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www.ssoar.info Wie ernst meint es die EU mit der Demokratie? Standardsetzung am Beispiel der EU- Beitrittsvorbereitungen mit Bulgarien und Rumänien Olteanu, Tina; Autengruber, Christian Veröffentlichungsversion / Published Version Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Olteanu, T., & Autengruber, C. (2007). Wie ernst meint es die EU mit der Demokratie? Standardsetzung am Beispiel der EU-Beitrittsvorbereitungen mit Bulgarien und Rumänien. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 36(1), 81-94. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-211268 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer CC BY-NC Lizenz (Namensnennung- Nicht-kommerziell) zur Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de Terms of use: This document is made available under a CC BY-NC Licence (Attribution-NonCommercial). For more Information see: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0

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Wie ernst meint es die EU mit der Demokratie?Standardsetzung am Beispiel der EU-Beitrittsvorbereitungen mit Bulgarien undRumänienOlteanu, Tina; Autengruber, Christian

Veröffentlichungsversion / Published VersionZeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:Olteanu, T., & Autengruber, C. (2007). Wie ernst meint es die EU mit der Demokratie? Standardsetzung am Beispielder EU-Beitrittsvorbereitungen mit Bulgarien und Rumänien. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 36(1),81-94. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-211268

Nutzungsbedingungen:Dieser Text wird unter einer CC BY-NC Lizenz (Namensnennung-Nicht-kommerziell) zur Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zuden CC-Lizenzen finden Sie hier:https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de

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Wie ernst meint es die EU mit der Demokratie? 81

Tina Olteanu (Wien)/Christian Autengruber (Budapest)

Wie ernst meint es die EU mit derDemokratie?Standardsetzung am Beispiel der EU-Beitrittsvorbereitungen mit Bulgarien und Rumänien

Die große Beitrittsrunde im Mai 2004 mit zehn neuen Mitgliedsländern hat gezeigt, dass die EuropäischeUnion gewillt ist, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, verbunden mit Menschenrechten und Minderhei-tenschutz im Beitrittsprozess einzumahnen. Gerade deshalb stellt sich die Frage, welche Standards dieEU diesbezüglich aufgestellt hat. Nachdem nun eine weitere Erweiterungsrunde abgeschlossen ist (Bul-garien und Rumänien) und die nächste verhandelt wird, gilt es zu überprüfen, wie sich diese auf denBeitrittsprozess auswirken.Bei der Analyse anhand der Fortschrittsberichte der EU-Kommission für Bulgarien und Rumänien kris-tallisiert sich ein unvollständiges Demokratiebild heraus: (1) zentrale demokratietheoretische Aspektewie etwa umfassende Partizipation der BürgerInnen und Schutz vor staatlicher Willkür finden keine bzw.wenig Beachtung. (2) Zudem zeigt sich, dass in den Berichten genannte gravierende Defizite keine Aus-wirkung auf den Beitrittsprozess haben, da die zu allgemein gehaltenen politischen Kriterien vonKopenhagen seit 1998 als erfüllt gelten. (3) Es bleibt festzustellen, dass eine Überarbeitung dieser Krite-rien unumgänglich für die folgenden Beitrittsprozesse ist.

Keywords: Europäische Union, Demokratie, EU-Erweiterung, Bulgarien, RumänienEuropean Union, EU-enlargement, Bulgaria, Romania

Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP), 36 Jg. (2007) H. 1, 81–94

1. Einleitung: Drückt die EU bei derDemokratie beide Augen zu?

Die Europäische Union (EU) erlebte in denvergangenen Jahrzehnten den Wandeln einerWirtschaftsgemeinschaft zu einer politischenUnion mit dem Ziel einer Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik sowie der Einbeziehungvon Justiz- und Innenpolitik in den Kanon dergemeinsamen Politikbereiche. Die oft zitiertepolitische Gemeinschaft ist noch kein abge-schlossenes Projekt, befindet sich im Entstehenund die Beitrittsverfahren sind ein wichtigerIndikator, an dem sich die Konkretisierung die-ses politischen Vorhabens beobachten lässt.1

Eine Analyse der Beitrittsverfahren in Bezug auf

die zu Grunde liegenden demokratischen Stan-dards liegt weiter insofern nahe, da die großeBeitrittsrunde im Mai 2004 mit zehn neuenMitgliedsländern gezeigt hat, dass die Uniongewillt ist, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit,verbunden mit Menschenrechten und Minder-heitenschutz einzumahnen. In der Durchsetzungdemokratischer Standards liegt eine Grundvor-aussetzung der europäischen Integration, istdoch die Demokratie auf der europäischen Ebe-ne auf die Existenz nationaler Demokratien so-wie integrativer Elemente dieser nationalenDemokratien angewiesen (vgl. Schmalz-Bruns2002, 287). Jedoch wird das Vorgehen der EUim Erweiterungsprozess in der Literatur kritischreflektiert sowie Defizite wie etwa die Fokussie-

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rung auf formale Institutionen und die Vernach-lässigung gesellschaftlicher Interaktionsmusterbenannt, die zentral für eine Konsolidierung derDemokratie sind (vgl. Pridham 2002, 956f.).

Gerade deshalb stellt sich die Frage, inwie-fern die EU demokratische Qualitätsstandardsformuliert hat und wie sich diese vorliegendenStandards auf konkrete Beitrittsprozesse auswir-ken. In weiterer Folge ist nachzuprüfen, wel-cher Demokratiebegriff bei der Standardsetzungverwendet wurde. Die so genannten Kopen-hagener Kriterien gelten allgemein als Meßlattefür den Beitrittsprozess. Daher dienen als Aus-gangspunkt dieser Analyse die „Berichte derEuropäischen Kommission über die Fortschrit-te auf dem Weg zum Beitritt“2 bzw. Monitoring-Berichte Bulgariens und Rumäniens zur Über-prüfung der Vorgaben und Bedeutung dieserKriterien. Die Länderauswahl ist in der schlech-ten Ausgangslage, bedingt durch zögerlicheRegimewechsel auf der politischen Ebene be-gründet. Zudem haben beide Länder den längs-ten Beitrittsprozess absolviert. Es ist davon aus-zugehen, dass die Beitrittsinstrumente nun ambesten ausdifferenziert sind, nachdem die EUseit ihrer Gründung bereits mehrere Beitritts-runden abgeschlossen hat.

Bei der Analyse wird auf drei Fragen Bezuggenommen:(1) Welche demokratiepolitischen Standards

werden in den Fortschrittsberichten in Be-zug auf die vage formulierten politischenKriterien von Kopenhagen gesetzt?

(2) Wie ist diese Standardsetzung vor dem Hin-tergrund demokratietheoretischer Überle-gungen zu bewerten?

(3) Aus den vorangehenden Punkten ergibt sichabschließend die Fragen, welche in den Fort-schrittsberichten benannten Defizite beein-trächtigen die demokratische Qualität derBeitrittsländer?Nachdem der EU in Zukunft weitere Er-

weiterungsrunden bevorstehen und schon ak-tuell Verhandlungen mit der Türkei und Kroati-en begonnen haben, ist es höchste Zeit, dass dieStandardsetzung sowie Konditionierungsinstru-mente der EU einer kritischen wissenschaftli-chen Prüfung unterzogen werden.

