Fall war, ist mangels Quellen schwer zu sagen, da die improvisierte Ornamentik – anders als in der Tas-tenmusik – nicht aufgezeichnet wurde. Allerdings ist in einem 1691 datierten Manuskript1 aus dem Umfeld der Hamburger Gänsemarkt-Oper und des Organisten an St. Nicolai, Vincent Lübeck (1654–1740), eine einzelne Arie für Sopran und Con-tinuo erhalten2, die zeigt dass man damals keineswegs weni-ger häufig verzierte als auf Tasteninstrumenten3 (die //-Symbole sind als Mordente zu verstehen):

Ich steh an dei ner- Krip pen- hier o Je su- lein- mein

4

le ben[.]- Ich kom me- bring und schen ke- dir wasdu mir hast ge -

7

ge- - ben[.] Nimm hin es ist mein Geist und Sinn Hertz Seel und Geist nimm al les-

10

hin und laßdir wohl ge fal- - - - - - -

13

len.- -6

Anonym, Arie »Ich steh an deiner Krippen hier«

für Sopran und Continuo (Hamburg bis 1691)

Page 5: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

198 ornamentik

1 H. J. Marx, Händel und sei-ne Zeitgenossen. Eine bio-graphische Enzyklopädie, 2 Bde. (Das Händel-Hand-buch 1/1–2), Laaber 2008, Bd. 1, S. 330.

2 Wiedergegeben in: W. Kol-neder, Georg Muffat zur Aufführungspraxis (Samm-lung musikwissenschaftli-cher Abhandlungen 50), Straßburg / Baden-Baden 1970, S. 39–101.

3 J. J. Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traver-siere zu spielen, S. 246f.

4 J. Spitzer / N. Zaslaw, »Im-provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-ciety 39 (1986), S. 524–577 (S. 536–538). Dies., The Birth of the Orchestra. History of an Institution, 1650–1815, Oxford 2004, S. 94f.

Es gibt keinen Grund, diese Praxis nicht auf Bachs Vokal- und Kammermusik zu übertragen, und man muss davon ausgehen, dass insbesondere professionelle Interpreten wie die Sänger und Instrumentalisten an den Höfen von Weimar und Köthen da-mals regen Gebrauch davon machten, was die technischen An-forderungen der Kompositionen allerdings erheblich steigert.

Die Ergänzung von wesentlichen Manieren im Ripieno des Orchesters hingegen gestattet keine zuverlässigen Angaben. Dem strikten Verzierungsverbot im Orchester Arcangelo Corel-lis (1653–1713), von dem Georg Friedrich Händel ( 1685–1759) berichtet1, stehen die ausführlichen Schilderungen Georg Muf-fats (1653–1704) über die Ornamentikpraxis der Anhänger Jean-Baptiste Lullys (1632–1687) in der Vorrede zu seinem Florilegium Secundum (Passau 1698) gegenüber.2 Dort erklärt Muffat zunächst die Ornamentiksymbole und gibt dann genaue Anweisungen, wie und wo im Notentext Verzierungen hinzu-zufügen sind. Zumindest für Bachs Köthener Hofkapelle, deren führende Musiker zuvor Mitglieder der französisch geprägten Berliner Hofkapelle gewesen waren, ist diese Praxis vorstellbar. Fraglich bleibt jedoch, ob die Verwendung wesentlicher Ma-nieren im Orchester auf Musik im französischen Stil wie die Orchestersuiten BWV 1066–1069 beschränkt blieb, und wie bei mehrfacher Besetzung einer Stimmgruppe verfahren wurde. Muffat äußert sich hierzu nicht und auch zeitgenössische Auf-führungsmaterialien geben darüber keine Auskunft. Vielleicht hatte jeder Ripienist das Recht, Ornamente nach Gutdünken zu ergänzen. Möglicherweise aber stand dies nur Stimmführern zu und gegebenenfalls wurden Verzierungen innerhalb einer Stimmgruppe auch vereinheitlicht, was jedoch eine ausreichen-de Probenarbeit voraussetzt. Das Leipziger Collegium musicum spielte vom Blatt und dort ist am ehesten mit einem freien Ge-brauch wesentlicher Ornamente zu rechnen. Quantz indes un-tersagt jegliche Ornamentik von Ripienisten3 und gibt damit vermutlich nicht nur die Praxis der neuen Hofkapelle in Berlin (seit 1740), sondern auch jener in Dresden wieder.

