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Peter Ullrich Überwachen und Vorbeugen : Prävention und das Ende der Kritik Article, Published version This version is available at http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:83-opus4-73088. Suggested Citation Ullrich, Peter: Überwachen und Vorbeugen : Prävention und das Ende der Kritik. - In: Ausgabe 1 : Zeitschrift für Weltverdopplungsstrategien. - (2012), 2/3. - S. 211–219. Terms of Use German Copyright applies. A non-exclusive, non-transferable and limited right to use is granted. This document is intended solely for personal, non-commercial use.

Überwachen und Vorbeugen : Prävention und das Ende der Kritik · sich im losen Anschluss an Foucault als »panopti-sche Phantasien«3 begreifen, als gesellschaftliche Programme,

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Peter Ullrich

Überwachen und Vorbeugen : Präventionund das Ende der Kritik

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This version is available at http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:83-opus4-73088.

Suggested Citation

Ullrich, Peter: Überwachen und Vorbeugen : Prävention und das Ende der Kritik. - In: Ausgabe 1 :Zeitschrift für Weltverdopplungsstrategien. - (2012), 2/3. - S. 211–219.

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Überwachen und Strafen 211

Peter Ullrich

Überwachen und Vorbeugen

PRÄVENTION UND DAS ENDE DER KRITIK*

Gäbe es eine Hitliste derfür eine Epoche besonders typischen Wörter, stünde Prävention im Zeitalter desneoliberalen Kapitalismus ganz oben. Krankheitsprävention, Suchtprävention, Verbrechensprävention,Krisenprävention - die Begriffe umgeben uns allerorten. Undjedes Kind weiß schon: Vorbeugen ist besserals Heilen.

Dieser allgegenwärtige Präventionismus erweistsich bei genauerer Betrachtung als ein zeitgemäßesund mächtiges Programm sozialer Kontrolle. Prävention will etwas Ungewolltes verhindern, sie willetwas ausschließen, von dessen Eintreten sie nie sicher wissen kann, weil es erst in der Zukunft liegt.Zur Bändigung dieser ungewissen Zukunft brauchtsie möglichst vollständige Informationen über dieGegenwart und über alles, was aus ihr in die Zukunftweist und als potenzielles Risiko kontrolliertwerden muss. Daher ist die Logik der Prävention total. Prävention, zu Ende gedacht, bedeutete die Notwendigkeit absoluter Kontrolle.

Ist aber in der derzeitigen Gesellschaft diese Absolutheit bereits erreicht? Sie ist es nicht. Die totale,alles umfassende Kontrolle wie in Orwells 1984 gibtes nicht, auch wenn aktuelle Entwicklungen verständlicherweise immer häufiger als Weg beispielsweise zum totalen Überwachungsstaat gedeutet werden. Mag auch manches Überwachungsinstrumentimmer umfassendere Zugriffsmöglichkeiten andeuten - viel häufiger ist der Zugriff des Staates selektiv.Einerseits wurden bis zum dies beendenden Verfas-sungsgerichtsurteil die Telekommunikationsdatenaller Bundesbürgerjnnen präventiv gespeichert, andererseits wird das ganze Instrumentarium staatlicher Überwachung doch nur aufgefahren, wenn jemand in wirklich grundsätzlichen Dissens tritt. Erstwenn beispielsweise Demonstrant_innen oder »der

Terror« die Legitimität der Herrschaft symbolischund ihr Gewaltmonopol ganz handfest angreifen,lässt der Staat die Muskeln spielen. Dann werdenBriefe geöffnet, Geruchsproben genommen und Protestierende verprügelt. Bei Aktivitäten, die sich gegen seine Grundprinzipien und seine Erhaltungrichten, wird der Staat tätig. 1

Der allgegenwärtige Diskurs der Prävention istin seiner Ambivalenz auch ein gegen diese drohende Totalität von Überwachung eingesetztes Wundermittel. Dass die absolute Kontrolle auch unter denZielstellungen der Präventionsideologie letztlichgar nicht nötig ist, liegt an einem aus Sicht der»Präventionisten« 2 sicher positiven Nebeneffekt.Prävention ist nämlich nur der »ideologische Überbau«, unter dessen Banner schließlich heteronome(fremdbestimmte) Logiken von den Subjekten alseigene Logik verinnerlicht werden. Die gesellschaftliche Hegemonie des Denkens in der Logik von Prävention sorgt dafür, dass der direkte herrschaftlicheZugriff auf die Subjekte weiter selektiv bleiben kann,weil von vielen die Kontrolle als Selbstkontrolle in-ternalisiertwird.

Drei sehr verschiedene Beispiele aus unterschiedlichen sozialen Feldern (Gesundheitswesen,Kriminalpolitik, Human Ressource Management), in

1 Den Staat interessiert dabei gar nicht der Kernbereich privaterLebensführung, der nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts gegen staatliche Überwachung geschützt bleiben soll.Das häufig von Bürgerrechtlerjnnen gebrauchte Argument,man wolle in seinem privaten Tun nicht beobachtet werden, istzwar absolut unterstützenswert, verfehlt aber den eigentlichenZweck der meisten Überwachungsmaßnahmen, der nichtvoyeuristisch ist, sondern auf die Aufrechterhaltung derOrdnung zielt und sich für private Lebensführung nur insoferninteressiert, als sie gegen den Herrschaftsanspruch des Staatesgerichtet ist.

2 Bröckling 2008, S. 47.

Dieser Beitrag ist eine aktualisierte und überarbeitete Fassung des Aufsatzes Überwachung und Prävention. Oder: Das Ende der Kritik.In: Leipziger Kamera (Hg.): Kontroüverluste. Interventionen gegen Überwachung. Münster 2009, S. 57-67.

