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Noll, Heinz-Herbert; Scheuer, Angelika Analysen zur ... · Komparative Indikatoren und Analysen zur europäischen Identität der Bürger Noll, Heinz-Herbert; Scheuer, Angelika

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Kein Herz für Europa? Komparative Indikatoren undAnalysen zur europäischen Identität der BürgerNoll, Heinz-Herbert; Scheuer, Angelika

Veröffentlichungsversion / Published VersionZeitschriftenartikel / journal article

Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with:GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:Noll, Heinz-Herbert ; Scheuer, Angelika: Kein Herz für Europa? Komparative Indikatoren und Analysen zureuropäischen Identität der Bürger. In: Informationsdienst Soziale Indikatoren (2006), 35, pp. 1-5. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-213772

Nutzungsbedingungen:Dieser Text wird unter einer CC BY-NC Lizenz (Namensnennung-Nicht-kommerziell) zur Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zuden CC-Lizenzen finden Sie hier:https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de

Terms of use:This document is made available under a CC BY-NC Licence(Attribution-NonCommercial). For more Information see:https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/

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ISI35InhaltKein Herz für Europa? 1

Monitoring Social EuropeWorkshop-Bericht 6

Informationsdefizite undSchonung AngehörigerHauptgründe für Verzichtauf Sozialhilfe 7

Dunkelziffer der ArmutBuchhinweis 11

Neue Internetangebote derAbteilung Soziale Indikatoren 11

Starke Einbußen dessubjektiven Wohlbefindensbei Hilfe- oder Pflege-bedürftigkeit 12

,Atlas of European Values‘zeigt die Vielfalt in denWertorientierungen dereuropäischen BürgerBuchhinweis 15

Soziale Indikatoren undLebensqualität – ZweiKonferenzen in Südafrika 16

SozialberichterstattungGesellschaftliche TrendsAktuelle Informationen

Eine Publikation

Ausgabe 35Januar 2006

Informationsdienst Soziale Indikatoren

Untersucht werden diese und weitere Fragenanhand von Daten aus zwei verschiedenen eu-ropäischen Bevölkerungsumfragen, der Euro-pean Values Study1 aus dem Jahr 2000 sowieden Eurobarometer-Umfragen2 aus verschie-denen Jahren. Die Untersuchung umfasst – jenach Datensatz und Perspektive – die frühe-ren EU-15 oder die aktuellen EU-25-Länder.Für die Messung und Analyse einer europäi-schen im Vergleich zu alternativen Identitätenist von entscheidender Bedeutung, was unterIdentität verstanden und wie sie operationali-siert wird. Gemeint ist hier primär die subjek-tive Identifikation mit geographisch bzw. po-litisch definierten lebensräumlichen Einheiten– z.B. Stadt, Region, Land, Europa – im Sinnevon Gefühlen der Zugehörigkeit und Verbun-denheit. Weitgehende Einigkeit besteht dar-über, dass Identitäten in diesem Sinne sichnicht zwangsläufig ausschließen müssen, son-dern als ‚multiple Identitäten‘ nebeneinanderexistieren und sich gegenseitig ergänzen kön-nen. Dagegen bleibt vorerst ungeklärt, in wel-

Kein Herz für Europa?Komparative Indikatoren und Analysen zur europäischenIdentität der Bürger

Das nicht nur auf ökonomische Harmonisierung, sondern darüber hinaus auch auf eineweitergehende politische Vereinigung abzielende europäische Projekt hat in den zurück-liegenden Jahren enorme Fortschritte gemacht, auch wenn es – nach den gescheitertenVerfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden – derzeit ins Stocken geratenzu sein scheint. Zu den Fragen, die der Prozess der fortschreitenden wirtschaftlichen undpolitischen Vereinigung Europas aufwirft, gehört insbesondere auch die nach der sozia-len Integration: Wie weit ist die soziale Integration gediehen, und wird am Ende diesesProzesses möglicherweise eine einheitliche europäische Gesellschaft stehen, in der dieheutigen nationalen Gesellschaften aufgehen werden? Soziale Integration bedeutet zwei-fellos mehr als Konvergenz und Angleichung von Lebensverhältnissen und Strukturen,sondern impliziert wachsende gegenseitige Beziehungen, Verflechtungen, Solidarität undBindungen. So gesehen kann auf der individuellen Ebene auch die subjektive Identifikati-on der einzelnen Bürger und ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu und der Verbundenheit mitEuropa als Maßstab für den Grad der europäischen Integration betrachtet werden. Vordiesem Hintergrund untersucht der nachfolgende Beitrag, ob und in welchem Ausmaßsich die Bürger in den Mitgliedsländern subjektiv mit Europa identifizieren und als Euro-päer betrachten. Wie verhält sich das Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa zur Identifika-tion mit der eigenen Nation oder auch subnationalen Ebenen, und ist diesbezüglich einWandel zu beobachten? Wie unterscheiden sich die Bevölkerungen der Mitgliedstaatenhinsichtlich der Identifikation mit Europa und von welchen Faktoren hängt eine mehroder weniger ausgeprägte Verbundenheit mit Europa ab?