Willkürliche Manieren hingegen blieben Solisten und dem Konzertmeister vorbehalten.4 Auch bei mehreren Solisten wie in den Brandenburgischen Konzerten, im Doppelkonzert d-Moll BWV 1043 für 2 Violinen oder in den Concerti BWV 1060–1065 für 2–4 Cembali besteht also die Möglichkeit individu-eller, unabhängiger Gestaltung von wesentlicher und willkürli-cher Ornamentik.

Page 6: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

199triller

1 J. G. Walther, Præcepta der Musicalischen Composition, S. 38.

2 J. S. Beyer, Primæ Lineæ Musicæ Vocalis, S. 57f. M. H. Fuhrmann, Musicali-scher Trichter, S. 64f.

triller

Die Symbole für Triller in Bachs Partien für Melodieinstrumen-te sind »tr« oder »t« und in einem einzigen Fall, der Alla Sici-liana aus dem Concerto d-Moll BWV 1063 für 3 Cembali und Streicher, auch die kurze Wellenlinie, die in der Tastenmusik gebräuchlich ist. Dass dieses Zeichen dort auftritt, dürfte da-mit zusammenhängen, dass die Partie der 1. Violine, in der es erscheint, hinsichtlich ihrer Ornamentik den drei im Unisono geführten Clavierpartien angeglichen wurde. Ob die Wellen-linie tatsächlich aber in die Violinstimme(n) des Werks einging, ist ungewiss, da kein originales Aufführungsmaterial erhalten blieb. Indessen gebraucht Johann Gottfried Walther alle drei Symbole – »tr.«, »t.« und Wellenlinie – nebeneinander und in identischer Bedeutung1; es gibt keinen Hinweis darauf, dass Bach dies anders gehandhabt hätte. Der Triller heißt bei Bach (Clavier-Büchlein vor Wilhelm Friedemann Bach), Beyer, Fuhr-mann und Walther gleichlautend auf Italienisch »Trillo«2, Wal-ther fügt, offenbar aus gutem Grund, freilich noch den franzö-sischen Terminus »tremblement« bei.

Denn sein Triller unterscheidet sich grundlegend von jenem bei Beyer und Fuhrmann. Diese folgen der Jahrhunderte alten Praxis des Hauptnotentrillers (also mit Beginn auf der betreffen-den Note selbst), die in Italien ununterbrochen bis ins 20. Jahr-hundert andauerte. Zwar existierten bereits im 15. Jahrhundert auch dort ebenso wie im deutschen Sprachgebiet Triller mit Be-ginn von der oberen Nebennote, doch waren diese in einzelne Noten auszuschreiben, also direkt in den Notentext zu integrie-ren. Das im späten 16. Jahrhundert aufkommende Zeichen tr oder t bedeutete indessen stets einen Hauptnotentriller. Insofern ist der Hauptnotentriller auch für Bachs frühe Ensemblemusik anzunehmen. Dazu gehören im vorliegenden Buch offenbar die Fuga g-Moll BWV 1026 für Violine und Continuo und die Vio-linsonate e-Moll BWV 1023, die vermutlich beide aus dem ers-ten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts stammen. Dass der Haupt-notentriller freilich noch um 1730 in Leipzig nicht völlig außer Gebrauch gekommen war, beweisen die beiden von Bach selbst geschriebenen Stimmen der Soloviolinen zum Doppelkonzert d-Moll BWV 1043: Dort ist im letzten Satz Allegro zum Triller in T. 18 jeweils eigens ein Vorschlag der oberen Nebennote auf-gezeichnet – offenbar als Erinnerung für die Solisten.

Indessen muss der seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-derts in Frankreich nachweisbare Nebennotentriller zusammen

Page 7: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

Vom enSemble- zum SoloinStrument: daS ViolonCello

Das heutige Violoncello wurde erst relativ spät, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in Oberitalien entwickelt, und seine Maße konnten erst ein Jahrhundert später Verbindlichkeit beanspru-chen. Bis zu dieser Zeit gab es eine Vielzahl von Bassinstrumen-ten der Gamben- und der Violinfamilie, denen die Acht-Fuß- Lage im Ensemblesatz zugewiesen wurde. Eine Beschreibung des Violoncellos zur Zeit Bachs muss sich daher mit der Feststel-lung auseinandersetzen, dass Instrumente von sehr unterschied-licher Art und Größe als »Violoncello« bezeichnet wurden. Für die Acht-Fuß-Bässe der Violinfamilie existierten außerdem meh-rere Spielweisen nebeneinander, die von der Größe des Instru-ments abhängig waren und an den entsprechenden Haltungs-hilfen ablesbar sind.