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welchen die Subjektivierung sozialer Kontrolle unter diesem Banner betrieben wird, sollen hier erläutert werden und das Wirken der Präventionsideologie beleuchten, die, wenn sie Erfolg hat, nicht nurkonkrete soziale und politische Bewegungen behindert, sondern eine allgemeine Voraussetzung fürProtest und sozialen Fortschritt - die Fähigkeit zuKritik und die Legitimität von Kritik - unterminiert.Die drei im Folgenden analysierten Beispiele lassensich im losen Anschluss an Foucault als »panopti-sche Phantasien« 3 begreifen, als gesellschaftlicheProgramme, die nicht vorrangig durch den Zugriffrepressiver Instanzen, sondern durch die Potenzia-lität dieses Zugriffs die Individuierung von Herrschaft symbolisieren und die eine große Gefahr füremanzipatorische Politik in Zeiten der Überwa-chungs- und Kontrollgesellschaft darstellen. 4

GESUNDHEITSWESEN,GESUNDHEITSKARTE

Der Kernbereich ihres Wirkens, das schlagendste Argument aller Präventionist_innen und ein erschreckend vernachlässigtes Thema der Überwachungskritik, ist das Gesundheitswesen. Gesundheitsprävention will gesundheitliche Schädigungen durchgezielte Aktionen verhindern, weniger wahrscheinlich machen oder verzögern - ein Anspruch, gegenden es sicher nicht viel Vernünftiges einzuwendengibt. Die Frage nach der tatsächlichen aktuellen Ausprägung dieses scheinbar so humanen Programmsführt zu hoch ambivalenten Eindrücken. Zwei kurzeZitate, die im Folgenden analysiert werden, sollendies illustrieren.

Zunächst eine Meldung aus ZDF-Heute: »Jederkann es, die meisten mögen es: das Küssen. Was viele nicht wissen: Küssen beugt Faltenbildung undZahnbelag vor, und es verlängert das Leben.« 5

Das zweite Beispiel entstammt einer Bekanntmachung des Bundesgesundheitsministeriums im

3 Vgl. Decker 2005.4 Es gibt zum Panoptismus eine umfassende Literatur, und nichtzuletzt der Blick in den Klassiker Überwachen und Strafen von

Michel Foucault ist weiter zu empfehlen. Im Kern geht es in derAnalyse um Techniken der Überwachung, Kontrolle und somitHerrschaftsausübung, die auf der Asymmetrie von Sichtbarkeit(aller Kontrollierten) und Unsichtbarkeit (der wenigenKontrollierenden) basieren.

5 http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/19/0,3672,7262675,00.html (depubliziert [letzter Zugriff 27.08.2009]).

Rahmen des Nationalen Aktionsplans zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten vom Februar 2008. Dort liest man zu den Zielendes Programms: »Ausreichende Bewegung mit einerausgewogenen Ernährung und positiver Stressbewältigung sind dabei zentrale Bausteine [...] Deshalb legt das Bundesministerium [...] das Hauptgewicht auf die Bewegungsförderung. Im Sinne einesganzheitlichen Ansatzes sollen hierbei jedoch auchdas Ernährungsverhalten und die Stressregulationeinbezogen werden. Inzwischen hat sich in Deutschland eine Reihe von Initiativen zur Bewegungsförderung etabliert. Deren Wirksamkeit und Nachhaltigkeit ist bisher jedoch nur wenig belegt.« 6

Gesundheitsprävention heute ist nicht mehr dasschlichte Angebot der sehr nützlichen Tetanus-Impfung, auf die man bei Abneigungen gegen Impfstoffeauch gern verzichten kann, sondern ein umfassenderKomplex von Erwartungen, die die Inklusion ins Gesundheitssystem regeln, in die individuelle Lebensführung eingreifen und an einer Formung der Menschen teilhaben, die in ihren Folgen weit über dasGesundheitssystem hinausreichen. Die zwei Zitateverdeutlichen einen großen Teil der Probleme derPräventionsprogramme.

a) Viele Präventionsprogramme individualisierenVerantwortungfür gesellschaftliche und unberechenbare Risiken und stellen ein Legitimationsinstrumentfür den Abbau solidarischer Versorgungssysteme dar.

Deutlich zeigt dies die Forderung nach »positiverStressbewältigung«. Die Kehrseite der »positivenStressbewältigung« ist das Ignorieren der gesellschaftlichen Ursachen von Stress. Der ganz normale Stress von prekär Beschäftigten und kleinen Selbständigen wie von überbezahlten Managerinnenerscheint im Präventionsdiskurs selten als Ausdruck der allgemeinen Konkurrenz der kapitalistischen Ellenbogengesellschaft, die als gegebene undnicht hintergehbare Voraussetzung naturalisiertwird. Die »Volkskrankheit« Rückenschmerzen erscheint nicht als Folge des Zwanges zu deformierender Arbeit an Schreibtisch oder Werkbank, sondern

6 http://www.bmelv.de/nn_1236852/SharedDocs/downloads/03-Ernaehrung/Aufklaerung/Aktionsplan InForm/Aktionsplan__InForm,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Aktionsplan_InForm.pdf (depubliziert [letzter Zugriff30.10.2008]).

Überwachen und Strafen 213

als Mangel an Bewegung in der Freizeit, die damitaber nur um so deutlicher als schlichte Reproduktionszeit entlarvt wird.

Wenn die Verantwortung für die Kosten des Gesundheitssystems so gefasst wird, ist es nur folgerichtig, Präventionsverweigerer_innen zu bestrafen.Die Vorboten davon sind noch als positive Anreizemaskiert. Wer an den Bonusprogrammen der Krankenkassen teilnimmt, bekommt Vergünstigungen,Preise oder finanzielle Rückerstattungen. Der Umverteilungseffekt von potenziellen Kostenverursa-cher_innen zu »Kostenvermeider_innen« ist schongegeben. In anderen Bereichen gibt es klare finanzielle Strafen. So führt die Nichtteilnahme an Krebspräventionsprogrammen (Beratungspflicht überBrust-, Darm-, und Gebärmutterhalskrebsvorsorge)zum Verlust der Vorteile der Chronikerregelung,welche die Zuzahlungen zu Medikamenten für chronisch Kranke auf ein Prozent des Einkommens be grenzt. Gleiches gilt für Menschen, die sich »nichttherapietreu« verhalten. Schon jetzt zahlen auch alldiejenigen drauf, die nicht regelmäßig bei der Zahnärztin waren. Noch nicht durchgesetzt, aber im Gespräch, ist die Zahlungsverweigerung für Sportverletzungen bei Risikosportler_innen - wer Snowboard fährt, soll die Behandlung des gebrochenenBeines selbst bezahlen. Mit Verweis auf die Eigenverantwortungwird eine rein versicherungsmathematische (also nicht solidarische, alle gleich behandelnde, sondern am individuellen Risikoprofil orientierte) Gerechtigkeit durchgesetzt und derRückzug der Gesellschaft aus dem Gesundheitswesen eingeleitet.