chem Verhältnis die einzelnen Identitäten zu-einander stehen, ob sie z.B. eine Hierarchiebilden, ineinander verschachtelt sind oder sichauf andere Weise – etwa nach dem Marmor-kuchen-Modell – durchmischen (Risse 2000;Risse/Rieck 2004).

Bürger der EU-15-Mitgliedsländer fühlensich Europa bisher nicht besonders engverbunden

Derartige Unterschiede im Verständnis multi-pler Identitäten bzw. Identifikationen schla-gen sich z.T. auch in den in verschiedenenUmfragen verwendeten Frageformulierungenund Indikatoren nieder. Die in der EuropeanValues Study verwendete Frage scheint sichstärker als andere an einem Konzept hiera-chisch strukturierter Identitäten zu orientieren:„Welcher dieser geographischen Einheiten aufdieser Liste hier fühlen Sie sich am meistenzugehörig? Und welcher fühlen Sie sich anzweiter Stelle zugehörig? Und welcher füh-

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len Sie sich am wenigsten zugehörig? DemStadtteil, dem Ort, wo ich lebe, der Gegend,in der ich lebe, der Bundesrepublik Deutsch-land, Europa, der ganzen Welt?“ Die Vertei-lung der Antworten deutet alles in allem dar-auf hin, dass die Bürger der EU-15-Mitglieds-länder sich mit Europa bisher nicht besonderseng verbunden fühlen (Grafik 1).

Zumeist sind es nur winzige Minoritäten zwi-schen 1 und 5%, die Europa als die Einheitnennen, der sie sich in erster Linie zugehörigfühlen; lediglich in Luxemburg beträgt dieserAnteil mehr als zehn Prozent. Für die Mehr-heit der Bürger ist es dagegen in aller Regelihr Stadtteil bzw. ihr Wohnort, dem sie sichzuallererst zugehörig betrachten. Auch als Ein-heit, der man sich an zweiter Stelle zugehörigfühlt, folgt zumeist die Gegend bzw. Region,in der man lebt, oder das Heimatland, aber

nicht Europa. Nur in Luxemburg übersteigt derAnteil der Personen, die an zweiter Stelle Eu-ropa nennen, zwanzig Prozent, bleibt dagegenin den meisten der übrigen EU-15-Länder un-terhalb von zehn Prozent. Gefragt, welcherEinheit sich die Bürger am wenigsten zuge-hörig fühlen, wird in der Regel die Welt ins-gesamt genannt, aber Europa folgt dabei innahezu allen EU-15-Ländern unmittelbar da-nach.

Die Tatsache, dass der World Value Surveyeine ähnliche Frage verwendet, ermöglicht es,die Antwortverteilung für die europäischenLänder mit der der USA zu vergleichen. Hierzeigen sich klare Unterschiede, aber auch er-staunliche Ähnlichkeiten: Wie nicht anders zuerwarten, identifizieren sich die Amerikanermehrheitlich in erster Linie mit der Nation,aber der (geringe) Anteil derjenigen, die den

amerikanischen Kontinent als erste Wahl nen-nen, ist erstaunlicherweise nicht kleiner als derAnteil der Europäer, die an erster Stelle Euro-pa nennen. Und selbst wenn es darum geht,mit welcher Ebene man sich an zweiter Stelleidentifiziert, wird Europa von den Europäernkaum häufiger genannt als der amerikanischeKontinent von den U.S.-Bürgern (Noll 2005:32).

