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NOAM CHOMSKY WAR AGAINST PEOPLE MENSCHENRECHTE UND SCHURKENSTAATEN Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt Europa Verlag Hamburg • Wien Originalausgabe »Rogue States. The Rule of Force in World Afifairs« Deutsche Erstausgabe © Europa Verlag GmbH Hamburg/Wien, September 2001 ISBN 3-203-76011-8 Inhalt I. Eine Galerie der Schurken -Wer gehört dazu? II. Schurkenstaaten III. Kuba und die US-Regierung: David gegen Goliath IV. Jubeljahr 2000 V. »Die Rechte zurückerlangen«: Ein dornenreicher Weg VI. Die Erblast des Kriegs VII. Sozioökonomische Souveränität Glossar Zeitschriften-Siglen Zitierte Bücher von Noam Chomsky Zum Autor I. Eine Galerie der Schurken- Wer gehört dazu? Wie viele andere Begriffe des politischen Diskurses wird der Terminus »Schurkenstaat« auf zweierlei Weise verwendet: zum einen propagandistisch, um ausgewählte Feinde zu kennzeichnen, zum anderen wörtlich, um damit Staaten zu beschreiben, die sich selbst an internationale Regeln und Abmachungen nicht gebunden fühlen. Die Logik läßt erwarten, daß die mächtigsten Staaten unter die zweite Kategorie fallen, sofern ihnen nicht innenpolitische Beschränkungen auferlegt werden. Diese Erwartung wird von der Geschichte bestätigt. Auch wenn internationale Regeln und Abmachungen nicht durchweg streng festgelegt sind, so gibt es doch ein gewisses Maß an Übereinstimmung, was allgemeine Richtlinien betrifft. In der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg sind diese Richtlinien zum Teil durch die UN-Charta, Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs und verschiedene Abkommen und Verträge kodifiziert worden. Die USA fühlen sich an diese Normen nicht gebunden und benötigen für deren Verletzung seit dem Ende des Kalten Kriegs, der ihnen die weltweite Vorherrschaft bescherte, nicht einmal mehr irgendwelche Vorwände. Diese Tatsache ist nicht unbemerkt geblieben. Im

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NOAM CHOMSKY

WAR AGAINST PEOPLEMENSCHENRECHTE UND SCHURKENSTAATENAus dem Amerikanischen von Michael HauptEuropa Verlag Hamburg • WienOriginalausgabe »Rogue States. The Rule of Force in World Afifairs«Deutsche Erstausgabe© Europa Verlag GmbH Hamburg/Wien, September 2001ISBN 3-203-76011-8

InhaltI. Eine Galerie der Schurken -Wer gehört dazu?II. SchurkenstaatenIII. Kuba und die US-Regierung: David gegen GoliathIV. Jubeljahr 2000V. »Die Rechte zurückerlangen«: Ein dornenreicher WegVI. Die Erblast des KriegsVII. Sozioökonomische SouveränitätGlossarZeitschriften-SiglenZitierte Bücher von Noam ChomskyZum Autor

I. Eine Galerie der Schurken- Wer gehört dazu?Wie viele andere Begriffe des politischen Diskurses wird derTerminus »Schurkenstaat« auf zweierlei Weise verwendet: zumeinen propagandistisch, um ausgewählte Feinde zukennzeichnen, zum anderen wörtlich, um damit Staaten zubeschreiben, die sich selbst an internationale Regeln undAbmachungen nicht gebunden fühlen. Die Logik läßt erwarten,daß die mächtigsten Staaten unter die zweite Kategorie fallen,sofern ihnen nicht innenpolitische Beschränkungen auferlegtwerden. Diese Erwartung wird von der Geschichte bestätigt.Auch wenn internationale Regeln und Abmachungen nichtdurchweg streng festgelegt sind, so gibt es doch ein gewissesMaß an Übereinstimmung, was allgemeine Richtlinien betrifft.In der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg sind dieseRichtlinien zum Teil durch die UN-Charta, Entscheidungen desInternationalen Gerichtshofs und verschiedene Abkommen undVerträge kodifiziert worden. Die USA fühlen sich an dieseNormen nicht gebunden und benötigen für deren Verletzungseit dem Ende des Kalten Kriegs, der ihnen die weltweiteVorherrschaft bescherte, nicht einmal mehr irgendwelcheVorwände. Diese Tatsache ist nicht unbemerkt geblieben. Im

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Mitteilungsblatt der American Society of International Law(ASIL; Amerikanische Gesellschaft für Internationales Recht)hieß es im März 1999, daß »das internationale Recht inunserem Land mittlerweile weniger hoch geachtet wird als zuirgendeiner anderen Zeit« in diesem Jahrhundert; und auch derHerausgeber der Fachzeitschrift der ASIL hatte kurz vorherbeklagt, daß Washingtons Nichtachtung vertraglicherVerpflichtungen »auf alarmierende Weise zugenommen«habe.1Das diesem Verhalten zugrundeliegende Prinzip wurde 1963von Dean Acheson formuliert, als er die ASIL darüber inKenntnis setze, daß die »Angemessenheit« einer Reaktion aufeine »Bedrohung ... der Macht, der Position und des Prestigesder Vereinigten Staaten ... kein Gegenstand des Rechts« sei.Das intitutionelle Recht, hatte er zu einem früheren Zeitpunkterklärt, ist nützlich, um »unsere Position mit einem Ethos zuvergolden, das aus höchst allgemeinen, in die Rechtslehreeingegangenen, Moralprinzipien abgeleitet ist«. Aber die USAsind daran nicht gebunden.2Acheson bezog sich mit seiner Bemerkung vor allem auf dieKuba-Blockade. Kuba ist seit vierzig Jahren eines derHauptziele US-amerikanischer Wirtschafts- und Terrorkriege -und war es schon vor der geheimen Entscheidung von 1960,die Regierung zu stürzen. Die kubanische Bedrohung wurdevon Arthur Schlesinger verdeutlicht, der in einem Bericht derLateinamerika-Mission an den zukünftigen PräsidentenKennedy zu folgenden Aussagen gelangte: Es sei »dieVerbreitung von Castros Idee, die Sache in die eigenen Händezu nehmen«, wodurch die »Armen und Unterprivilegierten« inanderen Ländern ermutigt würden, wie Schlesinger späterformulierte, »jetzt bessere Lebensbedingungen zu fordern«.Das wurde auch der »Viruseffekt« genannt. Damals stand derKalte Krieg im Vordergrund: »Die Sowjetunion hocktgleichsam in den Startlöchern, winkt mit beträchtlichenEntwicklungsgeldern und stellt sich als Modell dar, wie man dieModernisierung innerhalb einer Generation erreichen kann.« 3Es kann nicht überraschen, daß sich die US-Attacken nachdem Zerfall der Sowjetunion verschärften. Die Maßnahmenwurden weltweit verurteilt: durch die Vereinten Nationen, dieEuropäische Union, die Organisation amerikanischer Staaten(OAS) und ihre Rechtsinstitution, das Inter-American JuridicalCommittee, das ebenso wie die InteramerikanischeMenschenrechtskommission, einmütig die Verletzunginternationalen Rechts durch die USA anprangerte. Nur

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wenige zweifeln daran, daß die Maßnahmen der USA auchvon der Welthandelsorganisation (WTO) verurteilt werdenwürden, aber Washington hat unmißverständlich erklärt, daßman, dem Grundsatz von Schurkenstaaten folgend, alleeventuellen Verfügungen der WTO mißachten werde.Ein anderes bedeutsames Beispiel aus der jüngstenVergangenheit ist die Invasion indonesischer Streikräfte in Ost-Timor 1975. Indonesien wurde vom UN-Sicherheitsrataufgefordert, sich umgehend zurückzuziehen, schenkte demjedoch keine Beachtung. Die Gründe erklärte UN-BotschafterDaniel Patrick Moynihan in seinen 1978 erschienenenMemoiren:»Die Vereinigten Staaten wollten die Angelegenheit nach ihrenVorstellungen geregelt haben und taten alles dafür, um diesesZiel zu erreichen. Das Außenministerium wünschte, daßjegliche von den Vereinten Nationen ergriffenen Maßnahmenerfolglos blieben. Diese Aufgabe sollte ich übernehmen, undich habe sie mit nicht unbeträchtlichem Erfolg durchgeführt.«4Moynihan berichtet weiter, daß binnen zwei Monaten an die60 000 Menschen getötet wurden. Innerhalb der nächstenJahre stieg die Zahl der Ermordeten auf etwa 200 000, wobeiIndonesien in zunehmendem Maße militärische Unterstützungseitens der USA und, als die Grausamkeiten 1978 ihrenHöhepunkt erreichten, auch von Großbritannien erhielt. DieseUnterstützung währte bis 1999, als von den USA ausgebildeteund bewaffnete Kopassus-Kommandos ab Januar die»Operation Clean Sweep« organisierten, bis zum August(zuverlässigen kirchlichen Quellen zufolge) 3000 bis 5000Menschen töteten, später 750 000 -85 Prozent derBevölkerung - vertrieben und das Land praktisch zerstörten.Die Regierung Clinton blieb bei ihrer Haltung, dieAngelegenheit liege »in der Verantwortung der indonesischenRegierung, die wir ihr nicht abnehmen wollen«. Unterwachsendem innenpolitischen und internationalen (vor allemaustralischen) Druck deutete Washington den indonesischenGenerälen endlich an, daß jetzt Schluß gemacht werdenmüsse. Sie warfen daraufhin sehr schnell das Ruder herum undkündigten den Abzug ihrer Truppen an, was zeigt, daß dieUSA die, Macht hatten, schon sehr viel eher zu intervenieren.Die US-amerikanische Unterstützung dieser Aggressionerfolgte fast automatisch. Der mörderische und korrupteGeneral Suharto war, wie die Regierung Clinton erklärte,»unser Typ«. Das war er schon seit dem von ihm befehligtenMassaker von 1965 gewesen, das in den USA ungehemmte

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Euphorie ausgelöst hatte. Und das blieb er, während ergleichzeitig zu einem der Rekordhalter anMenschenrechtsverletzungen aufstieg und erst in Ungnade fiel,als er 1997 unter dem Druck harter ökonomischerRestrukturierungsprogramme, die der Weltwährungsfond demLand verordnet hatte, ins Stolpern kam. Das Muster ist nichtneu; ein anderer Großkiller, Saddam Hussein, wurde ebenfallsbei all seinen Greueltaten bestärkt und geriet erst insKreuzfeuer, als er Befehlen nicht gehorchte (oder siemißverstand). Die Reihe vergleichbarer Beispiele ist lang:Trujillo, Mobutu, Marcos, Duvalier, Noriega und viele andere.Verbrechen werden nicht bestraft, nur Ungehorsam.Die Massenmorde von 1965, deren Opfer zumeist Bauernohne Landbesitz waren, garantierten, daß Indonesien keineBedrohung à la Kuba sein würde — keine »Infektion«, diesich in ganz Südasien »nach Westen ausbreiten« würde, wieGeorge Kennan 1948 befürchtete, als er »das indonesischeProblem« für den »wichtigsten« Gesichtspunkt im »Kampfgegen den Kreml« hielt, der damals noch kaum abzusehenwar. Das Massaker wurde auch zur Rechtfertigung fürWashingtons Kriege in Indochina, die den Willen derindonesischen Generäle, ihre Gesellschaft zu säubern, gestärkthatten.5Die Vereinten Nationen zur »Erfolglosigkeit« zu verdammenwar eine Routineangelegenheit geworden, seitdem dieOrganisation im Zuge der Entkolonialisierung der US-amerikanischen Kontrolle entglitten war. Ablesen läßt sich dasunter anderem an der Zahl der im Sicherheitsrat eingelegtenVetos: Hier liegen die USA seit den sechziger Jahren an derSpitze, gefolgt von Großbritannien und, mit einigem Abstand,Frankreich. Abstimmungen in der Generalversammlung liefernein ähnliches Bild. Es gilt das Prinzip, daß eine internationaleOrganisation den Interessen der US-amerikanischen Politikdienen muß, wenn sie auf längere Sicht überleben will.Die Gründe für die Mißachtung internationaler Normenwurden von der Regierung Reagan näher erläutert, als derWeltgerichtshof sich mit Nicaraguas Vorwürfen gegen dieVereinigten Staaten beschäftigte. Außenminister George Shultzkanzelte alle ab, die »utopische, legalistische Mittel wie dieVermittlung von außen, die Vereinten Nationen, denWeltgerichtshof« befürworten »und zugleich den Machtfaktorin der Gleichung übersehen«. Der Rechtsberater desAußenministeriums, Abraham Sofaer, erklärte, daß die meistenStaaten der Welt »unsere Ansichten nicht teilen können« und

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die »Mehrheit oftmals bei wichtigen internationalen Fragen denVereinigten Staaten opponiert«. Folglich müssen wir uns »dieMacht [vorbehalten], darüber zu entscheiden«, wie wirhandeln und welche Angelegenheiten »im wesentlichen unterdie Jurisdiktion der Vereinigten Staaten, gemäß derEntscheidung der Vereinigten Staaten« fallen — hier waren esdie Aktionen, die der Weltgerichtshof als »ungesetzlicheAnwendung von Gewalt« gegen Nicaragua verurteilte.6Der Weltgerichtshof forderte Washington auf, von denGewaltmaßnahmen abzulassen und beträchtliche Reparationenzu zahlen, und verfügte überdies, daß alle Hilfsleistungen fürdie Söldnertruppen der Contras als militärische und nichthumanitäre Maßnahmen einzustufen seien. Daraufhin wurdeder Gerichtshof zum »feindlich gesonnenen Forum« (NewYork Times) erklärt, das sich durch diese Verurteilung derUSA unglaubwürdig gemacht habe. Diese eskalierten denKrieg vielmehr und verweigerten die gefordertenReparationszahlungen. Dann legten sie gegen eine Resolutiondes UN-Sicherheitsrats, die alle Staaten zur Einhaltunginternationaler Rechtsnormen aufforderte, ihr Veto ein undstimmten, praktisch völlig isoliert, gegen vergleichbareResolutionen der UN-Vollversammlung. Das alles wurde vonden US-Medien als unbedeutend erachtet und, wie dieoffiziellen Reaktionen, kaum erwähnt. Bis zum Sieg der USAgalt die Hilfe für die Contras als »humanitär«. 7Die Doktrin von den Schurkenstaaten blieb auch in Kraft, alsdie Demokraten ins Weiße Haus zurückkehrten. PräsidentClinton setzte die Vereinten Nationen 1993 davon in Kenntnis,daß die USA »multilateral [handeln werden], wenn möglich,und unilateral, wenn nötig« — eine Haltung, die ein Jahr spätervon der damaligen UN-Botschafterin Madeleine Albright und1999 von Verteidigungsminister William Cohen bekräftigwurde. Cohen erklärte, daß die USA zum »unilateralen Einsatzmilitärischer Macht« verpflichtet seien, um lebenswichtigeInteressen zu verteidigen. Dazu gehört »die Sicherunguneingeschränkten Zugangs zu Schlüsselmärkten,Energievorräten und strategischen Ressourcen« und natürlichalles andere, was für Washington in den Bereich der »eigenenRechtsprechung« fällt.8Neu an diesen Positionen ist nur, daß sie öffentlich gemachtwerden. Regierungsintern galten sie bereits seit dem Beginn derNachkriegsordnung für verbindlich. Das erste Memorandumdes neu gebildeten Nationalen Sicherheitsrats (NSC 1/3)forderte die militärische Unterstützung von

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Untergrundoperationen in Italien, die von einer nationalenMobilmachung in den USA begleitet werden sollten, »falls dieKommunisten durch legale Mittel die Vorherrschaft in deritalienischen Regierung erlangen sollten«. Die Unterminierungder Demokratie in Italien blieb bis in die siebziger Jahre ein mitgroßer Aufmerksamkeit verfolgtes Projekt.9Es ließen sich weitere Beispiele in großer Menge anführen,was den Rahmen dieser Ausführungen sprengen würde. Dazugehören nicht nur direkte Aggression, Subversion und Terror,sondern auch die Unterstützung solcher Methoden beiSatellitenstaaten: Israelische Angriffe auf den Libanon habenZehntausende von Toten gefordert und zu wiederholten MalenHunderttausende zu Flüchtlingen gemacht; die Türkei hat, alsNATO-Mitglied, massive ethnische Säuberungen und andereTerroraktionen durchgeführt, wozu die Regierung Clintondurch umfangreiche Waffenlieferungen beitrug, als dieVerbrechen gegen die Zivilbevölkerung ihren Höhepunkterreichten. 10Ebenfalls erwähnt werden muß die Anstachelung zuGewalttaten. Nachdem der von der Clinton-Regierungunterstützte Terror in der Türkei zunächst sein Ziel erreicht hat,ist ein anderer Staat zum führenden Empfänger US-amerikanischer Militärhilfe geworden (Israel und Ägyptenfallen in eine andere Kategorie). Der neue Spitzenreiter istKolumbien, einer der größten lateinamerikanischenMenschenrechtsverächter der neunziger Jahre, dem nun —und auch das folgt altbewährten Mustern -großzügigemilitärische Hilfsleistungen seitens der USA zukommen sollen.Der Beitrag der USA zur kolumbianischenSchreckensgeschichte geht auf die Regierung Kennedy zurück.Eine der bedeutsamsten Hinterlassenschaften dieser Regierungwar ihre 1962 getroffene Entscheidung, die Aufgabe deslateinamerikanischen Militärs von der »Verteidigung derHemisphäre« auf die »innere Sicherheit« zu verlagern undparallel dazu die Mittel und Ausbildungsmöglichkeitenbereitzustellen. Charles Maechling, der von 1961 bis 1966 denPlanungsstab für innere Verteidigung und Anti-Guerilla-Aktivitäten (counterinsurgency) leitete, hat beschrieben, wiediese historische Entscheidung dazu führte, daß aus derDuldung »der Raubgier und Grausamkeit deslateinamerikanischen Militärs« die »direkte Komplizenschaft«mit »von Himmlers Todeskommandos übernommenenMethoden« wurde. Die Folgen müssen nicht weiter erläutertwerden; sie wirken fort, auch nachdem der Staatsterror seine

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unmittelbaren Ziele erreicht hat. Eine von Jesuiten geförderteKonferenz, die 1994 in San Salvador abgehalten wurde,verwies vor allem auf die langfristigen Auswirkungen dieser»Kultur des Terrors, die darauf abzielt, die Hoffnungen derMehrheit auf Alternativen zu den Vorstellungen derHerrschenden zu zähmen.« Auch das ist nicht neu, sondern eineinflußreicher Faktor der Menschheitsgeschichte bis in dieheutige Zeit. 11So ziemlich das gleiche gilt für andere Teile des »Südens«.1958 dirigierte Präsident Eisenhower eine der umfangreichstenGeheimoperationen der USA, die darauf abzielte, dieparlamentarischen Institutionen Indonesiens auszuhebeln,wodurch dem massiven Terror der folgenden vierzig Jahre derBoden bereitet wurde. Zugleich hintertrieb Washington dieersten (und letzten) freien Wahlen in Laos, unterstützte einenAngriff auf Kambodscha, unterminierte die Regierung in Burmaund intensivierte den Terrorkrieg des Satellitenregimes inSüdvietnam, der von Kennedy ein paar Jahre später zumdirekten Aggressionskrieg ausgeweitet wurde. In jedem Fallewaren die langzeitigen Auswirkungen katastrophal. 12Um ihr Gesetz allen anderen aufzwingen zu können, muß eineSchurken-Supermacht »Glaubwürdigkeit« bewahren: Wernicht kuscht, wird bestraft. Damit wird staatliche Gewaltgerechtfertigt, und »Glaubwürdigkeit« war das einzig plausibleArgument für die Bevorzugung des Kriegs gegenüber anderenMitteln im Fall Kosovo zu Beginn des Jahres 1999. Vorgeblichwar es die »Glaubwürdigkeit der NATO«, die auf dem Spielstand, aber wer meinte wirklich, es sei die Glaubwürdigkeitvon Belgien oder Italien, die den potentiell ungehorsamenElementen hätte eingebleut werden müssen? Diese Elementewaren »Schurken« in der propagandistischen Verwendung desBegriffs: die »Abweichler, die Trägen, die Missetäter«, die»unordentlichen« Elemente in der Welt, die denselbsternannten »aufgeklärten Staaten« das Recht aufGewaltanwendung absprechen, wo und wann immer diese sie»für gerechtfertigt halten« und dabei die »restriktiven altenRegeln« über Bord werfen, um »modernen Begriffen vonGerechtigkeit« zu folgen, die sie sich je nach Bedarfzurechtmodeln. 13»Glaubwürdigkeit« ist auch bei der langfristigen Planung einbestimmender Faktor, der, um ein Beispiel zu nennen, in einer1995 vom Strategischen Kommando der USA(STRATCOM) erstellten Untersuchung zur »Abschreckung inder Ära nach dem Kalten Krieg« eine Rolle spielt.

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Washingtons »Abschreckungsstrategie«, so heißt es dort,müsse »überzeugend« und von den Führern von»Schurkenstaaten« sofort erkennbar sein. Die USA solltensich »das ganze Spektrum an Reaktionen«, insbesonderedurch Nuklearwaffen, offenhalten, weil »im Unterschied zuchemischen oder biologischen Waffen die von einer nuklearenExplosion hervorgerufene Zerstörung unmittelbare Wirkungzeigt und kaum durch irgendwelche Gegenmaßnahmeneinzudämmen ist«. Bioterrorismus mag eine Waffe derSchwachen sein, die mächtigen Schurkenstaaten jedochbevorzugen wirksamere Methoden, um Angst, Schrecken undZerstörung zu verbreiten. »Obwohl wir Nuklearwaffenwahrscheinlich [sic!] nur einsetzen werden, wenn es sich umProbleme von größter nationaler Bedeutung oder umExtremfälle handelt, werfen solche Waffen ihren Schatten überalle Krisen und Konflikte.« Zudem »sollten diePlanungsstrategen bei der Entscheidung darüber ... was derGegner am meisten wertschätzt, nicht zu rational vorgehen«,vielmehr muß alles zum Zielobjekt werden können. »Esschadet uns, wenn wir uns als allzu vernünftig und kaltblütigdarstellen.« »Daß die USA irrational und rachsüchtig werdenkönnen, wenn man ihre Lebensinteressen bedroht, sollte zumnationalen Charakterbild gehören, das wir von uns vermitteln.«Für unsere strategische Haltung ist es »günstig«, wenn »einigeElemente den Anschein erwecken, »außer Kontrolle« geratenzu können«.Während die Zerstörung mittels Nuklearwaffen die bevorzugteArt ist, über Krisen und Konflikte »einen Schatten zu werfen«,sollten technisch weniger aufwendige Optionen nichtunberücksichtigt bleiben. STRATCOM propagiert auch die»kreative Abschreckung«, »eine scharfsichtige Einschätzungder Werte einer Kultur, die nutzbar gemacht werden können,um eine Botschaft der Abschreckung zu vermitteln«. EinBeispiel wird als Modell vorgeschlagen: Als im LibanonSowjetbürger entführt und umgebracht wurden, »schickten dieSowjets dem Führer der revolutionären Organisation einPaket, das einen einzelnen Hoden enthielt - den seines ältestenSohns«. Durch die geschickte Vermischung »kreativer« undnuklearer Abschreckungsstrategien sollten, vor demHintergrund der von den salvadorianischen Jesuitenbeschriebenen »Kultur des Terrors«, die potentiellenStörenfriede der guten Ordnung in Schach gehalten werdenkönnen.

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Diese Logik würde jedem Mafiaboß einleuchten. In der einenoder anderen Form findet sie in jedem von Macht undHerrschaft bestimmten System ihren Ort, und es dürfte wohlkaum verwundern, daß auch der globale Zwingherr einegeeignete Version entworfen hat, die er, wo es erforderlich ist,zur Geltung bringt. Das ist der vernünftige Weg, um das vonWinston Churchill in seinen Reflexionen über die Gestalt derNachkriegswelt skizzierte Ideal zu erreichen:»Die Herrschaft über die Welt muß den saturierten Nationenanvertraut werden, die über das hinaus, was sie besitzen, keineweiteren Bedürfnisse mehr haben. Läge die Weltregierung inden Händen von hungrigen Nationen, gäbe es immer Gefahren.Aber von uns hätte keiner einen Grund, mehr zu wollen. DerFrieden würde von Völkern bewahrt, die ohne Ehrgeiz und mitihrem Leben zufrieden sind. Unsere Macht würde uns denanderen überlegen machen. Wir wären wie reiche Leute, diefriedlich in ihren Besitzungen leben.« 14In der Welt nach dem Kalten Krieg hat sich, so das Pentagon,die »Abschreckungsstrategie« vom »waffenreichen Milieu«der feindlichen Supermacht auf das »an Zielobjekten reicheMilieu« des Südens verlagert, das in Wirklichkeit schonwährend des Kalten Kriegs das hauptsächliche Ziel von Terrorund Aggression gewesen ist. Nuklearwaffen »scheinen in derabsehbaren Zukunft zum zentralen Faktor der strategischenAbschreckung zu werden«, folgert der STRATCOM-Bericht.Die USA sollten daher ihre Politik des »Verzichts auf einenErstschlag« überdenken und den Gegnern klar machen, daßdie »Reaktion« auf eine Bedrohung auch »präemptiv« seinkönne. Ebenso sollte man das erklärte Ziel des Vertrags überdie Nichtverbreitung von Atomwaffen ablehnen und keinen»negativen Sicherheitszusagen« zustimmen, die den Einsatz vonNuklearwaffen gegen Nicht-Nuklearstaaten, die diesenVertrag unterzeichnet haben, verbieten. 1995 scheiterte einesolche Sicherheitszusage an internen Planungen und anderenRegierungsverordnungen, wodurch die Strategie des KaltenKriegs im wesentlichen beibehalten wurde, was im übrigenauch für andere Zielobjekte gilt. 15Nebenbei sei bemerkt, daß nichts von all dem Besorgnis oderauch nur einen Kommentar hervorruft.Während des Kalten Kriegs war »Kommunismus« der gängigeVorwand für Terror und Aggression; im übrigen, wie dieOpfer erkennen mußten, ein hochflexibler Begriff, der vorallem die drohende »Infektion« durchUnabhängigkeitsbestrebungen betraf. Dabei geriet neben

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Italien auch Indonesien ins Visier, dessen Regierung als zudemokratisch empfunden wurde, weil sie sogar einer Partei derLinken, der KP Indonesiens, die Beteiligung gestattete. Dieindonesische KP wurde »von großen Teilen der Bevölkerungnicht als revolutionäre Partei unterstützt, sondern alsOrganisation, die die Interessen der Armen verteidigte« und»ihre Massenbasis in der armen Bauernschaft« fand, wie deraustralische Indonesienexperte Harold Crouch berichtet. DieRussen hatten dabei, wie Eisenhower »laut brüllend« in einerinternen Diskussion betonte, ihre Hand nicht im Spiel. 16Die indonesische KP war prochinesisch, aber 1965, als siezerschlagen und ihre Anhängerschaft massakriert wurde, warenRußland und China alles andere als Verbündete. Wie dieAngst vor China geschürt wurde, zeigt sehr gut denopportunistischen Charakter der Propaganda im Kalten Krieg.Als das US-Außenministerium sich entschloß, Frankreich beider Rückeroberung seiner ehemaligen Kolonie zu unterstützen,wurde der US-Geheimdienst instruiert, zu »beweisen«, daßHo Chi Minh ein Agent des Kreml oder von »Peiping« sei.Allerdings konnten weder für das eine noch für das andere»Beweise« gefunden werden, was dann, in einer derkomischeren Episoden in der Geschichte des Geheimdienstes,als Zeichen dafür gewertet wurde, daß der ins Visiergenommene Feind doch nur ein Sklave seiner ausländischenHerren sein konnte. 17 Moynihan rechtfertigte die US-amerikanische Unterstützung der indonesischen Greueltaten inOst-Timor mit der Unterstützung der Widerstandsbewegungdurch China - völlig absurd, aber es zeigt, daß die politischeDoktrin irgendein Element des Kalten Kriegs braucht, umderlei zu legitimieren.Die Bedeutung von Moynihans Hinweis auf China erscheint inihrem richtigen Licht, wenn man Vorgänge betrachtet, die sichvier Jahre zuvor und vier Jahre danach ereigneten. Es gehtdabei um die Reaktion der USA auf die zwei wichtigsten(vielleicht einzigen) Beispiele für militärische Interventionennach dem Zweiten Weltkrieg, die tatsächlich humanitäreFolgen hatten: Indiens Einmarsch in Ost-Pakistan(Bangladesch) 1971 und der Sturz des Pol-Pot-Regimes achtJahre später durch den Einmarsch vietnamesischer Truppen inKambodscha. Beide Interventionen wurden von Washingtonscharf kritisiert, und in beiden Fällen ging es um diefreundschaftlichen Beziehungen der USA zu China. Einoffensichtlicher Grund für die wütende Reaktion auf dieindische Invasion, die der Beendigung umfangreicher Massaker

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diente, war offensichtlich die Befürchtung, daß dadurch der alsPR-Aktion geplante Überraschungsbesuch Kissingers inPeking gefährdet werden könnte. Vietnams Verbrechen, dieGreueltaten der Roten Khmer zu beenden, wurde mit einemvon den USA unterstützten Einfall chinesischer Truppenbestraft, während Washington zugleich dem vertriebenen Pol-Pot-Regime diplomatische und militärische Unterstützunggewährte.Im Kalten Krieg ließen sich Vorwände immer finden undhatten, zumal vor dem Hintergrund der Konstellationenzwischen den Großmächten, bisweilen auch eine gewissePlausibilität. Aber bei näherem Hinsehen zeigt sich zumeist,daß andere Faktoren ausschlaggebend waren, wie beiIndonesien, Kuba und Indochina - eine Tatsache, die mitunterzugegeben wird, wenn die vorgeblichen Begründungen voneinst sich nicht mehr halten lassen. Als die Regierung GeorgeBush im März 1990 ihren ersten Verteidigungshaushalt nachdem Ende des Kalten Kriegs beantragte, forderte sie dieAufrechterhaltung der hauptsächlichen Interventionsstreitkräftefür den Mittleren Osten, wo »die Bedrohung unsererInteressen ... nicht dem Kreml in die Schuhe geschobenwerden kann«, was die Propaganda indes die ganzenJahrzehnte vorher behauptet hatte.18Als die USA Guatemalas kurzes Experiment mit derDemokratie durch eine Militärinvasion beendeten, der vierzigJahre des Schreckens folgen sollten, äußerte man sich intern(nicht aber öffentlich) besorgt darüber, daß »die Sozial- undWirtschaftsprogramme der gewählten Regierung denErwartungen [der Arbeiter- und Bauernschaft] entsprechen«und »bei den meisten politisch bewußten Guatemalteken großeUnterstützung finden«. 19 Überdies ist Guatemalas»Agrarreform eine machtvolle Propagandawaffe; diesesumfassende Sozialprogramm, das den Arbeitern und Bauernzum siegreichen Kampf gegen die oberen Klassen und großeausländische Unternehmen verhelfen soll, findet bei derBevölkerung der mittelamerikanischen Nachbarstaaten, dieähnliche Bedingungen aufweisen, großen Anklang.« 20Diese äußerst gefährliche Bedrohung der Ordnung wurde mitvierzig Jahren Gewalt und Mord im Keim erstickt.Solche Handlungsweisen durchziehen die Dokumente zur US-amerikanischen Außenpolitik wie ein Refrain.Dementsprechend wird diese Politik, mit einigen taktischenAbwandlungen, auch nach dem Kalten Krieg fortgesetzt. 1991machten sich die Vereinigten Staaten unverzüglich daran, Haitis

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hoffnungsvolles Experiment mit der Demokratie ins Gegenteilzu verkehren, unterminierten dann das von der OASbeschlossene Embargo, während die Militärjunta folterte undmordete, und brachten schließlich den gewählten Präsidentenunter der Bedingung ins Amt zurück, daß er die Politik seinesvon Washington favorisierten Vorgängers übernähme, der inden Wahlen von 1990 nur 14 Prozent der Stimmen erhaltenhatte. Die danach geführten Debatten kreisten um die Frage,ob diese »humanitäre Intervention« zur Verteidigung derDemokratie politisch klug gewesen sei 21.In Relation zu wirklich groß angelegten Aggressions- undTerrorunternehmungen geraten derlei Aktionen, die, vonanderen Staaten durchgeführt, als schwere Verbrechenverurteilt würden, zu bloßen Fußnoten. So wurden zumBeispiel bei dem schlimmsten Terrorakt von 1985, auf demHöhepunkt der Kampagne gegen den »internationalenTerrorismus«, bei einem von der CIA eingefädeltenBombenattentat auf einen Muslim-Führer 80 Libanesengetötet. 1998 wurde in einem armen afrikanischen Land, demSudan, die Hälfte der pharmazeutischen Vorräte vernichtet.Wie viele Tote diese Aktion gekostet hat, bleibt unbekannt,weil Washington eine UN-Untersuchung blockierte. DieHerausgeber der New York Times hielten das Vorgehen fürlegitim, weil die USA »das Recht haben, mit militärischerGewalt gegen Fabriken und Ausbildungslager vorzugehen, indenen terroristische Angriffe gegen amerikanische Zielevorbereitet werden« (oder auch nicht).22 Die Reaktion wärevermutlich eine andere, wenn islamische Terroristen die Hälfteder pharmazeutischen Vorräte in den USA, Israel oder einemanderen bevorzugten Staat zerstören würden.Diese und andere Beispiele von terroristischenVergeltungsschlägen fallen unter die Kategore der »kreativenAbschreckung«.Was solche Methoden an Menschenleben fordern, läßt sichüberhaupt nicht berechnen, aber für wirklich mächtigeSchurkenstaaten spielen Verbrechen keine Rolle. Sie werdenaus der Geschichte gestrichen oder in gute Absichten verkehrtund verklärt, die leider schiefgegangen sind. Für die öffentlichgerade noch zulässige Kritik begann der Krieg gegenSüdvietnam, später gegen ganz Indochina, mit »fehlerhaftenVersuchen, Gutes zu tun«, obwohl »schon 1969« deutlichwurde, daß »die Intervention ein katastrophaler Fehlergewesen war«, weil die USA »eine Lösung nur zu einem Preishätten durchsetzen können, der für sie zu hoch ausgefallen

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wäre«. Robert McNamaras Entschuldigung für den Kriegrichtete sich an die Amerikaner und wurde von den Falken alsVerrat verurteilt, von den Tauben dagegen als höchstverdienstvoll und mutig gefeiert: Wenn Millionen von Leichendie Überreste der von unseren Angriffen zerstörten Länderbedecken, während immer noch weitere Menschen durchSpätzünder von Landminen und Bomben und an den Folgenchemischer Kriegführung sterben, geht uns das nichts an undverlangt keine Entschuldigung, geschweige dennReparationszahlungen oder Kriegsverbrechertribunale. 23Ganz im Gegenteil. Die USA werden als Anführer der»aufgeklärten Staaten« gerühmt, die Gewalt anwenden dürfen,wann immer sie es für richtig halten. In den Jahren der Clinton-Regierung ist die US-Außenpolitik in eine »noble Phase«eingetreten und trägt der New York Times zufolge so etwaswie einen »Heiligenschein«. Amerika ist »auf der Höhe seinesRuhms« angelangt, unbefleckt von internationalen Verbrechen,von denen nur einige wenige erwähnt wurden.24Schurkenstaaten mit innenpolitischer Freiheit — und hierbefinden sich die USA an der äußeren Grenze — müssen sichauf die Bereitwilligkeit der gebildeten Schichten verlassen,Loblieder zu singen und schreckliche Verbrechen zu leugnenoder zu tolerieren. Auch darüber gibt es Dokumente in großerAnzahl, die an anderer Stelle ausführlich gewürdigt wurden.Sie dürften nicht allzu viel Stolz hervorrufen.