b) Dabei sind selbst obligatorische Präventionsmaßnahmen oft von zweifelhaftem Nutzen und habenunerwünschte Nebeneffekte. 7

Die allgegenwärtige diskursive Forderung nach gesundem Verhalten kann einem manche Entscheidung schwer machen. So ist die cholesterinsenkende Margarine beileibe nicht für alle gut; sogar dieEinnahme von Vitaminen kann bei zu hoher Dosierung eher schädlich sein. Die Hoffnung, ihre Einnahme verringere das Krebsrisiko, erwies sich beibestimmten Gruppen als Trugschluss - denn beiRaucher_innen führte die Gabe von Provitamin A

7 Vgl. dazu den Überblick von Mühlhauser (2007)und Battens (2008).

sogar zum Anstieg des Krebsrisikos. Doch sogar dieProgramme, bei denen eine Teilnahme an einer Beratung über die Durchführung mittlerweile obligatorisch ist, sind häufig fragwürdig. Das Brustkrebsscreening, das allein schon wegen der unangenehmen und strahlenbelasteten Untersuchung infragesteht, ist ein klassischer Fall paradoxer Effekte.Denn einerseits kann tatsächlich die Sterblichkeitgesenkt werden, während es gleichzeitig aber beizehnmal so vielen Frauen zu Überdiagnosen undunnötigen Behandlungen kommt. Schuld ist diehohe sogenannte Falsch-Positiv-Rate, die »Entdeckung« von Veränderungen, die sich letztlich als ungefährlich erweisen, das jedoch oft erst nach einemEingriff oder gar der Entfernung der Brust.

Noch weniger optimistisch stimmen die Datenzum Darmkrebsscreening durch Koloskopie. Auchhier führt die Vorsorge zu einem Absinken der Inzidenz von Krebs. Allerdings werden die positiven Effekte durch negative wieder aufgehoben. Zu nennensind etwa Hygienemängel und Verletzungen durchdie Untersuchung sowie die notwendigen schmerzstillenden Medikamente.

Eine Studie zeigte, dass durch Folgen untersuchungsinduzierter Komplikationen (die notwendigekomplette Darmentleerung und der Nahrungsstoppführten zu Herzproblemen, Unterzuckerungen, Stürzen und Autounfällen) die Gesamtsterblichkeit unverändert blieb.

Wie das obige Zitat des Ministeriums jedochdeutlich signalisiert, ist die Fragwürdigkeit des Nutzens von Prävention keineswegs ein Grund, diese zu hinterfragen, da sich ihr Imperativ aus ihrer schlichten Überzeugungskraft ergibt. Ihre Qualität ist eineBinsenweisheit, die dem Geist der Zeit entspricht.

c) Der Anspruch der Prävention usurpiert die Lebenswelt mit instrumenteller Rationalität und ist soimmens und totalitär, dass er in Lustfeindschaft undLebensfeindschaft umschlägt.

Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass viele Maßnahmen gerade der sogenannten »Verhaltensprävention« (nicht rauchen, gesund essen, sich viel bewegen)von großem Vorteil für diejenigen sind, die sie befol gen. Und gerade Menschen, die spezifischen Risikenunterliegen, tun sicher gut daran, Krebsvorsorge zubetreiben. Nicht die den Menschen nützliche Seiteder Prävention soll hier kritisiert werden, sondernihr unstillbarer Drang nach immer umfassenderer

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Prävention. Denn wo soll die Grenze gezogen werden? Wird die Inkaufnahme von Kosten durch Freizeitsportunfälle durch die »positive Stressbewältigung« beim Snowboardfahren gesundheitsökonomisch ausgeglichen? Ab wann ist der potenzielleLeberschaden durch Alkohol größer als der Nutzen,der aus seinem Genuss resultiert? Wie überhaupt(und warum?!) soll so etwas gemessen werden? Diese Fragen sind so spannend wie unbeantwortbar.Die Funktion des Präventionsdiskurses ist es, die legitimen Antworten solcher schwierigen moralischenProbleme zum restriktiven Pol hin zu verschieben.Eine andere Folge ist, dass das Präventionsdenkenals Programm oder Modell als solches Relevanz erhält und auf andere Bereiche übergreift, in denennun auch gefragt wird, ob diese oder jene Handlunglegitim im Sinne der Vorbeugung abstrakter Risikenist. So lässt sich die oben erwähnte Berichterstattung über die gesundheitsförderlichen Folgen desKüssens verstehen. Die letzten Romantiker_innenmögen es als Anmaßung empfinden, die »Nützlichkeit« des Kusses in Hautstraffheitsgewinnen und imKalorienverbrauch zu beziffern, doch das Beispielzeigt das Wuchern des Präventionismus.

Dessen Imperativ lautet, fast religiös: Prüfedich! Und so wie alles der Prävention nützlich seinsoll, droht der Präventionismus jedweden Genuss,jedwedes Risiko, jedwede Unwägbarkeit zu verteufeln und ein technokratisches und lebensfeindliches, nur der instrumenteilen Vernunft gehorchendes soziales Klima zu schaffen. Und die Eingriffsschwelle der präventiven Nützlichkeitserwägungensinkt rapide. Die Pränataldiagnostik macht den Gencheck zur ersten Entscheidung über das (Nicht-)Le-ben eines werdenden Menschen, immer auch mitder Frage im Kopf, ob ein »nützliches« Mitglied derGesellschaft zu erwarten ist.

d) Der Anspruch der Prävention ist so immens, dasser nur mit massiver Überwachung durchgesetzt werdenkann.