Stärker als es in der European Values Studyder Fall ist, laden die in den Eurobarometer-Surveys gewählten Frageformulierungen dieBefragten dazu ein, die Identifikation mit Eu-ropa nicht als konkurrierend zu ihrer nationa-len, regionalen oder lokalen Identität zu be-trachten, sondern als eine diese erweiterndeoder ergänzende Zugehörigkeit. Dies schlägtsich erwartungsgemäß auch in den Antwort-verteilungen nieder.

Mehrheit definiert sich in naher Zukunftnicht nur über eigene Nationalität, sondernsieht sich auch als Europäer

Einer der in diesem Kontext für die Messungder Identität verwendeten Indikatoren wirft dieFrage auf, ob man sich in Zukunft ausschließ-lich als Deutscher, Franzose etc. sieht, aus-schließlich als Europäer oder beides (nationalund europäisch, europäisch und national).3

Damit wird also explizit eine Variante der Iden-tität als Antwortmöglichkeit angeboten, mit derdie nationale um eine europäische erweitertwird. Zudem ist der zeitliche Bezug bei die-sem Indikator nicht die Gegenwart, sonderneine nicht präzise bestimmte ‚nahe Zukunft‘,was dazu beitragen mag, die Verhältnisse imHinblick auf eine ausschließlich nationaleIdentität für die Gegenwart zu unterschätzenund die Identifikation mit Europa zu überschät-zen. Wie aus Grafik 2 zu ersehen ist, definiertsich in den EU-25-Mitgliedsländern – mitBlick in die nahe Zukunft – im Durchschnittder Befragten ein größerer Anteil sowohl durchihre eigene Nationalität und zugleich als Eu-ropäer (55%) denn ausschließlich durch ihreeigene Nationalität (42%). Ausschließlich alsEuropäer betrachtet sich dagegen mit 3% le-diglich eine verschwindend kleine Minderheitder Befragten; nur in Luxemburg übersteigtdieser Anteil zehn Prozent. Auch die Kombi-nation, in der die europäische Identität vor dernationalen genannt wird, kommt nur sehr sel-ten vor.

Der Anteil der Personen, die sich nur über ihreeigene Nationalität definieren, variiert inner-halb der EU-25-Länder beträchtlich und reichtvon 30% in Zypern bis zu 65% in Ungarn. Einoffensichtliches Ländermuster ist dabei nichtzu erkennen: Zwar entsprechen manche Ein-stufungen – wie z.B. der hohe Anteil derjeni-gen, die sich ausschließlich mit der eigenenNationalität identifizieren, in Großbritannienund deren niedrige Anteile in den Benelux-Ländern – der Erwartung, doch sind alte undneue Mitgliedsländer, arme und reiche, nörd-liche und südliche, westliche und östliche überdas gesamte Spektrum vertreten. In Deutsch-

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An erster Stelle An zweiter Stelle An letzter Stelle

Grafik 1: Subjektive Zugehörigkeit zu Europa - in %

Datenbasis: European Values Study 1999/2000

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nur national national und europäisch nur europäisch

Grafik 2 Nationale und/oder europäische Identität – EU-25-Mitgliedsländer (2004)

Datenbasis: Eurobarometer 62, Herbst 2004

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land geben 37% der Befragten an, sich nur alsDeutscher zu sehen, 58% als deutsch und euro-päisch bzw. europäisch und deutsch sowie 5%als ausschließlich europäisch. Deutschland ge-hört damit zu den Ländern mit einer vergleichs-weise schwach ausgeprägten nationalen Identi-tät, was u.a. auch in dem von den Bürgern emp-fundenen Nationalstolz zum Ausdruck kommt,der in Deutschland schwächer als in allen ande-ren EU-25-Ländern ausgeprägt ist.

Kein Trend zu wachsender Identifikationmit Europa

Untersucht man, wie sich die Anteile der ver-schiedenen Identitätsvarianten im Zeitverlaufentwickelt haben (Grafik 3), so wird deutlich,dass von einem Trend hin zu einer wachsen-den Identifikation mit Europa – in dem hierbetrachteten Zeitraum von 1994 bis 2004 – inden EU-15-Ländern nicht gesprochen werdenkann. Vielmehr weisen die Anteilswerte – vonleichten Schwankungen abgesehen – eine hoheStabilität ohne erkennbare Veränderungsten-denzen im Zeitverlauf auf.4