Dieser Artikel versteht sich als Teil derEuropäisierungsforschung im Sinne einesAnalyseinstrumentariums (Olson 2002, 921ff.),das unter anderem überprüft inwieweit national-staatliche Prozesse, Institutionen, Ergebnisseund politisches Verhalten von der europäischenIntegration beeinflusst werden oder sogar davonabhängen (Anderson 2003, 41). Im Fall der vor-liegenden Analyse wird über die Betrachtungder Ergebnisse induktiver Politik (top-downProzess) hinausgegangen, weil der nationaleUmgang mit demokratischen Standards poten-tiell Rückwirkung auf gemeinschaftliche Prin-zipien beeinflusst (bottom-up Prozess) (vgl.Dyson/Goetz 2003, 13f.). Die Analyse des letzt-genannten Vorganges ist nicht primäres Ziel,jedoch untermauert allein die Möglichkeit die-ses Prozesses die Notwendigkeit der Beschäfti-gung mit der Art und Weise der induktivenStandardsetzung.

2. Demokratiedefinition unddemokratische Prinzipien in der EU

Um eine Bewertung der Standardsetzung derEU in Bezug auf die Demokratie sowie derMessinstrumente wie auch der Konditionie-rungsinstrumente durchführen zu können, musseine Begriffsbestimmung von Demokratie vorangehen.

Der Begriff Demokratie wird je nach Aus-legung mit unterschiedlichen Inhalten undAusprägungen in Verbindung gebracht, die übereine reine Systemdefinition hinausgehen. Eslassen sich einige verbindliche und allgemeinhin anerkannte Prinzipien daraus ableiten, diesich stark an existierenden Demokratien orien-tieren.

Die Volkssouveränität ist das Ordnungsprin-zip, das in allen Demokratien etwa über Wah-len umgesetzt wird. Einer der einflussreichstenDemokratietheoretiker, Robert Dahl (2000), hatdie besondere Rolle der BürgerInnen in derDemokratie hervorgehoben. Laut Dahl ist diezentrale Voraussetzung für Demokratie, dasssich die BürgerInnen als politisch Gleiche ge-genseitig anerkennen und dieses Leitprinzip

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muss sich in demokratischen Verfassungenwieder finden (Dahl 2000, 36f.). Dahl führt fünfKriterien ein, die es ermöglichen, dem Grund-satz der politisch Gleichen gerecht zu werden:Effektive Partizipation, Gleichheit der Wahl,Zugang zu Informationen über Entscheidungen,Kontrolle der Agenda und die Inklusion vonErwachsenen (ebd., 37f.).

Diese Kriterien verweisen darauf, dass De-mokratien sich durch die Gestaltungsmöglich-keiten der BürgerInnen am politischen Prozessauszeichnen und dass regelmäßig stattfindendeWahlen nur ein Teil davon sind. Weiterhin be-darf es besonderer Bedingungen, um bürgerli-che Partizipation überhaupt möglich bzw. effek-tiv zu machen. Ein wichtiger Weg führt dabeiüber zivilgesellschaftliches Engagement. Die-ser von BürgerInnen getragenen Interessens-artikulation kommt in Demokratien insbeson-dere nach Systemwechseln wie im Fall Bulga-riens und Rumäniens eine essentielle Bedeutungzu. Diese Bedeutung erlangen sie vor allem des-halb, weil sie im Sinne eines „Warnsystems mitgesellschaftsweit empfindlichen Sensoren“agieren und damit einen wichtigen Beitrag zurInstitutionalisierung und Konsolidierung derDemokratie leisten, wenn (neue) staatliche undvorstaatliche demokratische Willensbildungs-organe noch nicht oder erst seit kurzem in derLage sind, das entstandene Machtvakuum aus-zufüllen (vgl. Merkel/Lauth 1998, 7, 9ff.).

Dahl verweist ebenso auf die Bedeutungvon Organisationen und in diesem Zusammen-hang besonders auf politische Parteien, die einesehr zentrale Rolle in realen Demokratien spie-len. Ihre Funktion ist an der Schnittstelle zwi-schen WählerInnen und Regierenden angelegt(vgl. Sartori 1992, 101). Parteien erfüllen einewichtige Mittlerfunktion zwischen Staat undGesellschaft, anders gesagt zwischen Regieren-den und Regierten. Klaus von Beyme be-schreibt dies als die essentielle Funktion derAggregation und Artikulation von gesellschaft-lichen Interessen in einem politischen System.Parteien haben somit maßgeblichen Anteil ander Akzeptanz eines demokratischen Systems(vgl. Beyme 1984, 25). Bürgerliche Partizipa-tion ist aber auch die (Selbst-)Organisation von

BürgerInnen außerhalb politischer Parteien, umspezifische Interessen zu artikulieren. Aus theo-retischer und zugleich praktischer Perspektiveist weiterhin die Frage von Bedeutung, inwie-fern die sozialen Lebensumstände eine effekti-ve Partizipation der BürgerInnen unmöglichmachen. Die meisten realen Demokratien ge-währleisten ein Mindestmaß an sozialstaat-lichen Leistungen, wie etwa Bildung undGesundheitsvorsorge, um die Möglichkeit zuaktiver Partizipation zu sichern. Dies ist jedochin vielen europäischen Demokratien ungleichumfangreich gefasst, insbesondere bei weiter-führenden Maßnahmen wie Armutsbekämp-fung, Arbeitslosigkeit und soziale Grund-sicherung. Die Frage nach einem Mindestmaßan sozialstaatlichen Leistungen stellt sich umsodringlicher bei ökonomisch weniger entwickel-ten Demokratien Südosteuropas.

Einen weiteren Kernpunkt der Demokratie-theorie stellt der Rechtsstaat dar. Hans-JoachimLauth (2001, 23) betont zentrale Merkmale wieetwa die „Gleichheit vor dem Gesetz, allgemei-ne Anwendung des Gesetzes unabhängig vomsozialen Status der Betroffenen“ oder die „An-wendung des Gesetzes auf den Staat und allerseiner Institutionen“ (ebd., 2001, 33), die ge-währleistet, dass niemand – weder Person nochInstitution – über dem Recht steht. Das Rechts-staatsprinzip in der Demokratie geht also überdas pure Manifestieren von Entscheidungen inGesetzestexten hinaus und soll insbesondere denBürgerInnen einen effektiven Schutz vor staat-lichen Übergriffen bieten und zugleich die Vor-aussetzungen für die Existenz und das Fortbe-stehen von Demokratie gewährleisten (O’Don-nell 2001, 25).

Eine demokratische staatliche Ordnung ba-siert ergo auf der Volkssouveränität, welche dieBürgerInnen durch aktive und passive politischePartizipation, auch abseits von Wahlen, wahr-nehmen, geschützt vor staatlicher Willkür durchdas Rechtsstaatsprinzip und gefördert durchwohlfahrtsstaatliche Leistungen.

In der Europäischen Union ist die Demo-kratie als grundlegender politischer Systemtypder Mitgliedsländer in einer Vielzahl von Ver-trägen und Dokumenten, die entweder in un-

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mittelbarem Zusammenhang mit der EU odermit anderen europäischen Institutionen stehen,festgehalten.3

Werden EU-Verträge als Bezugspunkt ge-nommen, so legt der Vertrag über die Europäi-sche Union (1999, 4) (EUV) in Art. 6, Abs. 1fest, dass die Union „auf den Grundsätzen derFreiheit, der Demokratie, der Achtung der Men-schenrechte und Grundfreiheiten sowie derRechtsstaatlichkeit“ beruht und nimmt in Abs.2 auch auf die Europäische Menschenrechts-konvention und die in den nationalen Verfas-sungen überlieferten Menschenrechte undGrundfreiheiten Bezug.