Anmerkungen1 American Society of International Law (ASIL) Newsletter(März/April 1999); Detlev Vagts, »Taking Treaties LessSeriously«, »Editorial Comments«, American JournalofInternational Law 92:458 (1998).2 Proceedings of the American Society of International Law13,14 (1963), zit. nach Louis Henkin, How Nations Behave(Council on Foreign Relations, Columbia Univ., 1979), S.333f.; 1961 Acheson Report (Kennedy Library), zit. nachMarc Trachtenberg, »Intervention in Historical Perspective«,in Laura Reed und Carl Kaysen (Hg.), Emerging Normsofjustified Intervention (American Academy of Arts andSciences, 1993).3 »American Republics«, Bd. XII von Foreign Relations oftheUnited States (US Dept. of State, 1961-63), S. 13f., 33.4 Daniel Patrick Moynihan, A Dangerous Place (Little, Brown,1978).5 »"Green Light" for War Crimes«, in R. Tanter, M. Seiden

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und S. Shalom (Hg.), East Timor, Indonesia, and the WorldCommunity (Rowman & Littlefield, 2000) sowie mein Buch .ANew Generation Draws tbe Line.6 George Shultz, »Moral Principles and Strategie Interests«,Vortrag an der Kansas State University vom 14. April 1986;ersch. in US Dept. of State, Bureau of Public Affairs, CurrentPolicy 820; Abraham Sofaer, »The United States and theWorld Court« (Erklärung vor dem Senate Foreign RelationsCommittee, Dez. 1985), ersch. in Current Policy 769. Vgl.Chomsky »Consens Without Consent«: Reflections on theTheory and Practice of Democracy«, in ClevelandStateLawReview 44.4 (1996).7 Zur Entscheidung des Weltgerichtshofs, den Reaktionendarauf und den Nachwirkungen vgl. Chomsky, NecessaryIllusions, Kap. 4.8 Bill Clinton, Rede vor der UN-Generalversammlung vom 27.Sept. 1993; William Cohen, Annual Report to the Presidentand Congress: 1999 (US Dept. of Defense, 1999), zit. nachJonathan Bach und Robert Borosage, in Martha Honey undTom Barry (Hg.), Global Focus (St. Martin's, 2000), 180, 10.Madeleine Albrights Erklärung, daß die USA in Gegenden,»die wir... als lebenswichtig für die nationalen Interessen derUSA erachten ... multilateral handeln, wenn wir es können, undunilateral, falls wir es müssen«, zit. nach Jules Kagian, MiddleEast International, 21. Okt. 1994.9 Weitere Einzelheiten in Chomsky, Deterring Democracy,Kap. 11 und die dort zitierten Quellen.10 Zum Libanon vgl. Chomsky, Fateful Triangle. Zur Türkeivgl. Chomsky, The New Military Humanism, Kap. 3 und 5.11 Vgl. Chomsky, World Orders OldandNew, Kap. 1; sowieChomsky, Rethinking Camelot.12 Audrey Kahm und George Kahin, Subversion äs ForeignPolicy (New Press, 1995).13 Michael Glennon, »The New Interventionism«, ForeignAffairs (Mai/Juni 1999).14 Winston Churchill, The Second World War, Bd. 5(Houghton Mifflin, 1951), S. 382.15 Zu Quellen und ausführlicheren Zitaten vgl. Chomsky, TheNew Military Humanism, Kap. 6. Vgl. auch Defense Monitor(Washington DC: Center for Defense Information), XXIX.3,2000.16 Vgl. Chomsky, Powers and Prospects, Kap. 7.17 Vgl. Chomsky, Aus Staatsräson zu den »Pentagon Papers«und einer ihrer wenigen Überraschungen.

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18 Eine umfassendere Erörterung findet sich in Chomsky,World Orders Old andNew,Ka.p. 1.19 Umfangreichere Zitate aus den offiziellen Dokumentenfinden sich in Chomsky, Necessary Illusions, S. 263f. sowie inChomsky, Deterring Democracy, S. 262f.20 Zit. nach Piero Gleijeses, Shattered Hope (Princeton,1991), S. 365.21 Vgl. Chomsky, Wirtschaft und Gewalt, Kap. 8 sowieChomsky, Profit OverPeople, Kap. 4 und die dort zitiertenQuellen.22 Zum Libanon vgl. Chomsky, »International Terrorism:Image and Reali-ty«, in A. George (Hg.), Western StateTerrorism (Polity-Blackwell, 1991). Zum Sudan vgl. ColumLynch, BG, 24. Sept. 1998; Patrick Wintour, LondonObserver, 20. Dez. 1998; NYT, 28. August 1998.23 Anthony Lewis, NYT, 21. und 24. April 1975; 27. Dez.1979. Zu McNama-ras In Retrospect und die Reaktionendarauf vgl. Chomsky, »Memories«, in 2 Magazine, Juli/Aug.1995 sowie Chomsky, »Hamlet Without the Prince«, inDiplomatie History 20:3 (1996).24 Glennon, »New Interventionism«; Sebastian Mallaby, NYTBook Review, 21. Sept. 1997; David Fromkin, KosovoCrossing (Free Press, 1999), S. 196.

II. SchurkenstaatenSeit einiger Zeit spielt der Begriff »Schurkenstaat« in derpolitischen Planung und Analyse eine herausragende Rolle. DieIrak-Krise vom April 1998 ist dabei nur eines der jüngerenBeispiele. Washington und London haben den Irak zum»Schurkenstaat« erklärt: Er sei eine Bedrohung für seineNachbarn und die gesamte Welt, eine »Verbrechernation«,deren Führer, ein neuer Hitler, der von den beiden Hütern derWeltordnung, nämlich den Vereinigten Staaten und ihrem»Juniorpartner« - wie sich das britische Außenministerium voreinem halben Jahrhundert wehmütig ausdrückte -1, in dieSchranken gewiesen werden muß.Der Begriff »Schurkenstaat« verdient eine nähereUntersuchung. Aber zunächst wollen wir sehen, wie er in derIrak-Krise verwendet wurde.

Die Irak-Krise

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Das interessanteste Merkmal der Diskussion über die Irak-Krise ist, daß sie gar nicht geführt wurde. Zwar wurden vieleWorte gewechselt, und es gab Auseinandersetzungen über dieVorgehensweise, aber die Grenzen der Diskussion waren soeng gezogen, daß das Offenkundigste außer Betracht blieb:Die Vereinigten Staaten und Großbritannien hätten gemäßihren Gesetzen und vertraglichen Verpflichtungen handelnmüssen.Den für solche Fälle vorgesehenen gesetzlichen Rahmen bildetdie Charta der Vereinten Nationen. Dieser »formelle Vertrag«ist die anerkannte Grundlage der Weltordnung und desinternationalen Rechts und gilt in der US-amerikanischenVerfassung als »höchstes Gesetz des Landes«.In der UN-Charta heißt es, daß »der Sicherheitsrat in jedemeinzelnen Fall feststellt, ob der Frieden bedroht ist odergebrochen wurde oder eine Angriffshandlung vorliegt. Erschlägt vor oder beschließt, welche Maßnahmen inÜbereinstimmung mit den Artikeln 41 und 42 zu ergreifensind.« Diese Artikel präzisieren diejenigen »Maßnahmen, diekeine Anwendung von Waffengewalt vorsehen« und erlaubendem Sicherheitsrat, weitergehende Schritte zu veranlassen, fallser gewaltlose Maßnahmen für unzureichend hält. Die einzigeAusnahme bildet Artikel 51, der Staaten das »Recht aufindividuelle oder kollektive Selbstverteidigung« gegen»bewaffnete Angriffe« einräumt, »bis der Sicherheitsrat die zurAufrechterhaltung des internationalen Friedens und derinternationalen Sicherheit notwendigen Maßnahmen ergriffenhat«. Davon abgesehen sollen sich die Mitgliedsstaaten »inihren internationalen Beziehungen der Androhung oderAnwendung von Gewalt enthalten«.Es gibt also rechtliche Mittel, um den vielfältigen Bedrohungendes Weltfriedens zu begegnen. Wenn sich die Nachbarstaatendes Irak bedroht fühlen, können sie den Sicherheitsrat bitten,geeignete Maßnahmen gegen die Bedrohung in die Wege zuleiten. Dasselbe gilt für die USA und Großbritannien. Doch hatkein Staat das Recht, in dieser Hinsicht selbständig zuentscheiden und nach eigenem Gutdünken zu handeln; dieUSA und Großbritannien hätten auch dann nicht das Recht,wenn sie mit sauberen Händen dastünden - was nicht der Fallist.Verbrecherstaaten wie etwa Saddams Irak oder die USAakzeptieren diese Bedingungen nicht. Ohne große Umschweifemachte die damalige UN-Botschafterin, Madeleine Albright,die Haltung der Vereinigten Staaten klar: Schon anläßlich einer

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früheren Konfrontation zwischen den USA und dem Irak hattesie den Sicherheitsrat davon in Kenntnis gesetzt, daß »wirmultilateral handeln, wenn wir es können, und unilateral, sofernwir es müssen«, weil »wir diesem Gebiet im Hinblick auf dienationalen Interessen lebenswichtige Bedeutung einräumen«und daher keine von außen kommenden Einschränkungenakzeptieren. Sie bekräftigte diese Haltung, als UN-Generalsekretär Kofi Annan im Febraur 1998 zum Zweckdiplomatischer Vermittlungsbemühungen nach Bagdad reiste.»Wir wünschen ihm alles Gute«, bemerkte sie, »und wenn erzurückkommt, werden wir sehen, ob sich das, was ermitbringt, mit unserem nationalen Interesse vereinbaren läßt«,und davon wiederum hängt ab, wie wir reagieren. Als Annanmitteilte, es sei eine Übereinkunft erzielt worden, wiederholteAlbright lediglich: »Möglicherweise kommt er mit etwaszurück, das nicht unseren Vorstellungen entspricht. In diesemFall werden wir unser nationales Interesse verfolgen.« Sollteder Irak, so verkündete seinerzeit Präsident Clinton, den (vonWashington festgelegten) Bedingungen nicht entsprechen,»würde jeder verstehen, daß in einem solchen Fall dieVereinigten Staaten und, wie wir hoffen, alle unsereVerbündeten, das unilaterale Recht hätten, selbst zuentscheiden, wann, wo und wie wir reagieren werden«,nämlich wie andere gewalttätige und gesetzlose Staaten. 2Der Sicherheitsrat befürwortete das von Annan ausgehandelteAbkommen einstimmig und wies Forderungen Großbritanniensund der USA, sie zur Anwendung von Gewalt zu ermächtigen,sollte der Irak sich nicht an die Verpflichtungen halten, zurück.Die Resolution drohte mit »härtesten Konsequenzen«, ohneindes deren Beschaffenheit näher zu spezifizieren. Imentscheidenden Schlußparagraphen »beschließt [derSicherheitsrat], in Übereinstimmung mit seinen in der Chartafestgelegten Pflichten, sich mit der Angelegenheit weiter aktivzu befassen, um die Durchführung dieser Resolution sowieFrieden und Sicherheit in dem betreffenden Gebiet zugewährleisten« - einzig und allein der Sicherheitsrat, inÜbereinstimmung mit der Charta.Die Tatsachen waren klar und eindeutig. Schlagzeilen lauteten:»Keine Unterstützung für automatischen Angriff« (Wall StreetJournal), »UN weisen USA zurecht: Keine Drohungen beiVertragsbruch durch den Irak« (New York Times) usw.Großbritanniens UN-Botschafter »versicherte seinen Kollegenim Rat bei einem vertraulichen Gespräch, daß die Resolutionden Vereinigten Staaten und Großbritannien nicht das Recht

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auf »automatische Angriffe« gegen den Irak zugestehe«, fallsdieser UN-Delegationen bei der Suche nach chemischenWaffen behindere. Die Haltung des Sicherheitsratsverdeutlichte der Botschafter von Costa Rica mit folgendenWorten: »Über die Anwendung von Waffengewalt hat nur derSicherheitsrat zu entscheiden.«Washington reagierte anders. Der US-amerikanischeBotschafter Bill Richardson erklärte, daß das Abkommen»dem unilateralen Einsatz von Gewaltmaßnahmen nicht imWege stehe« und daß die USA sich das Recht vorbehielten,Bagdad nach eigenem Ermessen anzugreifen. Der Sprecherdes Außenministeriums, James Rubin, hielt den Wortlaut derResolution für »weniger wichtig als die vertraulichenDiskussionen, die wir geführt haben«: »Ich behaupte nicht, daßwir uns über die Resolution keine Gedanken machen«, aber»wir haben verdeutlicht, daß wir im Falle einer Verletzung desAbkommens keine Notwendigkeit sehen, uns erneut an denSicherheitsrat zu wenden.« Der Präsident ließ verlauten, daßdie Resolution den Vereinigten Staaten »die Gewährleistungbiete zu handeln«, falls man mit dem Verhalten des Irak nichtzufrieden sein sollte; sein Pressesprecher ließ keinen Zweifeldaran, daß militärisches Handeln gemeint sei. Die Schlagzeileder New York Times formulierte in aller Deutlichkeit: »DieUSA bestehen auf dem Recht, den Irak zu bestrafen«. DieVereinigten Staaten haben das unilaterale Recht, Gewalt nacheigenem Ermessen anzuwenden. Punktum.Für einige stand selbst diese Haltung unseren formellenVerpflichtungen gegenüber der nationalen und internationalenRechtsprechung noch zu nahe. Der Sprecher derSenatsmehrheit, Trent Lott, beschuldigte die Regierung, siehabe die Außenpolitik »Subunternehmern überlassen« —nämlich dem UN-Sicherheitsrat. Senator John McCain wieswarnend darauf hin, daß »die Vereinigten Staaten dabei sind,ihre Macht den Vereinten Nationen unterzuordnen«, wozu nurgesetzestreue Staaten verpflichtet sind. Und Senator JohnKerry fügte hinzu, daß es für die USA »legitim« wäre, in denIrak einzumarschieren, falls Saddam »halsstarrig bleibt, dieUN-Resolutionen verletzt und weiterhin eine Bedrohung für dieWeltgemeinschaft darstellt« ganz unabhängig davon, wie derSicherheitsrat die Lage einschätzt. Ein derartiges unilateralesVorgehen läge »durchaus im Rahmen des internationalenRechts«, wie Kerry es begreift. Der Senator, der zur Fraktionder liberalen »Tauben« zählt und als Gegner desVietnamkriegs zu nationaler Berühmtheit gelangte, sah keinen

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Widerspruch zwischen seiner jetzigen Haltung und seinenfrüheren Anschauungen. Vietnam habe ihn gelehrt, daß Gewaltnur eingesetzt werden solle, wenn das Ziel »erreichbar ist undden Bedürfnissen des Heimatlandes dient«. Insofern warSaddams Einmarsch in Kuwait nur aus einem einzigen Grundfalsch: Er konnte, wie sich herausstellen sollte, sein Ziel nicht»erreichen«.3Auf der liberalen Seite des politischen Spektrums wurde dasvon Annan erzielte Abkommen begrüßt, ohne daß dessenzentrale Gesichtspunkte überhaupt wahrgenommen wurden.Typisch für diese verengte Wahrnehmung ist die Reaktion desBoston Globe: Wäre, so meint die Zeitung, Saddam nichtzurückgewichen, »so hätten die Vereinigten Staaten nicht nurdas Recht gehabt, den Irak anzugreifen, sondern es wäreunverantwortlich gewesen, dies zu unterlassen«. Keineweiteren Fragen. Die Herausgeber forderten auch einen»universellen Konsens über die Ächtung vonMassenvernichtungswaffen«: »Die Welt besitzt keine bessereGelegenheit, um eine pervertierte Wissenschaft daran zuhindern, bislang unvorstellbare Schäden anzurichten.« Einsinnvoller Vorschlag, der sich ohne Gewaltanwendung leicht indie Tat umsetzen ließe, aber gerade darum geht es ja gar nicht.William Pfaff, ein Analytiker der politischen Szene, beklagtedie Abneigung Washingtons, »theologische oderphilosophische Anschauungen« zu Rate zu ziehen, wie diespolitische Analytiker in Großbritannien und den VereinigtenStaaten während der fünfziger und sechziger Jahre praktizierthätten. Pfaff dachte jedoch an Thomas von Aquin und denRenaissancetheologen Francisco Suarez und nicht an dieklaren, unzweideutigen Grundlagen des gegenwärtigeninternationalen und nationalen Rechts, die der Kultur derIntellektuellen nichts bedeuten. Ein weiterer liberaler Analytikerdrängte die Vereinigten Staaten, folgender Tatsache ins Augezu sehen: Wenn die USA ihre unvergleichliche Macht»tatsächlich um der Menschheit willen ausüben, dann hat dieMenschheit dabei ein gewisses Mitspracherecht«, das ihr »vonder Verfassung, dem Kongreß und den gelehrten Herren desSonntagsfernsehens verweigert wird«; »die anderen Nationenhaben Washington nicht das Entscheidungsrecht übertragen,wann, wo und wie ihre Interessen vertreten werden sollen« soRonald Steel.Allerdings bietet die Verfassung durchaus solcheMöglichkeiten, indem sie gültige Verträge und insbesonderederen grundlegendsten, die UN-Charta, zum »höchsten Gesetz

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des Landes« erhebt. Zudem ermächtigt sie den Kongreß,»Verstöße gegen das internationale Recht« auf der Grundlageder UN-Charta »zu bestimmen und zu bestrafen«. Desweiteren ist die Formulierung »die anderen Nationen habenWashington das Entscheidungsrecht nicht übertragen«einigermaßen untertrieben; sie haben es der US-amerikanischen Regierung explizit verwehrt und sind damit der(zumindest rhetorischen) Leitlinie Washingtons gefolgt, die dieCharta maßgeblich geprägt hat. 4Der Hinweis auf die Verletzung der UN-Resolutionen durchden Irak diente im wesentlichen dazu, den beidenkriegführenden Staaten (USA und Großbritannien) das Rechtauf Gewaltanwendung zuzusprechen und sie die Rolle von»Weltpolizisten« spielen zu lassen — eine Beleidigung für diePolizei, die, zumindest im Prinzip, das Recht durchsetzen undnicht in Makulatur verwandeln soll. Es gab Kritik anWashingtons »Arroganz der Macht« und dergleichen, was füreinen gewalttätigen Verbrecherstaat, der sich selbst außerhalbder Rechtsordnung stellt, kaum der angemessene Ausdruck ist.Man könnte (was niemand wirklich versucht hat) dieamerikanisch-britischen Ansprüche mit einer arg gewundenenrechtlichen Argumentation zu stützen suchen. Der erste Schrittläge im Nachweis, daß der Irak die UN-Resolution 687 vom3. April 1991 verletzt hat. Diese Resolution sieht einenWaffenstillstand vor, »sobald der Irak offiziell mitteilt«, daß erdie Bedingungen (Zerstörung der Waffen, Untersuchung durchUN-Kommissionen usw.) akzeptiert. Es ist die vielleichtlängste und detaillierteste Resolution, die der Sicherheitsratjemals verabschiedet hat, aber sie enthält keine Erzwingungs-mechanismen. Der zweite Argumentationsschritt wäre dieBehauptung, daß die Verletzung der Resolution 687 dieResolution 678 »wieder in Kraft setzt«. 5 Diese ermächtigt dieMitgliedsstaaten, »alle notwendigen Mittel anzuwenden, umResolution 660 zu stützen und durchzusetzen«6, die den Irakauffordert, sich sofort aus Kuwait zurückzuziehen und beideStaaten dazu anhält, »ohne Verzögerung intensiveVerhandlungen zur Beilegung ihrer Differenzen aufzunehmen«,wobei die Verträge der Arabischen Liga den Rahmen abgebensollen. Die Resolution 678 setzt auch »alle [auf Resolution660] folgenden relevanten Resolutionen« (genauer gesagt 662und 664) in Kraft, deren Relevanz darin besteht, daß sie sichauf die Besetzung Kuwaits und die damit verbundenenHandlungen des Irak beziehen. Wird mithin Resolution 678wieder in Kraft gesetzt, bleibt alles beim alten: sie ermächtigt

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nicht zur Gewaltanwendung, um die spätere Resolution 687durchzusetzen, die ganz andere Schwerpunkte enthält und überSanktionen nicht hinausgeht.Man muß die Angelegenheit nicht weiter diskutieren. Die USAund Großbritannien hätten alle Zweifel beseitigen und, gemäßder Charta, den Sicherheitsrat anrufen können, um sich vonihm zur »Androhung und Anwendung von Gewalt«ermächtigen zu lassen. London unternahm einige Schritte indiese Richtung, ging aber sofort auf Distanz, als deutlichwurde, daß der Sicherheitsrat andere Vorstellungen hatte.Blairs (rasch wieder abgebrochene) Initiative sei, so einLeitartikel der Financial Times, ein »Fehler« gewesen, weil sie»die anglo-amerikanische Position geschwächt« habe.7 Dochsind derlei Erwägungen in einer von Schurkenstaaten, dieRecht und Gesetz verachten, beherrschten Welt ohnehinbedeutungslos.Nehmen wir an, der Sicherheitsrat würde die Anwendung vonGewalt befürworten, um den Irak für die Verletzung derResolution 687 zu bestrafen. In diesem Fall wären sämtlicheStaaten dazu ermächtigt — zum Beispiel auch der Iran, dersomit das Recht hätte, in den südlichen Irak einzumarschieren,um einen Aufstand zu unterstützen. Der Iran ist einNachbarstaat und war das Opfer irakischer Angriffe, beidenen auch chemische Waffen zum Einsatz kamen. Die USAstanden dem Irak damals übrigens hilfreich zur Seite. Der Irankönnte durchaus glaubhaft machen, daß sein Einmarsch in derRegipn nicht ohne Untersiützung bleiben würde, was fürGroßbritannien und die USA C.anz gewiß nicht gilt. Allerdingswürden solche Aktionen des Iran niemals geduldet werden,obwohl sie weitaus weniger schändlich wären als die Pläne derZwingherren von eigenen Gnaden. Schwer vorstellbar, daßsolche elementaren Erwägungen Eingang in die öffentlicheDiskussion finden, die in Großbritannien und den USA geführtwerden.

Offene VerachtungDie Verachtung für die Herrschaft des Gesetzes hat in derpolitischen Praxis und der geistigen Kultur der USA tiefeWurzeln geschlagen. Nehmen wir als Beispiel nur die Reaktionauf das Urteil des Weltgerichtshofs von 1986, das denVereinigten Staaten »ungesetzliche Gewaltanwendung« gegenNicaragua vorwarf. Die USA wurden aufgefordert, auf diesezu verzichten und umfangreiche Reparationen zu zahlen. DieUnterstützung der Contras wurde als »militärische«, nicht aber

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als »humanitäre« Hilfe deklariert. Die Antwort war eindeutig:Der Weltgerichtshof, so hieß es, habe sich unglaubwürdiggemacht. Die Urteilsbegründungen wurden für nicht druckreiferklärt und einfach ignoriert.Der Kongreß, in dem die Demokraten die Mehrheit hatten,stellte sofort weitere Gelder für die Ausweitung derungesetzlichen Gewaltanwendung zur Verfügung. Washingtonlegte sein Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsratsein, die alle Staaten dazu aufrief, das internationale Recht zurespektieren — Namen wurden nicht genannt, aber dieAbsicht lag auf der Hand. Als die Generalversammlung eineähnliche Resolution verabschiedete, stimmten die USAdagegen. Unterstützt wurden sie lediglich von Israel und ElSalvador. Im darauff olgenden Jahr konnten die VereinigtenStaaten dann nur noch auf das ohnehin automatische israelische»Nein« zählen. Über solche Vorgänge und ihre Bedeutungschweigen die meinungsbildenden Medien und Zeitungen sichzumeist aus.Unterdessen erklärte Außenminister George Shultz, daß»Verhandlungen ein Euphemismus für die Kapitulation sind,solange nicht der Schatten der Macht auf denVerhandlungstisch fällt«. Er verurteilte all jene, die »utopische,legalistische Mittel wie die Vermittlung von außen, dieVereinten Nationen, den Weltgerichtshof« befürworten »undzugleich den Machtfaktor in der Gleichung übersehen«. SolcheGesinnungen finden in der modernen Geschichte ihreVorläufer.8Besonders enthüllend ist die Verachtung für den Artikel 51 derUN-Charta. Sie zeigte sich mit bemerkenswerter Deutlichkeitgleich nach dem Genfer Abkommen von 1954, dasFriedensregelungen für Indochina vorsah. Washington hielt dieAbmachungen für eine »Katastrophe« und ging sofort daran,sie zu untergraben. Der Nationale Sicherheitsrat derVereinigten Staaten ließ insgeheim verlauten, man werde auchdann militärische Einsätze erwägen, wenn »kommunistischeSubversion oder Rebellion nicht mit bewaffneten Angriffeneinhergehe«. Auch ein Angriff auf China wurde nichtausgeschlossen, falls die »Subversion« erkennbar »von dortaus gesteuert werde«. 9 Diese Formulierungen wurdenwortwörtlich Jahr für Jahr von Planungsdokumentenübernommen und bekundeten, daß die Vereinigten Staaten dasRecht hätten, gegen den Artikel 51 zu verstoßen. DasselbeDokument forderte die Remilitarisierung Japans und sah vor,Thailand »zum Brennpunkt verdeckter und psychologischer

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Operationen der USA in Südostasien« zu machen. Außerdemsollten in ganz Indochina »verdeckte Operationen in großemMaßstab und auf effektive Weise« durchgeführt werden.Insgesamt ging es darum, das Genfer Abkommen und dieBestimmungen der UN-Charta gezielt zu unterminieren. Dieseshöchst bedeutsame Dokument wurde von den Historikern der«Pentagon Papers« grob verfälscht und ist aus derGeschichtsschreibung weitgehend verschwunden.Sodann gingen die Vereinigten Staaten dazu über,»Aggression« auch als »politische Kriegführung oderSubversion« (die natürlich nur der Gegner betreibt) zudefinieren. Adlai Stevenson sprach von »interner Aggression«,während er zugleich die von Kennedy betriebene Eskalierungdes Vietnam-Konflikts durch umfassende militärische Angriffeauf Südvietnam verteidigte. Als die USA 1986 libysche Städtebombardierten, begründeten sie dies offiziell als»Verteidigungsmaßnahme gegen zukünftige Angriffe«. AnthonyLewis, Spezialist für Internationales Recht der New YorkTimes, lobte die Regierung: Sie beziehe sich »auf das rechtlicheArgument, daß Gewaltanwendung [in diesem Fall] derSelbstverteidigung dient«. Diese einfallsreiche Interpretationdes Artikels 51 der UN-Charta hätte einen einigermaßengebildeten Studenten in Verwirrung gestürzt. Als die USAPanama besetzten, verteidigte der Botschafter ThomasPickering diese Aktion unter Berufung auf den Artikel 51, der,so erklärte er, »den Einsatz bewaffneter Kräfte vorsieht, umein Land, um unsere Interessen und unser Volk zuverteidigen«. Demzufolge hätten die USA das Recht, inPanama einzumarschieren, um zu verhindern, »daß das Landzur Drehscheibe für den Drogenschmuggel in die VereinigtenStaaten wird«. Weises Kopfnicken rauschte durch denliberalen Blätterwald.Im Juni 1993 gab Clinton den Befehl, den Irak mitMarschflugkörpern anzugreifen. Dabei wurden Zivilistengetötet, der Präsident jedoch gefeiert. Wie er, so hielten auchdie »Tauben« im Kongreß und die Presse den Angriff für»angemessen, vernünftig und notwendig«. Die Kommentatorenzeigten sich besonders beeindruckt von Madeleine AlbrightsBerufung auf den Artikel 51. Die Bombardierung, so erklärtesie, war »ein Akt der Selbstverteidigung gegen einenbewaffneten Angriff«. Sie spielte damit auf einen angeblichzwei Monate zuvor unternommenen Versuch an, den Ex-Präsidenten Bush zu ermorden. Der Hinweis auf den Artikel51 wäre aber selbst dann absurd gewesen, wenn der Irak

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tatsächlich nachweisbar in die Angelegenheit verwickeltgewesen wäre. Regierungsbeamte, die »ungenannt bleibenwollten«, informierten die Presse, »daß es für eine Beteiligungdes Irak bestenfalls Indizienbeweise gebe, nicht aber durchgeheimdienstliche Ermittlungen erhärtete Fakten«. Soberichtete die New York Times, ohne die Angelegenheitweiter zu verfolgen. Die Washington Post versicherte dergebildeten Öffentlichkeit, daß die Umstände auf den Artikel 51»genau zutreffen«. »Jeder Präsident hat die Pflicht, zum Schutzder nationalen Interessen militärische Gewalt anzuwenden«,hieß es in der New York Times, die den gegebenen Falljedoch mit einiger Skepsis betrachtete. »In diplomatischerHinsicht erwies sich die Begründung als geeignet«, schrieb derBoston Globe und fuhr fort: »Indem Clinton sich auf die UN-Charta bezog, gab er dem amerikanischen Wunsch Ausdruck,das internationale Recht zu respektieren.« Artikel 51, so derChristian Science Monitor, »gibt Staaten die Möglichkeit, aufBedrohungen durch eine feindliche Macht militärisch zureagieren.« Der britische Außenminister Douglas Hurd belehrtedas Parlament, ein Staat könne sich, »um seine Bürger vorBedrohungen zu schützen«, bei gewaltsamen Maßnahmen aufden Artikel 51 berufen, der zur Selbstverteidigung ermächtige.Hurd unterstützte damit Clintons »gerechtfertigte und maßvolleAusübung des Rechts auf Selbstverteidigung«. Die Welt wäre,fuhr er fort, »auf gefährliche Weise paralysiert«, wenn dieUSA erst die Zustimmung des Sicherheitsrats einholen müßten,ehe sie Marschflugkörper entsenden, um einen Feind, der -möglicherweise oder auch nicht -vor zwei Monaten einenAttentatsversuch auf einen Ex-Präsidenten unternommen hatte,zu bestrafen.10All dies trägt erheblich zur weithin bekundeten Besorgnis über»Schurkenstaaten« bei, die bereit sind, zur Wahrung derselbstdefinierten »nationalen Interessen« Gewalt anzuwenden.Noch bedenklicher wird es, wenn es sich dabei umSchurkenstaaten handelt, die sich weltweit zum Richter undHinrichter erkoren haben.