Verbundenheit mit Europa schwächer alsmit Stadt, Region und Heimatland

Ein weiterer Indikator, der in den Eurobaro-meter-Surveys verwendet wird, misst, wiestark sich die Befragten den verschiedenen le-bensräumlichen Einheiten (Stadt, Region,Land, Europa) jeweils verbunden fühlen5, ohneaber den Befragten – wie es in der EuropeanValues Study geschieht – die Bildung einerRangordnung abzuverlangen. Wie die Vertei-lung der Antworten dokumentiert (Grafik 4),werden Gefühle der Verbundenheit, die voneiner großen Majorität mit allen diesen Ebe-nen artikuliert werden, von den Befragten inder Regel nicht als sich gegenseitig ausschlie-ßend angesehen. Dabei zeigt sich jedoch, dasssich die Europäer Europa im Durchschnitt derEU-25-Länder weniger verbunden fühlen als

ihrer Stadt, Region und ihrem Heimatland, dasmit einer Quote von über 90% den höchstenGrad an Verbundenheit erfährt.

Große Länderunterschiede in der subjekti-ven Verbundenheit mit Europa

Das Gefühl der Verbundenheit mit Europa isthingegen nicht nur deutlich schwächer ausge-prägt als das für die übrigen Ebenen, sondernvariiert darüber hinaus beträchtlich zwischenden Mitgliedsländern (Grafik 5). Die größtenAnteile von Personen, die sich mit Europa sehroder ziemlich verbunden fühlen, finden sichin Ungarn (91%), gefolgt von Polen (88%) undLuxemburg (83%). Am geringsten ausgeprägtist die Verbundenheit mit Europa dagegen inZypern (36%), Estland (42%) und Litauen(47%). Die EU-15-Länder mit den niedrigstenBevölkerungsanteilen, die sich Europa sehroder ziemlich verbunden fühlen, sind Grie-

chenland (49%) und Großbritannien (51%).Deutlich unter den genannten Werten liegendie Anteile derjenigen, die sich Europa ‚sehrverbunden‘ fühlen. Dieser Anteil liegt in eini-gen Ländern unter zehn Prozent und erreichtneben Ungarn (52%) in Luxemburg (35%) undMalta (30%) die höchsten Werte. Der Anteilder Bürger, die sich mit Europa ,überhauptnicht verbunden‘ fühlen, ist überwiegend klei-ner als der, die sich ,sehr verbunden‘ fühlen,erreicht aber in einigen Ländern – Zypern,Malta, Griechenland und Großbritannien – mitca. 15-20% beachtliche Größenordnungen.Eindeutige Ländermuster lassen sich auch ausder Rangfolge der durchschnittlichen Verbun-denheit mit Europa nicht erkennen. Betrach-tet man die früheren EU-15-Länder wird aberdeutlich, dass nicht nur in Großbritannien, dasdurch seine Skepsis gegenüber einer weitge-henden europäischen Integration bekannt ist,das Gefühl der Verbundenheit mit Europa ver-gleichsweise gering ausfällt, sondern auch inFrankreich und vor allem den Niederlanden –also den Ländern, in denen das Verfassungs-referendum jüngst gescheitert ist.

Stellt man die Frage nach der Verbundenheitmit Europa (Grafik 5) und die Frage, als wasman sich in naher Zukunft sieht (Grafik 2),gegenüber, so zeigt sich, dass die beiden Indi-katoren offensichtlich unterschiedliche Di-mensionen der Identifikation mit Europa er-fassen, die nicht in allen Ländern in der er-warteten Weise zusammenhängen, sonderndurchaus auch im Widerspruch zueinander ste-hen können. Extremfälle bilden dabei Ungarnund Zypern: Während die Ungarn – im Ver-gleich der EU-25-Länder – die höchste Ver-bundenheit mit Europa zum Ausdruck bringen,betrachten sie sich gleichzeitig – häufiger alsin jedem anderen europäischen Land –auschließlich als Angehörige ihrer eigenenNation und nicht als Europäer. In Zypern stelltsich die Situation umgekehrt dar: Hier ist derAnteil der Befragten, die sich nicht nur alsZyprioten definieren, sondern zugleich als

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Nur national National und europäisch Europäisch und national Nur europäisch

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Grafik 3: Nationale und/oder europäische Identität – EU-15-Länder (1994-2004)

Datenbasis: Eurobarometer 42 (1994) bis 62 (2004), Quelle: Eurobarometer 62 (2004): 94