Trotz dieser eindeutigen Verankerung demo-kratischer Prinzipien, führte erst der Vertrag vonAmsterdam (Vertrag über die Europäische Uni-on 2003, 12f.) in Art. 7 ein Instrumentarium imEUV ein, das die „schwerwiegende Verletzung“dieser Grundsätze ahndet, indem bestimmteRechte aus dem EUV ausgesetzt werden (EUVArt. 7, Abs. 1 bis 6). Dieses Kontrollinstrumentfür Mitgliedsstaaten wurde nach den Sanktio-nen gegen Österreich, die im Konsens der Mit-gliedsstaaten nur auf bilateraler Ebene erfolgenkonnten, im Vertrag von Nizza angepasst. Dabeiwurde die Möglichkeit zu einem nieder-schwelligeren Einschreiten festgelegt, indem derRat schon „die Gefahr einer schwerwiegendenVerletzung“ der Grundsätze der Union feststel-len kann (Art. 7, Abs. 1). Jedoch wurde auchdieser überarbeitete Art. 7 bisher noch nichtangewandt und er dürfte weiterhin eine „ultimaratio“ bleiben.

3. Die politischen Kriterien vonKopenhagen

Die Kopenhagener Kriterien wurden für denBeitritt der post-sozialistischen Länder Mittel-und Osteuropas auf dem Europäischen Rat inKopenhagen 1993 als Standard festgesetzt. All-gemein werden sie in politische und wirtschaft-liche Kriterien sowie Übernahme des rechtlichenBesitzstandes – acquis communautaire – unter-teilt. Die politischen Beitrittskriterien lauten wiefolgt:

Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss derBeitrittskandidat eine institutionelle Stabilität alsGarantie für demokratische und rechtsstaatlicheOrdnung, für die Wahrung der Menschenrechte so-wie die Achtung und den Schutz von Minderheitenverwirklicht haben … (Europäischer Rat 1993, 12).

Bereits dieses Dokument lässt ein Überge-wicht beim Standardtransfer im Rechtsbereich,vor allem in Bezug auf die Normensetzung imwirtschaftlichen Bereich, schließen, entspre-chend früherer Entwicklungsstufen der EU alsWirtschaftsgemeinschaft. Es fehlt jedoch einegenaue Ausdifferenzierung der Begriffe „demo-kratische und rechtsstaatliche Ordnung“ sowieeine Definition des Systems der „Wahrung derMenschenrechte sowie des Minderheitenschut-zes“. Auch auf das Verständnis von „institutio-neller Stabilität“ wird nur begrenzt eingegan-gen. Erschwerend kommt hinzu, dass in denKopenhagener Kriterien Demokratie, Rechts-staatlichkeit, Menschen- und Minderheiten-rechte gleichwertig nebeneinander gestellt wer-den. Dadurch wird der Demokratiebegriff voneinigen seiner zentralen Merkmale abgekoppeltund reduziert. Gleichzeitig entstehen vielfälti-ge Interpretationsspielräume. So kann Demo-kratie gar losgelöst von Rechtsstaatlichkeit,Menschen- und Minderheitenrechten betrach-tet werden, obwohl Demokratie ohne die dreiweiteren Begriffe undenkbar ist, wie bereits ausden beschriebenen Demokratietheorien hervor-geht.4

Auffällig ist weiterhin, dass der Minder-heitenbegriff nicht weiter ausdifferenziert ist,und ob sich dieser auf nationale Minderheitenbeschränkt und falls ja, wodurch sich eine natio-nale Minderheit auszeichnet.

In weiterer Folge wird anhand der Fort-schrittsberichte von Rumänien und Bulgariennun geprüft, welche demokratiepolitische Stan-dards in den Fortschrittsberichten in Bezug aufdie vage formulierten politischen Kriterien vonKopenhagen gesetzt werden und wie diese vordem Hintergrund demokratietheoretischer Über-legungen zu bewerten sind? Weiterhin werdendie in den Fortschrittsberichten genannten Män-gel auf ihre Auswirkungen auf die demokrati-sche Qualität dieser Länder untersucht, sowie

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ein Augenmerk auf zentrale, aber in den Berich-ten nicht berücksichtigte demokratische Aspektegelegt. Doch zuvor soll auf die Sanktions- undKonditionierungsinstrumente der EU eingegan-gen werden, die nach einem Beitritt der beidenLänder greifen, um zu klären, inwiefern nach-folgende Maßnahmen eventuelle demokratischeMängel im Nachhinein beheben. Die Strategieder EU, eine Aufschubklausel in den Beitritts-vertrag mit Bulgarien und Rumänien einzufü-gen, die es ermöglicht den Beitritt beider Län-der um ein Jahr zu verschieben, kann im Lichtder Standardsetzung in den Kopenhagener Kri-terien als durchaus sinnvoll erachtet werden(Treaty 2005, Art.39). Die Kommission hat beider Einmahnung von Reformschritten immerwieder auf diese Möglichkeit hingewiesen undstrategisch folgerichtig die Bekanntgabe desendgültigen Beitrittsdatums zur Erhöhung despolitischen Drucks auf September 2006 ver-schoben. Im Hinblick auf die schwer handhab-baren Konditionierungsinstrumente nach einemBeitritt erscheint diese Strategie durchaus lo-gisch.

Die für Bulgarien und Rumänien vorgese-henen Schutzklauseln im Beitrittsvertrag betref-fen allerdings nicht die politischen Kriterien,sondern nur Mängel bei der Übernahme desgemeinsamen Besitzstandes.

Bei nachhaltiger Verletzung von demokra-tischen Standards ist es zusätzlich äußerst unsi-cher, ob die dafür vorgesehenen Konditio-nierungsinstrumente des Art. 7 EUV nach ei-nem Beitritt Anwendung finden werden, nichtzuletzt weil den beiden Beitrittsländern bereitsseit Beginn der Beitrittsverhandlungen das Er-füllen der Kriterien von Kopenhagen attestiertwurde. Abschließend kann betont werden, dassdie Kopenhagener Kriterien in der Aus-formulierung der zugrunde gelegten Standardssehr vage bleiben und den Demokratiebegriffvon essentiellen Bestandteilen entkoppeln. Man-gelhaft sind dazu noch die Konditionierungs-instrumente, die sich entweder nicht auf die de-mokratischen Standards beziehen oder durch diefrühzeitige positive Beurteilung der Erfüllungder Standards trotz Mängel an Wirkung ver-lieren.

4. Demokratieleitbild der EU imBeitrittsprozess: Standard und Defizite

Die Fortschrittsberichte über Bulgarien undRumänien zeigen über die Jahre hinweg die glei-che Struktur. Die Befolgung der KopenhagenerKriterien wird in jedem Bericht unter dem Punkt„Politische Kriterien“ abgehandelt, wobeiimmer auf die Punkte „Demokratie und Rechts-staatlichkeit“, sowie „Menschenrechte undMinderheitenschutz“ Bezug genommen wird.Beiden Ländern wurde seit Erscheinen derFortschrittsberichte 1998 die Erfüllung derKopenhagener Kriterien bescheinigt; lediglich1999 hat man im Falle von Rumänien daraufverwiesen, dass die Kriterien „noch“ erfüllt sind,was eine Verschlechterung von 1998 auf 1999implizierte (EK 1999c, 21).

Die Kommission bezieht ihre Informationenfür die Erstellung dieser Berichte in erster Li-nie von Regierungsstellen in Bulgarien undRumänien. Erst später wurde im achtjährigenEvaluationszeitraum das Instrumentarium vonso genannten „Peer-Reviews“ eingeführt, wo dieKommission selbsttätig oder mit Hilfe von nicht-staatlichen Einrichtungen Analysen durchführt.Auch die Berichte anderer internationaler Or-ganisationen wie etwa der OSZE, des Europa-rates und internationaler Finanzorganisationenflossen mit ein, ebenso Berichte von Nicht-regierungsorganisationen aus den beiden Ländern. Jedoch ist anzumerken, dass keinegenaue Angabe der Quellen erfolgt, sodass dieNachvollziehbarkeit nicht gewährleistet ist.