Die heute selbstverständliche Spielweise, bei der das Instru-ment im Sitzen zwischen den Knien gehalten wird, war um 1700 nicht die gebräuchlichste, verlangte doch der Standes unterschied

Violoncello von Niccolo Amati (1596–1684), Cremona 1664 (Privatbesitz). Abgebildet sind Decke und Boden. Das Instru-ment wurde modernisiert, ori-ginal ist nur das Corpus, hin-gegen sind Saitenhalter, Steg

und Griffbrett spätere Zutaten.

Page 8: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

254 Vom ensemble- zum Soloinstrument – das Violoncello

regelmäßig, dass man in Gegenwart höher gestellter Personen nicht sitzen durfte. Wirksam wurde diese Einschränkung bei-spielsweise in der Tanzmusik, aber auch in der Kirche, denn vielerorts verfolgte die Gemeinde den gesamten Gottesdienst im Stehen, und die hohen Herren nahmen auf Emporen Platz, von denen die Musiker gut sichtbar waren. Vielfach wurden die Instrumente auf den Boden gestellt und kleinere Instrumente durch Stachel oder Schemel erhöht, während der Musiker wie heute noch beim Kontrabass dahinter stand. Wenn der Acht-Fuß-Bass im Gehen, etwa bei Prozes sionen, gespielt werden sollte, wurde das Instrument mit einer Hängevorrichtung am Hals oder an einem Kleiderknopf befestigt. Diese Haltungs hilfe ist allerdings auch bei stationärem Spiel bildlich belegt. Klei-nere Instrumente wurden für solistische Aufgaben eingesetzt und konnten auch auf dem Arm gespielt werden, wobei sie mit einem Band so befestigt wurden, dass das Korpus entweder vor der Brust oder auf der rechten Schulter auflag (siehe die Abbil-dung unten). Noch kleinere Acht-Fuß-Bassin strumente konn-ten sogar wie eine Violine oder Viola auf die linke Schulter ge-legt werden.

Angesichts der einheitlichen Kniehaltung, mit der das Vio-loncello heute gespielt wird, erscheint es kaum vorstellbar, dass diese Spielweise in Bachs Umfeld wahrscheinlich nur aus-nahmsweise Verwendung fand. Ebenso verbreitet war offenbar die Spielhaltung »da spalla«, bei der das Instrument horizontal vor der Brust nach links gehalten und mit der rechten Schul-ter gestützt oder mit einem Band um den Hals gebunden wur-de (siehe die Abbildung auf S. II/255). Befremdlich erscheint

A. Bosse, Le Bal (Detail), sitzender Bass-Spieler in Da-spalla-Haltung, Frankreich vor 1676(Musée du Louvre, Paris)

Page 9: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

255Vom ensemble- zum Soloinstrument – das Violoncello

1 Vgl. V. Walden, One hun-dred years of violoncello. A history of technique and performance practice 1740–1840, Cambridge 1998, S. 106ff.

2 B. Bismantova, Compen-dio musicale, Ferrara 1677 (Nachtrag: 1694); Faks. Flo-renz 1978, S. 119.

3 J. G. Walther, Præcepta der Musicalischen Composi-tion ([Manuskript Weimar 1708] Jenaer Beiträge zur Musikforschung 2, hrsg. von H. Besseler), hrsg. von P. Benary, Leipzig 1955, S. 56.

außer dem die vielfach beleg-te Information, dass man die-se Instrumente üblicherweise mit einem Violin-Fingersatz spielte, auch wenn einzelne professionelle Musiker be-reits zu Bachs Lebzeiten die freie und beweglichere Fin-gertechnik der Gambe auf das Vio loncello übertragen haben

mögen.1 Gerade in jüngster Zeit wird die Vielfalt zeitgenössi-scher Acht-Fuß-Bass-Instrumente und ihrer Spielweise in der historisch orientierten Musikpraxis wieder belebt. Daher soll zunächst ein Überblick über die zeitgenössischen Beschreibun-gen des Violoncellos gegeben werden, die zusammen mit iko-nographischen und organologischen Zeugnissen die Grundlage für ein differenzierteres Verständnis derjenigen Instrumente bil-den, die man zu Bachs Zeit als »Violoncello« bezeichnete.