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Verbunden Nicht verbunden

Datenbasis: Eurobarometer 62, Herbst 2004

Grafik 4: Subjektive Verbundenheit mit Europa im Vergleich zu anderen lebens-räumlichen Ebenen – EU-25-Länder (2004)

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Zyprioten und Europäer, größer als in jedemanderen europäischen Land, aber zugleich istdie Verbundenheit mit Europa hier im Durch-schnitt schwächer ausgeprägt als in allen ande-ren Ländern. Weitergehende Analysen ergebenallerdings, dass die beiden Indikatoren – auf derIndividualebene betrachtet – lediglich in Ungarnim Widerspruch zueinander stehen, wo sich dieBefragten unabhängig von ihrer Verbundenheitmit Europa mehrheitlich nur als Ungarn sehen.In Zypern nimmt dagegen – wie prinzipiell zuerwarten – der Anteil derjenigen, die sich nurals Zyprioten betrachten, mit wachsender Ver-bundenheit mit Europa ab, aber es sind jeweilsnur vergleichsweise kleine Bevölkerungsantei-le, die sich mit Europa verbunden und zugleichnur als Zyprioten betrachten. Die Betrachtungdieser beiden Extremfälle legt daher den Schlussnahe, dass die Fragen nach der Verbundenheitmit Europa und der nationalen bzw. europäi-schen Identität in unterschiedlichen nationalenKontexten unterschiedlich interpretiert und be-antwortet werden können.

Subjektive Verbundenheit mit Europa nimmtmit dem sozio-ökonomischen Status zu

Jenseits der Betrachtung von Ländermittelwer-ten stellt sich auch die Frage, von welchenMerkmalen eine mehr oder weniger ausge-prägte Identifikation mit Europa abhängt. Gra-fik 6 stellt dar, wie der Grad der subjektivenVerbundenheit mit Europa mit verschiedenensozio-ökonomischen Merkmalen und sozio-politischen Einstellungen für die Gesamtbe-völkerung der EU-15-Länder korrespondiert.

Offensichtlich variiert die Verbundenheit derBevölkerung mit Europa deutlich mit dem Bil-dungsniveau und der Einkommensposition:Personen mit höheren Bildungsabschlüssenfühlen sich Europa stärker verbunden als Per-sonen mit niedrigeren Abschlüssen und Per-sonen mit höheren Einkommen stärker als Per-sonen mit niedrigeren Einkommen.

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Sehr verbunden Ziemlich verbunden Nicht sehr verbunden Überhaupt nicht verbunden

Datenbasis: Eurobarometer 62, Herbst 2004

Grafik 5: Verbundenheit mit Europa in den EU-25-Ländern (2004)

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Grafik 6: Subjektive Verbundenheit nach sozio-ökonomischen Merkmalen und sozio-politischen Einstellungen – EU-15-Länder (2003)

Datenbasis: Eurobarometer 60.1, Herbst 2003

Noch deutlicher als mit sozio-ökonomischenMerkmalen variiert die Verbundenheit mit Eu-ropa jedoch mit sozio-politischen Einstellun-gen. Von herausragender Bedeutung ist dabeioffenbar die subjektive Beurteilung, ob daseigene Land von der EU-Mitgliedschaft pro-fitiert oder nicht. Während sich 71% derjeni-gen, die glauben, das eigene Land habe vonder EU-Mitgliedschaft profitiert, Europa sehroder ziemlich verbunden fühlen, sind es unterdenjenigen, die diese Frage negativ beantwor-ten, lediglich 46%. Zudem steigert das Ver-trauen in Parlament und Regierung die Ver-bundenheit mit Europa, und Personen, die imideologischen Spektrum weiter links stehen,tendieren eher dazu, sich Europa verbundenzu fühlen, als Personen, die sich in diesemSpektrum weiter rechts positionieren.

Überraschend mag der Befund erscheinen,dass Nationalstolz – d.h. die Artikulation vonStolz auf das eigene Land – die Identifikationmit Europa nicht mindert, sondern in der Re-gel sogar stärkt: Personen, die angeben, stolzauf ihr eigenes Land zu sein, fühlen sich stär-ker mit Europa verbunden als Personen, diekeinen Stolz für ihr Land empfinden.