Das eindeutige Übergewicht besteht auf derAnalyse der „wirtschaftlichen Kriterien“ undnoch stärker bei der Analyse der „Fähigkeit zurÜbernahme der aus einer Mitgliedschaft er-wachsenden Verpflichtungen“. Im weiteren Sinnsind auch einige Aspekte dieses Themen-bereiches für die Analyse des Demokratie-leitbildes relevant, etwa „Soziales und Beschäf-tigung“, „allgemeine und berufliche Bildung“,„Kultur und audiovisuelle Medien“ und derglei-chen. Jedoch geht es in diesen vergemein-schafteten Politikbereichen um die Übernahmedes gemeinsamen rechtlichen Besitzstandes. Sobeschränkt sich aber der Politikbereich „Sozia-

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les und Beschäftigung“ vor allem auf Empfeh-lungen der Kommission und auf finanziellenAusgleich durch den Europäischen Sozialfonds(ESF) und weist wenig Verrechtlichung auf.Auch die Politikbereiche „Kultur und audiovi-suelle Medien“ und „allgemeine und beruflicheBildung“ sind in erster Linie Zuständigkeits-bereiche der Mitgliedsstaaten und die EU be-schränkt sich auf Förderungsmaßnahmen, Emp-fehlungen und grenzüberschreitende europäi-sche Fragen. Insofern kann festgehalten werden,dass die Analyse unter dem Gesichtspunkt derÜbernahme des gemeinsamen Besitzstandeswenig zielführend ist, da dieser in den genann-ten Bereichen nur rudimentär ausgeprägt ist.

Die Themen Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit werden im Fortschrittsbericht zusam-men abgehandelt und in die Bereiche Parlament,Exekutive, Judikative und Korruptionsbe-kämpfung unterteilt. Die ersten drei Bereicheverweisen auf eine klassische Gewaltenteilungbzw. -verschränkung hin, die in Demokratienals primäres Ordnungs- und Funktionsprinzipetabliert sind. Menschenrechts- und Minderhei-tenschutz können als notwendige Unter-suchungsbereiche des Schutzes einzelner Bür-gerInnen vor staatlichen Übergriffen verstandenwerden. Korruptionsbekämpfung fügt sich inden Analyserahmen der Berichte schwer ein.

Aus den Fortschrittsberichten lässt sich ab-lesen, dass dem Parlament die traditionellenAufgaben von Gesetzgebung und oppositionel-ler Kontrolle zukommen. Auffällig ist, dass ab2005 das Parlament und die Exekutive allge-mein unter der Überschrift „öffentliche Verwal-tung“ abgehandelt werden.5 Damit wird die jah-relang verfolgte Abhandlung des in Demokra-tien üblichen Ordnungsprinzips aufgebrochen.Andererseits wird ab 2005 auch eindeutig sicht-bar, dass es bei der Evaluation primär um Effi-zienz des Regierens und parlamentarische Kon-trolle geht.

Bereits im Bericht 1998 wird Bulgarien undRumänien attestiert, dass die Parlamente „zu-frieden stellend“ und unter Einbindung der Op-position funktionieren. Allerdings wird in denbulgarischen Fortschrittsberichten lediglich aufdie Funktionsweise der parlamentarischen Gre-

mien zur Umsetzung des gemeinsamen Besitz-standes und der Zusammenarbeit mit der EUeingegangen. Für Rumänien werden weitereAspekte formuliert, die den Gesetzgebungs-prozess als Ganzes reflektieren, wie etwa diestarken Verzögerungen im Gesetzgebungs-prozess, das Fehlen qualifizierter Mitarbei-terInnen sowie die immer stärker werdendeGesetzgebungstätigkeit der Exekutive mithilfevon Regierungsdekreten, die 2000 als „besorg-niserregend“ klassifiziert wird. Es wird deutlich,dass kein einheitliches Gerüst bei der Bewer-tung parlamentarischer Arbeit angelegt wird.Zusätzlich bleiben zentrale Themen ausgespart,etwa das Verhältnis von Parlament und BürgerInbzw. WählerIn. Parteien finden überhaupt kei-ne Erwähnung, ebenso wenig die Arbeit derParlamentarierInnen als Kontroll- und Auf-sichtsorgane, etwa in Untersuchungsausschüs-sen. Zwar wird in Wahljahren darauf verwie-sen, dass freie und faire Wahlen abgehaltenwurden, aber inwiefern BürgerInnen in den ge-wählten VertreterInnen tatsächlich ihre Reprä-sentantInnen sehen, wird nicht berücksichtigt.Dies ist demokratiepolitisch bedenklich, wennman beachtet, dass die Wahlbeteiligung inbeiden Ländern kontinuierlich sinkt, in Bulga-rien bei den letzten Parlamentswahlen 2005sogar auf nur 55,76% (ПарламентарьяниИзбори 2005), in Rumänien auf nur 57,13%2004 (Biroul Electoral Central 2004).

Unter der Rubrik Exekutive wird in ersterLinie die Interaktion unterschiedlicher ministe-rieller Stellen beschrieben sowie beschränkteEinflussmöglichkeiten zivilgesellschaftlicherAkteure im Gesetzgebungsprozess.

Weiterhin steht besonders die Reform zurProfessionalisierung und Qualifizierung der öf-fentlichen Verwaltung im Fokus, die durchBeamtengesetze und Verhaltenskodizes umge-setzt werden soll. Besondere Entwicklungen,wie etwa die Entlassung eines Großteils derMinisterialbeamten nach den Wahlen 2000 inRumänien werden als besorgniserregend einge-stuft, aber nicht eindeutig als Politisierung derVerwaltung verurteilt. In Bulgarien wird noch2004 angemahnt, dass für die Vorbereitung undUmsetzung von Reformschritten in der öffent-

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lichen Verwaltung generell kaum Strukturenvorhanden seien.

Abschließend werden für Rumänien beson-ders die Dezentralisierung sowie die damit ver-bundene Aufgabenteilung und finanzielle Aus-stattung thematisiert. Generell wird in diesemAbschnitt das Gewicht auf gesetzliche Rahmen-bedingungen gelegt, während die Evaluation dertatsächlichen Implementierung rudimentärbleibt. In Bulgarien scheint dieser Themen-komplex kaum auf, nur bei der Schaffung vonregionalen Substrukturen für die Verteilung vonEU-Fördermitteln.

Die Justiz nimmt in den Fortschrittsberichtenwachsenden Raum ein. Die zentralen Themensind dabei die (zumeist mangelhafte) finanziel-le, technische und personelle Ausstattung so-wie Maßnahmen zur Professionalisierung, dievor Missbrauch in den eigenen Reihen undPolitisierung durch die Exekutive vorbeugensollen. Auch der Aufbau eines viergliedrigenGerichtssystems mit klar aufgeteilten Verant-wortlichkeiten und Revisionsmöglichkeitensteht im Zentrum der Beobachtungen und wirdkritisch evaluiert. In Rumänien werden ins-besondere die starke Beeinflussung von Rich-tern in unterschiedlichen Positionen durch dasJustizministerium und die großen Befugnissedes Generalstaatsanwaltes bemängelt. EineUmfrage unter Richtern bestätigt, dass die„Mehrheit der Richter im Amt politisch unterDruck gesetzt“ werden (EK 2004b, 19).