In Anlehnung an die verbreitete italienische Praxis des »Vio-loncello da spalla« (siehe die Abbildung oben), zu der Barto-lomeo Bismantova (geboren 1675) 1694 eine Anleitung über-liefert2, beschreibt Bachs Weimarer Cousin Johann Gottfried Walther (1684–1748) das Violoncello 1708 als ein italieni-sches Instrument:

»Violoncello, ist ein Italiaenisches einer Violadigamba nicht ungleiches Bass-Instrument, wird fast tractiret wie eine Violin, neml. es wird mit der lincken Hand theils gehalten, und die Griffe formiret, theils aber wird es wegen der Schwere an des Rockes Knopff gehänget und durch die rechte Hand mit einem Bogen gestrichen. Wird gestimmet wie eine Viola.«3

Walthers Violoncello wird nicht zwischen den Beinen, sondern »fast wie eine Violin« mit der linken Hand gehalten. Offenbar kannte auch Walther verschieden große Exemplare, von denen die schwereren zusätzlich in der Mitte der Oberbekleidung an einem Knopf eingehängt wurden. Von diesen Voraussetzungen geht auch die häufig zitierte Beschreibung des Hamburger Kom-ponisten und Theoretikers Johann Mattheson (1681–1764) von 1713 aus, die ebenfalls keinen Hinweis auf die Beinhal-tung enthält:

»Der hervorragende Violoncello, die Bassa Viola und Viola di Spala, sind kleine Bass-Geigen / in Vergleichung der grössern / mit 5 auch wol

Initiale der Violoncello- Stimme aus den 12 Sonate

per violino e basso continuo op. 4 von Giuseppe Torelli

(Bologna 1688)

Page 10: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

256 Vom ensemble- zum Soloinstrument – das Violoncello

1 J. Mattheson, Das Neu-eröffnete Orchestre, Ham-burg 1713; Faks. Hildes-heim etc. 1993, S. 285.

2 Mit seinem Hinweis »in Vergleichung der grössern« bezieht sich Mattheson nicht auf den Sechzehn-Fuß-Bass, den er im fol-genden Paragraphen be-schreibt und als »Grosse Bass-Geige« bezeichnet, denn dieser diene nur als »bündiges Fundament« und sei für »allerhand ge-schwinde Sachen / Variatio-nes und Mannieren« nicht geeignet.

3 S. de Brossard, Dictionaire de Musique, Paris 21705, S. 221. Offenbar kannte Mattheson sechssaitige Vio loncelli nicht, denn mit dem Wort »wol« deutet er einen Vorbehalt gegenüber Brossard an.

4 J. G. Walther, Musicalisches Lexicon Oder Musicalische Bibliothex, Leipzig 1732; Faks. (Documenta Musi-cologica 1/III) hrsg. von R. Schaal, Kassel etc. 51993, S. 637.

5 J. F. B. C. Majer, Museum Musicum theoretico practi-cum. Neu-eröffneter theo-retisch-praktischer Music-Saal, Nürnberg 21741; Faks., hrsg. von E. Thom, Michaelstein/Blankenburg 1985, S. 99.

6 Sollte der Maßstab 1:10, den Majer bei der Abbil-dung der Violine und Viola d’amore anwendet, auch hier gültig sein, könnte von einer Corpuslänge von ca. 64 cm ausgegangen werden.

7 Vgl. D. Speer, Grund-richtiger / Kurtz-Leicht- und Nöthiger jetzt Wol-vermehrter Unterricht der Musicalischen Kunst oder Vierfaches Musicalisches Kleeblatt, Ulm 21697; Faks., hrsg. von I. Ahlgrimm / F. Burkhardt, Leipzig 1974, S. 207.

6. Sayten / worauff man mit leichterer Arbeit als auff den grossen Ma-chinen aller hand geschwinde Sachen / Variationes und Mannieren ma-chen kan / insonderheit hat die Viola di Spala, oder Schulter-Viole einen grossen Effect beym Accompagnement, weil sie starck durchschneiden / und die Thone rein exprimiren kan. Ein Bass kan nimmer distincter und deutlicher herausgebracht werden als auff diesem Instrument. Es wird mit einem Bande an der Brust befestiget / und gleichsam auff die rechte Schul-ter geworffen / hat also nichts / daß seinen Resonantz im geringsten auff-hält oder verhindert.«1