Betrachtet man schließlich, wie die Verbun-denheit mit Europa mit der Verbundenheit mitder eigenen Stadt, Region und Nation zusam-menhängen (Grafik 7), so deuten die Ergeb-nisse darauf hin, dass derartige Identifikations-prozesse nicht als Nullsummenspiel zu be-trachten sind: Offensichtlich reduziert dasGefühl einer starken Verbundenheit mit dereinen lebensräumlichen Ebene nicht notwen-digerweise die Verbundenheit mit einer ande-ren. Personen, die sich mit ihrer Stadt, Regionoder Nation identifizieren, fühlen sich Euro-pa in aller Regel nicht weniger, sondern mehrverbunden als Personen, für die das nicht derFall ist. Die empirischen Befunde sind – min-destens soweit es die hier betrachtete Fragenach subjektiven Gefühlen der Verbundenheitangeht – daher kaum mit dem Konzept einer„entweder-oder-Identität“ zu vereinbaren, son-dern sprechen vielmehr eindeutig für die An-nahme multipler, sich gegenseitig verstärken-der Identitäten.

Nutzen der EU-Mitgliedschaft für das eigeneLand stärkster Prädiktor für subjektiveVerbundenheit mit Europa

Um Richtung und Stärke der Einflüsse der be-trachteten Faktoren auf die individuelle Verbun-denheit mit Europa näher bestimmen zu kön-nen, wurden die Daten für die EU-15-Ländereiner Regressionsanalyse unterzogen, in die dieo.g. sozio-ökonomischen und -politischen Va-riablen einbezogen wurden. Zudem wurden

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auch Dummyvariablen für die einzelnen Län-der berücksichtigt, um Ländereinflüsse und-abweichungen identifizieren zu können. Die Er-gebnisse bestätigen weitgehend die bereits dar-gestellen bivariaten Zusammenhänge: Im Ver-gleich zu Westdeutschland, das als Referenzka-tegorie gewählt wurde, fällt der Grad der Ver-bundenheit mit Europa in Großbritannien, denNiederlanden, Frankreich und Griechenlanddeutlich schwächer aus. Sozio-ökonomischeMerkmale – insbesondere Einkommen und Bil-dungsabschluss sowie der Erwerbsstatus – wir-ken sich signifikant positiv auf das Gefühl derVerbundenheit mit Europa aus, auch wenn sieinsgesamt nur vergleichsweise geringe Anteileder Varianz erklären. Insgesamt gilt dabei, jebesser die sozio-ökonomische Stellung einerPerson, desto stärker ist ihre Verbundenheit mitEuropa. Als der mit Abstand stärkste Prädiktorder Verbundenheit mit Europa erweist sich je-doch die Beurteilung der Befragten, ob das ei-gene Land von der Mitgliedschaft in der Euro-päischen Union profitiert oder nicht. DieserBefund deutet darauf hin, dass die subjektiveVerbundenheit der Bürger mit Europa eher überden Verstand, d.h. ökonomisch-rational6, gesteu-ert ist, als dass sie den Europäern eine Herzens-angelegenheit wäre.

Die Analysen bieten zudem Hinweise darauf,dass einige der berücksichtigten sozio-politi-schen Einstellungen – insbesondere die Posi-tion auf der Links-Rechts-Skala sowie derNationalstolz – in verschiedenen Ländern un-terschiedliche Effekte haben können. So zeigtsich beispielsweise, dass eine Position im lin-ken politischen Spektrum vor allem in Italienund Großbritannien das Gefühl der Europaver-bundenheit fördert, während das in Spaniendagegen eher für eine Position in der Mitte desSpektrums zutrifft. Anders als in allen ande-ren der hier betrachteten Länder wirkt sichNationalstolz zudem in Großbritannien nega-tiv auf die Europaverbundenheit aus: Wer aufdas eigene Land stolz ist, fühlt sich hier – an-

ders als in den restlichen Ländern – Europanicht mehr, sondern weniger verbunden.