Das bulgarische Justizsystem gerät durch dieintern vermutete Korruption in Verruf, nichtzuletzt dadurch, dass die Richter eine weitge-hende Immunität genießen. Noch 2002 wirdkritisiert, dass Ermittlungsbeamte Teil der Jus-tiz und nicht der Polizei waren und die Justizeine Strafverfolgungsfreiheit bei Strafen bis zufünf Jahren besaß. Justizreformen passierten inbeiden Ländern und werden auch lobend in denBerichten erwähnt, doch wird immer wieder diekorrekte Umsetzung, die nötige Schulung vonFunktionsträgern sowie die mangelnden Res-sourcen beanstandet, die eigentlich die Reform-strategien konterkarieren.

Erst ab 2002 werden der Zugang zu Gerich-ten und die Gleichheit vor dem Gesetz ebenso

in die Evaluation aufgenommen. Dieser Punktist besonders in diesen Transformationsländernzentral, da Armut weit verbreitet und der Zu-gang zur Justiz eine finanzielle Hürde darstellt.Dabei wird ersichtlich, dass das Rechtshilfe-system in Bulgarien extrem schwach ausgeprägtist und erst spät umgesetzt wurde: „Im Januar2006 traten das Gesetz über Rechtsberatung undProzesskostenhilfe und die entsprechendenDurchführungsvorschriften insbesondere zuderen Kosten in Kraft.“ (Europäische Kommis-sion 2006a, 7). Bereits 2002 fand die mangel-hafte Rechtsbeihilfe Erwähnung (EuropäischeKommission 2002a, 29, 33), wurde dann aberbis 2006 nicht mehr erwähnt. Diese gravieren-de Schwäche in der Prozesskostenhilfe führtezu im Fall Bulgariens schon 2001 zur Kritik,dass ein Drittel aller Angeklagten in Strafsachenvor Gericht keinen Rechtsbeistand besäßen.2002 spricht der Bericht davon, dass 50 Pro-zent der Haftinsassen in der Untersuchungs-phase und 30 Prozent der Angeklagten beimGerichtsverfahren keinen Rechtsbeistand haben.Für Rumänien galt ähnliche Kritik, etwa dassAnwälte häufig nicht bezahlt werden, wennRechtshilfe gewährt wird (Europäische Kom-mission 2005c, 16).

Ein weiteres zentrales Defizit stellt im Fallevon Bulgarien die mangelhafte Vollstreckungder Urteile dar, da „lediglich ein Achtel der fäl-ligen Bußgelder tatsächlich entrichtet wird.Nichtvollstreckung von Urteilen untergräbt dieRechtsstaatlichkeit (…)“ (Europäische Kom-mission 2004a, 20).

Problematisch ist, dass die existierendenVerfassungsgerichte zwar Erwähnung finden,der Besetzungsmechanismus noch ihre Arbeits-weise in keiner Form reflektiert werden. Dabeiwerden in den meisten europäischen Demokra-tien den Verfassungsgerichten besondere Prio-rität zum Schutz der Demokratie eingeräumt,wobei insbesondere der Besetzungsmecha-nismus bereits ein Hinweis auf die tatsächlicheUnabhängigkeit dieser Gerichte gibt.

Ferner ist auch problematisch, dass die Re-form von Geheimdiensten in den Fortschritts-berichten keinerlei Erwähnung findet. Dabei istdies ebenfalls ein kritischer Punkt in den post-

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sozialistischen Ländern, in denen vor derRegimetransformation starke Geheimdienste mitunbedingter Loyalität zum alten Regime exis-tierten. Mit der Wende änderte sich die Funkti-on und Kontrolle von Geheimdiensten signifi-kant und wurde nicht immer von einem tief grei-fenden Personalwechsel begleitet. Im Gegenteil,besetzen prominente Angehörige der Geheim-dienste heute Positionen in Politik und Verwal-tung. So wäre es sicherlich relevant zu über-prüfen, inwiefern die neuen Geheimdienste de-mokratischen Standards genügen und inwieferneine ohnehin meistens nur minimale demokra-tische Kontrolle etwa durch das Parlament eta-bliert und effektiv umgesetzt wurde.

Die letzte Unterkategorie zum ThemenfeldDemokratie und Rechtsstaatlichkeit bildet dieKorruptionsbekämpfung. Sie fügt sich alsPolicy-Feld in den Kontext von Demokratieund Rechtsstaatlichkeit ein. Augenscheinlichist in den ersten Berichten, dass hier nicht klarumrissen war, was unter Korruption verstan-den werden soll. Die Einordnung unter derRubrik Demokratie und Rechtsstaatlichkeitlässt vermuten, dass vor allem politische Kor-ruption bekämpft werden soll, während ande-re Formen von Korruption eher einen markt-wirtschaftlichen Schaden verursachen, wieetwa Schmiergeldzahlungen in der Privatwirt-schaft. So lässt sich aus dem Rumänien-Bericht1998 implizit entnehmen, dass Korruption inder öffentlichen Verwaltung Kern von Maßnah-men sein sollte und damit tatsächlich politischeKorruption bekämpft werden soll, während inBulgarien 1998 vor allem Wirtschaftskorrup-tion im Mittelpunkt steht sowie Geldwäscheund organisierte Kriminalität. Erst ab 2000 wirdder Schwerpunkt auch in Bulgarien auf den öf-fentlichen Dienst gelegt, wobei Zoll, Polizeiund Justiz als „korrupteste Berufsgruppen“ öf-fentlich wahrgenommen werden. In den Berich-ten werden eingehend die getroffenen gesetz-lichen Maßnahmen diskutiert sowie anhand derbeendeten Justizverfahren ein Bild der politi-schen Korruption gezeichnet. In Rumänienwird Korruption als ein „weit verbreitetes,systemimmanentes Problem“ (EuropäischeKommission 2000b, 20) klassifiziert, während

die Konsequenzen von Korruption dahinge-hend beschrieben werden, dass „nicht nur dasFunktionieren des Rechtssystems unterminiert[wird], sondern auch mit nachteiligen Auswir-kungen auf die Wirtschaft und einem Ver-trauensverlust der Bürger gegenüber denBehörden verbunden ist“ (Europäische Kom-mission 2001b, 23) Die Beeinflussung von de-mokratischen Prozessen und Entscheidungenwird hingegen nie erwähnt, obwohl die Kor-ruption offensichtlich weite Bereiche des öf-fentlichen Lebens erfasst. Das Korruptions-problem in Bulgarien wird als „ernstes Pro-blem“ wahrgenommen (Europäische Kom-mission 2000b) und vor allem das zivilgesell-schaftliche Engagement bei der Bekämpfungbetont. Dennoch lassen sich eigenartige, zweit-rangige Informationen in den Fortschritts-berichten finden, wie etwa der Hinweis darauf,dass „EU-Bürger, die mit dem Auto in oderdurch Bulgarien unterwegs waren, (…) aufBestechungsfälle in der Verkehrs- und Grenz-polizei hingewiesen (haben)“ (EuropäischeKommission 2002a, 31). Hieran wird deutlich,wie es um die Quellenlage der Fortschritts-berichte, insbesondere im Bereich der Korrup-tion, bestellt ist.

Das Themenfeld Menschenrechte und Min-derheitenschutz unterteilt sich in die Bereichebürgerliche und politische Rechte (ab dem Be-richt 1999), wirtschaftliche, soziale und kultu-relle Rechte sowie Minderheitenrechte und Min-derheitenschutz. Insgesamt fällt hier auf, dassdie abgedeckten Themen der bulgarischen undrumänischen Berichte sich stark ähneln. Ohneeine Begründung für die Auswahl dieser The-men anzugeben, stellt die Evaluation dieserBereiche eine wichtige Ergänzung zur Abhand-lung von Parlament, Exekutive und Jurisdikti-on, analysiert sie doch die Lage der BürgerInnenmit Schutz- und eventuell sogar Anspruchs-rechten gegenüber dem Staat. Erstaunlich ist beidiesen Themenfeldern weniger die Auseinan-dersetzung an sich, sondern vermehrt die Auf-listung einer Unzahl von wiederkehrenden Män-geln, die jedoch insgesamt keine weiteren Aus-wirkungen auf den Beitrittsprozess zu habenscheinen.