Schurkenstaaten, näher definiertInteressant sind auch jene Gesichtspunkte, die in der Nicht-Diskussion über die Irak-Krise eine Rolle gespielt haben.Doch betrachten wir zunächst den Begriff »Schurkenstaat«.Seine Grundlage bildet die Auffassung, daß die USA auchnach dem Kalten Krieg noch die Verantwortung dafür tragen,die Welt zu schützen - aber wovor? Sicher nicht vor der

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Bedrohung durch »radikalen Nationalismus« — also vor derWeigerung, sich dem Willen der Mächtigen zu beugen. DerleiVorstellungen taugen allenfalls für interne Planungsdokumente,nicht für die Öffentlichkeit. Bereits zu Beginn der achtzigerJahre wurde deutlich, daß die konventionellen Techniken derMassenmobilisierung - die Berufung auf Kennedys»monolithische und ruchlose Verschwörung« oder Reagans»Reich des Bösen« — ihre Wirksamkeit verloren. Manbrauchte neue Feinde.In den USA selbst wurde die Furcht vor Verbrechen -insbesondere Drogen — durch »eine Reihe von Faktoren[geschürt], die mit dem Verbrechen an sich wenig oder garnichts zu tun haben«, lautete die Schlußfolgerung derNationalen Strafrechtskommission. Sie machte dafürbestimmte Praktiken der Medien wie auch die Regierung unddie Privatindustrie verantwortlich: Man habe »latente ethnischeSpannungen zu politischen Zwecken ausgenutzt« und bei derVerfolgung und Verurteilung von Straftätern in so einseitigerWeise die Schwarzen im Auge gehabt, daß ganzeGemeinschaften dadurch zerstört worden seien. So sei »einAbgrund zwischen den ethnischen Gruppen« aufgerissen unddie »Nation an den Rand einer sozialen Katastrophe« geführtworden. Kriminologen sprechen vom »amerikanischen Gulag«und einer »neuen amerikanischen Apartheid«. Zum ersten Malin der Geschichte der USA bilden Afroamerikaner dieMehrheit der Gefängnisinsassen; zur Zeit sind siebenmal soviele Schwarze wie Weiße in Haft — eine Relation, die in garkeinem Verhältnis zur Anzahl der Verhaftungen steht, obwohlSchwarze sehr viel häufiger als Weiße des Drogenkonsumsoder Drogenhandels beschuldigt werden.11Im Ausland bedrohen »internationaler Terrorismus«, »ibero-amerikanische Drogenhändler« und, in erster Linie,»Schurkenstaaten« die Sicherheit der Nation. 1995 erstelltedas Strategische Kommando, das für die strategischenNuklearwaffen zuständig ist, eine Untersuchung mit dem TitelEssentials of Post-Cold War Deterrence, in der dieGrundlinien der Abschreckungspolitik in der Ära nach demKalten Krieg dargelegt werden. Durch das Gesetz zurInformationsfreiheit wurde die Studie der Öffentlichkeitzugänglich gemacht. Sie »zeigt, wie die Vereinigten Staatenihre Abschreckungsstrategie nach dem Zerfall der Sowjetunionauf sogenannte Schurkenstaaten wie Irak, Libyen, Kuba undNordkorea verlagert haben«, berichtet Associated Press. DieUntersuchung rät den USA, ihr Arsenal an Nuklearwaffen zu

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benutzen, um zu demonstrieren, daß sie »im Falle einesAngriffs auf ihre Lebensinteressen irrational und rachsüchtig«reagieren. Das sollte ein »Bestandteil unseresNationalcharakters sein, den wir gegenüber allen Gegnern«,insbesondere den »Schurkenstaaten«, »zur Geltung bringen«.»Es schwächt uns, wenn wir uns als allzu rational undbesonnen präsentieren« und uns gar noch solchemSchwachsinn wie internationalem Recht und vertraglichenBindungen verpflichtet fühlen. »Die Tatsache, daß einigeAngehörige« der US-Regierung »als potentiell»unkontrollierbar« erscheinen, kann dazu dienen, bei denpolitischen Entscheidungsträgern eines Gegners Befürchtungenund Zweifel zu wecken oder zu verstärken«. Die Studie greiftauf Nixons »Theorie vom Irrsinnigen« zurück: Wenn unsereFeinde erkennen, daß wir verrückt sind und, bei gleichzeitigerVerfügung über Waffen von großer Zerstörungskraft,unvorhersehbar handeln, werden sie Angst bekommen undsich unserem Willen beugen. Dieses Konzept wurde vermutlichin den fünfziger Jahren in Israel entworfen; die Führer derdamals regierenden Arbeiterpartei »propagiertenWahnsinnstaten«, wie der ehemalige Premierminister MosheSharett in seinem Tagebuch notiert. Es wurde davor gewarnt,daß wir »durchdrehen« (nisbtagea), wenn man uns betrügt.Diese »Geheirnwaffe« richtete sich zum Teil gegen dieVereinigten Staaten, die zu der Zeit nicht als verläßlicherBündnispartner galten. Wenn nun die einzige Supermacht derWelt, die sich als ein außerhalb aller Gesetze stehender Staatbetrachtet und von den eigenen Eliten kaum kontrolliert wird,diese Haltung einnimmt, hat die Welt ein erheblichesProblem.12Präsident Reagan erkor sich schon bald nach AmtsantrittLibyen zum Lieblings-»Schurkenstaat«. Dieses Land istmilitärischen Angriffen ziemlich schutzlos ausgesetzt und bietetsich daher bei Bedarf als idealer Prügelknabe an. Das geschah1986, als zum ersten Mal in der Geschichte ein Bombardementso arrangiert wurde, daß es zur besten Sendezeit im Fernsehenübertragen werden konnte. Die Redenschreiber des »GroßenKommunikators« warben damit um Unterstützung fürWashingtons terroristische Angriffe auf Nicaragua, dem der»Erzterrorist« Ghaddafi »400 Millionen $ sowie Waffen undBerater geschickt hat, um von dort aus seinen Krieg gegen dieVereinigten Staaten zu führen«. Die USA übten also lediglichihr Recht auf Selbstverteidigung gegen die bewaffnetenAngriffe des nicaraguanischen Schurkenstaats aus.

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Gleich nach dem Fall der Berliner Mauer, mit dem die»sowjetische Bedrohung« dahinschwand, stellte die RegierungBush im Kongreß den jährlichen Antrag auf Genehmigungeines umfangreichen Verteidigungshaushalts. Sie erklärte dazu,daß »auch in einer neuen Ära unsere militärische Machtwesentlich zur Aufrechterhaltung des globalen Gleichgewichtsbeiträgt. Aber ... es ist mehr als wahrscheinlich, daß derEinsatz unserer Streitkräfte nicht mehr für die Sowjetunion,sondern für die Dritte Welt benötigt wird, wo neue Fähigkeitenund Ansätze erforderlich werden dürften.« Verwiesen wurdedabei auf Reagan, »der 1986 amerikanische Luft- undSeestreitkräfte [nach Libyen] zurückschickte«, um dort in denStädten zivile Ziele zu bombardieren, womit er »zu eineminternationalen Klima von Frieden, Freiheit und Fortschrittbeitragen wollte, in dem unsere Demokratie — und anderefreie Nationen — gedeihen können«. Was uns jetzt zuvörderstbedroht, ist die »wachsende technologischeRüstungsperfektion« in der Dritten Welt. Folglich müssen wirdie »industrielle Grundlage der Verteidigung« - das heißt dieHightech-Industrie — stärken, indem wir Investitionsanreizefür »neue Rüstungsanlagen und -produkte sowie fürForschung und Entwicklung« schaffen. Und wir müssen, vorallem in Hinblick auf den Mittleren Osten,Interventionsstreitkräfte unterhalten. Dort nämlich kann die»Bedrohung unserer Interessen«, die ein direktes militärischesEingreifen erforderlich machte, »nicht dem Kreml angelastetwerden«. Damit hat die Mär von der sowjetischen Bedrohungihr Ende gefunden. Schon früher wurde, bisweilen insgeheim,erkannt, was jetzt offiziell zugegeben wird: Im Mittleren Ostengeht die »Bedrohung« direkt von den regionalen Verhältnissenaus, nämlich von jenem »radikalen Nationalismus«, der nichtnur dort von den Vereinigten Staaten mit größter Sorgebeobachtet wird.13Doch zunächst konnte die »Bedrohung unserer Interessen«auch nicht dem Irak angelastet werden. Ende 1989 warSaddam Hussein noch ein bevorzugter Freund undHandelspartner. Das änderte sich erst einige Monate später,als die USA signalisierten, sie würden gewaltsameVerschiebungen der Grenze zu Kuwait dulden. Saddam sahdarin eine Art Freibrief, sich den gesamten Nachbarstaat unterden Nagel zu reißen - oder, aus der Sicht der US-Regierung,mit Kuwait so zu verfahren, wie es die USA gerade mitPanama getan hatten. Gleich nach der Besetzung Kuwaitserläuterte Bush bei einem Treffen auf höchster Ebene das

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Problem: »Ich befürchte, daß die Saudis ... in letzter Minuteabhauen und in Kuwait eine Marionettenregierungakzeptieren.« Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, ColinPowell, brachte die Befürchtungen auf den Punkt: »[In] dennächsten Tagen wird der Irak sich zurückziehen, seinMarionettenregime installieren«, und »die gesamte arabischeWelt wird zufrieden sein.« 14Natürlich lassen sich historische Parallelen nie ganz genauziehen. Als Washington den Teilrückzug seiner Truppen ausPanama anordnete, nachdem dort ein Marionettenregimeinstalliert worden war, kam es nicht nur in der westlichenHemisphäre und in Panama selbst, sondern auch in vielenanderen Teilen der Welt zu empörten Reaktionen, so daßWashington sich gezwungen sah, gegen zwei Resolutionen desSicherheitsrats sein Veto einzulegen und gegen eine Resultionder UN-Generalversammlung zu stimmen, die Washingtons»flagranten Verstoß gegen das internationale Recht sowie dieUnabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität vonStaaten« verurteilte und den Rückzug der»Invasionsstreitkräfte aus Panama« forderte. Die BesetzungKuwaits durch den Irak wurde anders behandelt; zwar nichtgemäß der Standardversion, aber auf eine Weise, die sich inden Printmedien niederschlug.Die nicht zur Sprache gekommenen Tatsachen werfen eininteressantes Licht auf die Kommentare politischer Leitartikler.So beschäftigt sich zum Beispiel Ronald Steel mit dem»Rätsel«, daß die USA »als mächtigste Nation der Weltgrößeren Einschränkungen ihrer Freiheit, Gewalt anzuwenden,unterworfen sind als jedes andere Land«. Darum war Saddamin Kuwait ja auch so erfolgreich, während es Washington nichtgelang, in Panama seinen Willen durchzusetzen. 15 Man solltesich daran erinnern, daß 1990-91 jede Auseinandersetzungüber den Konflikt verhindert wurde. Erörtert wurde die Frage,ob Sanktionen Wirkung zeigen würden, nicht aber, ob sie,vielleicht kurz nach der Verabschiedung von Resolution 660,bereits Erfolg gehabt hatten. Washington befürchtete vielmehr,daß Sanktionen Wirkung zeigen könnten und weigerte sichdaher, verschiedene Rückzugsangebote, die der Irak zwischenAugust 1990 und Januar 1991 lanciert hatte, auf ihreErnsthaftigkeit zu prüfen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen,hielt das US-amerikanische Informationssystem in diesemPunkt dicht. Umfragen, die wenige Tage vor denBombardements vom Januar 1991 durchgeführt wordenwaren, belegten, daß etwa zwei Drittel der Befragten eine

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friedliche Regelung befürworteten. Grundlage sollte derRückzug des Irak in Verbindung mit einer internationalenKonferenz zum israelisch-arabischen Konflikt sein. Doch diesePosition fand in der Öffentlichkeit kaum Widerhall; die Medienfolgten treu und brav dem Präsidenten und lehnten, wie dieser,eine »Verknüpfung« der vorgeschlagenen Art als undenkbarab — in diesem einen Fall. Wohl keiner der Befragten dürftegewußt haben, daß auch die demokratische Opposition imIrak, die in den Mainstream-Medien gar nicht zu Wort kam,eine friedliche Regelung befürwortete. Unerwähnt bliebebenfalls ein vergleichbares Angebot des Irak, das US-Regierungsbeauftragte eine Woche zuvor mitgeteilt hatten, weilsie es für sinnvoll hielten, während Washington es umstandslosverwarf. Und bereits Mitte August war ein irakischesRückzugsangebot vom Nationalen Sicherheitsrat derVereinigten Staaten erörtert und verworfen worden. DieÖffentlichkeit erfuhr davon so gut wie nichts. Offensichtlichbefürchtete man, daß derlei Initiativen »die Krise entschärfenkönnten«, wie der diplomatische Korrespondent der NewYork Times indirekt die Besorgnisse der Regierungausdrückte.Seitdem ist der Irak als führender »Schurkenstaat« an dieStelle Libyens und des Iran getreten. Andere wurden gar nichterst in Erwägung gezogen. Der vielleicht bedeutsamste Fall istIndonesien, das vom Feind zum Freund wurde, als GeneralSuharto 1965 die Macht übernahm und ein Massaker à laRuanda veranstalten ließ, dem der Westen großen Beifallzollte. Seitdem war Suharto »genau unser Typ«, um es mit denWorten der Regierung Clinton zu sagen. Suharto führteunterdessen einen gnadenlosen Krieg gegen sein eigenes Volkund ließ noch in den achtziger Jahren, wie er selbst bezeugte,zehntausend Indonesier töten. Man habe, so schrieb »unserTyp«, »die Leichen in einer Art Schocktherapie einfachherumliegen lassen«.16 Im Dezember 1975 forderte der UN-Sicherheitsrat Indonesien einstimmig auf, seineInvasionstruppen »unverzüglich« aus Ost-Timorzurückzuziehen. »Alle Staaten« sollten »die territorialeIntegrität Ost-Timors und das unverzichtbare Recht destimoresischen Volks auf Selbstbestimmung respektieren«. DieUSA reagierten darauf mit (heimlichen) Waffenlieferungen andie Aggressoren, die von Präsident Carter auch 1978, als dieAngriffe in Völkermord ausarteten, entsprechend unterstütztwurden. In seinen Memoiren erinnert sich der US-BotschafterPatrick Moynihan voller Stolz an den Erfolg, mit dem er

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»sämtliche Maßnahmen [der Vereinten Nationen] ins Leerelaufen ließ«. Er folgte damit den Anweisungen desAußenministeriums, das »die Angelegenheit nach seinemWillen geregelt haben wollte«. Die USA haben auch nichtsdagegen einzuwenden, daß Ost-Timor (unter Beteiligung einesUS-Konzerns) seines Öls beraubt wird, was eine eindeutigeVerletzung internationaler Abkommen darstellt.Die Analogie zum Irak-Konflikt ist deutlich; es gibt allerdingsUnterschiede. Die offenkundigste Differenz liegt darin, daß dievon den USA unterstützten Greueltaten in Ost-Timor weitüber das hinausgingen, was Saddam Hussein an Verbrechengegen die Kuwaiter zugeschrieben wurde.Es gibt noch viele andere Beispiele, wobei manche, auf diehäufig Bezug genommen wird, mit Vorsicht behandelt werdensollten, vor allem, wenn es um Israel geht. Als die Israelis 1982mit amerikanischer Unterstützung den Libanon besetzten, gabes mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung als bei SaddamHusseins Einmarsch in Kuwait. Außerdem verletzte Israel eine1978 verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrats, inder es aufgefordert wurde, sich aus dem Libanonzurückzuziehen. Unbeachtet blieben auch viele andereResolutionen, die Jerusalem, die Golanhöhen und andereneuralgische Punkte betrafen. Es gäbe noch mehr solcherResolutionen, wenn die USA nicht regelmäßig ihr Vetoeinlegten. Aber der geläufige Vorwurf, daß Israel (undinsbesondere die Regierung unter Netanjahu) die UN-Resolution 242 und die Osloer Verträge verletze, während dieUSA, indem sie dies duldeten, mit »zweierlei Maß« messenwürden, beruht auf einer gravierenden Fehlinterpretation dieserAbkommen. Die Abkommen von Madrid und Oslo wurdenvon Israel und den USA mit dem Ziel vorangetrieben, eineSiedlungspolitik im Stil der Bantustan zu betreiben. Nicht nurdie arabische Welt verschließt davor bereitwillig die Augen,doch die Dokumente und insbesondere die von den USAunterstützten Projekte der Regierungen Rabin und Peressprechen eine unmißverständliche Sprache. Das gilt auch fürdie Siedlungsvorhaben, derentwegen die Likud-RegierungBenjamin Netanjahus ins Kreuzfeuer der Kritik geriet.17 DieBehauptung, daß Israel »nicht nachweislich Anordnungen desSicherheitsrats verletzt«18, ist eindeutig falsch, aber diejeweiligen Begründungen sollten sorgfältig geprüft werden.Kommen wir auf den Irak zurück, der zweifellos ein führenderVerbrecherstaat ist. Am 18. Januar 1998 übertrug dasFernsehen eine öffentliche Zusammenkunft, bei der die

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Minister Albright und Cohen den Plan eines Angriffs auf denIrak verteidigten, indem sie wiederholt auf Saddams»scheußlichstes Verbrechen«, den »Einsatz vonMassenvernichtungswaffen gegen die Nachbarstaaten und seineigenes Volk« hinwiesen. »Es ist sehr wichtig für uns, deutlichzu machen, daß die Vereinigten Staaten und die zivilisierteWelt keine Beziehungen zu jemandem unterhalten können, derbereit ist, diese Massenvernichtungswaffen gegen das eigeneVolk oder seine Nachbarn einzusetzen«, antwortete Albrightso gereizt wie nachdrücklich auf einen Fragesteller, der dieamerikanische Unterstützung für Suharto angesprochen hatte.Kurz danach verurteilte Senator Lott Kofi Annan, der»menschliche Beziehungen zu einem Massenmörder« pflegenwolle, und prangerte die Regierung an, die einer so tiefgesunkenen Person ihr Vertrauen schenke.Tönende Worte. Abgesehen davon, daß Albright und Cohender Frage nach Suharto auswichen, vergaßen sie zu erwähnen— und die Kommentatoren waren freundlich genug,entsprechende Hinweise zu unterlassen -, daß der Irak nichtdurch das, was jetzt als verabscheuungswürdig galt, zum»Schurkenstaat« geworden war. Und Lott schien schonvergessen zu haben, daß seine Helden Reagan und Bush mitdem »Massenmörder« ungewöhnlich herzliche Beziehungengepflegt hatten. Als Saddam im März 1988 bei Halabja Giftgasgegen Kurden einsetzte, blieb der leidenschaftliche Ruf nacheinem Militärschlag aus; statt dessen intensiviertenGroßbritannien und die USA ihre Unterstützung für denMassenmörder, der damals noch »genau unser Typ« war. AlsCharles Glass, Fernsehkorrespondent von ABC, zehn Monatenach dem Vorfall von Halabja einen Ort zeigte, an demSaddams Pläne zur biologischen Kriegführung umgesetztwurden, stritt das Außenministerium alles ab, und dieGeschichte wurde nicht weiterverfolgt. Mittlerweile, so Glass,gibt das Außenministerium »über eben diesen OrtInstruktionen heraus«.Die beiden Wächter der Weltordnung ermöglichten auch dieanderen Greueltaten Saddams, wie etwa den Einsatz vonZyanid, Nervengas und anderen barbarischen Waffen, mitTechnologie, Nachschublieferungen und geheimdienstlichenInformationen. Das Banking Committee des Senats berichtete1994, daß das US-Handelsministerium Lieferungen»biologischer Materialien« aufgespürt habe, die mit den spätervon UN-Inspektoren gefundenen und vernichteten Vorrätenidentisch gewesen wären, heißt es bei Bill Blum. Diese

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Lieferungen hätten mindenstens bis zum November 1989stattgefunden. Einen Monat später gewährte Bush seinemFreund Saddam weitere Anleihen, um »US-amerikanischeExporte zu erhöhen und uns bei Verhandlungen über dieSituation der Menschenrechte im Irak eine bessere Position zuverschaffen«, verkündete das Außenministerium mit vollemErnst. Die Medien, sofern sie überhaupt davon berichteten,übten keinerlei Kritik.Die britischen Handelsbeziehungen wurden, zumindestteilweise, in einer offiziellen Untersuchung (der Scott Inquiry)ans Licht gebracht. Vor nicht allzu langer Zeit mußte dieRegierung eingestehen, daß sie noch nach der Veröffentlichungder Untersuchungsergebnisse, mindestens bis zum Dezember1996, britischen Firmen Lizenzen für den Export vonMaterialien, die zur Produktion biologischer Waffen genutztwerden konnten, erteilt hatte.Am 28. Februar 1998 veröffentlichte die New York Timeseinen Überblick über westliche Lieferungen von Materialien,die zur Herstellung von biologischen und anderenMassenvernichtungswaffen tauglich waren. Sie erwähnt dabeiauch eine US-amerikanische Lieferung aus den achtzigerJahren, die »tödlich wirkende Krankheitserreger« umfaßte.Einige Teile stammten aus dem Militärzentrum fürVirenforschung in Fort Detrick. Die Regierung hatte demExport zugestimmt. Natürlich ist das nur die Spitze desEisbergs.19Solche und ähnliche Vorgänge werden häufig damitentschuldigt, daß Saddams Verbrechen damals nicht bekanntgewesen seien, während wir jetzt richtig schockiert sind und,mit Albrights Worten, deutlich machen müssen, daß wir miteinem solchen Verbrecher »keine Beziehungen unterhaltenkönnen«. Wir sind ja schließlich zivilisierte Leute. Aber dieseHaltung ist zynischer Schwindel. Bereits 1986 und 1987 habenUN-Berichte den Irak wegen des Einsatzes chemischerWaffen verurteilt. In der Türkei befragten US-amerikanischeBotschaftsangehörige Kurden, die Angriffe mit chemischenWaffen überlebt hatten. Der CIA gab die Berichte an dasAußenministerium weiter. Menschenrechtsorganisationeninformierten sofort über die bei Halabja und anderenortsbegangenen Grausamkeiten. Außenminister George Shultzräumte ein, daß man über entsprechendes Beweismaterialverfüge. 1988 entsandte das Senatskomitee für AuswärtigeBeziehungen ein Untersuchungsteam, das »eindeutige Beweisefür den extensiven Einsatz chemischer Waffen gegen die

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Zivilbevölkerung« entdeckte. Dem Westen wurdevorgeworfen, er habe den irakischen Einsatz solcher Waffen imKrieg gegen den Iran stillschweigend geduldet und damitSaddam zu der - richtigen - Annahme verleitet, er könne sieungestraft gegen sein eigenes Volk verwenden, wobei dieKurden, das eigentliche Opfer dieser Angriffe, wohl kaum zum»Volk« dieses verbrecherischen Stammesfürsten gehören. DerVorsitzende des Komitees, Claiborne Pell, erinnerte an dasGesetz zur Verhinderung von Völkermord von 1988 undbezeichnete das Schweigen, »während Menschen vergastwerden«, als »Komplizenschaft«. Auf ähnliche Weise habe»die Welt geschwiegen, als Hitler einen Feldzug begann, der inder fast vollständigen Ausrottung der europäischen Judenkulminierte. ... Wir können nicht erneut zu einem Völkermordschweigen«, warnte er. Die Regierung Reagan wandte sichentschieden gegen Sanktionen und bestand darauf, dieAngelegenheit totzuschweigen, während sie denMassenmörder noch großzügiger förderte als bisher. Unterden arabischen Medien »gehörte die kuwaitische Presse zuden enthusiastischsten Befürwortern von Bagdads Feldzuggegen die Kurden«, berichtete der Journalist Adel Darwish.Im Januar 1991, als zum Krieg getrommelt wurde, bemerktedie Internationale Juristenkommission gegenüber derMenschenrechtskommission der Vereinten Nationen:»Nachdem der Irak die eigene Bevölkerung auf flagrantesteWeise mißhandeln konnte, ohne daß die UN auch nur einWort des Vorwurfs geäußert hätten, muß er dieSchlußfolgerung gezogen haben, ganz nach eigenem Beliebenhandeln zu können.« »UN« meint in diesem Zusammenhanghauptsächlich Großbritannien und die Vereinigten Staaten.Aber auch diese Wahrheit muß, wie das internationale Rechtund andere »utopische« Ablenkungsmanöver, begrabenwerden.20Ein unfreundlicher Kommentator könnte darauf hinweisen, daßman nicht allzu überrascht sein muß, wenn die Briten undAmerikaner den Einsatz von Giftgas und chemischen Waffenmit Nachsicht behandeln. Als die Briten 1919 in Nordrußlandgegen die Bolschewisten intervenierten, setzten sie Giftgas ein;mit großem Erfolg, wie das Heereskommando betonte. AuchWinston Churchill, damals Staatssekretär imKriegsministerium, war von der Möglichkeit, »Giftgas gegenunzivilisierte Stämme einzusetzen« - er meinte Kurden undAfghanen -, ganz begeistert. Er ermächtigte das Kommandoder Royal Airforce für den Mittleren Osten, chemische Waffen

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»gegen aufsässige Araber als Experiment« zu verwenden.Einwände des India Office (Reichsamt für Indien) wurden als»unverständlich« vom Tisch gewischt. Vielmehr bedauerteChurchill derlei »Überempfindlichkeit«: »Wir können unskeinesfalls darauf einlassen, verfügbare Waffen, die eineschnelle Beendigung der an der Grenze herrschenden Unruhengarantieren, nicht einzusetzen.« Schließlich sind chemischeWaffen »nur die Anwendung westlicher Wissenschaft auf diemoderne Kriegführung«.21Bei den Angriffen auf Südvietnam 1961—62 gehörte dieRegierung Kennedy zu den Pionieren des massiven Einsatzesvon chemischen Waffen gegen die Zivilbevölkerung. DieAuswirkungen auf US-Soldaten wurden mit Recht bedauert;daß es jedoch Zivilisten sehr viel schlimmer traf, bliebunerwähnt. Jedenfalls bei uns. Der hochgeschätzte JournalistAmnon Kapeliouk berichtete in einem israelischen Massenblattüber seine Erfahrungen, die er 1988 in Vietnam gemacht hatte.Immer noch, so schrieb er, »sterben Tausende vonVietnamesen an den Folgeerscheinungen der chemischenKriegführung der USA«. Schätzungen zufolge gebe es inSüdvietnam eine Viertelmillion Opfer, und in denKrankenhäusern spielten sich »schreckliche« Szenen ab:Kinder stürben dort an Krebs und gräßlichen körperlichenMißbildungen. Im Norden, wo keine chemischen Waffeneingesetzt worden seien, gebe es diese Vorkommnisse nicht,berichtete Kapeliouk. Es existieren auch Belege für denEinsatz biologischer Waffen gegen Kuba, was 1977 alsNachricht zweiter Ordnung durch die Medien ging und imfortdauernden US-amerikanischen Terror gegen Kuba letztlichnur ein Aspekt unter vielen anderen ist.22Davon abgesehen, führen Großbritannien und die USA jetztgegen den Irak einen biologischen Krieg der besonderstödlichen Art. Die Infrastruktur ist zerstört; Importe, mit derenHilfe Reparaturen durchgeführt werden können, sind mitSanktionen belegt. Das hat bei einem Großteil derBevölkerung, darunter, UNICEF-Untersuchungen zufolge,500000 Kinder, zu Krankheiten und Unterernährung geführt— im Durchschnitt sterben jeden Monat 5000 Kinder. In einerErklärung vom 20. Januar 1998 verurteilten 54 katholischeBischöfe mit harschen Worten die Sanktionen und zitiertendabei den Erzbischof des südlichen Irak, der von Epidemienberichtete, »an denen Kranke und Kleinkinder zu Tausendensterben« oder, sofern sie diese überleben, »an Unterernährungzugrundegehen«. Die Erklärung der Bischöfe wurde in Stanley

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Hellers Zeitschrift The Struggle abgedruckt, fand sonst in derPresse jedoch kaum Erwähnung. Bei der Blockierung vonHilfsprogrammen haben Großbritannien und die USA dieFührung übernommen; so wird etwa die Lieferung vonAmbulanzwagen mit der Begründung verweigert, sie könntenauch für Truppentransporte genutzt werden. Ebenfallsverboten sind Insektizide zur Eindämmung der Seuchengefahrund Ersatzteile für Sanitäreinrichtungen. Unterdessen weisenwestliche Diplomaten darauf hin, daß »die USA von [derhumanitären] Operation genauso profitiert haben wie dieRussen und die Franzosen, vielleicht sogar mehr«, zum Beispieldurch den Erwerb irakischen Öls im Wert von 600 Millionen $(nur Rußland kaufte noch mehr) und den durch US-Konzernegetätigten Verkauf humanitärer Güter an den Irak im Wert von200 Millionen $. Die Diplomaten berichten auch, daß dergrößte Teil des von russischen Gesellschaften erworbenen Ölsin die USA fließt.23 Washingtons Unterstützung für Saddamnahm solche Ausmaße an, daß man sogar bereit war, einenirakischen Luftangriff auf die USS Stark zu übersehen, bei dem37 Besatzungsmitglieder getötet wurden. Dieses Privileg genoßbislang nur Israel (im Fall der USS Liberty). Washingtonunterstützte Saddam auch nach den Verbrechen, die jetztKongreß und Regierung in helle Empörung versetzen, soentschieden, daß der Iran sich gezwungen sah, vor »Bagdadund Washington« zu kapitulieren, schließt Dilip Hiro in seinerGeschichte des Kriegs zwischen Iran und Irak. Die beidenVerbündeten hatten »ihre militärischen Operationen gegenTeheran miteinander abgestimmt«. Washingtons diplomatische,militärische und wirtschaftliche« Unterstützung Saddams fandihren Höhepunkt im Abschuß eines iranischenVerkehrsflugzeugs durch den Kreuzer USS Vincennes,schreibt Hiro. 24Wie der ehemalige Regierungsberater Howard Teicherenthüllte, wurde Saddam auch aufgefordert, die für einenSatellitenstaat üblichen Dienstleistungen zu erbringen; so sollteer zum Beispiel einige hundert Libyer, die Washington in denIrak entführt hatte, ausbilden, damit sie das Ghaddafi-Regimestürzen konnten.25Saddam ist nicht wegen seiner umfangreichen Verbrechen zur»Bestie von Bagdad« avanciert, sondern weil er, wie Noriegain Panama, die ihm gesetzten Grenzen überschritt. AuchNoriega, verglichen mit Saddam eher ein Kleinkrimineller,beging seine größten Verbrechen, als Panama Satellitenstaatder USA war.