Mattheson nennt das Violoncello in einer Reihe kleiner Acht-Fuß-Bassinstrumente, die sich von den »grossen Machinen« unterscheiden und von denen das Instrument in Schulterhal-tung eine besonders gute Klangwirkung hervorbringt.2 Als Un-terscheidungsmerkmal von den größeren Bässen der Acht-Fuß- Lage, die virtuoses Spiel erschweren, nennt er die Anzahl der Saiten, die er aus Brossards Musiklexikon von 1705 übernom-men hat: »VIOLONCELLO. C’est proprement nôtre Quinte de Violon, ou une Petite Basse de Violon à cinque ou six Cordes.«3 Die meisten nachfolgenden Autoren übernahmen Matthesons Text, selbst Walther, der in seinem Musiklexikon von 1732 sei-ne ältere Definition von 1708 fallen ließ. Aufschlussreich sind jedoch die kleinen Änderungen, die Walther an diesem Text vornimmt, denn er verzichtet auf den Satz, »ein Bass kan nim-mer distincter und deutlicher herausgebracht werden«, und fügt hinzu: »Die viersäitigten [Violoncelli] werden wie eine Vio-la, C. G. d. a. gestimmt und gehen bis ins [eingestrichene] a.«4

Auch der Kantor Johann Friedrich Bernhard Caspar Ma-jer (1689–1768) aus Schwäbisch Hall zitiert Mattheson in sei-nem Lehrbuch von 1741 und fügt hinzu, dass ein Violoncello »gemeiniglich mit 4 starcken Saiten bezogen« werde. Die Be-merkung, die Schulter-Viole habe »also nichts, das ihren Reso-nanz im geringsten aufhält oder verhindert«, ersetzt er durch den Nachsatz: »von vielen aber wird sie zwischen beeden Bei-nen gehalten«.5 Eine Grifftonleiter bestätigt die Acht-Fuß- Lage, zeigt aber den charakteristischen Violinfingersatz, bei dem die Finger diatonisch greifen. Das abgebildete Instrument dagegen gehört mit fallenden Schultern, geschweiftem Corpus und ge-flammten f-Löchern trotz seiner vier Saiten eindeutig zur Gam-ben-Familie und dürfte deutlich kleiner sein als ein modernes Violoncello.6 Ohne den Bezug zur erwähnten »Viola di Spala« herzustellen, setzt Majer seine Beschreibung mit einem noch kleineren, auf dem Arm gespielten Acht-Fuß-Bass-Instrument fort, der bereits 1697 von Daniel Speer (1636–1707)7 genannten

Page 11: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

257Vom ensemble- zum Soloinstrument – das Violoncello

1 J. F. B. C. Majer, Museum Musicum theoretico practi-cum, S. 100.

2 J. J. Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte tra-versiere zu spielen, Ber-lin 1752; Faks., hrsg. von H. Augsbach, Kassel etc. 42004, S. 212.

3 In diesem Sinne wurde bei-spielsweise in Frankreich zwischen »Basse« und »Vio loncelle« unterschie-den, vgl. V. Walden, One hundred years of violon-cello, S. 52ff.

»Fagott-Geige«, während er das Violoncello mit dem älteren Begriff »Französische Baß-Geige« gleichsetzt:

»Eine Fagott-Geige wird auf dem Arm gehalten, und Wie eine Viola trac-tirt, auch ist die Stimmung also eingerichtet, nur dass sie durchaus um eine völlige Octav tieffer und dieserhalben die Saiten alle stärker darzu genom-men werden. Deren Ambitus und Application der Finger und Buchst[aben]. ist wie bey der Französ[ischen]. Baß-Geige oder Violoncello.«1

Der ehemalige Dresdner Hofmusiker Johann Joachim Quantz (1697–1773) bestätigt in seinem berühmten Versuch einer An-weisung die Flöte traversiere zu spielen von 1752, dass klang-liche Eigenschaften des Violoncellos – wie im Fall der Violi-ne – das Kriterium für dessen Anwendung als Kammer- oder Orchesterinstrument bildeten:

»Wer auf dem Violoncell nicht nur accompagniret, sondern auch Solo spielet, thut sehr wohl, wenn er zwey besondere Instrumente hat; eines zum Solo, das andere zum Ripienspielen, bey großen Musiken. Das letzte-re muß größer, und mit dickern Seyten bezogen seyn, als das erstere. Der zum Ripienspielen bestimmte Bogen, muß auch stärker, und mit schwar-zen Haaren, als von welchen die Seyten schärfer, als von den weißen ange-griffen werden, bezogen seyn.«2

Diese Praxis, je nach Repertoire zwischen unterschiedlichen Acht-Fuß-Bass-Formaten zu wechseln, hält sich bis in die ers-ten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, als man begann, die groß-formatigen Violoncelli durch Beschneiden der Ränder auf die inzwischen normierte Größe zu reduzieren.3