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In Bezug auf die Situation der Menschen-rechte beschränken sich die Berichte zuerst aufdie Frage, ob Bulgarien und Rumänien die wich-tigsten internationalen Menschenrechtsüberein-kommen ratifiziert haben. Ohne eine weitere undvor allem tiefer gehende Evaluation über denIst-Stand der Menschenrechtslage in beiden Län-dern wird Bulgarien und Rumänien bereits 1999global attestiert: Die Menschenrechte undGrundfreiheiten werden geachtet. Nichts destotrotz führen die Berichte im Punkt „bürgerlicheund politische Rechte“ über die Jahre hinwegimmer wieder Fälle auf, die diesem Urteil wi-dersprechen. Auch wird durch die zuvor ge-machte Feststellung der Achtung von Menschen-rechten und Grundfreiheiten jeglicher Reform-druck konterkariert. So muss etwa die Misshand-lung von Menschen in Polizeigewahrsam alsmassive Verletzung eines Menschenrechts ge-sehen werden, die sich offensichtlich nicht nurauf Einzelfälle beschränkt. Die Kritik bezüglichAmtsmissbrauchs, Polizeigewalt und mangeln-der Kontrolle von staatlichen Übergriffen ziehtsich für Bulgarien und Rumänien in allenFortschrittsberichten bis 2005 wie ein roter Fa-den durch. Zudem ist besonders schwerwiegend,dass diese illegitime Form staatlicher Gewaltsich gegen die Minderheit der Roma richtet. ImBericht 2005 gibt es für Bulgarien und Rumäni-en sogar ein eigenes Unterkapitel zum Thema„Misshandlungen in Polizeigewahrsam undHaftbedingungen“. Zu diesem kontinuierlichwiederkehrenden Kritikpunkt, der auch keineVerbesserung der Lage erkennen lässt, kommenweitere Kritikbereiche, die staatliche Übergrif-fe bzw. Verletzung von Menschenrechten kon-tinuierlich oder vereinzelt auflisten. Da kannetwa die zwangsweise Einweisung von ver-haltensauffälligen oder straffälligen Jugendli-chen in Internate und Erziehungsanstalten er-wähnt werden (Europäische Kommission 1998a;1999b), die Gefährdung der freien Meinungs-äußerung durch im Vergleich zu anderen Straftat-beständen überhöhte Geldstrafen – im FalleRumäniens zudem Gefängnisstrafen – die kata-strophalen Haftbedingungen oder der überausproblematische Bereich der mangelnden Pro-zesskostenbeihilfe, der bereits im Zusammen-

hang mit der Justiz erwähnt wurde. Der Euro-päische Gerichtshof für Menschenrechte fällteim Jahr 2004 sieben Urteile gegen Bulgarien,vor allem im Bereich von polizeilichen Über-griffen, die nicht oder nur unzureichend geahn-det wurden. Zudem wird für Rumänien der man-gelnde Kinderschutz und speziell die Lage vonKindern in Kinderheimen kritisiert sowie dieKriminalisierung von Homosexuellen. Es wirdnur eine schrittweise Verbesserung der Lage imBerichtszeitraum festgestellt.

Im Unterkapitel der wirtschaftlichen, sozia-len und kulturellen Rechte liest sich 1998 fürBulgarien und Rumänien, dass „die grundlegen-den Rechte nach wie vor respektiert werden“ohne dass konkret aufgelistet würde, welcheRechte gemeint werden bzw. auf welche Rechts-quellen man sich bezieht. In späteren Berichtenkommt dann doch Kritik, etwa an der mangeln-den Kooperation der Regierung mit Arbeitneh-mer- und Arbeitgeberverbänden, des mangeln-den finanziellen Engagements bei der Integra-tion von Behinderten bzw. die „Besorgnis erre-gende“ Lage in Heimen für geistig Behindertewie auch in psychiatrischen Krankenhäusern,wo eine willkürliche Unterbringung nicht aus-geschlossen werden kann. Ebenso kehrt dieKritik an unzureichenden Strategien gegen Men-schenhandel wieder, die wie der Bereich derMisshandlungen in Polizeigewahrsam in einemeigenen Punkt „Menschenhandel“ im Bericht2005 verstärkt aufgezeigt wird.

Im Bereich der Menschenrechte fehlt dieBezugnahme auf soziale Sicherungssysteme.Zwar kommt in den Berichten das Problem dersteigenden Armut immer wieder vor, jedochwird die Qualität der Pensions- und Kranken-versicherung, der Sozialhilfe wie auch derTransferleistungen für Familien, allein erziehen-de Männer und Frauen und dergleichen nie eva-luiert. In diesen Bereichen wird auch kein Zu-sammenhang zu andernorts geäußerter Kritik,etwa an Korruption hergestellt, wobei geradeKorruption in Verbindung mit der Verarmungbreiter Bevölkerungsschichten zu einer nochgrößeren Hürde für Menschen beim Zugang zustaatlichen Dienstleistungen wird. Auch beimZugang zu Bildung, etwa zu höheren Schulen

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oder Universitäten wird nicht hinterfragt, inwie-weit die finanzielle Förderung ausreichend ist,ob Stipendien zur Verfügung stehen oder ob sichZulassungsbeschränkungen oder Studien-gebühren eventuell erschwerend auf bestimmteBevölkerungsschichten auswirken. Auchscheint das Thema „Medien“ einen marginalenNiederschlag in den Fortschrittsberichten zu fin-den, die jedoch Garant für freie Meinungs-äußerung sind. Die Kommission kommt jedoch2003 für Rumänien zu einem verheerenden Ur-teil: „Tatsächlich unabhängige Medien sind rar.Die Medienkonzentration in wenigen Händenist enorm, und das hat bereits zu einem gewis-sen Maß an Selbstzensur geführt. In Teilen Ru-mäniens wird die Drangsalierung von Journa-listen seitens der regional Mächtigen bereits zumProblem, wenn auch die Häufigkeit solcher Fälleim Berichtszeitraum geringer war als früher“(Europäische Kommission 2003b, 28f.). Ausdiesem Zitat lässt sich eine erhebliche Ein-schränkung der Pressefreiheit herauslesen, diezudem nicht erst in dem Berichtszeitraum ent-standen ist, sondern zuvor präsent war. Die Kri-tik in den vorherigen Berichten bezieht sich je-doch überwiegend auf die Rechtspraxis, Jour-nalisten wegen Verleumdung und Beleidigungzu hohen Geldbußen zu verklagen.

Besonders auffallend ist der Bereich Minder-heitenschutz, bei dem sich ein Thema für Bul-garien und Rumänien von 1998 bis 2005 durchalle Berichte fortsetzt: die verbesserungsbe-dürftige soziale Lage der Roma (1998), Diskri-minierung der Roma (1999) und die Verschlech-terung der Lebensbedingungen sowie schwererZugang zu Sozialhilfe und Krankenversicherungfür Roma (2000). Für Bulgarien wird sogar fest-gehalten, dass de facto ein getrennter Schulun-terricht zwischen Roma-Kindern und anderenstattfindet (Europäische Kommission 2004a, 28).Die Diskriminierung der Roma betrifft alleLebensbereiche, staatliche wie nicht-staatlicheund sämtliche Programme, die im Beitritts-prozess von bulgarischer und rumänischer Seitegestartet wurden, scheinen wirkungslos.