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Schurkenstaaten mit SonderstatusWas einen »Schurkenstaat« ausmacht, zeigt sich auch daran,wie Washington auf die Aufstände reagierte, die im März1991, unmittelbar nach Beendigung der Feindseligkeiten, imIrak losbrachen. Das US-Außenministerium erneuerte formellseine Weigerung, Kontakte zur demokratischen Opposition imIrak aufzunehmen, der auch, wie schon vor dem Golfkrieg, derZugang zu den großen US-Medien praktisch verschlossenwurde. »Ein politisches Zusammentreffen mit ihr wäre fürunsere Politik im Augenblick nicht angemessen«, bemerkte derSprecher des Außenministeriums, Richard Boucher«. Bei dem»Augenblick« handelte es sich um den 14. März 1991, alsSaddam vor den Augen von General Schwarzkopf dieoppositionellen Kräfte im Süden dezimierte. Schwarzkopfverweigerte rebellierenden Offizieren selbst den Zugang zueroberten irakischen Militärlagern. Und ohne den unerwartetenDruck der Öffentlichkeit hätte Washington wohl auch denaufständischen Kurden, die bald darauf einer ähnlichenBehandlung unterworfen wurden, jegliche Hilfe versagt.Die irakischen Oppositionsführer haben die Botschaftverstanden. Leith Kubba, Chef der in London residierendenDemokratischen Reformbewegung, erklärte, daß die USA eineMilitärdiktatur bevorzugten und daran festhielten, daß»Veränderungen im Regime von innen kommen müssen, vonLeuten, die bereits an der Macht sind«. Auch der Vorsitzendedes irakischen Nationalkongresses, der Bankier AhmedChalabi, hat seinen Wohnsitz in London. »Die VereinigtenStaaten«, sagte er, »nehmen die Nichteinmischung in irakischeAngelegenheiten zum Vorwand, um in Ruhe abwarten zukönnen, wie Saddam die Aufständischen abschlachtet,während sie hoffen, daß er später durch einen geeignetenOffizier gestürzt werden kann«. Diese Haltung wurzele in derPolitik, »Diktaturen zu stützen, um die Stabilitätaufrechtzuerhalten«.Die Argumentation der Regierung umriß Thomas Friedman,diplomatischer Chefkorrespondent der New York Times. Statteinen Aufstand der Bevölkerung zu unterstützen, hoffeWashington auf einen Militärputsch gegen Saddam, denn damit"wäre die beste aller Welten hergestellt: eine mit eiserner Faustregierende irakische Junta ohne Saddam Hussein« und damiteine Rückkehr zu jener Zeit, in der Saddam »sehr zurBefriedigung der amerikanischen Verbündeten Türkei undSaudi-Arabien den Irak ... mit eiserner Faust zusammenhielt«,

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was natürlich auch Washington begrüßte. Zwei Jahre späterschätzte Friedman die Realität erneut ohne Scheuklappen ein:»Die amerikanische Politik hat immer darauf gesetzt, daß Mr.Hussein «ine nützliche Rolle spielt, wenn er den Irak miteiserner Faust zusammenhält.« Es gibt allen Grund zu derAnnahme, daß Washington auch weiterhin die Diktatur derDemokratie vorzieht, was die irakischen Oppositionskräftebedauern, ohne indes Gehör zu finden. Natürlich würden dieUSA in Bagdad jetzt gern einen anderen Führer mit »eisernerFaust« regieren sehen, aber notfalls tut es auch Saddam.26Der Begriff »Schurkenstaat« ist sehr differenziert. So gilt Kubawegen seiner angeblichen Verstrickung in den internationalenTerrorismus als führender »Schurkenstaat«, während die USAtrotz ihrer seit fast vierzig Jahren durchgeführten Terrorangriffegegen Kuba nicht unter diese Kategorie fallen. (Offenbarwurden, wie Nachforschungen des Miami Herold bezeugen,diese Angriffe auch 1997 fortgesetzt, worüber die europäischePresse, im Gegensatz zur US-amerikanischen, ausführlichberichtete.) Kuba war ein »Schurkenstaat«, als seineMilitärkräfte in Angola die Regierung gegen südafrikanischeAngriffe verteidigte, die ihrerseits von den USA unterstütztwurden. Südafrika wiederum galt damals und auch währendder Ära Reagan, nicht als Schurkenstaat, obwohl seinemilitärischen Aktionen einer UN-Kommission zufolge in denNachbarstaaten eineinhalb Millionen Todesopfer forderten undSchäden in Höhe von sechzig Milliarden $ verursachten, ganzzu schweigen von den Verwüstungen im eigenen Land. All daswurde von den USA und Großbritannien bereitwilligunterstützt. Auch Indonesien gilt, wie viele andere Länder,nicht als Schurkenstaat.Die Kriterien sind ziemlich eindeutig: Ein »Schurkenstaat« istnicht einfach ein Verbrecherstaat, sondern einer, der dieRegeln der Mächtigen mißachtet - und diese genießen natürlicheinen Sonderstatus.

Weiteres über »die Debatte«Daß Saddam ein Verbrecher ist, kann nicht bezweifelt werden,und man sollte, nehme ich an, darüber erfreut sein, daßGroßbritannien und die USA sowie die Meinungsfabriken desMainstream sich endlich denen angeschlossen haben, die»vorschnell« die britischen und amerikanischenUnterstützungsaktionen für den Massenmörder verurteilten. Esist auch richtig, daß er für jeden in seiner Reichweite eineBedrohung darstellt. Beim Vergleich mit anderen Bedrohungen

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gibt es außerhalb Großbritanniens und der USA nach ihrem(uneindeutigen) Frontenwechsel vom August 1990 höchstunterschiedliche Meinungen. Als London und Washington1998 den Einsatz militärischer Gewalt planten, begründeten siedas mit der Gefahr, die Saddam für die Region darstelle, aberes ließ sich nicht verschweigen, daß die Völker der Region mitgroßem Nachdruck gegen ihre Errettung protestierten unddadurch die Regierungen zwangen, sich ihnen anzuschließen.Bahrein untersagte den britischen und amerikanischenStreitkräften die Nutzung von Stützpunkten. Der Präsident derVereinigten Arabischen Emirate nannte die amerikanischenDrohungen gegen den Irak »schlecht und abstoßend« underklärte, der Irak stelle für seine Nachbarn keine Bedrohungdar. Der saudische Verteidigungsminister Prinz Sultan hattezuvor bereits festgestellt, daß »wir nicht zustimmen werden,und Militärschläge gegen den Irak als Nation und als Volkablehnen«. Infolgedessen verzichtete Washington darauf,Saudi-Arabien um die Nutzung von Militärstützpunkten zubitten. Nach Kofi Annans Mission bestätigte der langgedientesaudische Außenminister Saud al-Faisal noch einmal, daß jedeNutzung saudischer Luftstützpunkte »Sache der UN und nichtder USA ist«.Ein Leitartikel in Ägyptens halboffizieller Zeitung Al-Ahramnannte Washingtons Haltung »nötigend, aggressiv und unklug,ohne Rücksicht auf das Leben der Iraker, die unnötigerweisezu Opfern von Sanktionen und Demütigungen werden«, undverurteilte die geplante »Aggression gegen den Irak«. DasParlament von Jordanien wandte sich entschieden gegen»jeden Angriff auf irakisches Territorium und jeden Schaden,der dem irakischen Volk zugefügt wird«. Nach zwei Tagenpro-irakischer Krawalle sah sich die jordanische Armee"genötigt, die Stadt Maan zum Sperrgebiet zu erklären. EinPolitologieprofessor an der Universität von Kuwait wies daraufhin, daß »Saddam mittlerweile zur Stimme der Stummen in derarabischen Welt geworden ist« und der weitverbreitetenEnttäuschung über die »neue Weltordnung« und WashingtonsUnterstützung israelischer Interessen Ausdruck verleiht.Selbst in Kuwait unterstützte man die Vereinigten Staatenbestenfalls »halbherzig« und »ohne sich über die Motive derUSA Illusionen zu machen«, erkannte die Presse. »WährendAmerika die Kriegstrommel zum Angriff gegen den Irak immerheftiger rührt, sind in den Straßen der arabischen Welt, vonKairos überfüllten Slums bis zu den prächtigen Metropolen derarabischen Halbinsel, zornige Stimmen laut geworden«,

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berichtete Charles Sennott, Korrespondent des BostonGlobe.27Im Gegensatz zu früher wurde jetzt auch der demokratischenOpposition des Irak in den Mainstream-Medien etwas mehrAufmerksamkeit gewidmet. In einem Telefoninterview mit derNew York Times bekräftigte Ahmed Chalabi die Position, dieer bereits Wochen zuvor in London ausführlich erläutert hatte:»Ohne einen politischen Plan zur Beseitigung von SaddamsRegime sind militärische Schläge kontraproduktiv«, erklärte er.Sie würden Tausende von Irakern töten, vielleicht garSaddams Position mitsamt seinen Vernichtungswaffen stärkenund ihm »einen Vorwand verschaffen, UNSCOM [die UN-Waffeninspektoren] hinauszuwerfen«. Immerhin haben dieInspektoren sehr viel mehr Waffen und Produktionsstättenzerstört als die Bombardements von 1991. Die britisch-amerikanischen Pläne seien »schlechter als gar nichts«.Interviews mit verschiedenen Oppositionsgruppen belegten,daß militärische Aktionen, die nicht zu einem Aufstand gegenSaddam Hussein führen würden, »nahezu einstimmig«abgelehnt wurden. Vor einem Parlamentskomitee unterstrichChalabi, daß es »moralisch nicht zu rechtfertigen« sei, einenMilitärschlag gegen den Irak zu führen, ohne eine Strategie fürden Sturz Saddams zu besitzen.In London umriß die Opposition ein Alternativprogramm: 1.Saddam wird zum Kriegsverbrecher erklärt; 2. eine von derOpposition gebildete provisorische Regierung wird anerkannt;3. die vielen hundert Millionen $ auf irakischen Konten imAusland werden freigegeben; 4. die Beweglichkeit vonSaddams Militärkräften wird durch eine »Fahrverbotszone«oder durch eine auf das ganze Land ausgeweitete»Flugverbotszone« eingeschränkt. Die USA sollten »demirakischen Volk helfen, Saddams Herrschaft zu beenden«,erklärte Chalabi vor dem Streitkräftekomitee des Senats. WieReuter berichtete, habe er zusammen mit anderenOppositionsführern »Attentate, verdeckte Operationen undUS-Bodentruppen« abgelehnt und sich statt dessen für einen»Aufstand der Bevölkerung« ausgesprochen. GleichlautendeVorschläge waren hin und wieder in den US-Medien zu hören.Washington behauptet zwar, Oppositionsgruppenversuchsweise unterstützt zu haben, doch sind diese andererMeinung. Chalabi vertritt in der britischen Presse dieselbeAnsicht, die er schon Jahre zuvor geäußert hatte: »Allebehaupten, Saddam befinde sich in der Zwickmühle, aber dasgilt in Wirklichkeit für die Briten und Amerikaner, die sich

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weigern, der politischen Veränderung eine Chance zu geben.«27Regionale Opposition gilt, ebenso wie das internationale Recht,als Problem, das umgangen werden muß, nicht als Faktor, derin Rechnung zu stellen ist. Das gleiche gilt für die warnendenHinweise von hochrangigen Offiziellen der UNO und andererHilfsorganisationen, die geplanten Bombardements könnten fürdas bereits hart getroffene irakische Volk »katastrophale«Folgen haben und das zunichte machen, was die humanitärenOperationen an Erleichterungen bewirkt hatten.29 Es gehteinzig um das, »was wir durchsetzen wollen« — mit diesenWorten verkündete Präsident Bush 1991 triumphierend dieNeue Weltordnung, während Bomben und Raketen auf denIrak fielen.Während Kofi Annan sich auf seinen Besuch in Bagdadvorbereitete, erhielt der iranische Ex-Präsident Rafsandschani,der »in Teheran immer noch eine einflußreiche Person ist, eineAudienz beim kränklichen König Fahd von Saudi-Arabien.Dagegen wurde Madeleine Albright... bei ihren jüngstenBesuchen in Riad, als es ihr um die Unterstützung durchAmerikas hauptsächlichen Verbündeten am Golf ging, wenigerbevorzugt behandelt«, berichtete der britische Korrespondentfür den Mittleren Osten David Gardner. Als Rafsandschaniseinen zehntägigen Aufenthalt »in Riad am 2. März 1998beendete, sprach Außenminister Prinz Snud von einem»weiteren richtigen Schritt zur Verbesserung der Beziehungen«und bekräftigte erneut, daß »der größte DDestabilisierungsfaktor im Mittleren Osten und die Ursache füralle anderen Probleme in der Region« in Israels von den USAunterstützter Politik gegenüber den Palästinensern liegt. DiesePolitik könnte auch in Saudiarabien Kräfte in der Bevölkerungwecken, vor denen Riad sich fürchtet und außerdem seineLegitimation als »Wächter« der heiligen Stätten des Islamgefährden. Dazu gehört auch der Felsendom in Ostjerusalem(das mittlerweile von den Israelis faktisch annektiert wurde;von den USA geförderte Pläne sehen vor, ein »Groß-Jerusalem« zu schaffen, das praktisch bis zum Jordantal reicht,aus dem die Israelis sich offenbar keineswegs zurückziehenwollen). Kurz zuvor hatten die arabischen Staaten einen vonden USA geförderten Wirtschaftsgipfel in Kairo boykottiert,auf dem das von Clinton und Peres entworfene Projekt»Neuer Mittlerer Osten« vorangetrieben werden sollte.Stattdessen nahmen sie im Dezember in Teheran an einerIslam-Konferenz teil, bei der sogar der Irak vertreten war.30

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Das sind im Hinblick auf die eigentlichen Motive der US-Politik im Mittleren Osten bedeutsame Entwicklungen -streben die Vereinigten Staaten doch seit dem ZweitenWeltkrieg die Kontrolle über die größten Energiereserven derWelt an. Wie vielfach beobachtet wurde, ruft das seit langembestehende und 1996 formell bekräftigte Bündnis zwischenIsrael und der Türkei in der arabischen Welt zunehmendFurcht und Abneigung hervor. Einige Jahre lang gehörte es zurStrategie der USA, die Region mittels »lokaler Polizeistreifen«zu kontrollieren, wie Nixons Verteidigungsminister esformulierte. Mittlerweile wächst im Mittleren Osten offenbardie Zustimmung zu iranischen Plänen, die US-amerikanischeVorherrschaft durch regionale Sicherheitsvorkehrungen zubrechen. Im Zusammenhang damit steht auch der wachsendeKonflikt über Pipelines, in denen Öl aus Zentralasien zu denreichen Ländern gelangen soll. Eine natürlicheDurchgangsstation wäre der Iran. Und US-amerikanischeEnergiekonzerne werden nicht gerne mit ansehen, wieausländische Konkurrenten — zu denen jetzt auch China undRußland gehören — privilegierten Zugang zu den Ölreservendes Irak (die an Umfang nur von denen Saudi-Arabiensübertroffen werden) oder zu den Erdgas- und Ölquellen undanderen Ressourcen des Iran erhalten.Für den Moment mögen die US-Planungsstrategen erleichtertsein, daß sie zumindest zeitweise der von ihnen konstruierten»Zwickmühle« entronnen sind, die ihnen nur die Option ließ,den Irak zu bombardieren, was sogar ihren eigenen Interessenhätte schaden können. Es bleibt etwas Zeit zum Atemholen.Und den Bürgern der Kriegerstaaten bietet sich dieGelegenheit, das politische Bewußtsein und Engagement so zuverändern, daß schon die nähere Zukunft anders aussehenkönnte.

Anmerkungen

1 Mark Curtis, The Ambiguities of Power (Zed 1995), S. 146.2 Jules Kagian, Middle East International, 21. Okt. 1994; J.Kagian, FT, 19. Feb. 1998; Steven Erlanger und PhilipShenon, NYT, 23. Feb. 1998; Pressekonferenz Clinton: NYT,24. Feb. 1998; R. W. Apple, NYT, 24. Feb. 1998; AaronZitner, BG, 21. Feb. 1998.3 Colum Lynch, BG, 3. März 1998; Weston, Costa Rica, BG,3. März 1998; WSJ, 3. März 1998; Barbara Crossette, NYT,3. März 1998; Laura Silber und David Buchan, FT, 4. März

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1998; Steven Lee Myers, NYT, 4. März 1998; R. W. Apple,NYT, 24. Feb. 1998 (Lott); Steven Erlanger und PhilipShenon, NYT, 23. Feb. 1998 (McCain, Kerry); Aaron Zitner,»AVisible Kerry Turns Tough on Crisis«, BG, 21. Feb. 1998.4 Editorial, BG, 27. Feb. 1998; William Pfaff, BG, 23. Feb.1998; Ronald Steel, NYT, 1. März 1998.5 29. Nov. 1990.6 2. Aug. 1990.7 Editorial, FT, 2. März 1998.8 Vgl. Chomsky, Culture of Terrorism, S. 67f.; sowieNecessary Illusions, S. 82£, 94£, 270.9 National Security Council 5429/2; Hervorh. von mir.10 Vgl. Chomsky, For Reasons of State, S. lOOff.; Piratesand Emperors, S. 140; UN-Botschafter Thomas Pickering unddas Justizministerium werden in Deterring Democracy, S. 147,zitiert sowie in World Orders Old and New, S. 16f.; GeorgeKahn, Intervention (Knopf, 1986), S. 74.11 Steven Donziger (Hg.), The Real War on Crime: TheReport ofthe National Criminal Justice Commission(HarperCollins, 1996); Nils Christie, Crime Control äsIndustry (Routledge, 1993); Michael Tonry, Malign Ne-glect:Race, Crime and Punishment in America (Oxford, 1995);Randall Shelden und William Brown, Criminal Justice(Wadsworth, ersch. demn.).12 »Irrationalitry Suggested to Intimidate US-Enemies«, AP,BG, 2. März 1998. Zu Israel vgl. Chomsky, Fateful Triangle,S. 464ff.13 George Bush, National Security Strategy of tbe UnitedStates, Weißes Haus, März 1990; ausführlichere Zitate inChomsky, Deterring Democracy, Kap. 1.14 Zu diesen Zusammenhängen vgl. Chomsky, Artikel in ZMagazine 1990—91; ferner Deterring Democracy (Kap. 4-6,Nachwort); Powers and Prospects, Kap. 6; Chomsky, inCynthia Peters (Hg.), Collateral Damage: The »New WorldOrder« at Home andAbroad (South End, 1992). Vgl. auchDilip Hiro, Desert Shield to Desert Storm (Routledge, 1992);Douglas Kellner, The Persian Gulf TV War (Westview, 1992);Miron Rezun, Saddam Hussein's Gulf Wars (Praeger, 1992)sowie eine Anzahl nützlicher Aufsatzsammlungen. Ferner die(selbst-)gelobte »gelehrte Geschichtsdarstellung« vonLawrence Freedman und Efraim Karsh, die brauchbareInformationen, aber auch gravierende Auslassungen und Fehlerenthält: The Gulf Conflict 1990-1991: Diplomacy and War inthe New World Order (Princeton, 1992). Vgl. Chomsky,

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World Orders Old and New, Kap. l, Anm. 18 und meinenArtikel »World Order and Its Rules«, Journal ofLawandSodety (Cardiff, Wales), Sommer 1993.15 Ronald Steel, NYT, 1. März 1998.16 Zit. nach Charles Glass, Prospect (London), März 1998.17 Vgl. meine Artikel in 2 Magazine zur Konferenz in Madrid1991 bis zur Konferenz von Oslo 1993 und darüber hinaus.Vgl. auch Deterring Democracy, Kap. 6 und Nachwort;Powers and Prospects, Kap. 6; World Orders Old and New,Kap. 3 und Epilog und die dort zitierten Quellen. WeitereAktualisierungen in »The »Peace Process« in US GlobalStrategy«, Vortrag auf der Konferenz an der Ben-Gurion-Universität vom Juni 1997, in Haim Gordon (Hg.), LookingBack at the June 1967 War (Praeger 1999) sowie FatefulTriangle.18 Serge Schmemann und Douglas Jehl, NYT, 27. Februar1998.19 Vgl. die oben zitierten Quellen. Albright, Cohen, CAÖVLivebericht, Ohio State Univ., 18. Feb. 1998; Teiltranskription(ohne den zit. Meinungsaustausch), NYT, 19. Feb. 1998.Trent Lott, BG, 26. Feb. 1998. Charles Glass, NewStatesman, 20. Feb. 1998. Bill Blum, Consortium, 2. März1990. William Broad und Judith Miller, NYT, 26. Feb. 1998.Scott Inquiry Report, Feb. 1996. Gerald James, In the PublicInterest (London: Little, Brown, 1996). Alan Friedman,Spider's Web: The Secret History ofHow the White Hou$Illegally Armed Iraq (Bantam, 1993). Mark Pythian, ArmingIraq: How the US and Britain Secretly Built Saddam's WarMachine (Northea-stern Univ. Press, 1997).20 David Korn (Hg.), Human Rights in Iraq (Human RightsWatch, Yale, 1989); CARDRI (Committee AgainstRepression and for Democratic Rights in Iraq), Saddam's Iraq(Zed, 1986,1989), S. 236f.; Dilip Hiro, The Langest War(Routledge, 1991), S. 53; Rezun, Saddam Hussein's GulfWars, S. 43f.; Darwish und Gregory Alexander, UnholyBabylon (St. Mar-tin's, 1991), S. 78f.; John Gittings, »HowWest Propped Up Saddam's Rule«, GW, 10. März 1991.21 Andy Thomas, Effects of Chemical Warfare (StockholmInternational Peace Research Institute [SIPRI], Taylor &Francis, 1985), Kap. 2. Vgl. Chomsky, Turning the Tide, S.126 sowie Deterring Democracy, S. 181f.22 Zu Vietnam vgl. Chomsky, Necessary Illusions, S. 38f. ZuKuba vgl. Chomsky und Herman, Political Economy of HumanRights, Bd. l, S. 69, sowie weiteres Material, inkl. Alexander

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Cockburn, Nation, 9. März 1998.23 The Struggk (New Haven), 21. Feb. 1998; MaggieO'Kane, Guardian, 19. Feb. 1998; Scott Peterson, CSM, 17.Feb. 1998; Roula Khalaf, FT, 2. März 1998. DieAuswirkungen der Bombardements und Sanktionen warensofort bekannt; vgl. Jean Dreze und Haris Gazdar, Hunger andPoverty in Iraq 1991, London School of Economics, Sept.1991. Eine ausführliche Darstellung in Geoff Simons, TheScourging of Iraq (London: Macmillan, 1996).24 Hiro, Langest War, S. 239f.25 AP, NYT, 26. Mai 1993.26 NYT, 7. Juli 1991; 28. Juni 1993. Zu Kubba und Chalabivgl. meinen Artikel in Peters, Collateral Damage.27 David Marcus, BG, 18. Feb. 1998; Roula Khalaf, MarkSuzman, David Gardner, FT, 23. Feb. 1998; FT, 9. Feb.1998; Steven Lee Myers, NYT, 9. Feb. 1998; Douglas Jehl,NYT, 9. Feb. 1998; Charles Sennott, BG, 18. Feb. 1998,19.Feb. 1998; Daniel Pearl, WSJ, 25. Feb. 1998.28 David Fairhall und lan Black, GW, S. Feb. 1998; Reuters,BG, 3. März 1998; Douglas Jehl, NYT, 22. Feb. 1998;Jimmy Burns, FT, 15. Feb. 1998.29 Peterson, CSM, 17. Feb. 1998.30 David Gardner, FT, 28. Feb. 1998; Robin Allen, FT, 3.März 1998.

III. Kuba und die US-Regierung: Davidgegen GoliathKuba und die Vereinigten Staaten haben, was dieinternationalen Beziehungen angeht, einen ganz eigenartigen —faktisch sogar einzigartigen - Status. Es gibt keinenvergleichbaren Fall, in dem eine Macht gegen eine andere -hier die größte Supermacht gegen ein kleines Drittweltland - inso unnachgiebiger Weise vierzig Jahre lang mit Terror undökonomischer Kriegführung vorgegangen wäre.Dieser Fanatismus hat tatsächlich eine lange Vorgeschichte.Seit den ersten Tagen der amerikanischen Revolutionbetrachteten die Gründungsväter Kuba mit aufmerksamenBlicken. Sie äußerten sich ganz unverblümt. Schon derdamalige Außenminister John Quincy Adams sprach derÜbernahme von Kuba durch die USA eine »alles überragendeBedeutung« für die politische und wirtschaftliche Zukunft derVereinigten Staaten zu. Andere meinten, von dieserÜbernahme hinge die Zukunft der Welt ab. Es war seit den

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Anfängen der US-amerikanischen Geschichte eineAngelegenheit von »alles überragender Bedeutung«, und dasist bis heute so geblieben. Der Wunsch und Wille, Kuba zubesitzen, ist das älteste Motiv in der Außenpolitik der USA.Die von den Vereinigten Staaten gegen Kuba verhängtenSanktionen sind die härtesten der Welt, viel härter als zumBeispiel die gegen den Irak ausgesprochenen. Vor kurzemerschien in der New York Times eine kleine Notiz, in der eshieß, daß der Kongreß ein Gesetz verabschiede, um US-Exporteuren die Ausfuhr von Lebensmitteln und Arzneien nachKuba zu ermöglichen. Dies sei, so wurde erklärt, auf Drängenvon US-amerikanischen Farmern geschehen. »Farmer« ist einEuphemismus für »Großagrarbetriebe« — es hört sichnatürlich besser an, sie »Farmer« zu nennen.Und es ist wahr, daß die US-Agrarwirtschaft auf diesen Marktzurückkehren möchte. Der Artikel ließ unerwähnt, daß dieExportbeschränkungen für Lebensmittel und Arzneien einegrobe Verletzung des internationalen Menschenrechtsdarstellen und von fast allen wichtigen transnationalenOrganisationen verurteilt worden sind. Selbst die gewöhnlichsehr kompromißbereite Organisation amerikanischer Staaten(OAS), die kaum jemals dem Boß aus dem Norden zuwidersprechen wagt, hat die Ausfuhrbeschränkungen als illegalund unannehmbar verurteilt.Die Kuba-Politik der Vereinigten Staaten ist in vielerleiHinsicht einzigartig; zum einen wegen der unaufhörlichenAngriffe, zum andern, weil die USA damit in der Welt völligisoliert dastehen - faktisch zu 100 Prozent isoliert, weil daseine Land, das die USA in der UN-Vollversammlung nahezuautomatisch unterstützt - nämlich Israel —, das Embargoebenfalls verletzt, obwohl es dafür stimmte.Die US-Regierung ist auch von ihrer eigenen Bevölkerungisoliert. Der letzten mir bekannten Meinungsumfrage zufolgesind etwa zwei Drittel der US-Amerikaner gegen dasEmbargo. In der Geschäftswelt werden solche Umfragen nichtdurchgeführt, aber es gibt recht eindeutige Hinweise darauf,daß auch hier weite Bereiche der Wirtschaft, große Konzerne,die Handelsbeschränkungen strikt ablehnen. Diese vollständigeIsolierung der Regierung ist ein weiteres ungewöhnlichesElement. Die Regierung ist von der Bevölkerung, von denwichtigsten gesellschaftlichen Entscheidungsträgern, die dieRegierungspolitik großenteils kontrollieren, und von derinternationalen Meinung isoliert, verfolgt aber weiterhin ihre

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Kuba-Politik, die bis in die Anfänge der amerikanischenRepublik zurückreicht, mit fanatischer Hingabe.Kuba hat bei den US-Planungsstrategen immer wieder eineregelrechte Hysterie ausgelöst, was vor allem in der ÄraKennedy deutlich sichtbar wurde. Die internen Akten undDokumente der Regierung Kennedy, von denen vielemittlerweile nicht mehr der Geheimhaltung unterliegen,beschreiben eine Atmosphäre von »Barbarei« und»Fanatismus«, als die Wiedereroberung Kubas mißlang.Kennedys öffentliche Äußerungen waren wild genug. Soerklärte er, daß die Vereinigten Staaten auf dem Schutthaufender Geschichte landen würden, wenn es nicht gelänge, dieKontrolle über Kuba zurückzugewinnen.Als die Europäische Union 1997 die Vereinigten Staaten beider Welthandelsorganisation (WTO) verklagte, weil dasEmbargo die WTO-Regeln auf flagrante Weise verletze,wiesen die USA den Schiedsspruch zurück. Das war keineÜberraschung, denn die USA mißachten die Rechtsprechungaller internationalen Organisationen. Interessant sind dieGründe, denn die Vereinigten Staaten beriefen sich aufVorbehalte hinsichtlich ihrer inneren Sicherheit. Die nämlichwurde durch die Existenz Kubas bedroht, und darum ließendie USA den Schiedsspruch der Welthandelsorganisationunberücksichtigt. Offiziell haben die Vereinigten Staaten diesePosition nicht vertreten, weil sie sich sonst internationallächerlich gemacht hätten, jedoch ist dieser Grund wiederholtöffentlich mitgeteilt worden: Es geht um unsere innereSicherheit, und deshalb können wir die Entscheidung derWTO nicht akzeptieren.Erfreulicherweise geht das Pentagon mittlerweile nicht mehrdavon aus, daß Kuba die Eroberung der USA plane. DieBedrohung ist selbstverständlich weiterhin existent, aber nichtmehr so schlimm wie früher. Der Grund, so wurde erklärt, liegtim Niedergang der bislang so furchterregenden kubanischenStreitkräfte nach dem Ende des Kalten Kriegs, als dieSowjetunion ihre Unterstützung einstellte. Wir können jetztalso etwas lockerer sein und müssen uns nicht mehr hinterTischen und Bänken verstecken, was man uns als Erstkläßlernnoch beibrachte. Aber als dergleichen öffentlich verkündetwurde, hat zumindest bei uns niemand gelacht. Anderswoschon, wenn man an die Reaktion des mexikanischenBotschafters denkt, als Kennedy zu Beginn der sechziger Jahrein Mexiko um Unterstützung für seine Politik warb undglaubhaft machen wollte, daß Kuba die innere Sicherheit nicht