Obligatorische Präventionsprogramme, die präventionsförderliches Verhalten unterstützen und präventionsfeindliches Verhalten bestrafen, funktionieren nicht voraussetzungslos. Sie benötigen einerseits hochgradige Kontrolle, also ein möglichstumfassendes Wissen um das Verhalten der Versicherten, und andererseits auch informierte, selbstverantwortliche und hochreflexive Versicherte, die

in der Lage sind, die Präventionszumutungen zudurchdringen und umzusetzen. Beide Momente(Kontrolle und Selbstverantwortung) ergänzen einander und können als zwei Seiten einer Regierungstechnik verstanden werden, die ermächtigt und ent-mächtigt zugleich. Für das Gesundheitswesen hatOliver Decker dieses dialektische Verhältnis am Beispiel der elektronischen Gesundheitskarte (und desäquivalenten Heilberufsausweises) untersucht. Diese sind Bestandteil des E-Government-Projektes derBundesregierung. Die Karten regeln den Zugangzueinem gigantischen Datennetzwerk. In diesem sollen schon bald sämtliche gesundheits- und krankheitsrelevanten Informationen sämtlicher Versicherten der BRD gespeichert werden. Im begrenztenUmfang sind die Patient_innen mittels ihrer P 1 N-Nummer in der Lage, zu kontrollieren, welche Informationen eine Ärztin einsehen kann. Es ist sogar geplant, Terminals einzuführen, mit deren Hilfe Patientinnen zu Hause ihre Krankenakten studierenkönnen - mit den Befunden aller behandelndenÄrztinnen. Unzweifelhaft ergibt sich damit eine Ermächtigung der Patientinnen, die sich zugleichaber auch als Zumutung erweist. Die Verfügbarkeitder Daten ist die Aufforderung zu ihrer Nutzung. DieKenntnis von Werten erfordert ihre Interpretation.Doch folgenreicher scheint ein anderer Aspekt. Alldiese Daten über Körperzustand, Krankengeschichte, Seelenleben, Familienstand, Allergien, Rezepte,Wohnsituation usw. sind zentral gespeichert. IhreVerfügbarkeit für die Versicherungsunternehmen(bisher nur die Krankenkassen) legt es nahe, ihreVerwertung für Kontrolle und Sanktionierung präventionsrelevanten Verhaltens (oder auch schlichtnatürlicher Veranlagung) in Erwägung zu ziehen.Für Patient_innen, die dies wissen, resultiert aus derVerfügbarkeit der Daten ein Zwang zur Selbstkontrolle. Es entsteht eine Aufforderung zur Ausrichtungan den nicht selbst gesetzten Imperativen der Prävention. Die Gesundheitskarte ist damit ein klassischer Fall eines panoptischen Überwachungsinstruments, welches die Sichtbarkeit aller zu kontrollierenden Subjekte (Versicherte) garantiert und geradedeshalb nicht notwendigerweise darauf angewiesenist, diese stets und ständig tatsächlich zu kontrollieren, da die präventive und abstrakte Drohung derSanktionierbarkeit von Fehlverhalten schon dieFunktion der Verlagerung der Kontrolle mit sichbringt. Das potenziell überwachte Subjekt verhältsich möglicherweise einfach selbst konform.

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CEFÄHRL1CHE ORTE & VIDEO-ÜBERWACHUNG: VERRÄUMLICHUNCALS STRATEGIE PRÄVENTIVERKRIMINALPOLITIK 8

Das nächste hier zu behandelnde Beispiel einer präventiven Wende ist im Gegensatz zum Thema Gesundheitswesen ein klassisches Feld der Überwachungskritik, weil es eng mit der Videoüberwachungöffentlicher Räume verbunden ist, die in den vergangenen zehn Jahren immer wieder Proteste provozierte. In dieser Zeit, wenn auch mit etwas Vorlauf,zeichnete sich in der bundesdeutschen Kriminalpolitik ein umfassender Wandel ab. Viele der Elemente dieses Wandels lassen sich als Strategieverschiebungen von Repression (das »klassische« Agierenvon Polizei und Justiz nachdem ein Delikt vorlag) zuPrävention interpretieren. Zu den Elementen diesesWandels gehören die raumzeitlich begrenzte (Re-)Kriminalisierung devianter, gelegentlich als störend empfundener oder »unschicklicher«, aber insgesamt nicht illegaler Praxen (beispielsweise öffentliches Trinken, Betteln, Lagern), die Ausbreitungvon frühinterventionistischen Vorstellungen (Bro-ken-Windows-Theorie, Null-Toleranz-Ansatz 9 ), dieUmkehr der Unschuldsvermutung, die Integrationprivater und staatlicher Akteurjnnen und nicht zuletzt die grundlegende Verräumlichung der Kriminalpolitik. Sie zielt auf eine lokal umgrenzte Verhaltensregulierung, die ihre rechtliche Voraussetzungnicht in einem zu ahndenden Delikt findet, sondernin der bloßen Erwartung eines solchen.