Die systematische Ausgrenzung einer ge-samten Minderheit, die immerhin je nach Volks-zählung zwischen vier und fünf Prozent der

Gesellschaft beträgt, wird in den Berichten derAussage gegenübergestellt, dass die politischenKriterien erfüllt würden. Insofern können zwarweiterhin Strategien zur Verbesserung der Lageder Roma durchaus eingemahnt werden, einernsthafter Druck zur Verbesserung ist aberkaum zu erwarten. Zudem scheint es, als ob einUnterschied zwischen der Roma-Minderheitund der ungarischen Minderheit in Rumäniengemacht wird. Während für letztere weitgehen-de kulturelle Rechte wie muttersprachlicheHochschulausbildung oder die Benutzung derMuttersprache in der öffentlichen Verwaltungdiskutiert werden, handelt es sich bei den ein-geforderten Rechten für Roma um grundlegen-de individuelle Menschenrechte.

5. Fazit und Ausblick

Wenn nun abschließend auf die eingangsgestellten Fragen Bezug genommen wird, soergibt sich auf die Frage (1) nach der Gestaltder Standardsetzung in den Fortschrittsberichtenin Bezug auf die politischen Kriterien vonKopenhagen ein eindeutiges Bild. Es ist augen-scheinlich, dass die beiden Schlagworte derKopenhagener Kriterien „Demokratie undRechtsstaat“ vor der Ausarbeitung der Fort-schrittsberichte nur rudimentär ausdifferenziertwurden. Die selektive Schwerpunktsetzung derBeitrittsberichte scheint nicht primär von denjeweiligen in den Ländern vorzufindendenRahmenbedingungen abzuhängen, sondern ba-siert vielmehr auf dem recht schwammigenKriterienkatalog.

Ein Grund für die fehlenden, ausformulier-ten Untersuchungskriterien kann sicherlich sein,dass die EU keine klaren Vorgaben über dieStruktur eines Staates vornehmen möchte unddaher kein bestimmtes institutionelles Designvorschreibt. Noch weniger möchte die EU of-fensichtlich in die genauen demokratischenSpielregeln der Beitrittswerberländer eingreifen.Die breit formulierten Kriterien verursachenjedoch zu großen Spielraum bei der Auslegungsowie das Risiko, demokratierelevante Aspek-te zu übersehen. Anstatt die breit formulierten

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Kriterien als Anlass für auf die Beitrittstaatenindividuell zugeschnittene Analysen und ebensozugeschnittene Anforderungsprofile zu verwen-den, ergeben die Berichte die generelle Akzep-tanz der zuvor evaluierten Zustände und unter-laufen somit eine effektive Durchsetzung vonMindeststandards.

Auch die nächste Frage (2), wie diese Stan-dardsetzung vor dem Hintergrund demokratie-theoretischer Überlegungen zu bewerten ist,lässt die Schwächen der EU bei der Standard-setzung klar zu Tage treten. Es wird in denBeitrittsberichten ein stark funktionalistisches,auf Institutionen bezogenes Demokratie- undRechtsverständnis beschworen. InsbesondereParteien als Mittler zwischen Institutionen (Par-lament/Regierung) und BürgerInnen finden kei-ne Erwähnung. Diese sind aber in modernenMassendemokratien von großer Bedeutung, dasie sowohl als Interessen- als auch Informations-vermittler die parlamentarischen Entscheidungs-prozesse vorbereiten und vermitteln sollen.Ebenso mangelt es an einer systematischen Eva-luation zivilgesellschaftlicher Strukturen, ins-besondere in Bezug auf deren Relevanz bei derInteressensartikulation der BürgerInnen gegen-über dem Staat. Weiter werden Instrumente zurFörderung von zivilgesellschaftlichem Engage-ment unzureichend berücksichtigt.

Durch die Art der Abhandlung gewalten-teilender Institutionen entsteht der Eindruck,dass in erster Linie die Effektivität der Umset-zung europäischer Rechtsnormen und derengerichtliche Handhabung als Analysekriteriumzählen.

BürgerInnen werden auf eine passive Rollelimitiert, während das von Dahl benannte ge-stalterische Element fast vollständig ausgeblen-det wird. Auch wird nicht reflektiert, welcheEinstellung die BürgerInnen zu dem politischenSystem in ihrem Land haben und inwiefern sieihre Interessen vertreten sehen. Das Ausblen-den der BürgerInnen aus dem demokratischenProzess beinhaltet jedoch die Gefahr, der De-mokratie ihre Existenzgrundlage – nämlich denZuspruch der BürgerInnen zu diesem Regie-rungsmodell – zu entziehen und ihre aktive Teil-nahme nicht zu fördern.

Zentrale Institutionen abseits von Parlament,Regierung und Judikative werden nicht oder nurunzureichend erwähnt wie etwa Verfassungs-gerichte und Geheimdienste. Insbesondere wirdeine Analyse ihrer Funktionen im demokrati-schen System sowie ihre staatssozialistischenHinterlassenschaften übergangen.

In Bezugnahme auf die problematischenLebensbedingungen breiter Bevölkerungs-schichten, verursacht durch Armut, erscheintdieser Mangel in der Analyse durchaus gravie-rend. Die Beitrittsberichte erwähnen zwar Ar-mut als Gesellschaftsproblem, ziehen aber kei-nen Rückschluss auf mögliche Schwierigkeitenbei der politischen Partizipation von BürgerIn-nen.

Damit zeigt sich klar, dass der zu Grundegelegte Demokratiebegriff auf zentrale demo-kratische Institutionen verengt wurde. Außer-dem liegt dem Demokratiebegriff keine überWahlen hinaus erweitere Partizipationsidee zuGrunde, die den Umgang mit Parteien in dieEvaluation vor dem EU-Beitritt mit einbezieht.Noch dazu wird diesbezüglich nicht davon aus-gegangen, dass der Bürger einen wohlfahrt-staatlichen Rahmen benötigt, um den Partizi-pationsanforderungen einer Demokratie gerechtzu werden.

Die dritte Frage (3) nach der Beeinträchti-gung der demokratischen Qualität der Beitritts-länder durch in den Beitrittsberichten benannteDefizite runden das Bild der undurchdachtenund aus dem Blickwinkel der Demokratietheoriefragwürdigen Standardsetzung ab.

Im Bereich des Rechtstaates ist vor allemder mangelhafte Zugang zum Rechtshilfesystemzu erwähnen, der bewirkt, dass einem Großteilder Bevölkerung aufgrund seiner soziökono-mischen Lage kein faires Verfahren ermöglichtwird. Damit wird ein wesentliches Merkmal derRechtsstaatlichkeit verletzt. Ebenso zeigt dieUnfähigkeit der Umsetzung von Zivilurteilen,dass dem Rechtsstaat das Fundament fehlt.

Gravierend ist die fortdauernde strukturelleAusgrenzung der Minderheit der Roma aus demöffentlichen Leben, gepaart mit sozialer Benach-teiligung in den Systemen sozialer Sicherung.Polizeiliche Willkür, nicht zuletzt gegenüber

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Angehörigen von Minderheiten zieht sich wieein roter Faden durch sämtliche Berichte. Dieszeigt den mangelhaften Schutz des einzelnen vorstaatlicher Gewalt. Soziale Randgruppen wieBehinderte oder verhaltensauffällige Jugendli-che sind der staatlichen Willkür besonders un-geschützt ausgesetzt.