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nur in den USA bedrohe. Der Botschafter mußte dankendablehnen, weil sich, so meinte er, 40 Millionen Mexikanertotlachen würden, wenn er ihnen nahezubringen versuchte, daßKuba eine Gefahr für Mexikos innere Sicherheit sei.Dieser hysterische Fanatismus ist in der Tat ungewöhnlich undinteressant und verdient, näher untersucht und bedacht zuwerden. Woher kommt er? Zum Teil läßt er sich aus denhistorischen Zusammenhängen erklären, aber in der Gegenwartspielen noch weitere Faktoren eine Rolle. Einen geeignetenRahmen, um darüber nachzudenken, bildet die, vor allem ingewichtigen Zeitschriften, mittlerweile führende These desintellektuellen Diskurses, die unter dem Titel »neuerHumanismus« firmiert. Sie wurde von Clinton, Blair unddiversen ihrer Anhänger mit nachdrücklicher Feierlichkeitverkündet. Dieser These zufolge, so ist überall zu lesen, tretenwir jetzt in ein glorreiches neues Zeitalter, ein neuesJahrtausend ein. Tatsächlich begann diese Ära schon vor zehnJahren, als zwei, wie sie sich selbst bezeichnen, aufgeklärteStaaten, von den Trümmerresten des Kalten Kriegs befreitwurden und sich nun mit voller Kraft erneut ihrem historischenAufstieg widmen konnten, den leidenden Völkern überall aufder Welt Gerechtigkeit und Freiheit zu bringen und dieMenschenrechte zu verteidigen, wenn nötig, mit Gewalt —woran sie während der Jahre des Kalten Kriegs gehindertworden waren.Die Erneuerung dieser heiligen Mission ist nicht etwa eineSache der Einbildung. Clinton hielt am 1. April 1999 einegroße Rede auf dem Luftwaffenstützpunkt von Norfolk, in derer erklärte, warum wir auf dem Balkan alles bombardierenmüssen, was sich bewegt. Zunächst aber erinnerteVerteidigungsminister William Cohen, die Zuhörer an einigedramatische Worte, mit denen das 20. Jahrhundert seinenAnfang nahm. Er zitierte Theodore Roosevelt, den späterenPräsidenten, der damals gesagt hatte: »Wenn ihr nicht bereitseid, für große Ideale zu kämpfen, werden diese Idealeverschwinden.« Und so wie Roosevelt das Jahrhundert mitdiesen aufwühlenden Worten eröffnete, beschloß WilliamClinton es mit der gleichen Geisteshaltung.Das war eine interessante Einleitung für alle, die einen Kurs inamerikanischer Geschichte absolviert haben, einenwirklichkeitsnahen, versteht sich. Sie nämlich wissen, daßRoosevelt einer der schlimmsten Rassisten und Geisteskrankender Gegenwarts-Geschichte war. Hitler hat ihn aus gutenGründen bewundert. Es ist erschreckend, seine Schriften zu

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lesen. Sein Ruhm gründet sich auf seine Beteiligung an der US-amerikanischen Invasion Kubas. 1898 hatte Kuba sich nachlangem Kampf von der spanischen Vorherrschaft nahezubefreit, aber davon wollten die USA nichts wissen undbesetzten die Insel, um den Erfolg derUnabhängigkeitsbestrebungen zu vereiteln. Kuba wurde sehrschnell zu einer - so zwei Harvard-Professoren, dieHerausgeber der kürzlich erschienenen Kennedy-Tapes -»De-facto-Kolonie« der USA und blieb es bis 1959. DieseBeschreibung trifft den Kern. Die Invasion galt übrigens offiziellals humanitäre Intervention.Auch damals waren die Vereinigten Staaten isoliert. DieRegierung war natürlich vom kubanischen Volk, aber auch vonder eigenen Bevölkerung isoliert, die töricht genug war, derPropaganda zu glauben und für Cuba libre zu schwärmen,obwohl ein freies Kuba natürlich das letzte war, was ihrepolitischen Führer im Sinn hatten — oder, aus andererPerspektive, das erste, weil sie genau dies verhindern mußten.Die hehren Ideale, für die Roosevelt kämpfte, bestanden genaudarin: Unabhängigkeit durch humanitäre Intervention zuverhindern. Jedoch wurden zu der Zeit, als er seine Rede hielt,1901, die Werte, die wir mittels Gewalt aufrechterhaltenmußten, viel dramatischer als in Kuba bei der Eroberung derPhilippinen verfochten. Es handelte sich dabei um einen dergrausamsten Kolonialkriege der Geschichte, in demHunderttausende Filipinos ermordet wurden. Die Presse sahdie Ausmaße dieses Massakers sehr wohl, empfahl aber,damit fortzufahren, »die Eingeborenen auf englische Art« zutöten, damit sie »unsere Waffen respektieren« und dann auchunsere guten Absichten. Auch dies war eine sogenanntehumanitäre Intervention.

Früchte der EroberungEs gab einige Probleme. Präsident McKinley meinte, wirkönnten zu diesem Zeitpunkt nicht behaupten, die Zustimmungder Filipinos zu besitzen, aber das sei unwichtig, weil unserGewissen diesen großen Akt der Humanität zugestimmt hat,und das ist es, was wirklich zählt. Einige wenige lehnten denKrieg mit scharfen Worten ab, wie etwa Mark Twain, dessenanti-imperialistische Essays allerdings erst 1992 erschienen.Aber McKinley wies daraufhin, daß »es nicht der richtigeZeitpunkt für den Befreier ist, wichtige Fragen betreffendFreiheit und Regierung den Befreiten zu überlassen, währendsie damit beschäftigt sind, ihre Retter niederzuschießen«.

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Warten wir also, bis sie damit aufhören, um ihnen dann alles,was mit der Freiheit zusammenhängt, zu erklären. SolcheWerte wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts hochgehalten,mit Hunderttausenden von Toten und ungeheurerZerstörungswut, und das sind die Werte, von denen es jetztheißt, wir mußten für sie kämpfen und sie hochhalten, wie esein Erbe der Rooseveltschen Werte namens Clintonverkündet.Man muß schon eine ganze Menge Vertrauen in die politischenDoktrinen der USA setzen, wenn man solche Worte äußertund davon ausgeht, daß die Menschen nicht empört reagieren.Aber dieses Vertrauen ist offenbar gerechtfertigt. MeinesWissens gab es keinen Aufschrei der Empörung, außer in denüblichen Randzonen des geistigen Lebens. Jene Epoche stellteeinen Wendepunkt in der modernen Geschichte dar, sicherlichin der US-amerikanischen, folglich in der Weltgeschichte. Bisdahin hatten sich die Vereinigten Staaten seit der Revolutionihrer vordringlichsten Aufgabe gewidmet, die, wie einführender Diplomatiehistoriker es 1969 formulierte, darinbestand, »Bäume und Indianer zu fällen und ihre natürlichenGrenzen abzustecken«. Ein heilsamer Effekt der Bewegung dersechziger Jahre besteht darin, daß heute kein führenderHistoriker, ja nicht einmal ein nationalistischer Tollkopf dieseWorte mehr zu äußern wagte. Niemand würde so etwasschreiben. Denken vielleicht, aber nicht äußern. Nachdem wirnun Bäume und Indianer gefällt und (unsere) natürlichenGrenzen abgesteckt hatten, mußten wir uns der Eroberungneuer Welten zuwenden. 1888 kündigte Außenminister JamesBlaine die nächsten Vorhaben an. Er sagte, es gebe dreiGebiete, die wertvoll genug seien, um einen schnellen Zugriff zurechtfertigen: Hawaii, Kuba und Puerto Rico. Ein paar Jahrespäter informierte der Minister auf Hawaii Washington, daß»die ha-waiianische Birne nun ihre volle Reife erreicht« habe.Sie mußte nur noch gepflückt werden, und das taten die USA,indem sie dem hawaiianischen Volk die Insel durch eineMischung aus Gewalt und Betrug entrissen. Das war der ersteSchlag. Blaine wiederholte faktisch die Worte, die JohnQuincy Adams siebzig Jahre zuvor benutzt hatte, als er Kubaals eine noch nicht »reife Frucht« beschrieb, die jedoch mitzunehmender Reife »durch die Gesetze der politischenGravitation« in unsere Hände fallen wird. Das war um 1820.Das gravierendste Problem im 19. Jahrhundert war diebritische Bedrohung. Während des Kalten Kriegs ging dieBedrohung von der Sowjetunion aus. Aber im 19. Jahrhundert

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hieß der Feind, der vertrieben werden mußte, Großbritannien.Darum weht in Kanada und auf Kuba auch heute nicht dasSternenbanner. Und diese Bedrohung setzte demBefreiungseifer der Revolutionäre und ihrer Erben Grenzen.Aber nicht nur Adams, sonder auch Thomas Jefferson undandere wiesen ganz richtig darauf hin, daß sich dasKräfteverhältnis verschieben und die britische Bedrohungallmählich nachlassen würde, so daß die USA Kuba schließlichübernehmen könnten. Und das mußte, wegen derüberragenden Bedeutung der Insel, durch die politischenGravitationskräfte, soll heißen: durch Gewalt, geschehen. Undes geschah 1898. Die USA besetzten Kuba, um die allerletzteBedrohung, die Befreiung von Spanien, zu verhindern. Imselben Jahr noch war Puerto Rico an der Reihe und diePhilippinen als Extrazugabe. Man hatte sie gar nicht näher inBetracht gezogen, aber auch sie erwies sich als überaus reife,von vielen Leichen genährte Frucht.Diese Ereignisse standen alle in einem planerischenZusammenhang. Die größte Frucht aus einer ganzenAngebotspalette war jedoch China. 2000 Jahre lang war eseines der wichtigsten Länder der Welt gewesen, eine führendeIndustrie- und Handelsmacht, doch im 19. Jahrhundert hattesich das geändert. Noch vor der Jahrhundertwende waren dieeuropäischen Großmächte und Japan fleißig dabei, China untersich aufzuteilen, und die USA wollten sich als aufstrebendeMacht daran beteiligen. Seit den frühen Tagen Neuenglandswar der Chinahandel legendär gewesen, damit ließ sich Geldverdienen. Um hier Fuß zu fassen, mußten die USA, wieStrategen es formulierten, Karibik und Pazifik in»amerikanische Seen« verwandeln. Also war Kuba fällig, umdie Karibik kontrollieren zu können, Kolumbien wurde (eineweitere Erfolgsgeschichte von Roosevelt) das Panamagebietgestohlen, der Kanal wurde gebaut, Hawaii eingenommen,dann kamen die Philippinen als weiterer Stützpunkt für denHandel mit China dazu. Schließlich waren Karibik und Pazifiktatsächlich zu amerikanischen Seen geworden und bis heulegeblieben.Alle diese Geschehnisse von 1898 und die ihnen folgendendienten auf die eine oder andere Weise, oft ganz explizit,diesem langfristigen Ziel. Dazu gehört auch die sogenannteRoosevelt-Ergänzung der Monroe-Doktrin, die den USAformell das Recht zusprach, in der Karibik die Vorherrschaftauszuüben. Die wiederholten Invasionen in Nicaragua,Woodrow Wilsons blutige Besetzungen der Dominikanischen

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Republik und Haitis - hier besonders schrecklich, weil Haitiauch von einem extremen Rassismus zerrissen wurde (von demes sich nie wieder erholen und vielleicht in einigen Jahrzehntennicht mehr bewohnbar sein wird) - und viele andereUnternehmungen in der Region waren sämtlich Bestandteil desneuen Humanismus, den wir jetzt neu beleben.Der vielleicht größte Erfolg gelang in Venezuela, wo es Wilson1920 gelang, den britischen Feind zu verjagen, der damals vonden Folgen des Ersten Weltkriegs geschwächt war. Venezuelawar immens wichtig. Die Weltwirtschaft beruhte immer stärkerauf der Verwertung von Erdöl. Nordamerika, vor allem dieUSA, war der bei weitem größte Erdölproduzent und blieb esbis in die siebziger Jahre, aber Venezuela war eine bedeutendeÖlquelle, eine der größten der Welt - bis 1970 sogar dergrößte Einzelexporteur, aus dem die USA noch heute dasmeiste Öl beziehen. Es war also äußerst wichtig, die Briten vondort zu verdrängen. Außerdem gab es dort noch andereRohstoffe, wie etwa Eisen, und US-Konzerne haben sichjahrzehntelang in Venezuela bereichert — und tun es nach wievor -, während die Vereinigten Staaten eine Reihe von blutigenDiktatoren unterstützten, um das Volk niederzuhalten.Die »Kennedy-Tapes«, die geheimen Tonbandaufnahmenwährend der kubanischen Raketenkrise, bieten anEnthüllungen nicht so sehr viel Neues, weil das meiste auf dieeine oder andere Weise schon veröffentlicht worden ist, abereiniges war doch bisher unbekannt. So waren zum BeispielRobert und John F. Kennedy auch deshalb wegen einerRaketenstationierung auf Kuba besorgt, weil dadurch eineInvasion Venezuelas gefährdet werden könnte, die die beidenfür notwendig hielten, weil die Lage dort außer Kontrolle zugeraten schien. In diesem Zusammenhang hielt John F.Kennedy die Invasion in der Schweinebucht für richtig: Wirmüssen dort gewinnen, wir können eine solche Bedrohungunseres Wohlwollens in der Region nicht ertragen. Nach derKubakrise rückten die USA, anders als oft behauptet wird,keineswegs von ihrem Plan einer Invasion der Insel ab. Sieverschärften den Terrorismus und das Embargo, das damalsschon beschlossen war, und so ist die Situation bis heutegeblieben.

Die Bedrohung durch CastroWie bereits erwähnt, war Kuba bis Januar 1959 eine »De-facto-Kolonie« der Vereinigten Staaten; und schon bald daraufgab es Versuche, die Entwicklung zurückzudrehen. Mitte 1959

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- aus dieser Zeit besitzen wir mittlerweile eine beträchtlicheAnzahl freigegebener Dokumente, die ein nahezu vollständigesBild ergeben — hatte die Regierung Eisenhower deninformellen Beschluß gefaßt, Kuba zurückzuerobern. ImOktober wurde Kuba bereits von in Florida stationiertenFlugzeugen bombardiert. Die USA behaupteten, sie könntennichts dagegen tun und stehen bis heute allen terroristischenAngriffen auf Kuba »hilflos« gegenüber. Diese Angriffewerden gewöhnlich von durch die CIA ausgebildeten Agentenausgeführt.Im März 1960 faßte die Regierung Eisenhower in geheimerSitzung den formellen Beschluß, Kuba zurückzuerobern.Allerdings sollte das auf eine Weise geschehen, die denUrheber nicht erkennen ließ, anderenfalls würde Lateinamerikazu einem einzigen Pulverfaß werden. Außerdem hattenUmfragen gezeigt, daß in Kuba sehr viel Optimismus herrschteund die Revolution große Sympathie genoß. Es war also miterheblichem Widerstand zu rechnen. Die kubanische Regierungmußte gestürzt werden, aber offiziell ohne Zutun der USA.Kurz danach übernahm die Regierung Kennedy dieAmtsgeschäfte. Kennedy und seine Leute waren sehr anLateinamerika interessiert; der Präsident hatte noch kurz vorseiner Wahl eine Lateinamerika-Mission eingerichtet, um dieVorgänge auf dem Kontinent beobachten zu lassen.Missionschef war der Historiker Arthur Schlesinger, dessenBerichte jetzt der Öffentlichkeit zugänglich sind. Er informiertePräsident Kennedy über den Einfluß Kubas auf dielateinamerikanische Bevölkerung. Das Problem, so meinte,bestehe darin, »daß Castros Idee, die Sache in die eigenenHände zu nehmen, sich weiter ausbreitet.« Diese Idee finde inganz Lateinamerika viel Anklang, weil dort »die Verteilung desGrundbesitzes und anderer nationaler Reichtümer vor allem diebesitzenden Klassen begünstigt ... [während] die Armen undUnterprivilegierten, ermutigt durch das Beispiel derkubanischen Revolution, jetzt bessere Lebensbedingungenfordern«. Das ist die Bedrohung durch Castro. Genau das.Und wenn man die Akten über die internen Planungsvorhabenstudiert, zeigt sich, daß dies immer die Bedrohung gewesen ist.Der Kalte Krieg war nur ein Vorwand für die Öffentlichkeit.Tatsächlich belegen die Dokumente in jedem Fall, wie dieBedrohung gesehen wurde. Kuba war eine Art »Virus«, derandere anstecken könnte, die daraufhin auch gewillt wären,»die Sache in die eigenen Hände zu nehmen« und bessereLebensbedingungen zu fordern.

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Auch Rußland wird in Schlesingers Bericht erwähnt. Rußland,so sagt er, biete sich im Hintergrund »als Modell dafür an, wiedie Modernisierung innerhalb einer einzigen Generation erreichtwerden kann«. Außerdem sei die Sowjetunion bereit,Entwicklungshilfe zu leisten. Also gab es auch die russischeBedrohung. Man fordert uns nachdrücklich auf, bei unsererBetrachtung des neuen Humanismus nicht an die altbackenenGeschichten aus dem Kalten Krieg zurückzudenken, als dieRussen uns daran hinderten, Wunder zu wirken. Es empfiehltsich, nicht dorthin zurückzuschauen, weil die Institutionen, diePlanungen, die Entscheidungen, die politischen Strategienimmer noch die alten sind. Besser, die Leute wissen nichtsdavon.Auch nach der Regierung Kennedy blieben die Verhältnisse biszum Ende des Kalten Kriegs unverändert. Danach tat sicheiniges. Nun gab es keine sowjetische Bedrohung mehr, unddie USA konnten, zusammen mit ihrem treuen Jagdhund,Großbritannien, freier agieren als je zuvor, und auch demEinsatz von Gewaltmaßnahmen waren nun keine Grenzen mehrgesetzt. Das war sofort evident, aber neue Vorwände wurdenbenötigt. Der russische Popanz taugte nicht mehr dafür.Im November 1989 fiel die Berliner Mauer, und damit war füralle klar denkenden Menschen der Kalte Krieg vorbei. EinenMonat zuvor hatte die Regierung von George Bush eine -mittlerweile nicht mehr — geheime Direktive für die nationaleSicherheit erlassen, die dazu aufrief, unseren guten FreundSaddam Hussein und vergleichbare Figuren im Mittleren Ostengegen die Russen zu unterstützen. Im März 1990 - vierMonate nach der Maueröffnung — mußte das Weiße Hausdem Kongreß sein Jahresbudget vorlegen, das, wie in denJahren zuvor, exorbitante Ausgaben für das Militär vorsah.Nun war jedoch nicht länger die Sowjetunion der Vorwand,da von ihr offensichtlich keine Gefahr mehr ausging, sonderndie »technologische Aufrüstung« der Mächte der Dritten Welt.Im Hinblick auf den Mittleren Osten hatten sich dieInstruktionen seit Oktober verändert: Im März mußten unsereInterventionskräfte zwar immer noch für den Mittleren Ostengewappnet sein, aber die Bedrohung konnte, ungeachtet derLügen von vier Jahrzehnten, nun nicht mehr »dem Kreml in dieSchuhe geschoben werden«, Die Vorwände änderten sich,doch die Politik blieb dieselbe. Nur kannte sie jetzt keineHemmungen mehr.Das zeigte sich sofort in der Lateinamerika-Politik. EinenMonat nach dem Fall der Mauer marschierten die USA in

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Panama ein, töteten Hunderte oder vielleicht Tausende vonMenschen, zerstörten Elendsviertel, brachten ein Regime vonBankiers und Drogenhändlern zurück an die Macht,Drogenhandel und Geldwäsche nahmen, wieUntersuchungskommissionen des Kongresses baldsignalisierten, dramatisch zu usw. Das ist normal; eine Fußnotein der Geschichte, aber zweierlei war anders als bisher. Zumeinen hatte sich der Vorwand geändert. Die Invasion war dieerste seit dem Beginn (und nach dem Ende) des Kalten Kriegs,bei der es nicht darum ging, uns gegen die Sowjetunion zuverteidigen. An ihre Stelle waren hispanische Drogenhändlergetreten. Zum anderen erkannten die USA sofort, daß sie nunsehr viel freier operieren konnten, denn die Russen würdennicht mehr, wie zuvor, in einem anderen Teil der Welt daraufreagieren. Der frühere Staatssekretär im Außenministerium,Abrams, wies denn auch frohgemut auf diese Tatsache hin.Das gilt für die Dritte Welt insgesamt. Sie muß nicht mehrpolitisch in Betracht gezogen werden. Die Blockfreiheit istbedeutungslos geworden. Man kann die Dritte Welt vergessenund muß nicht mehr so tun, als wäre man um ihre Interessenbesorgt. Das beweist die Politik mit aller Deutlichkeit.Und das gilt natürlich auch für Kuba. Nach demAuseinanderbrechen der Sowjetunion wurde das Embargoaugenblicklich verschärft, und zwar auf Initiative einer eherliberalen Regierung: Das entsprechende Gesetz wurde vonTorricelli und Clinton auf den Weg gebracht. Auch hier hattesich der Vorwand geändert. Vorher war Kuba der verlängerteArm der sowjetischen Bestie, der uns zu würgen drohte; jetztauf einmal sind wir gegen Kuba, weil wir die Demokratielieben.Die USA unterstützen einen bestimmten Typ von Demokratie,der sehr offen von Thomas Carothers, einem der führendenPolitikwissenschaftler, beschrieben wurde. Carothersbeschäftigte sich mit den demokratischen Gesetzesinitiativender Regierung Reagan in den achtziger Jahren und schreibt ausder Perspektive eines Insiders, weil er damals imAußenministerium an Projekten zur »Förderung derDemokratie« beteiligt war. Er führt aus, daß die RegierungReagan, der er große Seriosität bescheinigt, die Demokratieüberall untergraben hat, aber dennoch an einem bestimmtenTyp von Demokratie interessiert war, den er als »Demokratievon oben« bezeichnet. Hierbei bleiben »tradierteMachtstrukturen« unangetastet, und zwar genau die, zu denendie USA schon seit langem gute Beziehungen pflegen. Solange

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sich daran nichts ändert, gibt es mit der Demokratie keineProbleme.Insofern bleibt das kubanische Problem, was es von jeher war.»Castros Idee, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen«, istweiterhin bedrohlich, weil sie die Armen undUnterprivilegierten dazu ermuntert, die Verbesserung ihrerLebensbedingungen zu fordern. Daß sie dazu kein Rechthaben, läßt sich offensichtlich nicht in ihre Köpfe hämmern.Und leider lebt Kuba ihnen diese Möglichkeit vor, indem dieRegierung, trotz der bedrückenden Lage im Land, mehr Ärztein viele notleidende Länder der Erde schickt als jeder andereStaat, und zudem ein Gesundheitssystem aufrechterhält, dasdie Vereinigten Staaten beschämen muß. Diese Gründe undder lange in die Geschichte zurückreichende Fanatismus habendazu geführt, daß die US-Regierung ihre hysterischen Angriffeimmer noch fortsetzt und auch fortsetzen wird, solange ihrniemand Einhalt gebietet.Ausländische Mächte, die das tun könnten, gibt es nicht mehr,aber ihr Einfluß war ohnehin nie besonders groß. Der einzigeDruck, der etwas bewirken kann, muß nach wie vor von innen,aus den Vereinigten Staaten selbst kommen. Zwei Drittel derBevölkerung sind, auch ohne daß eine öffentliche Diskussionstattgefunden hätte, gegen das Embargo. Stellen wir uns vor,die Probleme würden einer ernsthaften und ehrlichenErörterung unterzogen — daraus ergäben sich enormeMöglichkeiten, den notwendigen Druck auf unsere Regierungauszuüben.

IV. Jubeljahr 2000Die Forderung nach einem allgemeinen Schuldenerlaß für alleSchuldnerländer im Jahr 2000 verdient Unterstützung, bedarfaber einiger Modifikationen. Die Schulden lösen sich ja nicht inLuft auf. Irgend jemand muß sie bezahlen, und die Geschichtebestätigt für gewöhnlich, was ein kritischer Blick auf dieMachtstruktur bereits ahnen läßt: Im System mit demtrügerischen Namen »freie Marktwirtschaft« werden Risiken,wie Kosten allgemein, der Gemeinschaft aufgebürdet.Ein komplementärer Ansatz könnte die altmodischekapitalistische Idee wiederbeleben, derzufolge derjenige, derGeld leiht, für die Rückzahlung verantwortlich ist, während derVerleihende das Risiko trägt. Das Geld wurde nicht vonCampesinos, Fabrikarbeitern oder Slumbewohnern geliehen.Die Bevölkerungsmehrheit hatte wenig von den Anleihen,

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sondern vielmehr oftmals unter den Folgen zu leiden. Aber derherrschenden Ideologie gemäß muß sie die Last derRückzahlung tragen, während die Risiken durchStützungskäufe des Weltwährungsfonds (die an Kreditgeberund Investoren, nicht an die Länder gehen) und andereMaßnahmen auf die Steuerzahler im Westen übertragenwerden. Kürzlich vergebene Stützungskredite des IWF haltensich an diese Norm, weil »private Kreditoren die IWF-Gelderin die eigene Tasche steckten, während die Schuldnerländerdie Schulden der Privatwirtschaft im Endeffekt nationalisierthaben«.1 Durch solche Maßnahmen werden die Banken, diefaule Kredite gewähren, ebenso geschützt wie die Eliten inWirtschaft und Militär, die sich selbst bereicherten, währendsie den Reichtum außer Landes schafften und die Ressourcenihres Heimatlandes in Privatbesitz nahmen. Die Schuldenkriseist eine »Krise« für die Armen, die, zum Zweck leichtererRückzahlung, harten strukturellen Anpassungsprogrammenunterworfen werden, deren Kosten den unterenGesellschaftsschichten aufgebürdet werden, und sie ist eine,wenngleich geringere, Krise für die Steuerzahler der westlichenLänder, die für hochverzinsliche und daher riskante Anleihenaufkommen müssen, wenn die Rückzahlung ausbleibt. Aberfür die Reichen und Privilegierten sind diese Arrangements wiegeschaffen.Die Schulden der lateinamerikanischen Länder, die seit 1982schwindelerregende Höhen erreicht haben, hätten drastischreduziert - in manchen Fällen sogar ganz abgebaut - werdenkönnen, wenn dazu das Fluchtkapital verwendet worden wäre,obwohl der Umfang dieser geheimen und oftmals illegalenTransaktionen nur schwer bezifferbar ist. Karin Lissakers, dergegenwärtigen Geschäftsführerin des IWF zufolge, »räumenBankiers ein, daß es keine [Schulden-jKrise gäbe, wenn dasFluchtkapital - das Geld, das die Bürger von Schuldnerländernim Ausland investieren oder anlegen — fürSchuldenrückzahlungen zur Verfügung stünde«, wobei»dieselben Bankiers nachdrücklich zur Anlage der Gelder imAusland raten«. Die Weltbank schätzte, daß in Venezuela1987 das Fluchtkapital die Auslandsschulden um etwa 40Prozent übertraf, während Business Week davon ausging, daß1980-82 in acht führenden Schuldnerländern die Höhe desFluchtkapitals 70 Prozent der Auslandsschulden erreichte.2Solche Relationen deuten auf einen unmittelbar bevorstehendenZusammenbruch hin, wie es auch 1994 in Mexiko der Fallwar. Das vom IWF 1998 für Indonesien geschnürte

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»Rettungspaket« war fast so umfangreich wie der geschätzteReichtum der Familie Suharto. Ein indonesischerWirtschaftswissenschaftler schätzte, daß 95 Prozent derAuslandsschulden von etwa 80 Milliarden $ zu Lasten von 50Einzelpersonen gehen, während die übrigen 200 Millionen dieKosten tragen. In den Augen des Asienexperten RichardRobison ist Indonesien »ein stalinistischer Staat auf denFundamenten von Dodge City«.3Die Schulden der 41 hochverschuldeten armen Länder werdenähnlich gehandhabt wie die Stützungskredite der US-amerikanischen Sparkassen- und Kreditinstitute in den letztenJahren, einer von vielen Fällen, in denen Risiken und Kostender Gesellschaft aufgebürdet wurden. Beschleunigt wurdedieses Verfahren, das mit zunehmender Staatsverschuldungund steigenden Staatsausgaben (relativ zumBruttosozialprodukt) einherging, von »konservativen« Reagan-Anhängern. Das Auslandsguthaben der Lateinamerikanerübersteigt die Stützungskredite der Sparkassen- undKreditinstitute um etwa 25 Prozent und lag 1990 bei 250Milliarden $.4Das alles ist nicht neu. Eine Untersuchung über Probleme derWeltwirtschaft weist darauf hin, daß »in den neunziger Jahrendes 19. Jahrhunderts bei den US-Eisenbahngesellschaften dieSchuldenlasten durch Auslandsobligationen sich auf demgleichen Niveau bewegten wie die jetzt sich entwickelndeStaatsverschuldung«.5 Nach 1930 waren Frankreich,Großbritannien und Italien bei den USA hochverschuldet, undnach dem Zweiten Weltkrieg war ein starker Kapitaltransfervon Europa in die Vereinigten Staaten zu beobachten. Durchentsprechende Kontrollen hätte man die Mittel zum Zweck desWiederaufbaus in den Herkunftsländern verwenden können,aber die Politiker, so unterstellen einige Analysten, zogen esvor, daß reiche Europäer ihr Kapital bei US-Bankendeponierten, wodurch die Kosten des Wiederaufbaus denamerikanischen Steuerzahlern aufgebürdet wurden. DerMarshallplan deckte die von führenden Ökonomenvorhergesagte Massenflucht von Kapital in etwa ab.6Aus der Geschichte kennen wir weitere Möglichkeiten, mitSchulden umzugehen. Als die USA vor einhundert JahrenKuba besetzten, war die Insel gegenüber Spanienhochverschuldet. Die USA erklärten die Schulden für null undnichtig, weil diese Last »dem kubanischen Volk ohne dessenZustimmung und mittels Waffengewalt aufgezwungen wordenwar«. Solche Schulden wurden später von der