Paradigmatisch für diese Politik ist die stationäre Videoüberwachung öffentlicher Plätze, die sichseit der Einführung 1996 rasant über die Bundesrepublik ausgebreitet hat. Die Kameras werden als Teileines repressiv-präventiven Maßnahmenbündels, zudem auch verstärkte Polizeistreifen, »Sicherheitspartnerschaften« und städtebauliche Veränderungen gehören, an sogenannten »gefährlichen Orten«,"Kriminalitätsschwerpunkten« oder »verrufenen Orten« aufgestellt. Hinter diesen Begriffen verbirgt

8 Für Anregungen zu diesen Überlegungen danke ich besondersMarco Tullney und Bernd Belina.

9 Die Idee der Broken-Windows-Theorie besteht in der Annahme,dass die Hinnahme einer zerbrochenen Fensterscheibe, einesachtlos weggeworfenen Zettels auf dem Gehweg oder einesGraffito der Einstieg in den Abstieg, der Beginn unkontrollierbarer Verwilderung sei. Deswegen müsse schon den kleinstenAnfängen mit »nuli Toleranz« entgegengetreten werden.

sich eine rechtliche Konstruktion, die ihre Voraussetzungen in nur geringfügig differierender Weise inallen Polizeigesetzen der Länder sowie lokalen Gefahrenabwehrverordnungen oder Polizeiverordnungen findet. Die Ausweisung »gefährlicher Orte« hatzum Ziel, Räume abzugrenzen bzw. abgrenzbar zumachen, an denen »normales« Recht nicht mehr gilt,und Handlungsspielräume zugunsten der Polizeiund anderer Ordnungsbehörden zu verschieben. Indiesen Räumen können nun verdachtsunabhängigeIdentitätsfeststellungen vorgenommen (was beispielsweise bei nicht mitgeführtem Ausweis auchdie Mitnahme aufs Polizeirevier bedeutet) und Daten erhoben werden (Videoaufnahmen). Die Voraussetzung der Gültigkeit dieser räumlichen Regelungist nicht tatsächlich stattfindende Kriminalität, sondern eine polizeiinterne oder innenministerielle Bestimmung dieser Räume. So ist eines der wichtigstenArgumente für eine konkrete Ausweisung eines solchen gefährlichen Ortes (und eines der wichtigstenElemente in der Berechnungs- und Begründungsgrundlage, nämlich der Polizeilichen Kriminalstatistik PKS) der Aufenthalt von Personen ohne Aufenthaltserlaubnis (also von Flüchtlingen, die gegen dierigiden Aufenthaltszwänge und Lagerzuweisungenverstoßen). Üblicherweise ist dies nicht das, wovorman beim Gedanken an »Kriminalität« Angst hat.Aber die diskursive Legitimierung der Konstruktioneines »gefährlichen Ortes« ist mittels hoher Zahlenleichter möglich. Doch auch ad hoc kann die Regelung zum Einsatz kommen. So wurde das LeipzigerAlternative Zentrum Conne Island von der Polizeieinst zum »temporären gefährlichen Ort« erklärt,um - im Kontext eines politischen Protests - dieIdentitätsfeststellung aller Anwesenden zu ermöglichen. Diese Interpretation von Gefahr ist auch dieVoraussetzung der mittlerweile standardmäßigenKomplett-Videoiiberwachung von Demonstrationen.

Durch diese Verfahren werden Gesetze ermöglicht, die mit einer dehnbaren Heuristik des Verdachts arbeiten. So erlaubt das Sächsische Polizeigesetz die Feststellung der Identität einer Person u.a.an einem Ort, »an dem erfahrungsgemäß Straftätersich verbergen, Personen Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben, sich ohne erforderliche Aufenthaltserlaubnis treffen oder der Prostitution nachgehen«, und »wenn sie sich in einer Verkehrs- oderVersorgungsanlage oder -einrichtung, einem öffentlichen Verkehrsmittel, Amtsgebäude oder einem an

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deren besonders gefährdeten Objekt oder in unmittelbarer Nähe hiervon aufhält und Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass in oder an Objekten dieser Art Straftaten begangen werden sollen.« (Sächs-PolG, §19). Nicht eigene Straftaten oder wenigstensverdächtiges Verhalten führen zur Anwendbarkeitder Maßnahme, sondern der Aufenthalt an einemOrt und die Überlegung, dass dort »Straftaten begangen werden sollen« (Hvhbg. d. A.).

Diese Regelung ist fast überall anwendbar, betrifft de facto aber nur bestimmte Orte. Je nach spezifischen lokalen Interessenlagen kommt sie zurAnwendung, um konservative Normvorstellungenüber die Nutzung öffentlichen Raumes durchzusetzen und missliebige Gruppen zu vertreiben (meistObdachlose, Punks, Trinker_innen), um Drogenszenen zu »zerschlagen«, politisierte Quartiere zu kontrollieren, städtische »Visitenkarten« wie Bahnhöfeund Innenstädte im Wettbewerb um Touristinnenund Investor_innen deren Interessen gemäß zu gestalten oder um Migrationskontrolle zu effektivieren. Öffentlicher Raum wird zu gefährlichen oderverrufenen Orten erklärt und unterliegt dann einemerhöhten Kontrolldruck.

Bernd Belina (2005) hat diese Verräumlichungals Teil einer Kette von »Abstraktionen vom Sozialen« beschrieben, also zunehmendem Absehen vonden vielfältigen und disparaten Umständen und Bedingungsfaktoren sogenannten kriminellen (vomStaat kriminalisierten) oder devianten (unerwünschten, »abweichenden«) Verhaltens. Mit der Einführung des modernen Rechts entsteht die erste Abstraktion: das Unrecht. Dazu kommen später die Abstraktionen derTäter_in (»Wer einmal lügt...«), der(abweichenden, kriminellen oder terroristischen)Gruppe (Personenkontrollen nach äußeren Merkmalen) und schließlich des kriminellen oder kriminogenen Raums.

Diese Abstraktion nimmt einen neuen Blick aufdas Illegale in der Gesellschaft ein. Nicht als kriminell klassifiziertes Individuum oder ebensolcheGruppe gerät man in den Griff der Macht, sondernals jemand, der einen Ort aufsucht. Dessen Ausweisung als »gefährlich« unterzieht alle, die sich dortaufhalten, dem Kontrollregime. Die dort legitimierten Grundrechtseingriffe betreffen z.T. alle (Videoüberwachung) oder wiederum Gruppen, allerdingsdurch die Besonderheiten der räumlichen Sonderzone noch verstärkter als ohnehin schon, da hier ihreGruppenstigmatisierung und außergewöhnliche

Kompetenzen der Ordnungskräfte Zusammenkommen. Das hat eine ganze Menge Implikationen. Manwird mehr kontrolliert, entwickelt möglicherweiseAngst, meidet den Ort gar oder gerät mit dem Gesetzwegen Dingen in Konflikt, die anderswo seiner Aufmerksamkeit entgehen. Dies dient beispielsweisezur Vertreibung von Drogenkonsument_innen. Eskommt somit zu einer Zuweisung von bestimmtenOrten für spezifische Gruppen oder Handlungenund damit zu einer sozialen Segregation.