Auch anhand von original erhaltenen Exemplaren aus Itali-en, Frankreich, England und Deutschland lassen sich verschie-dene Größen für das Violoncello unterscheiden. Für großfor-matige Instrumente des 17. und 18. Jahrhunderts darf man eine Corpuslänge von rund 80 cm annehmen, während das kleinere Format um 70 cm misst. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts nä-hern sich die Formate der heutigen Corpuslänge von rund 75 cm an, die Antonio Stradivari (1648–1737) seit etwa 1710 bevor-zugte. Die überwiegende Zahl original erhaltener Exem plare aus dieser Zeit lässt sich einer der beiden Gruppen zuordnen, obwohl zahlreiche nachweisbare Zwischengrößen an einer be-wussten Systematik zweifeln lassen. Daneben sind jedoch auch etliche Instrumente erhalten, die deutlich kleiner ausfallen, und deren Corpus zwischen 45 und 60 cm misst. Diese Instrumente

Page 12: ornamentik - Laaber-Verlag · Herr Hof-Compositeur [Bach] befugt, ... provised Ornamentation in Eighteenth-Century Orches-tras«, in: Journal of the American Musicological So-

258 Vom ensemble- zum Soloinstrument – das Violoncello

1 L. Mozart, Versuch einer gründlichen Violinschule, Augsburg 31789; Faks., Leipzig 1968, S. 3.

2 J. S. Petri, Anleitung zur praktischen Musik, Leipzig 21782; Faks., München / Salzburg 1999, S. 415.

3 L. Mozart, Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 3.

sind offensichtlich für das Spiel auf der (rechten oder linken) Schulter konzipiert. In allen drei Gruppen sind neben den vier-saitigen auch Instrumente mit fünf Saiten nachweisbar.

Gegen 1750 vereinheitlichte sich das Erscheinungsbild der Acht-Fuß-Bässe, so dass Leopold Mozart (1719–1787) in sei-ner Violinschule von 1756 zum Stichwort Violoncello lapi-dar feststellt:

»Vor Zeiten hatte es 5. Seyten; itzt geigt man es nur mit vieren. Es ist das gemeinste Instrument den Baß damit zu spielen: und obwohl es einige et-was größere, andere etwas kleinere giebt; so sind sie doch nur der Besey-tung nach, folglich nur in der Stärke des Klanges, ein wenig von einan-der unterschieden.«1

Offenbar waren Instrumente mit einer fünften Saite durch die Entwicklung der Fingersatz- und Lagenwechsel-Technik über-flüssig geworden. Zugleich erforderte es die erweiterte Griff-technik, dass sich die Hand – wie bei der Gambe – frei bewegen konnte. Dies kann jedoch nur in Beinhaltung geschehen, wie der Bautzener Kantor Johann Samuel Petri (1738–1808), ein Schüler Wilhelm Friedemann Bachs, mit Blick auf die ältere Art des Violoncello-Spiels erklärt:

»Der Stachel, der ehemals unten im Violoncello steckte, ist darum nicht mehr Mode, weil man in der Positur, wie man an demselben steht, nicht übersezzen [Lagenwechsel ausführen] kan, welches doch heut zu Tage sehr oft nothwendig ist. Daher findet man den Stachel jetzt nur noch bey den Kunstpfeiferjungen, welche blos als Ripienisten gebraucht werden, und vom Uebersezzen noch keinen Gebrauch zu machen wissen. (Und würde sichs denn für einen solchen Burschen schikken, zu sitzen, wenn die Gesellen bey andern Instrumenten stehn müssen?) Das wäre wohl wi-der den Schlendrian.«2

Auch Leopold Mozart betont das Besondere der neueren Spiel-technik: »Heut zu Tage wird auch das Violoncell zwischen die Beine genommen, und man kann es mit allem Rechte auch eine Beingeige nennen.«3 In dem Bewusstsein, einen Fortschritt ge-genüber der älteren Praxis erreicht zu haben, wird auch die gambenähnliche Bogenhaltung, die in zahlreichen Bildquellen des 18. Jahrhunderts dokumentiert ist, von Petri verworfen:

»Endlich, die kurzen altväterischen Bogen taugen gar nichts, sie gehören nur in die Zeiten, da man das Violoncello für ein grobes Baßinstrument ansah, das keine Akkorde machen und keine Melodie spielen durfte. Das