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Rechtswissenschaft »faule Schulden« (odious debt) genannt,die »keine nationale Verpflichtung« darstellen, sondern »zuLasten der Macht, welche die Schulden verursacht hat,gehen«, während die Kreditgeber, die »eine gegen das Volkgerichtete feindselige Maßnahme ergriffen haben«, von denOpfern keine Rückzahlung erwarten dürfen. Als Costa Ricaseine Schulden gegenüber Großbritannien annullierte, kam esnach dem britischen Einspruch zu einem Schiedsverfahren, beidem der Schlichter — William Howard Taft, VorsitzenderRichter am Obersten Gerichtshof der USA - zu dem Urteilgelangte, daß die britische Bank die Gelder nicht für »legitimeVerwendungszwecke« verliehen und somit auch keinenAnspruch auf Rückzahlung hätte. Diese Logik ließe sich leichtauf die heutigen Verhältnisse übertragen: Auch diegegenwärtigen Schulden sind »faule Schulden«, die keinerechtliche oder moralische Legitimation besitzen, den Völkernohne ihre Zustimmung auferlegt wurden und meist dazu dienen,sie zu unterdrücken und ihre Herren zu bereichern. Würdeman das Prinzip heute anwenden, »könnten die Länder derDritten Welt einen substantiellen Teil ihrer Schulden als getilgtbetrachten«, kommentiert Karin Lissakers.In manchen Fällen gibt es Lösungen für die Schuldenkrise, diesogar noch einfacher und konservativer sind als dieundenkbare kapitalistische Idee oder das von der US-Regierung lancierte Prinzip der »faulen Schulden«.Mittelamerika leidet stark unter der Krise. Nicaragua weist diehöchste Pro-Kopf-Verschuldung der Region auf; gegenwärtigsind es 6,4 Milliarden $, die natürlich niemals zurückgezahltwerden können. Die Humankosten der IWF-Programme,mittels derer die Kreditgeber entschädigt werden sollen, lassensich nicht beziffern. Etwa 1,5 Milliarden $ stammen aus derÄra Somoza und sind mithin »faule Schulden«, die annulliertwerden können. Weitere drei Milliarden $ sind in der Zeit nach1990 angewachsen, als die USA die Kontrolle über Nicaraguazurückgewannen; auch dies sind »faule Schulden«. Für denRest sind die USA direkt verantwortlich, weil sie gegenNicaragua einen mit mörderischem Terrorismus verbundenenbrutalen Wirtschaftskrieg führten. Dafür wurden sie vomWeltgerichtshof verurteilt und aufgefordert, Reparationen zuzahlen, deren Höhe bei etwa 17 Milliarden $ lag. Folglichwürde das höchst konservative Prinzip, sich der internationalenRechtsprechung zu beugen, Nicaraguas Schulden nicht nurtilgen, sondern sogar noch zu einem Überschuß führen. Wärenin der westlichen Elitenkultur überhaupt elementare

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Moralprinzipien vorstellbar, müßten solche Schlußfolgerungenin den USA und Europa auch ohne Urteile desWeltgerichtshofs gezogen werden. Aber dieser Tag ist nochsehr fern. 7Einem Bericht der OECD zufolge verdoppelten sich dieBankkredite zwischen 1971 und 1973, um sich dann, in denfolgenden beiden Jahren, »trotz der gewaltigen Steigerung der01-preise zu stabilisieren«, wobei »der dramatischste Anstiegvon Kreditvergaben mit der Explosion der Warenpreise1972/73 -also vor dem Ölschock — einherging«. Ein Beispielwar die Verdreifachung der Preise für US-amerikanischeWeizenexporte. 8 Später nahm die Kreditvergabe zu, als dieBanken von Petrodollars überschwemmt wurden. Der (zeitlichbegrenzte) Anstieg der Ölpreise führte hier und da zurnüchternen Forderung, man solle das Öl im Mittleren Osten»internationalisieren, nicht zugunsten einiger wenigerÖlgesellschaften, sondern zugunsten der gesamtenMenschheit«.9 Dagegen gab es keine Vorschläge zurInternationalisierung der US-amerikanischen Landwirtschaft,die, aufgrund natürlicher Vorteile und einer seit vielen Jahrenbetriebenen, staatlich finanzierten Forschungs- undEntwicklungspolitik höchst produktiv ist, ganz zu schweigenvon den alles andere als marktgängigen Maßnahmen, die zurInbesitznahme des Landes führten.Die Banken waren bei der Kreditvergabe großzügig undbeurteilten die Erfolgsaussichten äußerst positiv. Noch amVorabend der Katastrophe von 1982, als Mexiko seineSchulden nicht mehr begleichen konnte, bezeichnete WalterWriston, Direktor der Citibank und in Finanzkreisen als»größter Kapital-Recycler« bekannt, Lateinamerika-Krediteals völlig risikolos, so daß Handelsbanken Dritte-Welt-Anleihen (in Form von Kapitalanlagen) ruhigen Gewissensverdreifachen könnten. Nach der Katastrophe ließ dieCitibank vermelden, man fühle sich in Brasilien »nichtübermäßig gefährdet«. Dort hatten sich die Bankschulden inden vorangegangenen vier Jahren verdoppelt, wobei dieCitibank mit mehr als 100 Prozent ihres Kapitals engagiertwar. 1986, nach dem Zusammenbruch des internationalenKreditbooms, den er angestoßen hatte, schrieb Wriston, daß»die Ereignisse der letzten zwölf Jahre zu der VermutungAnlaß geben, daß wir [Bankiers] unseren Job [derRisikoeinschätzung] vernünftig erledigt haben«; wasunbestreitbar ist, wenn wir die Sozialisierung des Risikos durchRegierungsinterventionen in die Rechnung miteinbeziehen.

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Diese Interventionen sind von Wriston und anderen, die fürihre Verachtung der Institution Regierung und ihre Anbetungdes freien Markts berüchtigt sind, natürlich begrüßt worden.10Bei der Schuldenkatastrophe (die eine für die Armen war)hatten natürlich auch die internationalen Finanzinstitutionen ihreHand im Spiel. In den siebziger Jahren förderte die Weltbankganz entschieden die Kreditaufnahme durch arme Länder undverkündete 1978 im Brustton der Überzeugung: »DieEntwicklungsländer haben kein allgemeinesRückzahlungsproblem.« 1982, wenige Wochen, bevorMexiko die Krise lostrat, versicherte eine von IWF undWeltbank gemeinsam herausgebene Publikation, es gebe noch»beträchtlichen Spielraum für weitere gestützteKreditaufnahmen, um die Produktionskapazitäten zu erhöhen«- wie etwa für die nutzlose Stahlfabrik Sicartsa in Mexiko, die,gemäß dem Merkantilismus a la Thatcher, von britischenSteuerzahlern finanziert wurde.11An diesen Strukturen hat sich bis heute nichts geändert.Mexiko wurde lange Zeit als Triumph des freien Markts undModell für andere Länder gefeiert, bis seine Wirtschaft imDezember 1994 zusammenbrach, was für die meistenMexikaner, die schon während des »Triumphs« zu leidenhatten, dramatische Folgen nach sich zog. Mittlerweile erhebtsich erneutes Jubelgeschrei, während die Löhne seit 1994(dem ersten Jahr nach Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens) um mehr als 25 Prozent gefallen sind, wobei sichder erste große Absturz bereits nach den liberalen Reformenzu Beginn der achtziger Jahre ereignete; von 1981 bis 1998sind die realen Mindestlöhne um mehr als 80 Prozent gefallen.12 Gerade als die Finanzkrise in Asien ausbrach, schwärmtenUntersuchungen von IWF und Weltbank von der »gesundenmakroökonomischen Politik« und dem »beneidenswertenFinanzhaushalt« von Thailand und Südkorea und verwiesen aufdie »besonders intensive« Entwicklung der »dynamischsten[Kapital-]Märkte«, nämlich »Korea, Malaysia und Thailand,gefolgt von Indonesien und den Philippinen«. DieseErfolgsmodelle des freien Markts unter Anleitung von IWF undWeltbank heben sich »durch die von ihnen erreichte Intensitätund Liquidität« und andere Tugenden hervor. Nachdem dieseLuftballons geplatzt waren, veröffentlichte die OECD 1997einen Bericht, in dem sie die Wunder der Liberalisierungfeierte, die, obwohl sie seit mehr als zwanzig Jahren von einemdeutlichen Rückgang des Bruttosozialprodukts und anderen

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makroökonomischen Indikatoren begleitet worden war, baldihre Versprechen einlösen sollte, und zwar dank der Dynamikder »sich herausbildenden Wirtschaft von Staaten, die nichtder OECD angehören« und zu deren führenden Kräften die»Großen Fünf -Brasilien, China, Indien, Indonesien undRußland - gehören«.13Falsche Voraussagen sind keine Sünde; noch immer werdengrundlegende Faktoren der Weltwirtschaft »nur höchstunzureichend verstanden« (Jeffrey Sachs). Allerdings läßt sichschwer übersehen, daß »schlechte Ideen Konjunktur haben,weil mächtige Gruppen daran interessiert sind« (PaulKrugman). Das Vertrauen auf das, was zweckdienlich ist, wirdnoch bestärkt durch den blinden Glauben an die »Religion«des allwissenden Markts (Joseph Stiglitz).14 Diese Religion istso heuchlerisch wie fanatisch. Seit Jahrhunderten ist dieTheorie des »freien Markts« zweischneidig: Marktdisziplin istgut für die Armen und Wehrlosen, während die Reichen undMächtigen sich im Schoß von Vater Staat geborgen fühlendürfen.Ein weiterer Faktor für die Schuldenkrise war dieLiberalisierung der Finanzmärkte, die zu Beginn der siebzigerJahre einsetzte. Das nach dem Zweiten Weltkrieg vonGroßbritannien und den USA entworfene System von BrettonWoods sollte den Handel liberalisieren, während dieWechselkurse stabil blieben und Kapitalbewegungen reguliertund kontrolliert wurden. Diese Entscheidungen beruhten aufder Annahme, daß sich die Liberalisierung der Finanzmärkteauf Handel und Wirtschaftswachstum ungünstig auswirken undRegierungsentscheidungen beeinträchtigen könnte. BrettonWoods diente also auch dem Schutz des Wohlfahrtsstaats, derin der Bevölkerung große Popularität genoß. Die Kontrolle derKapitalbewegungen war notwendig, um den in langen undharten Kämpfen errungenen Gesellschaftsvertrag undsubstantielle demokratische Strukturen vor Schaden zubewahren.Das System von Bretton Woods blieb während des»Goldenen Zeitalters«, in dem wirtschaftliches Wachstum undwohlfahrtsstaatliche Maßnahmen florierten, in Kraft, bis ihmdie Regierung Nixon, unterstützt von Großbritannien undanderen Staaten, das Ende bereitete. Das führte in dendarauffolgenden Jahren zu einer wahren Explosion vonKapitalströmen, die sich auch in ihrer Zusammensetzunggrundlegend änderten. 1970 bezogen sich 90 Prozent allerTransaktionen auf reales Kapital (Handel und langfristige

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Investitionen). 1995 waren schätzungsweise 95 Prozent derTransaktionen spekulatives, zumeist sehr kurzfristig angelegtesKapital (80 Prozent mit einer Anlagedauer von sieben oderweniger Tagen). Dadurch wurden außerdem weitere»Ressourcen auf die Finanzmärkte verlagert, während dieBildung von Realkapital gehemmt wurde«.15Das Ergebnis bestätigt weitgehend die Erwartungen, die sichmit dem System von Bretton Woods verbanden. DerGesellschaftsvertrag geriet unter Beschüß, währendprotektionistische und andere interventionistische Maßnahmenum sich griffen. Dabei kam den »Reaganisten« eine führendeRolle zu. Die Märkte sind unberechenbarer und krisenanfälligergeworden. Die Funktion des IWF hat sich mittlerweile insGegenteil verkehrt: Sollte er zunächst die Mobilität desFinanzkapitals eindämmen, so ist er jetzt dazu übergegangensie zu befördern und, wie Lissaker sagt, »die Kreditmärkteweiter anzuheizen«.Es wurde sofort gemutmaßt, daß diese Liberalisierung in denreichen Ländern zu geringerem Wirtschaftswachstum undniedrigeren Löhnen führen würde. Das ist auch eingetreten. Inden letzten 25 Jahren sind die Produktivitäts- undWachstumsraten erheblich gesunken. In den USA sind dieSpitzeneinkommen enorm gestiegen, während die Mehrheit derBevölkerung Lohn- und Gehaltseinbußen hinnehmen mußte.Mittlerweile stehen die USA, was sozialstaatliche Leistungenangeht, unter den Industrienationen an letzter Stelle. Englandgibt kein sehr viel besseres Bild ab, und auch in anderenOECD-Staaten lassen sich ähnliche, wenngleich nicht soextreme, Auswirkungen beobachten.In der Dritten Welt sind die Folgen sehr viel schlimmer.Erhellend ist ein Vergleich der ostasiatischenWachstumsregionen mit Lateinamerika. In Ostasien ist diesoziale Ungleichheit am geringsten, während sie inLateinamerikä am gravierendsten ist. Ähnliches gilt für dasBildungs- und Gesundheitswesen wie für staatlicheWohlfahrtseinrichtungen insgesamt. Importe nachLateinamerika bedienen vorwiegend dieKonsumtionsbedürfnisse der reichen Schichten, während inOstasien Produktivinvestitionen vorherrschen. In Ostasien wirddie Kapitalflucht kontrolliert, nicht so in Lateinamerika. Hier»weigern sich [die Reichen], Steuern zu zahlen« und sind vonsozialen Verpflichtungen weitgehend ausgenommen.16 Das istin Ostasien ganz anders.

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Instruktiv für Lateinamerika ist Chile, das einmal als rühmlicherAusnahmefall galt. Das unter Pinochets Diktatur begonneneExperiment mit dem freien Markt war zu Beginn der achtzigerJahre völlig zusammengebrochen. Seitdem hat sich dieWirtschaft durch eine Mixtur unterschiedlicher Maßnahmenwieder erholt. Dazu gehören staatliche Subventionen (auch fürdie im Nationalbesitz befindlichen Kupferminen, die einbedeutender Einkommensfaktor sind), die Kontrollekurzfristiger Kapitalanlagen aus dem Ausland undsozialstaatliche Programme.In den neunziger Jahren erreichte die Liberalisierung derFinanzmärkte schließlich Asien. Viele sehen darin eine Ursachefür die spätere Wirtschaftskrise, die auch durchMarktversagen, Korruption und Strukturprobleme bedingtwar.Die Schuldenkrise ist ein gesellschaftliches und ideologischesKonstrukt, nicht einfach eine wirtschaftliche Tatsache. Darüberhinaus dient, wie seit langem bekannt ist, die Liberalisierungder Kapitalströme als wirksame Waffe gegen sozialeGerechtigkeit und Demokratie. Die jüngsten politischenEntscheidungen folgen keinen geheimnisvollen »ökonomischenGesetzen«, die, so Thatchers unbarmherzige Behauptung,»keine Alternative zulassen«, sondern liegen imwohlkalkulierten Eigeninteresse der Mächtigen. Schon vorJahren hat man, um die schlimmsten Auswirkungen dieserEntscheidungen abzumildern, technische Verfahrenvorgeschlagen, die gleichfalls im Interesse der Mächtigen vomTisch gewischt wurden. Aber die Institutionen, die dienationalen und globalen Systeme entwerfen, sind ebensowenigvon der Notwendigkeit entbunden, ihre Legitimität unterBeweis zu stellen, wie ihre glücklicherweise entmachtetenVorläufer.

Anmerkungen

1 Jeffrey Sachs, FT, 5. Nov. 1998. Zu den Techniken, mittelsderer die Banken für ihre unvorsichtigen Lateinamerika-Kredite, die sie eigentlich hätten ruinieren müssen, imEndeffekt belohnt wurden, vgl. Karin Lissakers, Banks,Borrowers, andthe Establishment (Basic Books, 1991), sowieSusan Strange, Mad Money (Univ. of Michigan Press, 1998).2 Karin Lissakers, Banks, Borrowers; Cheryl Payer, Lent andLost (Zed, 1993).3 Der Indonesienexperte Benedict Anderson schätzte das

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Vermögen der Familie Suharto auf 30 Milliarden $, was nichtweit von dem geplanten »Rettungspaket« des IWF entfernt ist(London Review of Books, 16. April 1998). Der indonesischeWirtschaftswissenschaftler Kwik Kian Gie wird zitiert nachGerry van Klinken, Inside Indonesia, April— Juni 1998.Robison, Leiter des Asienforschungszentrums an derMurdoch-University in Perth, wird zitiert nach: »StalinistState«, Far Eastem Economic Review, 16. April 1998.4 Karin Lissakers, Banks, Borrowers; Payer, Lent and Lost.Zur Steigerung der Regierungsausgaben unter Reagan vgl.Fred Block, Vampire State (New Press, 1996). GegenwärtigePläne, die (als unbezahlbar erkannten) Schulden für die»Highly Indebted Poor Countries« (HIPC; hochverschuldetearme Länder) zu streichen, werden davon abhängig gemacht,daß diese Länder Strukturanpassungsprogramme des IWFakzeptieren, die jetzt unter dem Namen »Poverty Reductionand Growth Facility« (PRGF; Verringerung von Armut undErmöglichung von Wachstum) laufen.5 Peter Cowhey und Jonathan Aronson, Managing the WorldEconomy (Council on Foreign Relations, Columbia Umv.,1993).6 Eric Helleiner, States and the Reemergence of GlobalFinance (Cornell Univ. Press, 1994).7 Patricia Adams, Odious Debts (Earthscan, 1991); KarinLissakers, Banks, Borrowers; Witness for Peace, A BankruptFuture: The Human Cost of Nicaraguas Debt (WFP, 2000);Envio (Managua, Nicaragua: UCA), 18.220, Nov. 1999.8 Payer, Lent and Lost; Emma Rothschild, NYTMagazine, 13.März 1977.9 Walter Laqueur, NYT Magazine, 16. Dez. 1973.10 Karin Lissakers, Banks, Borrowers. Zum Hintergrund vgl.u. a. David Felix, »Asia and the Crisis of FinancialGlobalization«, in D. Baker, G. Ep-stein und R. Pollin (Hg.),Globalization and Progressive Economic Policy (CambridgeUniv. Press, 1998). ^ ,11 Payer, Lent and Lost; Philip Wellons, Passing the Bück(Harvard Business School Press, 1987).12 Vgl. den mexikanischen WirtschaftswissenschaftlerAlejandro Nadal, » World Investment Report 1999 Flawedon Many Fronts«, Third World Economics, 16.-30. Nov.1999.13 David Felix, »Asia and the Crisis of FinancialGlobalization«; »Globali-zing Financial Capital Mobility: TheEmpire´s New Clothes?«, Working Paper No. 213,

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Washington University, Juni 1998, vorgesehen für CEPALReview. Zum Niedergang makroökonomischer Indikatorenseit der Liberalisierung des Finanzkapitals (»Globalisierung«)vgl. Baker u. a., Globalization and Progressive EconomicPolicy; Robin Hahnel, Panic Rules! (South End, 1999); JohnEatwell und Lance Taylor, Global Finance atRisk (New Press,2000).14 Jeffrey Sachs, »International Economics: Unlocking theMysteries of Globalization«, Foreign Policy (Frühjahr 1998);Paul Krugman, »Cycles of Conventional Wisdom onEconomic Development«, International Affairs 71:4 (Okt.1995); Joseph Stiglitz, »Some Lessons from the East AsianMi-racle«, World Bank Research Observer 11:2 (Aug. 1996).Stiglitz wurde schon bald zum Chefökonomen der Weltbankernannt. Zu seinen Überlegungen zur Krise in Ostasien vgl.seine WIDER Annual Lectures 2, UN University, 1997; »AnAgenda for Development in the Twenty-First Century«,Annual World Bank Conference on Development Economics1997, IBRD, 1998.15 David Felix, »The Tobin Tax Proposal: Background,Issues, and Pro-spects«, Working Paper No. 191,Washington University, Juni 1994; vgl. diesen und andereAufsätze in Mahbub Ul Haq, Inge Kaul, Isabelle Grun-berg,The Tobin Tax: Coping with Financial Volatility (Oxford,1996).16 Vgl. dazu den Artikel des argentinischenPolitikwissenschaftlers Atilio Bo-ron, »Democracy orNeoliberalism?«, Boston Review, Okt./Nov. 1996 sowie seinBuch State, Capitalism, and Democracy in Latin America(Lynne Rienner, 1996).

V. »Die Rechte zurückerlangen«: Eindornenreicher WegIn den Analekten beschreibt Konfuzius die vorbildliche Person— den Meister selbst - als »denjenigen, der sich immerfortbemüht, auch wenn er weiß, daß es vergeblich ist«. DieserGedanke drängt sich auch zum 50. Jahrestag derUnterzeichnung der »Allgemeinen Erklärung derMenschenrechte« auf.Regelmäßig erscheinende Berichte zur Lage derMenschenrechte zeugen von einer bis heute andauerndentraurigen Geschichte, in die auch die Großmächte verwickeltsind. Um nur zwei jüngere Beispiel zu erwähnen: Der

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»Kollateralschaden«, den die von den USA undGroßbritannien auf den Irak abgeworfenen Bombenanrichteten, verdient offenbar ebensowenig Aufmerksamkeit1wie die willkürliche Zerstörung einer großen afrikanischenPharmaziefabrik einige Monate zuvor oder andereNebensächlichkeiten.Und es sind wirklich Nebensächlichkeiten, wenn man sie mitUnternehmungen vergleicht, die in Washingtons »Hinterhof«stattfinden. So gab die liberale Presse »Reagan & Co. guteNoten« für ihre Unterstützung des Staatsterrors in El Salvador,der zu Beginn der achtziger Jahre seinen Höhepunkt erreichte.Man forderte sogar stärkere militärische Hilfe für diese»Latino-Faschisten ... auch wenn dabei noch so vieleMenschen ermordet werden«, weil es »für Amerika inSalvador Wichtigeres gibt als die Menschenrechte«. Auchmüsse Nicaragua wieder zu den »mittelamerikanischenVerhältnissen«, wie sie in El Salvador und Guatemalaherrschen, zurückfinden, möglicherweise durch eine »regionaleVereinbarung, die Nicaraguas Nachbarstaaten durchsetzenwürden«. El Salvador und Guatemala waren die Terrorstaaten,die damals ihre Bevölkerung mit US-amerikanischer Hilfeabschlachteten.2 Die Kommentare entstammen demlinksliberalen Lager; die anderen äußerten sich noch weitschärfer.Das Bild ändert sich, wenn man einen Schritt zurücktritt. Dievon Jesuiten organisierte Konferenz in San Salvador hatte dasbereits erwähnte staatsterroristische Projekt und seineFortsetzung durch die von den Siegern erzwungene Sozial- undWirtschaftspolitik zum Thema. In dem Konferenzbericht wurdeauf die Auswirkungen der fortdauernden »Kultur des Terrors«hingewiesen. Diese sollte »die Hoffnungen der Mehrheit aufAlternativen zur Politik der Mächtigen zähmen«3 , Hoffnungen,die in den siebziger Jahren aufgekeimt waren, als in der ganzenRegion Organisationen im Interesse der Bevölkerungsmehrheitentstanden, als Somoza gestürzt wurde und die Kirche sich fürdie Armen einsetzte - eine Abweichung vom Pfad der Tugend,die harte Bestrafungen nach sich zog.Die von den Jesuiten geschilderte Lage läßt sich in vielenLändern der Dritten Welt finden, zunehmend aber auch in denreichen Staaten des Westens, weil das Modell einerausgeprägten Zwei-Schichten-Gesellschaft international anVerbreitung gewinnt. Die wirkliche Welt fand ihren Widerhallin Bemerkungen des Generalsekretärs der UNCTAD, einerOrganisation, die gegründet wurde, »um ein internationales

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Handelssystem zu schaffen, das mit der Förderungwirtschaftlicher und sozialer Entwicklung kompatibel ist«. Ervertrat die UNO am 50. Jahrestag des Welthandelssystems(GATT, WTO usw.) und bemerkte bei dieser Gelegenheit,daß »niemand sich von der festlichen Atmosphäre dieser Feiertäuschen lassen sollte. Draußen walten Angst und Furcht,drohender Verlust von Arbeitsplätzen und, in den Worten vonThoreau, 'ein Leben in stiller Verzweiflung'.«4 Das Ereignisfand in den Medien große Beachtung, berichtet wurde jedochvorrangig über die festliche Atmosphäre.Die vom Wirbelsturm Mitch im Oktober 1998 angerichtetenVerwüstungen wurden von den Medien genau nachgezeichnet.Unerwähnt blieb jedoch, daß eine ihrer Ursachen in dem»Wirtschaftswunder« lag, das von US-Experten angeleitete»Latino-Faschisten« angerichtet hatten — einEntwicklungsmodell, bei dem »große Armut mit derBegünstigung der Minderheit einhergeht, während die Mehrheitmit dem Subsistenzminimum auskommen muß«. So äußertesich ein konservativer Bischof aus Honduras, der neueProgramme, die die Katastrophe nur verlängern, verurteilte. Erwurde von einem altgedienten Mittelamerika-Journalistenzitiert, einem der wenigen, die sich mit den Ursachen dieserKatastrophe beschäftigten. Ihm zufolge wurden die Hoffnungenauf einen sozialen Wandel von den Armeen zunichte gemacht,die »dafür sorgten, daß fast allen, die ihre Stimme für eineLandreform erhoben hatten, verschwanden«, zusammen mitHunderttausenden weiterer mißliebiger Personen.5 Die USAhaben für die Ausbildung der Armeeangehörigen gesorgt.Ein detaillierteres Bild wäre noch düsterer, aber das Erwähntesoll genügen.Die sozialen Auswirkungen des Wirbelsturms wurden in demForschungsjournal der Jesuitischen Universität von Managuauntersucht. »Hatte Mitch einen Klassencharakter?« wurde indem Bericht gefragt. Der Wirbelsturm traf vor allem die armenBauern, die »in die ökologisch sensibelsten und für dieLandwirtschaft am wenigsten geeigneten Gebiete abgedrängtwurden«. Ein Beispiel ist Posoltega, Schauplatz dergrauenhaften Schlammlawine, deren Bilder die Weltschockierten. Wenige Kilometer davon entfernt kam dieRaffinerie von San Antonio, »eines der symbolträchtigstenWirtschaftsimperien Nicaraguas«, völlig ungeschoren davon.Das gilt auch für die landwirtschaftliche Exportindustrieallgemein, die von dem Regen profitiert, der die von ihr inMonopolbesitz gehaltenen Böden fruchtbar macht. Dagegen

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wurde die Produktion grundlegender Agrarprodukte (Getreideund Bohnen) vernichtet, was für die Bauern und dieBevölkerungsmehrheit eine Katastrophe bedeutete. DerWiederaufbau eines »Neuen Nicaragua« wird die altenUnterschiede nur noch vergrößern; das beeindruckendeWirtschaftswachstum läßt die Bevölkerung auf ein haitianischesArmutsniveau absinken. Dazu tragen Subventionen aus demAusland genauso ihren Teil bei wie einheimische Institutionen,deren Neustrukturierung den Erfordernissen der internationalenFinanzinstitutionen genügen soll. Kreditvergabe, Forschungund die Innenpolitik ganz allgemein werden noch mehr alsvorher darauf ausgerichtet, »ihre Leistungen ausschließlich inden Dienst der zahlungsfähigen Gesellschaftsmitglieder zustellen«, wobei auch die Überreste der Agrarreform nach undnach beseitigt werden. Der »Klassencharakter« desWirbelsturms und seiner Nachwirkungen ist keineswegsAusdruck eines »göttlichen Willens oder [einer] mythischenVerfluchung der Armen«, sondern »das Ergebnis sehrkonkreter sozialer, ökonomischer und ökologischerFaktoren«.6 Auch dies gilt beileibe nicht nur für Nicaragua.Als Nebenwirkung des Wirbelsturms wurden Zehntausendevon Landminen in der Region verstreut. Sie sind einÜberbleibsel der nicaraguanischen Komponente derTerrorkriege, die Washington in den achtziger Jahren führte.Zum Glück kamen Minensuchexperten zu Hilfe — ausFrankreich. Berichtet wurde darüber in pazifistischenPublikationen.7 Daß Washington sich nicht darum kümmerte,kann angesichts der Reaktion auf weit schlimmereMenschenrechtsverletzungen ähnlicher Art, von denen noch dieRede sein wird, kaum verwundern. Das vielleichteindrucksvollste Beispiel sind die Opfer der Antipersonen-Minen, die die Ebene von Jars in Laos zu einem tödlichenGelände machen. Jars war Schauplatz der schwersten undnachweisbar grausamsten Bombardements ziviler Ziele in derGeschichte überhaupt: Dieser furienhafte Angriff auf eine armebäuerliche Gesellschaft hatte mit den Kriegen, die Washingtonsonst noch in der Region führte, kaum etwas zu tun.