Der Inklusionsanspruch des korporatistischenWohlfahrtsstaats ist mit dieser Orientierung aufgegeben. In Zeiten knapper Kassen und der domi nanten Vorstellung, dass Menschen v.a. für sichselbst verantwortlich seien, wird davon ausgegangen, dass es soziale »Probleme« und »Problemgruppen« schlichtweg gibt und immer geben wird. Dieneoliberale, räumliche Regierungsweise ist nichtmehr darauf ausgerichtet, die verlorenen Schäfchenwieder in den Schoß der Gesellschaft zurückholen,sondern sie betreibt nur noch Armuts- und Devianzmanagement getreu dem Motto: Jedem seinen Ort!Auf der einen Seite entstehen so perfekt kontrollierte und von jedweder möglichen Störung ihrer Wohlfühlatmosphäre geschützte Shoppingmalls und vonArmut und Konflikten abgeschottete GatedCommu-nities; auf der anderen Seite entstehen Elendsquaitiere, in denen dieses Elend sich selbst überlassenwird, solange es am zugewiesenen Ort bleibt. Diesfindet man in der Bundesrepublik noch nicht sodeutlich wie in den USA, die Tendenzen weisen indie gleiche Richtung.

Der implizite Imperativ für die von der Kontrolle betroffenen Menschen heißt: »Überlege gut, obdu an solche Orte gehst!«, »Überlege, was du an solchen Orten tust!«, »Überlege, ob du auffällst!«. DieFolge ist ein allgemeines »Überlege!«, eine präventivgemeinte Zumutung an die Subjekte, über die Folgen ihrer Präsenz und ihres Verhaltens an diesenhochgradig überwachten Orten vor sich selbst Rechenschaft abzulegen, denn der Panoptismus bedeutet auch am videoüberwachten »gefährlichen Ort«keine automatische Kontrolle aller Personen zu jeder Zeit, sondern nur das Wissen um das jederzeitmögliche, aber nie sichere Stattfinden der Kontrolle.

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360°-FEEDBACK - SE LBSTOPTIMI ERU NCUNTER RUNDUMÜBERWACHUNC

Viele der Entwicklungen der aktuellen präventionis-tischen Überwachungs- und Kontrolltechnologienlassen sich mit dem Bild des Panoptismus (wenigeüberwachen viele) nicht mehr zufriedenstellend beschreiben. Dazu gehört die voyeuristische Verfolgungweniger (beispielsweise der Stars) durch viele(Synoptismus) und die beteiligungsorientierte Variante des Panopticons, die gegenseitige Überwachung vieler (Multi- oder Polyoptismus). Am sinn-und augenfälligsten wird diese Entwicklung im Kontext der Videoüberwachung im Londonder StadtteilShoreditch, wo in einem Projekt seit 2006 Bilder vonlokalen Überwachungskameras per Kabel direkt indie Wohnzimmer übertragen wurden und alle Bürgerinnen somit befähigten, ihren Stadtteil und damit sich gegenseitig zu überwachen. Dieser Polyoptismus setzt, um als Kontrollinstrument überhaupteingesetzt werden zu können, erste Erfolge des Panoptismus voraus. Dann bietet er das Potenzial derAufrechterhaltung von Ordnung im Sinne der Herrschaft, ohne diese aufwändig selbst exekutieren zumüssen.

Dieses Modell findet sich in unterschiedlichsten sozialen Bereichen. Während es als Gruppendruck (so in Familien, Cliquen oder Selbsthilfegruppen) noch direkt erfahrbare soziale Kontrolle darstellt, wird es auf der Höhe der Zeit als indirekter,individualisierter Subjektivierungsprozess allerorten durchlebt. Als paradigmatisches Beispiel dafüruntersuchte v.a. Ulrich Bröckling (2003) das sogenannte 36 o°-Feedback.

Das 36o°-Feedback ist eine Methode aus demBereich des Human Ressource Management. IhrZweck ist die umfassende Beurteilung und damitmögliche Optimierung von Mitarbeiterinnen in Firmen oder Organisationen. Das Umfassende der Beurteilung besteht darin, dass die zu beurteilendePerson von möglichst allen Seiten eingeschätzt wird,also von Vorgesetzten, Untergebenen, Kolleginnenauf der gleichen Ebene (peers) sowie von Kundinnen. Diese füllen alle einen Fragebogen aus undschätzen ein, ob die oder der Betreffende »Teamgeisthat«, »innovativ« und »durchsetzungsfähig ist«, »Unternehmensinteressen über private stellt«, »stets vollen Einsatz zeigt« und »ihren Aufgaben gewachsenist«. Die Ergebnisse des Tests (zu dem auch eine

Selbsteinschätzung gehört) stellen die Grundlage füranschließende Coachings dar, die in der Regel vonaußenstehenden Beraterinnen mit der bewertetenPerson durchgeführt werden. Dort wird das Selbstbild der Beschäftigten mit den Einschätzungen deranderen verglichen, werden Stärken und Schwächenausgewertet und Strategien zur Optimierung der eigenen Performance erdacht. Mit einigem Abstanderfolgt der nächste Durchgang, so dass letztlich bewiesen werden kann, ob die eigenen Potenziale auchausgeschöpft wurden. Das 36o°-Feedback ist ein stetiges Angebot, das helfen soll, der potenziell immerdrohenden Kündigung durch Selbstoptimierungvorzubeugen. Die anonymisierte Form des Feedbacks stellt aber sicher, dass dieses seine Wirkungvorrangig als indirekter Druck statt als offene Gängelung entfaltet. Der Druck kommt - demokratisch -aus allen Richtungen und ist deswegen auch schwerpersonalisierbar oder zu kritisieren, ist er doch umfassende Kritik.