Der indirekten Einschränkung der Medien-freiheit durch überzogene Strafen bei Verleum-dungsklagen und die Beschränkung der Medien-kontrolle auf einen effektiven Medienmarkt wirdnur ungenügend Beachtung geschenkt. Undtrotz anhaltender Kritik an Korruption, werdenderen Konsequenzen für demokratische Prozes-se nur ungenügend evaluiert. In erster Liniescheint zu interessieren wie Korruption dieDurchsetzung des gemeinsamen Rechts-besitzstandes, die freie Marktwirtschaft und dieAuszahlung an EU-Beihilfen zu behinderndroht. Und das obwohl Korruption immer nochein ernstes Hindernis für die Bevölkerung beimZugang zu staatlichen Leistungen und bei derPartizipation am Gemeinwesen darstellt.

Dennoch resultieren aus den teilweise dochsehr eindeutig formulierten demokratierele-vanten Problemen keine wirklichen Konsequen-zen für die Länder, da die Erfüllung der politi-schen Kriterien zu früh feststellt wurde. Durchdie daraus resultierende mangelhafte Evaluati-on wird die Folgewirksamkeit der demokrati-schen Defekte verhindert.

Besonders die gravierenden Defizite beiRechtsstaat und Menschenrechten, die eindeu-tig vorliegen, werden nicht als demokratischeDefizite thematisiert, da die EU bei den politi-schen Kriterien eine Aufspaltung in Demokra-tie, Rechtsstaat, Menschen- und Minderheiten-rechte vorgenommen hat. Selbstverständlich istes in vielen Bereichen zu Verbesserungengekommen, jedoch tauchten in anderen ernst-hafte Implementierungsdefizite oder gar man-gelnde Bereitschaft zu Veränderung auf. Hinzukommt, dass in vielen Bereichen zwar nun ein-deutige Rechtsnormen umgesetzt wurden, esaber bei der Kontrolle und auch der Veranke-rung im gesellschaftlichen Bewusstsein massi-ve Lücken gibt, die sich nicht rasch behebenlassen.

Bedingt durch die Tatsache, dass auch in derweiteren Zukunft Beitrittsrunden zu erwartensind und aktuell auch bereits die Beitrittsver-handlungen mit der Türkei und Kroatien gestar-tet wurden sowie Mazedonien der Kandidaten-status zuerkannt wurde, liegt eine Überarbeitungder Beitrittsinstrumente dringend nahe. Eineklare Definition der politischen Kriterien vonKopenhagen ist daher zwingend notwendig. Diedargestellten Ergebnisse führen unweigerlichzum Schluss, dass in Zukunft in den Berichtender Kommission auf klar definierte VorgabenBezug genommen werden muss und in Ergän-zung klare Zielvorgaben in einem umgebendenRahmen der Förderung durch die EU notwen-dig sind. Dabei ist davon auszugehen, dass de-mokratische Konsolidierung ein langfristigerProzess ist, der intensiv beobachtet und evalu-iert werden muss und kein Feigenblatt einerschnellstmöglichen wirtschaftlichen Integrationdarstellen sollte.

Die Europäisierungsforschung könnte einenwichtigen Beitrag zur Sicherung von Demo-kratiequalität leisten, indem sie die Stan-dardsetzung und den Standardtransfer inhaltlichwie auch auf das Instrumentarium, in das sieeingebettet sind, überprüft. Dabei wäre es un-erlässlich top-down Prozesse wie auch bottom-up Prozesse auf ihre Wirkung auf die Demo-kratiequalität zu überprüfen. Im Verlauf derBeitrittsvorbereitung muss die Evaluation aufBasis der Demokratiequalität allererste Priori-tät haben, da einem möglichen Demokratie-defizit auf EU-Ebene nicht auch noch Demo-kratiedefizite in den Beitrittsländern oder neuenMitgliedsländern folgen dürfen.

ANMERKUNGEN

1 Inwiefern die EU eine Wertegemeinschaft ist, wirdspätestens seit den Sanktionen gegen Österreich imJahre 2000 aufgrund der Regierungsbildung ausÖVP und FPÖ diskutiert. Vgl. Sammelband „An-lassfall Österreich“ (Karlhofer/Melchior/Sickinger2001) und dort insbesondere den Beitrag vonMelchior (2001). Art. 6, Abs. 1 des EUV legt Grund-sätze als kleinsten gemeinsamen Nenner für alle Mit-gliedsstaaten fest. Laut Cavaller (2006, 73) bildet

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diese „Homogenitätsklausel“ die Grundlage für die„Wertegemeinschaft“ der EU.

2 Diese Berichte sind seit 1998 die jährlichen Evalu-ationen der Europäischen Kommission über dieFortschritte der Beitrittswerberländer.

3 Die „Charta der Grundrechte der Europäischen Uni-on“ ist seit dem 18.12.2000 das zentrale Dokument,das die europäischen Werte widerspiegelt und da-mit auch spezifische demokratische Prinzipien derEuropäischen Union impliziert. Allerdings ist siebisher noch nicht bindend, da sie zwar im Zuge derVerabschiedung des Europäischen Verfassungs-vertrages fast originalgetreu als zweites Kapitel über-nommen wurde, dieser Vertrag jedoch noch nicht inKraft getreten ist.

4 Die weiteren Ausführungen über den Beitritts-prozess, die 1995 als „White Papers“ (EuropäischeKommission 1995) von der Kommission ausgear-beitet wurden, beziehen sich ausschließlich auf dieAnpassung dieser Länder an den europäischen Bin-nenmarkt. Eine detaillierte Ausarbeitung der politi-schen Kriterien ist auch in der Agenda 2000 (Euro-päische Kommission 1999a) der Europäischen Kom-mission nicht zu finden, wo lediglich im ähnlichenWortlaut die zentralen Begriffe der KopenhagenerKriterien erwähnt werden.

5 Im Fall Bulgariens kommt das Parlament im Fort-schrittsbericht 2005 abseits von zwei einleitendenAbsätzen zur generellen politischen Entwicklungüberhaupt nicht mehr vor.

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AUTORINNEN

Tina OLTEANU, Studium der Osteuropastudien,Politikwissenschaft und Neuere Geschichte an der Frei-en Universität Berlin und der Universität Bukarest, wis-senschaftliche Mitarbeiterin und Gast am Wissenschafts-zentrum Berlin für Sozialforschung (2004–2005),Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung Sachsen-Anhalt an der Martin-Luther-Universität Halle-Witten-berg (2005), seit Oktober 2005 Assistentin am Institutfür Politikwissenschaft der Universität Wien. For-schungsschwerpunkte: Demokratietheorie, Korruptions-und Transformationsforschung.

Kontakt: Institut für Politikwissenschaft der Univer-sität Wien, Universitätsstr. 7, A-1010 Wien.

Email: [email protected]

Christian AUTENGRUBER, studierte Politikwis-senschaft in Innsbruck, München und Rennes (Frank-reich), Abschluss 2003, anschließend Studium an derDiplomatischen Akademie in Wien (Diplomprogramm).Unterrichtserfahrung als Lektor der Robert Bosch Stif-tung an der Angel-Kantchev Universität, Ruse (Bulga-rien). Im Promotionskolleg des Lektorenprogramms derRobert Bosch Stiftung ist er an der Andrássy GyulaDeutschsprachigen Universität in Budapest stationiert.Forschungsgebiet seiner Dissertation sind politischeParteien von ethnischen Minderheiten in der Slowakei,in Rumänien und in Bulgarien. Weitere Interessens-schwerpunkte gelten den Parteiensystemen in Trans-formationsländern insgesamt, den politischen SystemenÖsterreichs, Deutschlands und der Schweiz sowie derEuropäischen Integration.

Kontakt: Fakultät für vergleichende Staats- undRechtswissenschaften, Andrássy Gyula Deutschsprachi-ge Universität Budapest, Pollack Mihály tér 3, H-1088Budapest.

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