Neue Rechte?Untersuchen wir die allgemeineren Umstände, unter denen diein der Erklärung niedergelegten Rechte Leben und Substanzgewinnen.In vielerlei Hinsicht betrat die UN-Menschenrechtserklärungneues Terrain. Sie erweiterte den Bereich der bereits

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formulierten Rechte und dehnte ihn auf alle Personen aus. Ineinem großen Essay zum 50. Jahrestag gibt Mary AnnGlendon, Rechtsprofessorin in Harvard, einen Überblick überdie in der Erklärung festgelegten Rechte. Es handelt sich dabei,bemerkt sie, »nicht lediglich um eine 'Universalisierung' dertraditionellen 'Menschenrechte' (rights of man) des 18.Jahrhunderts, sondern um den Bestandteil eines neuen'Impulses' in der Geschichte der Menschenrechte (humanrights) ... [Die Erklärung] gehört zur Familie der nach demZweiten Weltkrieg entwickelten Rechtsinstrumente, die demFreiheitsbaum den Zweig der sozialen Gerechtigkeitaufpropfen wollten«. Dazu zählen vor allem die Artikel 22—27, eine »Säule« der Erklärung, die »verschiedenden 'neuen'ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechten den Statusvon Grundrechten verleiht«. Im Grunde ist die Menschen-rechtserklärung ein weiterer Schritt zur »Rückerlangung derRechte«, die durch Eroberung und Tyrannei verlorengingen.Sie verspricht »dem Menschengeschlecht ein neues Zeitalter«,um an die Hoffnungen von Thomas Paine vor über zweihundertJahren zu erinnern.8Weiter hebt Glendon hervor, daß die Erklärung von einemintegralen Universalismus geprägt ist: Die »relativistische«Forderung, daß bestimmte Rechte im Kontext »asiatischerWerte« oder eines anderen Vorwands nur sekundären Statushaben dürften, findet in ihr keinen Platz.Eben dies wird auch in einem Bericht zurMenschenrechtsordnung, den die Vereinten Nationen zum 50.Jahrestag der UN-Charta veröffentlichten, sowie im UN-Beitrag zur ersten Weltkonferenz über Menschenrechte, die1993 in Wien stattfand, betont. In seiner Eröffnungsrede wiesder UN-Generalsekretär daraufhin, »daß die Interdependenzaller Menschenrechte von großer Bedeutung ist«. In derEinleitung zu einer Publikation, die dem 50. Jahrestaggewidmet ist, faßt er die Ergebnisse der Wiener Konferenzzusammen: »Förderung und Schutz ökonomischer, sozialer undkultureller Rechte ist genauso wichtig wie die Durchsetzungvon Bürgerrechten und politischen Rechten.«Ähnlich äußerte sich der Vatikan zum 50. Jahrestag derMenschenrechtserklärung. In seiner Neujahrsbotschaft für1999 verdammte Papst Johannes Paul II. neben Marxismus,Nazismus und Faschismus auch die »nicht weniger bösartige«Ideologie des »materialistischen Konsums«, bei der »dienegativen Auswirkungen auf andere Menschen für völligunbedeutend gehalten werden« und »Nationen und Völker das

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Recht auf eine Beteiligung an den Entscheidungen, die ihreLebensweise oft so grundlegend verändern«, verlieren. IhreHoffnungen werden »grausam zerstört« durch eineMarktordnung, in der »politische und finanzielle Machtkonzentriert sind«, während die Finanzmärkte unberechenbarfluktuieren und »Wahlen manipuliert werden können«. Zu denKernelementen einer »neuen Vision weltweiten Fortschritts inSolidarität« müssen Garantien für das »weltweite Gemeinwohlund die Ausübung ökonomischer und sozialer Rechte« sowiedie »nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft« gehören.10Eine vorsichtige Version der, wie sie genannt wird, »Post-Befreiungstheologie« des Vatikans kann auf dem freien Marktder Ideen zugelassen werden, was für ihre Vorläuferin, dieBefreiungstheologie selbst, natürlich nicht galt. Diese Ketzereiist, wie Kommentatoren vermelden, »nahezu vollständigausgestorben«.11 Den Umständen dieses Aussterbens ist derihnen gemäße Platz in der Geschichte eingeräumt worden, undsie ruhen dort neben dem Erzbischof, dessen Ermordung dasdüstere Jahrzehnt des Kriegs eröffnete, den Washington gegendie Kirche und andere Übeltäter führte, sowie neben denführenden jesuitischen Intellektuellen, deren Ermordung durchdie nämlichen, von den USA unterstützten »Latino-Faschisten« das Ende dieses Kriegs markierte. Die beidenTheologien unterscheiden sich in einem besonders wichtigenAspekt. Das »Eintreten für die Armen«, das jetzt irgendwieausgestorben ist, sollte diese ermutigen, sich aktiv an derGestaltung ihrer sozialen Welt zu beteiligen, während dieErsatzversion sie nur dazu aufruft, die Reichen und Mächtigenum einige Krümel vom Festmahl zu bitten, während die Kirchedas »Gewissen« der Oberschichten »wachrütteln« und sie andie »katholischen Werte der Freigebigkeit und Aufopferung«erinnern soll. Die Befreiungstheologie wollte durch dieGründung christlicher Basisgemeinden den Menschen zeigen,wie sie »das Recht auf eine Beteiligung an den Entscheidungen,die ihre Lebensweise oft so grundlegend verändern«, ausübenkönnten. Daraus ist jetzt, in der verwässerten Version, dieBitte um eine wohlwollendere Ausübung von Herrschaftgeworden.Glendon wendet sich ferner gegen die Behauptung, sozio-ökonomische und kulturelle Rechte seien »als Konzession andie Sowjets« in die Menschenrechtserklärung aufgenommenworden; vielmehr habe es dafür »eine breite Unterstützung«gegeben. Wir sollten uns daran erinnern, daß solche Ideale vonantifaschistischen und antikolonialistischen Kräften

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hochgehalten wurden, aber auch in der US-amerikanischenBevölkerung großes Ansehen genossen. Das wiederum warden politischen und wirtschaftlichen Eliten der USA ein Dornim Auge, denn sie malten sich die Welt, die sie schaffenwollten, ganz anders aus. Sie äußerten sich besorgt über die»dem Zufall ausgelieferten Industriellen« angesichts »der neuverwirklichten politischen Macht der Massen« in denVereinigten Staaten und über die »neuen Bestrebungen« beiausländischen Bevölkerungen, die »davon überzeugt [sind],daß die ersten Nutznießer der Ressourcenentwicklung einesLandes dessen Bewohner sein sollten«, und nicht etwa US-Investoren. Die Schritte, die zur Beseitigung solcherZufälligkeiten unternommen wurden, sind Leitmotive derNachkriegsgeschichte, die ich hier jedoch, trotz ihreraugenfälligen Bedeutung, beiseite setzen muß.Natürlich gab es einige, die die Menschenrechtserklärungverachtungsvoll fallen ließen. Der sowjetische DelegierteAndrej Wischinski, dessen eigene Vergangenheit uns hier nichtbeschäftigen muß, hielt sie, mit oft zitierten Worten, für »eineSammlung frommer Sprüche«, während Reagans UN-Botschafterin Jeane Kirkpatrick die sozioökonomischen undkulturellen Rechte der Deklaration als »einen Brief an denWeihnachtsmann« lächerlich machte und hinzufügte: »WederNatur, noch Erfahrung oder Wahrscheinlichkeit ist von Einflußauf diese Liste von »Leistungsansprüchen«, die keine Grenzenkennen, es sei denn den Geist und die Gelüste ihrer Autoren.«Einige Jahre später hielt UN-Botschafter Morris Abram solcheIdeen für »kaum mehr als einen leeren Topf, in den vageHoffnungen und unausgereifte Erwartungen fließen«; sie seien»gefährlich aufrührerisch«, wo nicht gar »absurd«. Abramsprach vor der UN-Menschenrechtskommission, um zuerklären, warum Washington das Recht auf Entwicklungablehne, das »Individuen, Gruppen und Völkern« dieMöglichkeit bieten sollte, »eine kontinuierliche ökonomische,soziale, kulturelle und politische Entwicklung zu genießen, zuihr beizutragen und an ihr zu partizipieren, in der alleMenschenrechte und Grundfreiheiten vollständig verwirklichtwerden können«. Nur die USA legten gegen die Erklärung ihrVeto ein und damit implizit auch gegen jene Artikel derErklärung, in denen dieses Recht näher umschrieben wird.12Gerade wegen der relativistischen Angriffe ist dieMenschenrechtserklärung es wert, verteidigt zu werden. Dochmachen wir uns keine Illusionen: Der mächtigste Staat der Welthat immer schon das Lager der Relativisten angeführt, und

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selbst in der Unterkategorie der Menschenrechte, zu denen ersich bekennt, »gibt es ein dauerhaftes und weitverbreitetesMuster« von Übertretungen und Verletzungen, wie es in einemInterview mit Amnesty International heißt.13Das System der Menschenrechte war einer der dreimiteinander verstrebten Pfeiler der Neuen Weltordnung, dienach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegern errichtet wordenwar. Einen zweiten Pfeiler bildete die politische Ordnung, die inder UN-Charta ihren Ausdruck fand; den dritten die in BrettonWoods formulierte Wirtschaftsordnung. Werfen wir einenkurzen Blick auf diese Komponenten des geplanteninternationalen Systems, wobei wir uns auf die Dimension derMenschenrechte konzentrieren.Das System von Bretton Woods funktionierte bis zu denfrühen siebziger Jahren, also während einer Epoche, diemitunter das »Goldene Zeitalter« des Industriekapitalismusgenannt wird. Die Wirtschaft florierte und mit ihr dieVerwirklichung der in der Menschenrechtserklärungformulierten sozialen und ökonomischen Rechte. Sie lagen denBegründern von Bretton Woods besonders am Herzen, undihre Ausweitung während des »Goldenen Zeitalters« war einBeitrag zur zumindest partiellen Umsetzung derMenschenrechte, die mehr sein sollten als »fromme Sprüche«oder ein »Brief an den Weihnachtsmann«.Ein Grundprinzip des Systems von Bretton Woods war dieRegulierung der Finanzmärkte, deren Liberalisierung, so wurdemit Recht befürchtet, zu einer gefährlichen Waffe im Kampfgegen Demokratie und Wohlfahrtsstaat werden könnte. DasFinanzkapital sollte kein »virtuelles Oberhaus« der Regierungwerden, das seine eigene Sozialpolitik betreiben und jenedurch Kapitalflucht bestrafen würde, die sich dieser Politik zuentziehen suchten. Das System wurde durch die RegierungNixon unter tätiger Beihilfe Großbritanniens und andererFinanzzentren beseitigt. Von den Ergebnissen wären dieErbauer des Systems nicht überrascht gewesen.Für die großen Industriestaaten bedeutete die Ära nachBretton Woods geringeres Wirtschaftswachstum und dieschleichende Auflösung des Sozialvertrags, ein Prozeß, dersich am deutlichsten in Großbritannien und den USA vollzog.In den Vereinigten Staaten war die wirtschaftlicheErholungsphase der neunziger Jahre die schwächste seit demZweiten Weltkrieg und steht in der amerikanischen Geschichteinsofern einzigartig da, als die Bevölkerungsmehrheit noch nichteinmal das Niveau des letzten Konjunkturgipfels von 1989,

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geschweige das von 1979 zurückgewonnen hat. DieDurchschnittsfamilie arbeitet heute pro Jahr 15 Wochen längerals vor 20 Jahren, während das Einkommen stagniert oder garrückläufig ist. Das eine Prozent der Superreichen hat enormeGewinne gemacht, während die zehn Prozent derGutverdienenden immerhin Zuwächse zu verzeichnen haben.Für die nächsten zehn Prozent ist der Nettowert —Vermögenswerte minus Schulden — in den neunziger Jahrenständig gefallen. Die soziale Ungleichheit, die während dessogenannten Goldenen Zeitalters stetig reduziert wurde, ist jetztauf das Niveau der Zeit vor dem New Deal abgesunken. DieUngleichheit korreliert mit der Zahl der Arbeitsstunden. 1970waren die USA in beiderlei Hinsicht mit Europa auf einer Linie,aber mittlerweile sind sie gegenüber den anderenIndustriestaaten weit zurückgefallen. Immer noch sind sie daseinzige Land des reichen Westens, in dem es keine Regelungenfür bezahlten Urlaub gibt. Während der Präsidentschaft vonReagan hat die Regierung ganz offen die Verbrechen derKonzerne unterstützt, worüber in den Wirtschaftszeitungenbisweilen sehr genaue Berichte zu lesen waren, und dadurchdie Rechte der Arbeiter untergraben. Daran hat sich auch nachReagan nichts geändert. All dies vollzieht sich in direktemKonflikt mit der Menschenrechtserklärung — das heißt mitden Teilen, denen unter dem vorherrschenden Relativismus dieAnerkennung verweigert wird.14Regelmäßig bejubelt die Presse »ein Zeitalter noch niedagewesener Prosperität« in den USA, an dem Europa sichein Beispiel nehmen sollte, und eine »bemerkenswerterfolgreiche US-Wirtschaft«.15 Die Artikel beziehen sichhauptsächlich auf »die Kapitalgewinne amerikanischerGesellschaften« — die in der Tat »spektakulär« gewesen sind,wie es voller Lob während der Clinton-Ära hieß — und dieenorme Steigerung der Aktienwerte. Dadurch ist dasVermögen des einen Prozents von Familien, denen fast dieHälfte der Aktien gehört, ebenso enorm angewachsen wie dasder oberen zehn Prozent, die in etwa den Rest besitzen, unddie, zusammengenommen, die Nutznießer von 85 Prozent derGewinne aus Kapitalanlagen in der »Märchenwirtschaft« sind.Gute Taten bleiben nicht unbemerkt. Presseberichten zufolgewurde Präsident Clinton Mitte Januar 1999 bei einer Wall-Street-Konferenz »Martin Luther King gleichgesetzt undüberhaupt allgemein gefeiert«. Bei diesem Anlaß sagte derPräsident der New Yorker Börse »zu Mr. Clinton, daß Dr.King sicherlich auf das Treffen« zum jährlichen Gedenktag für

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Martin Luther King »herablächle« und erkenne, wie sehrClinton »meiner kleinen Ecke in Süd-Manhattan« genützthabe.16Andere kleine Ecken hatten ein weniger günstiges Schicksal.Der Chef der US-Bundeszentralbank, Alan Greenspan,rechnete die »märchenhafte« Wirtschaftsentwicklung zum Teileiner »größeren Unsicherheit unter den Arbeitern« zu undberief sich dabei auf Untersuchungen, denen zufolge sich dieZahl der Arbeiter in Großindustrien, die eine vorübergehendeArbeitslosigkeit befürchteten, zwischen 1991 und 1996 nahezuverdoppelt habe. Andere Studien sprechen von 90 Prozent,die um ihren Arbeitsplatz fürchten. In einer statistischenErhebung aus dem Jahre 1994 sagten 79 Prozent derbefragten Arbeitskräfte, daß der Versuch, sichgewerkschaftlich zu organisieren, wahrscheinlich zurKündigung führen werde, während 41 Prozent der nicht-organisierten Arbeiter glaubten, sie würden mit einem Beitrittzur Gewerkschaft ihren Job riskieren. Der Rückganggewerkschaftlicher Organisierung gilt Arbeitsökonomenallgemein als wichtiger Faktor für stagnierende oder fallendeLöhne und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.17Zwar sprechen Umfragen von »guter Stimmung bei denKonsumenten«, die jedoch durch die Beobachtung, daß »dieErwartungen geringer geworden sind«, abgeschwächt wird.Der Direktor des Statistischen Forschungszentrums derUniversität von Michigan sieht es folgendermaßen: »Es ist einbißchen so, wie wenn die Leute sagten: 'Ich verdiene nichtgenug, um auf einen grünen Zweig zu kommen, aber es könnteschlimmer sein', während sie in den sechziger Jahren dachten:'Kann es eigentlich noch besser werden?'.«18Vor allem für die »Entwicklungsländer« hat sich die Ära nachBretton Woods als Katastrophe erwiesen, der jedoch einige,zumindest zeitweise, entgehen konnten, indem sie, wie derChefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, es formulierte, die»Religion« des freien Markts verwarfen. Er weist darauf hin,daß das »geschichtlich einmalige ... ostasiatische Wunder«durch die Nichtbeachtung wesentlicher Marktregeln erreichtwurde, wobei sein leuchtendster Stern, Südkorea, ziemlicheRückschläge einstecken mußte, nachdem es zu Beginn derneunziger Jahre der Liberalisierung der Finanzmärktezugestimmt hatte. Das hat wesentlich, wie Stiglitz und andereExperten annehmen, zu der gegenwärtigen Krise beigetragenund war ein Schritt hin zur »Lateinamerikanisierung«. Dielateinamerikanischen Eliten kennen weit größere Ungleichheit

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und besitzen »einen schwächer entwickelten Gemeinsinn alsdie nationalistischen Eliten Ostasiens«. Zudem sind sie »stärkermit der ausländischen Hochfinanz verbunden« - Faktoren, die,wie der Weltwirtschaftsexperte David Felix bemerkt, zu ihrem»europäisch und US-amerikanisch geprägten Lebensstil derBevorzugung hochrangiger Konsum- und Kulturgüter«beitragen. »Der durch mobiles Kapital erzielte Reichtum hat esden Oberschichten Lateinamerikas auch ermöglicht,progressive Besteuerung zu verhindern und Ausgaben fürGrundschulen und weiterführende Bildungsinstitutionen zubegrenzen, während sie in finanziellen Notlagen großzügigestaatliche Hilfsleistungen erwarten können«, ein seitJahrhunderten typisches Kennzeichen der Doktrin des freienMarkts.19In seiner hoch angesehenen Geschichte des internationalenWährungssystems verweist Barry Eichengreen auf einenentscheidenden Unterschied zwischen der gegenwärtigen»Globalisierungs«-Phase und der ihr in mancher Beziehungähnlichen Ära vor dem Ersten Weltkrieg.20 Damals unterlagdie Regierungspolitik noch nicht »der Beeinflussung durch dasallgemeine Wahlrecht für Männer und den Aufstieg derGewerkschaften und im Parlament vertretenerArbeiterparteien«. Mithin konnten die erheblichen Kosten, dieeine vom »virtuellen Senat« auferlegte korrekte Finanzpolitikverursachte, auf die Gesamtbevölkerung umgelegt werden. Mitdiesem Luxus war es in der Ära von Bretton Woods vorbei,weil man nun, »um sich gegen den Druck des Marktsabzuschütten, nicht der Demokratie, sondern der Mobilität desKapitals Grenzen setzte«. Insofern ist es ganz natürlich, daßdie Auflösung der Wirtschaftsordnung von Bretton Woods,vor allem in Großbritannien und den USA, mit einem heftigenAngriff auf demokratische Strukturen und die Grundsätze derMenschenrechtserklärung einherging.Über diese Themen ließe sich noch weit mehr sagen; aber imHinblick auf den Aspekt der Menschenrechte scheinen dieTatsachen eindeutig zu sein und mit den Erwartungen derBegründer des Systems von Bretton Woodsübereinzustimmen.

Politische Ordnung und MenschenrechteDer dritte Pfeiler der nach dem Krieg errichteten Weltordnungist die UN-Charta. Ihr Grundsatz lautet (gemäß Artikel 51),daß die Androhung oder Anwendung von Gewalt verboten ist,bis auf zwei Ausnahmen: wenn sie durch den Sicherheitsrat

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ausdrücklich genehmigt wird, oder als Selbstverteidigunggegen einen bewaffneten Angriff, bis der Sicherheitsrat eineEntscheidung trifft. Zwingend in die Tat umsetzen kann derSicherheitsrat seine Entscheidungen jedoch nur über dieGroßmächte, allen voran die USA. Aber Washington lehnt,wie bereits erörtert, die Grundsätze der Charta in Theorie undPraxis entschieden ab.Die Weltordnung hat schon lange kein stabilisierendes Gerüstmehr, und selbst die damit verbundene Rhetorik ist hinfälliggeworden. Der einzige anerkannte Grundsatz ist die Herrschaftvon Gewalt. Die Feinsinnigen wissen, daß der Appell anrechtliche Verpflichtungen und moralische Prinzipien einlegitimes Mittel im Kampf gegen auserwählte Feinde ist; wirkönnen, wie Dean Acheson es ausdrückte, »unsere Positionmit einem Ethos vergolden, das aus höchst allgemeinen ...Moralprinzipien abgeleitet ist«. Mehr aber auch nicht. DieseHaltung findet in den Kreisen der Gebildeten sehr viel mehrUnterstützung, als man denken sollte. Was das für dieMenschenrechte bedeutet, liegt auf der Hand.Folglich sind, kurz gesagt, von den drei Pfeilern der globalenNachkriegsordnung zwei - Bretton Woods und die Charta - inden Staub gesunken, während der dritte, dieMenschenrechtserklärung, zum großen Teil »ein Brief an denWeihnachtsmann« geblieben ist, wie die Anführer desrelativistischen Kreuzzugs behaupten.

Rechte für wen?Bekanntlich bestand ein wesentlicher Fortschritt derMenschenrechtserklärung darin, daß die Rechte nun für allePersonen gelten sollten, das heißt, für Personen aus Fleischund Blut. Die wirkliche Welt ist ganz anders. In den USA wirdder Ausdruck »Person« offiziell so definiert, daß er auchjuristische Personen umfaßt - »Einzelpersonen,Geschäftszweige, Handelspartner, Handelsgesellschaften,Gütergemeinschaften, Trusts, Konzerne oder andereOrganisationen (seien diese gemäß den Gesetzen eines Staatsorganisiert oder nicht), sowie sämtlicheRegierungskörperschaften«.21 Dieser Begriff von »Person«hätte Denker wie James Madison oder Adam Smith, die ihregeistigen Wurzeln in der Aufklärung und im klassischenLiberalismus besitzen, zutiefst schockiert. Aber er ist dervorherrschende und verleiht der Menschenrechtserklärung eineForm, die ihren ursprünglichen Intentionen ganz sicher nichtgerecht wird.

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Eine ausufernde Rechtsprechung hat dahin geführt, daß dieRechte von Personen auch auf »kollektive Rechtssubjekte«,wie manche Rechtshistoriker es nennen, ausgedehnt wurden.Im engeren Sinne werden darunter Leitungsgremienverstanden. Auf diese Weise haben die Gerichte für »einenneuen 'Absolutismus'« gesorgt.22 Diese neu geschaffenenunsterblichen Personen sind durch die Zuschreibungpersönlicher Rechte vor Überwachung geschützt und steuerndie einheimischen und internationalen Märkte durch ihreinternen Operationen, »strategische Bündnisse« mitangeblichen Konkurrenten und andere Verkopplungen. Vonden mächtigen Staaten, über die sie, wie John Dewey einstsagte, den »Schatten« namens »Politik« werfen, fordern underhalten sie entscheidende Unterstützung und bestätigen damitdie Befürchtungen, die James Madison vor zweihundert Jahrenhegte, daß private Macht das Wagnis Demokratie zerstörenkönnte, indem der Privatsektor »zugleich zum Werkzeug undzum Tyrannen« der demokratischen Regierung wird. DasHauptziel des »Neoliberalismus« besteht darin, denöffentlichen Raum für andere einzuschränken und den Staatzugleich zum Werkzeug des wirtschaftlichen Privatinteresses zumachen. Die Grundidee wurde klar und deutlich von DavidRockefeller formuliert: Es gehe darum, »den Einfluß derRegierung zurückzudrängen«. So etwas »liegt denGeschäftsleuten am Herzen«, bemerkte er, »andererseitsjedoch muß irgend jemand die Rolle der Regierungübernehmen, und da scheint mir die Geschäftswelt der logischeNachfolger zu sein. Ich glaube, daß allzu viele Geschäftsleutesich dessen einfach noch nicht bewußt geworden sind odergesagt haben: 'Das muß jemand anderer verantworten, nichtich.'« 23Auf keinen Fall aber darf es die Öffentlichkeit verantworten.Der große Fehler einer Regierung besteht darin, daß sie dieserÖffentlichkeit gegenüber in gewissem Maße Rechenschaftablegen muß und ihr Mitwirkungsmöglichkeiten bietet. DerFehler wird behoben, wenn die Verantwortlichkeit in dieHände unsterblicher, mit großer Macht ausgestatteterRechtspersonen gelegt wird, die den Schutz vonPersönlichkeitsrechten genießen und ohne störende Einwirkungder Öffentlichkeit planen und entscheiden können.Gegenwärtige politische Initiativen wollen die Rechtejuristischer Personen gegenüber denen, die Personen ausFleisch und Blut zustehen, enorm ausweiten. Davon zeugenHandelsabkommen wie das NAFTA oder das Multilaterale

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Investitionsabkommen (MAI), wobei letzteres auf öffentlichenDruck hin wieder zurückgezogen wurde, aber sehrwahrscheinlich in weniger spektakulärer Form wiederauftauchen wird.24 Diese Abkommen garantierenKonzerndiktaturen das Recht auf »nationale Behandlung«, dasPersonen im herkömmlichen Sinn nicht zusteht. GeneralMotors kann in Mexiko »nationale Behandlung« verlangen,wohingegen Mexikaner aus Fleisch und Blut nördlich derGrenze keinen Anspruch auf »nationale Behandlung« haben(und auch nicht unbedingt haben wollen).Ebenfalls haben Konzerne die Möglichkeit (mit Aussicht aufErfolg), Nationalstaaten wegen »Enteignung« verklagen, washeißt, daß ihnen bei ihrer Forderung nach freiem Zugang zuRessourcen und Märkten kein Entgegenkommen gezeigtwurde.Auch ohne die formelle Gewährleistung solcheraußerordentlichen Rechte, die den Prinzipien des klassischenLiberalismus krass widersprechen, zeitigt die Rolle dieserjuristischen Personen als »Werkzeuge und Tyrannen« derRegierung und als Vertreter der herrschenden Lehre ähnlicheResultate. Das läßt sich anhand des Artikels 17 derMenschenrechtserklärung illustrieren, in dem es heißt, daß»niemand willkürlich seines Eigentums beraubt werden darf«.In der wirklichen Welt sind es gerade die juristischenPersonen, deren Rechte vor allen anderen geschützt werden,und zwar von einer Doktrin, die zur gleichen Zeit formuliertwurde wie die Menschenrechtserklärung. Diese Doktrinbestätigt das Recht auf »angemessene, wirksame und schnelleEntschädigung« für enteignetes Eigentum zu »einem fairenMarktpreis«, der natürlich von denen festgelegt wird, diemächtig genug sind, ihren Willen durchzusetzen. DieRoosevelts Außenminister Cordell Hull zugeschriebeneFormulierung wurde in anerkannten Abhandlungen zuminternationalen Recht als »internationaler Mindeststandard anZivilisation« bezeichnet.25Die Anwendungskriterien für diese Formel mögen auf denersten Blick inkonsistent wirken, aber nur, solange nicht dieFaktoren der wirklichen Welt in Betracht gezogen werden. DieFormel ist die Grundlage für den seit vierzig Jahren geführtenWirtschaftskrieg der USA gegen Kuba, der mit dem Vorwurfgerechtfertigt wird, Kuba habe diesen »internationalenMindeststandard« nicht erreicht. Die Formel gilt allerdingsnicht für US-Investoren und die Regierung, die sich um 1900,als Kuba militärisch besetzt war, die Besitztümer aneigneten.

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Es gilt auch nicht für die Regierung und private Mächte, die zurgleichen Zeit auf Kuba und den Philippinen spanisches undbritisches Eigentum stahlen, wie etwa die in spanischem Besitzbefindliche Manila-Eisenbahngesellschaft. Nach der blutigenEroberung der Philippinen erklärten die USA die spanischeKonzession für nichtig, weil sie »durch imperialistische MotiveSpaniens begünstigt« worden sei. Das gilt natürlich nicht fürdie US-Besitztümer, die von Kuba nationalisiert wurden, alsdie Kubaner 1959 endlich wieder Herren im eigenen Landwurden.Die Formel gilt auch nicht für die Gründung der VereinigtenStaaten, die aus einem Bürgerkrieg mit ausländischerBeteiligung hervorgingen, der heute als AmerikanischeRevolution bekannt ist. In diesem Krieg profitierten dieRebellen von der Enteignung britischer Besitzungen, aber auchvon der Konfiszierung des Eigentums der königstreuenLoyalisten, die wahrscheinlich ebenso zahlreich waren wie dieAufständischen. Allein der Staat New York nahm dadurch fastvier Millionen $ ein, damals eine beträchtliche Summe. FürNicaragua wiederum hat die Formel Gültigkeit. Die USAzwangen Nicaragua, den Anspruch auf die vomWeltgerichtshof gewährten Reparationszahlungen aufzugeben,und nachdem das Land an allen Fronten kapituliert hatte,votierte der US-Senat mit 94 gegen 4 Stimmen, alleHilfsleistungen zu verweigern, solange Nicaragua nicht dem»internationalen Mindeststandard an Zivilisation« Genüge tat:Es sollte (in den Augen Washingtons) angemesseneEntschädigungen für Besitztümer von US-Bürgern zahlen, dienach dem Sturz Somozas enteignet worden waren. Es handeltesich dabei um Vermögenswerte von Personen, die sich an denVerbrechen des lange Zeit von den USA favorisiertenDiktators beteiligt hatten, sowie um wohlhabende Exil-Nicaraguaner, die rückwirkend zu US-Bürgern gewordenwaren.Gesetze und andere Instrumente wirken wie ein»Spinnennetz«, schrieb ein populärer Dichter des 17.Jahrhunderts: »Kleine Fliegen fängt es ein, Große können sichbefreien.«26 Manche Dinge ändern sich, manche nicht.Das Recht auf InformationDie unsterblichen juristischen Personen beherrschen mitLeichtigkeit Systeme der Informations- und Meinungsbildung.Durch ihre Macht und ihren Reichtum können sie den Rahmenbestimmen, innerhalb dessen das politische Systemfunktioniert, wobei diese Kontrollmöglichkeiten durch jüngste

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Verfügungen des Obersten Gerichtshofs, die Geld als eineForm der Rede definieren, noch direkter geworden sind. EinBeispiel sind die Wahlen von 1998. Etwa 95 Prozent derSiegerkandidaten haben mehr für den Wahlkampf anSpendengeldern ausgegeben als ihre Mitbewerber. DieBeiträge der Geschäftswelt lagen dabei zwölfmal höher als dieder Gewerkschaften, während Spenden von Einzelpersonenstark rückläufig waren.27 Durch solche Verfahren sucht sichein winziger Bruchteil der Bevölkerung die geeignetenKandidaten aus. Diese Entwicklungen hängen zweifellos mitdem wachsenden Zynismus gegenüber der Art,Regierungsgeschäfte zu betreiben und mit derWahlverdrossenheit zusammen. Solche Konsequenzen werdenvon den juristischen Personen, ihren Medien und ihren anderenAgenten begrüßt und gefördert. Insgesamt sind von dieserSeite enorme Anstrengungen gemacht worden, die Auffassungzu verbreiten, daß der Staat ein hassens- und fürchtenswerterFeind ist, nicht aber das Instrument einer souveränenBevölkerung.Die Verwirklichung der Menschenrechtserklärung hängt inentscheidender Weise von den Rechten ab, die in den Artikeln19 und 21 ihren Niederschlag gefunden haben: Es geht zumeinen darum, »durch jedes Medium Informationen und Ideenempfangen und mitteilen zu können«, zum anderen um dieTeilnahme an »authentischen Wahlen«, die gewährleisten, daß»der Wille des Volks die Grundlage für die Autorität derRegierung bildet«. Die Mächtigen haben begriffen, wie wichtiges ist, das Recht auf freie Meinungsäußerung unddemokratische Beteiligung einzuschränken. Versuche in dieserRichtung gab es in der Geschichte häufig genug, doch wuchsdas Problem erst im 20. Jahrhundert zu seiner eigentlichenBedeutung heran, als »die Massen zum König werden sollten«.Diese gefährliche Tendenz könnte, so wurde argumentiert,durch neue Propagandamethoden abgewendet werden, mittelsderer die »intelligenten Minderheiten ... das Bewußtsein derMassen formen [und] ... das öffentliche Bewußtsein genausodirigieren wie eine Armee die Körper ihrer Soldaten dirigiert«.Ich zitiere hier den Begründer der modernen PR-Industrie, dengeachteten New-Deal-Liberalen Edward Bernays, dessenAuffassung bei führenden Intellektuellen und Akademikern deslinksliberalen Lagers genauso verbreitet ist wie beiFührungskräften der Wirtschaft.28Aus diesen Gründen sind die Medien- und Bildungssystemefortwährend umkämpft. Schon seit langem ist bekannt, daß die

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Staatsmacht nicht der einzige Faktor bei der Einschränkungvon Informationsfreiheit ist. In den Industrienationen ist er beiweitem nicht der wichtigste, wie bereits, um zwei bedeutendeBeispiele zu nennen, John Dewey und George Orwell in ihrenSchriften deutlich machen. 1946 wies die renommierteHutchins-Kommission zur Pressefreiheit darauf hin, daß »dieKontrolle der großen Massenmedien durch privateKörperschaften« die Pressefreiheit bedroht, weil unter demEinfluß von Inserenten und Besitzern Einseitigkeiten undVerzerrungen der Meinungsbildung nahezu unvermeidbarseien. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hatdie »exzessive Konzentration auf dem Pressemarkt« alsBeeinträchtigung der durch Artikel 19 garantierten Rechtegerügt und die Staaten aufgefordert, den Mißbrauch zuverhindern — eine Haltung, der sich auch dieMenschenrechtsorganisation Human Rights Watchangeschlossen hat.29Aus den selben Gründen war die Wirtschaft darauf erpicht,daß die Medien durch Privatbesitz kontrolliert werden unddamit das Denken auf verordnete Meinung reduzieren.Außerdem versucht sie »jahrhundertealte Gewohnheiten zuannullieren« und, wie führende Geschäftsleute erklären, »neueKonzeptionen individuellen und gemeinschaftlichen Strebensund Begehrens« zu schaffen, damit die Menschen ihreBedürfnisse auf Konsumtionsgüter, statt auf Lebens- undArbeitsqualität, ausrichten, und sich nicht etwa, wie katholischeLinksextreme es wollen, »an den Entscheidungen, die ihreLebensweise oftmals grundlegend verändern, beteiligen«. Damittlerweile die Medien durch ein paar Megakonzernekontrolliert werden, scheinen die neuen Ziele der Wirtschaft ingreifbarer Nähe zu liegen. Die Konzentration auf demMediensektor hat drastisch zugenommen, wozu auchDeregulierungsmechanismen beitragen, die noch die letztenBarrieren für den Schutz des öffentlichen Interesses beiseitegeräumt haben. In der neuesten Auflage seines Standardwerkszu diesem Thema berichtet Ben Bagdikian, daß von 1984 bisheute die Zahl der Medienkonzerne von 50 auf 10 geschrumpftsei. Dazu gehören Riesenimperien wie Disney und GeneralElectric und seit einiger Zeit auch Rupert Murdoch.30Bagdikian beschäftigt sich auch mit den noch vielhimmelschreienderen »Nachrichtenmanipulationen, mit denendie anderen finanziellen Ziele der Besitzer« und der Inserenten»verfolgt werden sollen«, um »konservative und anderekonzernspezifische Werte zu befördern«, zu denen auch der