Auch hier resultiert aus der Kontrolle, welche»Leistungsbeurteilung« heißt, eine stetige Verinnerlichung der Maßstäbe der Kontrolle. Denn das Umfassende findet seine Grenzen in den Kriterien. Diese sind natürlich durch das Unternehmen bzw. dieMethode selbst vorgegeben. Die Ziele, an denenman sich ausrichten soll, sind die Unternehmensziele: Marktvorteile, Unternehmensgewinne, Kundenakquise. Dass dabei Widersprüche, wie Bröcklingschreibt, »Programm sind« (denn man kann wohlkaum gleichzeitig - »strikt ergebnisorientiert« - »seinHandeln ganz in den Dienst des Unternehmens stellen« und »ein geschätzter Kollege« mit »Teamgeist«und »sozialer Verantwortung« sein), produziert eineDauerspannung. Dies verdeutlicht, dass mit »Anforderungen wie lebenslanges Lernen, Prävention oder[den] allgegenwärtigen Evaluationen [...] Kontrolleomnipräsent und Selbstoptimierung unabschließbargeworden sind«. 10

Unsichtbarkeit und somit unkontrollierte Orteund Situationen oder unangepasstes Verhalten werden im Polyoptismus zunehmend rar und damitauch Unerwartetes, Ungewöhnliches, Ungeplantes,Abweichendes, letztlich: Kritisches. Das 36o°-Feed-

back ist diesbezüglich besonders perfide, operiertes doch mit dem Begriff der Kritik, ja hat Kritik zumInhalt. Doch es verlässt nicht die betriebswirtschaft

10 Bröckling et al. 2004 , s. 14 .

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liehe Logik und wird so zu einem müden Abklatschvon Kritik, dem es nur um die Optimierung der Einzelnen für ihnen selbst äußerliche Ziele geht.

FAZIT

Grundverschiedene Rationalitäten bestimmen zunächst das Handeln von Individuen, die ihre Interessen oder ihr kleines Glück verfolgen, und darüberhinaus das Agieren der Institutionen, in die dieseeingebunden sind. Zwischen beiden mag es Schnittmengen geben. Gesundheit, Sicherheit, Feedback -all dies sind Ziele, deren Erreichen sich viele Institutionen und Menschen wünschen. Doch die Imperative, die hinter der staatlichen und unternehmerischen Gesundheitsmanie, dem Videoüberwachungswahn und dem Totalfeedback stehen, sindgänzlich andere.

Die scheinbare Übereinstimmung im Interesseam gesunden Menschen beispielsweise erweist sichbei der Frage nach den Zwecken als Farce. Verbindetder einzelne Mensch mit Gesundheit die Abwesenheit von Schmerz, das körperliche und geistigeWohlbefinden und somit die Möglichkeit, selbstbestimmte Ziele zu erreichen, so genügt ein kurzerBlick in die Medienberichterstattung zur Gesundheitsreformdebatte, um auf die gegensätzlichen gesellschaftlichen Logiken gestoßen zu werden. Fürden Staat ist klar: Gesundheit ist zu teuer; und fürdie Kassen: die Ärzte verordnen zu viel. Gesundheit/Krankheit ist aus dieser Logik ein Haushaltsproblem. Und für die Wirtschaft heißt Krankheitschlicht: Fehltage = Kosten.

Die oberflächlich aber bestehenden Schnittmengen der unterschiedlichen Rationalitäten undInteressen sind das Einfallstor für die Übernahmeder heteronomen Motive durch die Menschen. Werist schon gegen Gesundheit? Wer gegen Sicherheit?Menschen sind jedoch andererseits bereit, zugunsten des Lustprinzips bewusst Abstriche bei Sicherheit oder Gesundheit in Kauf zu nehmen. Allzu häufig ist der gesundheitsabträgliche Rausch auch daseinzige zur Verfügung stehende Mittel, die Zumutungen des Arbeitsalltags auszuhalten. Doch dieseHandlungslogik ist nicht anschlussfähig für Haus-haltspolitiker_innen oder Betriebsmanager_innen,erst recht nicht unter dem Eindruck der Allgegenwart neoliberaler Vorstellungen. Diese erwartenEinsparungen oder das perfekte Funktionieren der

jenigen, die ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragengenötigt sind. Dafür - und für nichts anderes - gönnen sie ihren Bürokräften u.U. sogar mal eine subventionierte Massage oder die Teilnahme am kassengesponserten Trimm-Dich-Programm.

Die Allgegenwart dieser Programme ist die Voraussetzung für ein ständiges Schuldgefühl. Immermuss ich mich fragen: Habe ich genug vorgesorgt?Schon der durch diese Frage eingenommene Raumsteht für Kritik und Reflexion nicht mehr zur Verfügung. Doch die Wirkungen sind möglicherweisenoch viel grundsätzlicher. Denn der Angriff des Präventionismus gilt der Legitimität individueller undkollektiver Bedürfnisartikulation.

Die obige beispielhafte Schilderung der dreiPräventionsbereiche galt der Analyse der Institutionen, Praktiken und Diskurse. Es ging um die Herausarbeitung von Funktionslogiken, von Ansprüchen und Zumutungen, die das gesellschaftlicheModell des Präventionismus verkörpern. Dieses Modell lässt sich als Programm verstehen, als eineTechnik, die Herrschaft sich zunutze machen kann,obwohl das Programm gleichzeitig durch die Zu-rückdrängung direkter Herrschaft gekennzeichnetist, die durch Selbstkontrolle ersetzt wird. Über diegenauen Folgen für die Menschen kann derzeit nurspekuliert werden. Es ist eine offene Frage, wie sehrMenschen sich vom Präventionismus vereinnahmen lassen und wann ihr Eigensinn die Oberhandbehält. Die weite Verbreitung des TINA 1:t-Denkensstimmt diesbezüglich nicht positiv. Es stellt sichdeshalb auch die Frage der Auswirkungen für politische Beteiligung, soziale Bewegungen und Protesthandeln.