Mit dem Titel dieses Beitrags ‚Kein Herz fürEuropa?‘ wird pointiert die Frage aufgewor-fen, inwieweit eine über rationale Einsicht indie faktischen Entwicklungen und politisch-ökonomische Kalküle hinausgehende affekti-ve Bindung an ein Europa der Bürger entstan-den und die Herausbildung mindestens einerzweiten Identität zu beobachten ist. Die hierpräsentierten Resultate aus zwei europaweitenSurveys deuten darauf hin, dass dies bishernoch wenig der Fall ist. Buchstäblich näher alsEuropa liegt den Bürgern in aller Regel ihrHeimatort, ihre Region und ihr eigenes Land.Dabei gibt es allerdings beachtliche Unter-schiede zwischen den verschiedenen europäi-schen Ländern. Bemerkenswert ist zudem, dassim Laufe des letzten – durch erhebliche Fort-schritte der politischen und ökonomischen In-tegration Europas geprägten – Jahrzehnts, dieIdentifikation der Bürger mit Europa nichtzugenommen hat. Eine in den meisten euro-päischen Ländern nach wie vor starke natio-nale Identität scheint durch die europäischenIntegrationsprozesse bisher nicht in Frage ge-stellt, überwiegend allerdings auch nicht alsbedroht angesehen zu werden.

1 Nähere Informationen zur European ValuesStudy finden sich auf der folgendenWebsite: http://www.europeanvalues.nl/

2 Nähere Informationen zu den Euro-barometer-Surveys finden sich auf den fol-genden Websites: http://europa.eu.int/comm/public_opinion/index_en.htm sowiehttp://www.gesis.org/en/data_service/eurobarometer/

3 Für Deutschland lautet der Fragetext: „Innaher Zukunft sehen Sie sich da nur alsDeutscher, als Deutscher oder Europäer,als Europäer und Deutscher oder nur alsEuropäer?“

4 Zur Entwicklung früherer Eurobarometer-

Indikatoren im Zeitverlauf vgl. Duchesne/Frognier (1995) und Scheuer (1999).

5 Für Deutschland lautet der Fragetext:„Man kann sich ja unterschiedlich verbun-den fühlen mit seinem Dorf oder seinerStadt, seiner Region, seinem Land oder mitEuropa. Bitte sagen Sie mir, wie stark Siesich verbunden fühlen mit Ihrem Dorf bzw.Ihrer Stadt, Ihrer Region, Deutschland,Europa: Sehr verbunden, ziemlich verbun-den, nicht sehr verbunden, überhaupt nichtverbunden.“

6 Zur Relevanz ökonomischer Rationalitätfür die Einstellungen der Bürger zu Euro-pa vgl. u.a. Marks/Hooghe 2003.

Duchesne, Sophie, Frognier, André-Paul,1995: Is there a European Identity? S. 193-226 in: Oskar Niedermayer, Richard Sin-not (Hg.), Public Opinion and Interna-tionalized Governance. Oxford: OxfordUniversity Press.

Europäische Kommission, 2004: Eurobaro-meter 62. Die öffentliche Meinung in derEuropäischen Union. Brüssel.

Marks, Gary, Hooghe, Liesbet, 2003: Natio-nal Identity and Support for European In-tegration. WZB Discussion Paper SP IV2003-202. Berlin.

Noll, Heinz-Herbert, 2005: Quality of Life andSocieties. European Heterogeneity and/orTransatlantic Devide. Präsentation in Rah-men der Tagung ‚Europe and NorthAmerica – Societies in Contrast‘. HanseWissenschaftskolleg Delmenhorst, 6.-9.März (www.gesis.org/en/social_monito-ring/social_indicators/Sources/presen-tation/US-Europe-Noll.pdf)

Risse, Thomas, 2000: A European Identity?Europeanization and the Evolution of Na-tion-State Identities. S. 198-216 in: M.G.Cowles, J. Caporaso, T. Risse (Hg.), Euro-peanization and Domestic Change. IthacaNY: Cornell University Press.

Risse, Thomas, Rieck, Christian, 2004: AnEmerging European Identity? What Weknow, And How To Make Sense Of It. Fo-rum Politikwissen.de (www.politikwis-sen.de/expertenforum/exp_risse304.html).

Scheuer, Angelika, 1999: A Political Com-munity? S. 25-46 in: Hermann Schmitt,Jacques Thomassen (Hg.), Political Repre-sentation and Legitimacy in the EuropeanUnion. Oxford: Oxford University Press.

Heinz-Herbert Noll und Angelika Scheuer,ZUMATel.: 0621 / 1246-241 und [email protected]@zuma-mannheim.de

Datenbasis: Eurobarometer 62, Herbst 2004

Grafik 7: Verbundenheit mit Europa nach Verbundenheit mit anderen Ebenen –EU-25-Länder (2004)