Denn es mangelt sicherlich nicht an Unzufriedenheit oder Frustration. Vielmehr stellt dieneoliberale Umgestaltung der Gesellschaft durchSozialabbau ständig Anlässe für Protest bereit. Diese Frustration konnte sich auch eruptiv entladen, beispielsweise bei den Montagsdemonstrationen.Die Defensivität dieser Kämpfe, wie auch ihr baldiges Abflauen ohne das Ziel der Abschaffung vonHartz IV erreicht zu haben, wirft die Frage auf, obsich unter dem neoliberalen Präventionismus dieBedingungen für kollektive Bedürfnisartikulationund somit auch Protest nicht grundsätzlich geändert haben, indem sie der Kritik als notwendiger Voraussetzung von Protest ein wichtiges Standbein11

11 »there is no alternative«

Überwachen und Strafen 219

entziehen: die Legitimität, sie zu äußern. Der mitPräventivdenken zugerichtete Mensch fragt bei allem zuerst, ob es denn zweckmäßig, möglich, bezahlbar, gerechtfertigt ist. Er fragt nicht, ob etwas anstrebenswert ist. Immer fragt er zuerst: Was mache ichfalsch? Niemals fragt er: Was ist am Ganzen falsch?Denn dessen heteronome Imperative hat er am videoüberwachten Bahnhof, beim Powerspinning \mFitnessstudio und beim letzten Coaching längst zuseinen eigenen gemacht. Natürlich steht dies gemeinsamer Interessensartikulation im Weg. 12

Politische Intervention im Präventionismus,mithin Überwachungskritik, hat deshalb zwei strategische Aufgaben. Sie muss einerseits weiter versuchen, das Vordringen der alles kontrollierenden undüberwachenden Institutionen, Techniken, Praktiken und der ihnen zugrunde liegenden Programmeund sozialen Bedingungen (neoliberaler, postfordis-tischer Kapitalismus) mit aller Kraft zu verhindern,weniger wahrscheinlich zu machen oder zu verzögern. Da aber nicht die Herrschaftstechniken als solche das Problem darstellen, sondern die ihnen zugrunde liegende Rationalität, muss die Zurichtung

12 In der Bewegungs- und Protestforschung wurde diese Fragebisher kaum gestellt. Überhaupt ist die Frage derGouvernementalität, die Kernbereiche dieses Faches berührt,dort bisher kaum rezipiert worden; für erste Ansätze vgl.Heßdörfer/Pabst/Ullrich (2010) und Ullrich (2010).

LITERATUR► Werner Bartens: Vorsicht Vorsorge! Wenn Prävention nutzlos

oder gefährlich wird. Frankfurt/Main 2008.► Bernd Belina: Räumliche Strategien kommunaler Kriminalpolitik in

Ideologie und Praxis. In: Georg Glasze, Robert Pütz, Manfred Rolfes(Hg.): Diskurs - Stadt - Kriminalität. Bielefeld 2005, S. 137-166.

* Ulrich Bröckling: Das demokratisierte Panopticon.Subjektivierung und Kontrolle im g6o°-Feedback.In: Axel Honneth, Martin Saar (Hg.): Michel Foucault.Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz2001, Frankfurt/Main 2003, S. 77-93.

* Ulrich Bröckling: Vorbeugen ist besser... Zur Soziologieder Prävention. In: Behemoth. A Journal on Civilisation 1,2008, S. 38-48.

* Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke: Einleitung.In: Dies. (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt/Main 2004.

des neoliberalen, anspruchslosen, sich selbst verwirklichenden und sich stets optimierenden Subjekts zum Gegenstand der Kritik gemacht werden.

Zielstellung einer Überwachungskritik mussalso zweitens sein, Legitimitätsgewinne für die Interessensartikulation der Menschen zu gewinnen.Verweigerung gegenüber den Optimierungserwartungen, mutiges Beharren auf There is an Alternative, selbstbewusstes Einstehen für soziale Rechte,Aneignung gesellschaftlicher Ressourcen (beispielsweise auch öffentlichen Raumes) und das Promotensozialer Verantwortung (nicht als korporatistischerZwang, sondern als Eröffnung individueller Entfaltungsräume) sind aktive Politik gegen die Prämissen der Präventionisten und damit letztlich auchder Überwachung. Erst die Wiedergewinnung vonLegitimität für Kritik an unsozialen Zuständen ermöglicht ihre gemeinsame Artikulation und ihr Begreifen als das genaue Gegenteil dessen, als das esder Präventionismus sieht: nämlich als soziales Verhältnis. Das soziale Verhältnis des neoliberalen Kapitalismus mit seiner Präventionsideologie und dersie ermöglichenden Überwachungsinfrastrukturzielt darauf, die Ansprüche der Menschen klein zuhalten. Deshalb muss grundlegende Kritik mitSelbstbewusstsein Großes fordern, damit Großesüberhaupt wieder denkbar wird.

► Prävention und ihre Abgründe. In:Bürgerrechte und Polizei/CHIP 86 (1/2007). Berlin 2007.

► Oliver Decker: Alles auf eine Karte setzen:Elektronisches Regieren und die Gesundheitskarte.In: Psychotherapeutenjournal 4, 2005, S. 338-347.

► Florian Heßdörfer, Andrea Pabst, Peter Ullrich (Eds.):Prevent and Tarne. Protest Under (Self-)Control. Berlin 2010.

► Ingrid Mühlhauser: Ist Vorbeugen besser als Heilen? In:Deutsches Ärzteblatt 104 (25). 2007, S. B 158g-B 1591.

► Peter Ullrich: Preventionism and Obstacles for Protest in Neo-liberalism. Linking Governmentality Studies and Protest Research.In: Florian Heßdörfer, Andrea Pabst, Peter Ullrich (Eds.):Prevent and Tarne. Protest Under (Self-)Control. Berlin 2010.