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»materialistische Konsum« gehört, bei dem »die negativenAuswirkungen auf andere Menschen für völlig unbedeutendgehalten werden«. Der Prozeß wurde noch durch denFusionierungsboom beschleunigt, der, wie das Wall StreetJournal in einer Titelgeschichte berichtet, »dasAnzeigengeschäft einer sinkenden Anzahl von Marktführernüberläßt«, die »die Muskeln spielen lassen«, damit dieHerausgeber begreifen, was an Inhalten zulässig ist - ohnejedoch, wie der Direktor einer großen Werbefirma dem WallStreet Journal versicherte, »die Integrität der Herausgeber inirgendeiner Weise beeinträchtigen zu wollen«.31Neuerdings sind vor allem Kinder in den Zielbereich derWerbe- und Medienindustrie gerückt, die sich anschickt,letztlich alle Menschen in ihrem Sinne zu beeinflussen. DieKontrollmechanismen sollen weltweit funktionieren undumfassen auch die neuen Medien, die großenteils im staatlichenSektor der Industriewirtschaft entstehen. Einewissenschaftliche Untersuchung weist darauf hin, daß die USAin ihrer Entwicklungsphase »darauf bedacht waren ... dieTelekommunikationsindustrie den Kontrollmechanismen desStaats zu überlassen«. Seitdem aber diese Industrie, dankstaatlicher Interventionsmaßnahmen, weltweit dieVorherrschaft erlangt hat, fordert sie nun, daß alle anderen sichdem »freien Wettbewerb« öffnen, so daß Artikel 19 imEndeffekt weltweit annulliert wird.32Die Vorherrschaft des freien Wettbewerbs wurde mitungewöhnlicher Klarheit verdeutlicht, als die UNESCOVorschläge erwog, die das internationale Mediensystemdemokratisieren sollten, um der Weltbevölkerungsmehrheiteinen wie immer begrenzten Zugang zu gewähren. Regierungund Medien der USA verurteilten die UNESCO mit einerhöchst beeindruckenden Flut von Lügen, die auch durchEinsprüche seitens der UN-Organisation nicht einzudämmenwar. Ein Historiker, der die Beziehungen zwischen denVereinigten Staaten und der UNESCO aufgearbeitet hat,bemerkt: »Die erstaunliche Ironie der [UNESCO-JBemühungen gipfelte darin, daß die USA, nachdem siebewiesen hatten, daß der freie Meinungsmarkt nicht existierte,die UNESCO beschuldigten, diesen Markt zerstören zuwollen.« Ein Universitätsverlag hat diese ganzen Lügendokumentiert, was jedoch unbeachtet blieb. Dieser Vorgangzeigt, welche Anerkennung die Grundsätze der Freiheit undDemokratie erfahren. 33

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Gegenwärtig ist die Kontrolle des Internets ein heißumstrittener Diskussionsgegenstand. Internet und Web sindzunächst fast dreißig Jahre lang staatlich gefördert und danngegen den Willen von zwei Dritteln der Bevölkerungkommerzialisiert worden. Die Geschäftswelt betrachtet dasInternet als »grundlegende Plattform für die Vermarktung vonComputertechnologien, Kommunikation und Kommerz«, als»den größten, tiefsten, schnellsten und sichersten Marktplatzder Welt«, auf dem nicht nur Waren, sondern auch Ideen undEinstellungen »verkauft« werden. Gigantische Profite stehenebenso in Aussicht wie neue Möglichkeiten, die Einstellungenund Übezeugungen der Nutzer zu beeinflussen, wenn dasInternet der Kontrolle der Konzerne und kommerziellerSponsoren unterworfen und damit der Öffentlichkeit, die lautGesetz Besitzer der Ätherwellen und des Cyberspace ist,entzogen werden und einer Handvoll juristischer Personen mitaußergewöhnlicher globaler Macht übereignet werden kann.Ein wichtiges Ziel ist, wie ein Wirtschaftsjournalist bemerkt,»das zunächst eklektische Web in eine 24 Stunden am Tagfunktionierende Vermarktungsmaschine zu verwandeln«. 34Um das öffentliche Internet Marketing- und anderen sicherenAktivitäten zu unterwerfen, werden neue Technologien undSoftwares entwickelt. Es geht darum, den »zunächsteklektischen« Charakter des Internets zu verändern, der dieMöglichkeit bot, eine öffentliche Gegenwelt aufzubauen, unddabei beträchtliche Erfolge erzielen konnte. Aus Indonesienberichtet ein australischer Fachmann, das Internet habe sichdort »als Gottesgeschenk erwiesen«, weil es dieKommunikation und den »kulturellen und politischenAktivismus« beförderte. Die Ergebnisse waren für dieeinheimischen Eliten ebenso unangenehm wie für dieausländischen Nutznießer und Unterstützer des ungewöhnlichbrutalen und korrupten Regimes. Ein weiteresbemerkenswertes Beispiel ist der Erfolg, den linksorientierteOrganisationen bei ihrer Kampagne gegen den von Staat undKonzernen unternommenen Versuch, das MAI in allerHeimlichkeit durchzusetzen, erzielen konnten. Das führte zueiner gewissen Panik und sogar der Furcht, daß es »schwererwerden würde, Abkommen hinter verschlossenen Türen zuschließen, die das Parlament dann nur noch abzusegnen hat«,wie Handelsdiplomaten erkannten. Derartige Unglücksfällemüssen in Zukunft nach dem Willen wirtschaftlicherFührungskräfte tunlichst vermieden werden. 35

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Man darf erwarten, daß die Macht des Privateigentumsmitsamt ihren »Werkzeugen und Tyrannen« darauf hinwirkt,daß andere »sich immerfort bemühen, auch wenn sie wissen,daß es vergeblich ist«. Aber das Urteil des Konfuzius istsicherlich zu düster. Trotz aller Schrecken des 20.Jahrhunderts hat es in vielen Bereichen des menschlichenLebens und Bewußtseins im Anschluß an frühereFortschrittsmomente Verbesserungen gegeben, die lähmendlangsam verliefen, oftmals widerrufen wurden, aber dennochWirklichkeit waren. Gerade in den privilegierterenGesellschaften, die ein hohes Maß an Freiheit gewonnenhaben, gibt es viele Wahlmöglichkeiten bis hin zumgrundlegenden institutionellen Wandel, falls dieser sich alsnotwendig erweisen sollte. Wir müssen die allgegenwärtigenLeiden und Ungerechtigkeiten ebensowenig hinnehmen wie dieAussicht auf gewaltige Katastrophen, die eintreten werden,wenn die Menschheit auf dem Weg, den sie eingeschlagen hat,verbleibt.Anmerkungen

1 Reuters, »UN Agencies Tell of Damage in Iraq«, NYT, 7.Jan. 1999; Betsy Pisik, »Strikes Hit Iraqi Schools, Hospitals«,Washington Times, 8. Jan. 1999.2 New Republic, Leitartikel, 2. Mai 1981; 2. April 1984. TomWicker, NYT, 14. März 1986; Leitartikel, WP NationalWeekly, 1. März 1986. Zu einem Überblick über dasSpektrum, das die allgemeine Öffentlichkeit erreichte, vgl.Chomsky, Necessary Illusions und Deterring Democracy.3 Juan Hernandez Pico, Envio (UCA, Jesuit. Univ., Managua),März 1994.4 Rüben Ricupero; die Erklärung wurde in ThirdWorldResurgence (Penang) 95 (1998) veröffentlicht.5 Paul Jeffrey, National Catholic Reporter, 11. Dez. 1998, derden honduranischen Bischof Angel Garachana zitiert. Zu denAuswirkungen von Entwaldung und US-amerikanischenEntwicklungsprogrammen vgl. auch Sara Silver, »CoffeeGrowers Find Less Is More«, Austin American-States-man,27. Dez. 1998; Dudley Althaus, »Deforestation Contributed toTra-gedy by Mitch in Honduras, Experts Claim«, HoustonChronide, 30. Dez., 1998 (CentralAmerican NewsPak 13:23,Dez.-Jan. 1999).6 Nitlapan-Envio team, »A Time for Opportunities andOpportunists«, Envio 17:209 (Dez. 1998). Vgl. auch DavidGonzales, »Mitch Who? US Stalls MercyFlights; Aid to

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Contras by Express, Disaster Relief byBoat«, NYT, 16. Dez.1998, New York City Section, S. 27.7 Reuters, »French to Clear Unearthed Land Mines«,Peacework (Cambridge MA: AFSC), Dez. 1998.8 Mary Ann Glendon, »Knowing the Universal Declaration ofHuman Rights«, 73 Notre Dame Law Review 1153 (1998).Paine, Rights of Man, Teil II (1792). Bruce Kucklick (Hg.),Thomas Paine: Political Writings (Cambridge Univ. Press,1989).9 The United Nations and Human Rights 1945-1995, Bd. VII,UN Blue Books Series (UN New York: Dept. of PublicInformation, 1995).10 »Respect for Human Rights, the Secret of True Peace.«Vgl. Arthur Jones, »Pope Blasts Consumerism as HumanRights Threat«, National Catholic Reporter, 8. Jan. 1999. Inder US-Presse wurde die Nachricht kurz wiedergegeben, ihrInhalt jedoch weitgehend ignoriert (WP und NYT, 2. Jan.1999; der letzte Satz des Berichts aus der New York Timesbefaßte sich damit). Die Äußerungen des Vatikan zurgesellschaftlichen Entwicklung hatten in der Presse hier und dabegrenzte Aufmerksamkeit erregt. Eine datengestützte Sucheerbrachte verstreute Hinweise, davon einer in der US-Presse:Reuters, NYT, 16. Dez. 1998, S. 19. Die allgemeinerenThemen fanden einige Beachtung, als der Papst ein paarWochen später Mexiko besuchte. Vgl. Alessandra Stanley,»Pope is Returning to Mexico with New Target: Capitalism«,NYT, 22. Jan. 1999; ebenso 24. Jan. 1999. Richard Chacönund Diego Ribadeneira, BG, 24. und 25. Jan. 1999.11 Stanley, NYT, 22. Jan. 1999.12 Wischinski zit. nach David Manasian, »Human-Rights Law:The Con-science of Mankind«, Economist, 5. Dez. 1998;Kirkpatrick zit. nach Joseph Wronka,»Human Rights«, in R.Edwards (Hg.), Encyclopedia of Social Work (WashingtonDC: NASW, 1995), S. 1405-1418. Vgl. auch Wronka,Human Rights and Social Policy in the 21st Century (Univ.Press of America, 1992) und »A little Humility, Please«,Harvard International Review (Sommer 1998). Morris Abram,Erklärung vor der UN-Menschen-rechtskommission inSachen: Punkt 8, »The Right to Development«, 11. Feb.1991.13 Amnesty International-London, United States of America:Rights for All (Okt. 1998). Vgl. das Interview, das DennisBernstein und Larry Everest mit Pierre Sane, demGeneralsekretär von Amnesty, führten, Z magazine (Jan.

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1999), eine der seltenen Äußerung gegen den Mainstream, dienur im Umfeld der radikalen Dissidenten wahrgenommen wird.14 Lawrence Mishel, Jared Bernstein, John Schmitt, The Stateof Working America 1998-1999 (Cornell Univ. Press, 1999).Zu diesen Themen vgl. auch Phineas Baxandall und MarcBreslow, Dollars and Sense, Jan./Feb. 1999 (dort Zitate ausOECD, Annual Employment Outlook, 1998). SinkendeVermögenswerte: Edward Wolffs Untersuchungen werdenzitiert von Aaron Bernstein, »A Sinking Tide Does Not LowerAll Boats«, BW, 14. Sept. 1998. Zur straflos bleibendenKriminalität englischer Konzerne vgl. Gary Slapper, Blood inthe Bank (Ashgate, 1999).15 Zwei von vielen neueren Beispielen: Gerald Baker, FT, 14.Dez. 1998, der auch auf mögliche Fehlentwicklungen hinweist;ferner Reed Ablesen, ATF7;2.Jan.l999.16 James Bennet, »At a Conference on Wall Street Diversity,the President Finds His Own Stock Soaring«, NYT, 16. Jan.1999.17 Alan Greenspan zit. nach Edward Herman vom 22. Juli1997, Anhörungen vor dem Kongreß, »The Threat ofGlobalization«, New Politics 26 (Winter 1999). Gene Koretz,»Which Way are Wages Headed«, BW, 21. Sept. 1998. ZurLohnentwicklung von 1994 vgl. Robert Pollin und StephanieLuce, The Living Wage (New Press, 1998). Zu Löhnen undgewerkschaftlicher Organisierung vgl. Mishel u. a., State ofWorking America sowie frühere Untersuchungen dieserzweijährlich erscheinenden Reihe des Economics PolicyInstitute.18 Louis Uchitelle, »The Rehabilitation of Morning inAmerica«, NYT, 23. Feb. 1997.19 Joseph Stiglitz, »Some Lessons from the East AsianMiracle«, World Bank Research Observer 11:2 (Aug. 1996);»An Agenda for Deveiopment in the Twenty-First Century«,Annual World Bank Report on Deveiopment Economics(World Bank, 1998); WIDER Annual Lectures 2, UNUniversity and World Institute for Deveiopment EconomicsResearch, Mai 1997. David Felix, »Is the Drive Toward Free-Market Globalization Stalling?« Latin American ResearchReview 33:3 (1998).20 Eichengreen, Globalizing Capital: A History of theInternational Monetary System (Princeton Univ. Press, 1996).21 Survey ofCurrent Business 76:12 (Washington DC: USDept. of Commer-ce, Dez. 1996).22 Morton J. Horwitz, The Transformation of American Law

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1870—1960 (Oxford, 1992).23 »Looking for New Leadership«, Newsweek International,1. Feb. 1999.24 Zu den interessanten Diskussionen über das MAI vgl.Chomsky, Profit OverPeople.25 Alan Story, »Property in International Law«, Journal ofPolitical Philoso-phy 6:3 (1998), S. 306-333.26 Christopher Hill, Liberty Against the Law (Penguin, 1996),S. 229.27 Center for Responsive Politics, zit. nach Dollars and Sense(Jan./Feb. 1999).28 Bernays, Propaganda (Liveright, 1928). Vgl. Alex Carey,Taking the Risk Out of Democracy (Univ. of New SouthWales Press, 1995 und Univ. of Illinois Press, 1997);Elizabeth Fones-Wolf, Selling Free Enterprise: The BusinessAssault on Labor and Liberalism, 1945—1960 (Univ. ofIllinois Press, 1995); Stuart Ewen, PRl: A Social History ofSpin (Basic Books, 1996). Zum Gesamtkontext vgl.Chomsky, »Intellectuals and the State«, in Towards a NewCold War (Pantheon, 1982) sowie »Force and Opinion«, inDeterring Democracy.29 Hutchins Commission zit. nach William Preston, EdwardHerman und Herbert Schiller, Hope and Folly: The UnitedStates and UNESCO 1945-1985 (Univ. of Minnesota Press,1989); Human Rights Watch, The Limits of Tolerance:Freedom of Expression and the Public Debate in Chile (Nov.1998).30 Stuart Ewen, Captains of Consciousness: Advertising andthe Social Roots of the Consumer Culture (McGraw-Hill,1976); Bagdikian, The Media Mo-nopoly (5. Aufl., Beacon,1997).31 Bruce Knecht, »Magazine Advertisers Demand PriorNotice of »Offensive« Articles«, WSJ, 30. April 1997.32 Dan Schiller, Digital Capitalism (MIT Press, 1999).33 Preston, in Preston u. a., Hope and Folly.34 Herbert Schiller, Information Inequality: The DeepeningSocial Crisis in America (Routledge, 1996); Edward Hermanund Robert McChesney, The Global Media (Cassell, 1997);Schiller, Digital Capitalism; McChesney, Rieh Media, PoorDemocracy (Univ. of Illinois Press, 1999).35 Marschall Clark, »Cleansing the Earth«, Inside Indonesia,Okt.-Dez. 1998. Zum MAI vgl. Chomsky, Profit OverPeople.

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VI. Die Erblast des KriegsDie Heiligung des KriegsVor achthundert Jahren bemerkte ein Pilger aus Spanien, derauf dem Weg nach Mekka war, daß »die Krieger sich in dieSchlacht stürzen, während die anderen Leute in Friedenleben«, unberührt von Krieg und Kriegsgeschrei, von denuralten Mord- und Totschlagsritualen der Kriegerkasten. Überdie Ursprünge dieser Rituale wissen wir nicht sehr viel. EinigeAnthropologen führen sie auf die Anfänge der Landwirtschaftzurück, als die Männer einen Ersatz für die Jagd brauchten, einneues Statussymbol, »um den Ruhm und die Kameradschaft,die mit Jagdunternehmungen verbunden gewesen waren,aufrechtzuerhalten«. Das von dem Pilger beschriebeneVerhalten der Kriegereliten könnte, zumindest in Europa, mitder bisweilen so genannten »Heiligung des Kriegs«, mit derVerbindung von Kirche und Militarismus zusammenhängen.Kirchliche Urkunden aus jener Zeit zeugen von dem Bemühen,die Kirche selbst und Nichtkombattanten allgemein ausbewaffneten Konflikten herauszuhalten. Ein Edikt von 1045erklärt, es solle »keine Angriffe auf Kleriker, Mönche,Nonnen, Frauen, Pilger, Kaufleute, Bauern, Konzilteilnehmer,Kirchgebäude und ihre Umgebung, Friedhöfe, Klöster, denLandbesitz des Klerus, Schäfer und ihre Herden, Nutzvieh,Erntewagen und Olivenbäume geben«.Dieses auf dem Konzil von Narbonne erlassene Edikt wurde,wie man aus arabischen Quellen über die »fränkischenInvasionen« — die Kreuzzüge — erfahren kann, außerhalbdes Herrschaftsbereichs der Kirche weit weniger beachtet. Alsim Jahr 1099 Jerusalem erobert wurde, berichtetenFlüchtlinge, die nach Bagdad entkommen waren, daß dieInvasoren auf ihrem Weg zur Heiligen Stadt eine Spur derVerwüstung hinterlassen hatten: geplünderte und zerstörteOrtschaften, ermordete Bauern und Stadtbewohner. Als sieJerusalem erreichten, heißt es bei zeitgenössischen Chronisten,»zogen die hellhaarigen und schwer bewaffneten Krieger mitdem Schwert in der Hand durch die Straßen, schlachtetenMänner, Frauen und Kinder ab, plünderten die Häuser undMoscheen und ließen innerhalb der Stadtmauern keinenMoslem am Leben«. Das Massaker dauerte mehrere Tage,danach lagen Tausende tot auf den Türschwellen ihrer Häuseroder bei den Moscheen. Die jüdische Gemeinde in Jerusalemereilte das gleiche Schicksal. Sie zog sich in die

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Hauptsynagoge zurück, die von den Kreuzritternniedergebrannt wurde. Wer zu fliehen versuchte, wurde gejagtund getötet, die anderen verbrannten bei lebendigem Leibe.Endlich war alles vorbei, und die Ritter zogen, »Freudentränenweinend« zum Heiligen Grab, wo sie »ihre blutbeflecktenHände zum Gebet falteten« (das letztere ist ein Zitat aus einemmodernen westlichen Geschichtswerk). Die fränkischenChronisten sprachen ganz offen über die brutaleVorgehensweise der Ritter, die »erwachsene Heiden in großenTöpfen kochten« und »Hühnchen auf Spieße steckten, um siegeröstet zu verzehren«. Ein Geschichtsschreiber vermerkt mitEntrüstung: »Unsere Truppen schreckten nicht davor zurück,tote Türken und Sarazenen, ja, sogar Hunde zu essen.« Dasging dann doch zu weit.Später bediente sich Richard Löwenherz ähnlicher Praktiken.Gefangene, die dem Heer zur Last fielen - Soldaten mitsamtihren Familien -, wurden zusammengebunden und denKreuzrittern ausgeliefert, die »mit Säbeln, Lanzen und Steinengrausam über sie herfielen, bis ihre Schreie erstickt waren«,berichtet ein arabischer Chronist. Mord- und Zerstörungslusterreichten ihren Höhepunkt mit der Einnahme vonKonstantinopel im Jahre 1204, bei der viele Überbleibsel dergriechischen und byzantinischen Kultur untergingen. Häuserund Kirchen wurden geplündert und niedergerissen, Priester,Mönche, Zivilisten massenweise getötet. Bald darauf zogen dieMongolen unter Dschingis Khan durch diese Gegend undrichteten ähnliche Verwüstungen an.Christlicherseits gehörten Mord und Totschlag zur »Heiligungdes Kriegs«, zu dem, was moderne Geschichtswissenschaftlerdie »kirchliche Reformierung des kämpfenden Laien« nennen.Es war der Versuch, den Grausamkeiten und Brutalitäten desritterlichen Zeitalters eine spirituelle Dimension zu verleihen. Einmoderner britischer Historiker schreibt dazu:»Der Ritter, der sich den Kreuzzügen anschloß, konnte daserlangen, wonach der spirituelle Teil seines Wesens sich sehnte- vollkommene Erlösung und die Vergebung der Sünden. Erkonnte den ganzen Tag lang Menschen abschlachten, bis er imBlut watete und dann am Abend, Freudentränen weinend[genauer, wie die Ritter selbst es ausdrückten: »schluchzendvor übermäßiger Freude«], am Altar der Grabeskirche knien,denn war er nicht blutrot von der Kelter des Herrn?«»Man kann die Popularität der Kreuzzüge verstehen«, fährtder Historiker fort - es ist nicht der erste und sicherlich nicht

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der letzte Versuch, einem schrecklichen und schandbarenUnternehmen den Mantel des Edelmuts umzuhängen.An all dies sollten wir denken, wenn wir heute inbeeindruckender Rhetorik vom bevorstehendenZusammenstoß der Zivilisationen, dem Paradigma für das neueZeitalter, das am Horizont sichtbar wird, hören — und was icherwähnt habe, ist nur die Spitze des Eisbergs.Kehren wir zum Edikt des Konzils von Narbonne zurück. Diedort aufgeführte Liste von Ausnahmen — keine Angriffe aufKleriker, Zivilisten usw. - zeigt, wo die eigentlichenAngriffsziele des Kriegs lagen und wohl immer schon gelegenhatten. Was der Pilger aus Spanien beschrieb, war zweifellosrichtig, aber zugleich auch ungewöhnlich. Typischer sind dieFeldzüge der Kreuzritter und der Mongolen.Die möglicherweise schlimmsten Grausamkeiten — zumindestder schriftlich überlieferten Fälle — finden sich im AltenTestament. Ich glaube, daß es in der gesamten Literatur nichtsgibt, was den Völkermord mit so viel Eifer, Entschiedenheitund Enthusiasmus preist, wie die Befehle, die der kriegerischeGott seinem auserwählten Volk erteilt. Ein Beispiel ist derKrieg des Königs Saul gegen die Amalekiter. Saul hatte dengöttlichen Befehl dazu aus dem Munde des Propheten Samuelerfahren, des gerechtesten aller Richter. Saul, so hieß es, solleAmalek angreifen und »Mann und Frau, Kind und Säugling,Rind und Schaf, Kamel und Esel« töten. Der Grund dafür war,daß einige Jahrhunderte zuvor die Amalekiter sich den Judenbeim Auszug aus Ägypten in den Weg gestellt hatten. Saulverschonte bei seinem Feldzug Agag, den König derAmalekiter, und ließ auch einiges Vieh am Leben. Als Samueldies entdeckte, entflammte er im Zorn und »hieb Agag inStücke vor dem Herrn in Gilgal«. 1Die fränkischen Krieger nahmen sich, wie wir aus denChroniken der damaligen Zeit wissen, diese Lektionen zuHerzen. Gleiches taten die überaus frommen Engländer, dieNordamerika eroberten. Sie verstanden sich als Erben derIsraeliten und machten, als sie ihr Heiliges Land gefundenhatten, kurzen Prozeß »mit jener unglücklichen Rasse dereingeborenen Amerikaner, die wir so grausam und gnadenlosausrotten«. So beschrieb es John Quincy Adams imvorgerückten Alter, als seine eigenen, keineswegsunbedeutenden Beiträge zu diesem Feldzug längstVergangenheit waren und die Ausrottungsaktionen sich nachWesten verlagert hatten.

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Erst vor einiger Zeit ist die Erbsünde unserer Geschichte insLicht der Öffentlichkeit gerückt. Das ist eine der vielenpositiven Folgen des Aufbruchs der sechziger Jahre, der einenbedeutenden und, wie ich hoffe, langwährenden Einfluß auf dasmoralische und kulturelle Niveau dieser Gesellschaft gehabthat.Europäische EroberungenDie europäische Geschichte samt den weltweitenEroberungszügen ist von besonderer Grausamkeit. DieseEroberungen waren, wie führende Militärhistoriker betonen,aus europäischer Sicht zumeist eher kleine Kriege im Vergleichzu denen, die die europäischen Staaten miteinander ausfochten.Nehmen wir als Beispiel die amerikanische Revolution. Für dieBriten war sie eine Art Nebenschauplatz. Zur selben Zeitführten sie in Indien den Marathi-Krieg, der ein vergleichbaresAusmaß hatte. Die amerikanische Revolution war selbst einperipherer Bestandteil der globalen Kriege, die zwischen deneuropäischen Großmächten ausgetragen wurden. Ihr Erfolgberuhte zum großen Teil darauf, daß gerade zu dieser ZeitGroßbritannien nicht nur in Indien Krieg führte, sondern auchgegen Frankreich, Spanien und andere europäische Mächte,und daher den Ereignissen hierzulande nicht allzuvielAufmerksamkeit widmen konnte. Hier, in Amerika, kämpftenin erster Linie Frankreich und England schon seit längerem umdie Vorherrschaft, und die eingewanderte Bevölkerungunterstützte, je nach Zugehörigkeitsgefühl, die eine oder dieandere Seite: Die »Loyalisten« oder Königstreuen hielten zuden Briten, die »Patrioten« wurden von den Franzosenunterstützt, und die Kämpfe selbst wurden, mit lokalerBeteiligung, von den Franzosen und Briten ausgefochten. Dasist, so meine ich, eine genauere Beschreibung desRevolutionskriegs.In Bengalen wiederum kam es 1757 zurEntscheidungsschlacht, bei der die Truppen von Robert Clivedem Gegner im Verhältnis von eins zu zehn unterlegen waren.Aber er siegte und verschaffte damit der OstindischenHandelsgesellschaft die Möglichkeit, Bengalen zu übernehmen.Das war der Ausgangspunkt für die Eroberung von ganzIndien. Bengalen war die reichste Region, so reich, daß diebritischen Kaufleute - Abenteurer und Eroberer — zutiefsterstaunt waren. Indien war im 18. Jahrhundert dasbedeutendste Handels- und Produktionszentrum der Welt. Esproduzierte, um nur ein Beispiel zu nennen, mehr Eisen als alleeuropäischen Länder zusammengenommen.

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Es ist schon merkwürdig, daß diese über Jahrhunderte hinwegso reichen und produktiven Gebiete, wie etwa Bangladeschund Kalkutta, zu Symbolen der Furcht und Hoffnungslosigkeitgeworden sind. Das ist ein typischer Charakterzug dereuropäischen Eroberungen, der viel über die Hinterlassenschaftsolcher, aus der Perspektive der Eroberer, kleinen Kriegeaussagt.Haiti liefert ein weiteres Beispiel. Es war die vielleicht reichsteKolonie der Welt und die Quelle für einen Großteil desfranzösischen Reichtums. Heute ist nicht mehr ausgeschlossen,daß es in ein paar Jahrzehnten von der Landkarteverschwinden wird. Ein anderes Beispiel ist Ostindien, dasheutige Indonesien, das bis zum Zweiten Weltkrieg etwazwanzig Prozent zum Nationaleinkommen der äußerstwohlhabenden Niederlande beisteuerte. Als Fußnote dazu seivermerkt, daß die Marshallplan-Hilfe für Frankreich und dieNiederlande, zwei imperiale Großmächte, gerade eben dieKosten für die blutigen Bemühungen deckte, ihre Kolonien inSüdostasien zu behalten.Ein Hauptfaktor der europäischen Eroberungszüge war, someine ich, weniger der Fortschritt in der Militärtechnologie,sondern vor allem eine Art Kultur der Grausamkeit — »diealles zerstörende Gewalt der europäischen Kriegführung«, die,so der britische Militärhistoriker Geoffrey Parker, von deneroberten Bevölkerungen in Ostindien oder der Neuen Weltals »abstoßend« empfunden wurde. Eine neuere Publikationüber die Geschichte der Ostindischen Handelsgesellschaftbetont: »In Indien wurde der Krieg [im 18. Jahrhundert] nochals Sport betrieben, in Europa dagegen als Wissenschaft.« Zuähnlichen Schlußfolgerungen gelangte Adam Smith, als er die»grausame Ungerechtigkeit der Europäer« verurteilte unddabei vor allem an seine Landsleute dachte. Als die englischenSiedler in der Neuen Welt ankamen, setzten sie im Krieggegen die Indianer und bei der Erweiterung des nationalenTerritoriums die Tradition der extremen Grausamkeit fort. Mandenke dabei etwa an Andrew Jacksons Eroberung vonSpanisch-Florida, ein in vielerlei Hinsicht wichtiges Ereignisund der erste Exekutivkrieg der amerikanischen Geschichte.Diese Tradition hat die Vorherrschaft errungen. Man muß inder modernen Geschichte schon sehr lange suchen, um einenKrieg zu finden, der kein Exekutivkrieg ist und derVerfassungsprinzipien wie zum Beispiel einer offiziellenKriegserklärung durch den Kongreß gehorcht. Jacksonsunerklärter Krieg richtete sich gegen die so genannten

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Seminolen — »zusammengemengte Horden gesetzloserIndianer und Neger«. Gesetzlose Indianer und entlaufeneSklaven - so sahen es die Invasoren. Jacksons Taktik war einLehrstück für die »heilsame Wirkung« des Terrors, wieAußenminister John Quincy Adams in einem berühmtenBeitrag urteilte, der die massiven Grausamkeiten des mitInvasion und Aggression verbundenen Exekutivkriegsrechtfertigte. Seine Ausführungen wurden von Jefferson undführenden Gelehrten des 20. Jahrhunderts sehr bewundert.Ich sollte hinzufügen, daß diese Vernichtungskriege imnationalen Bewußtsein weiterleben. Vor einiger Zeitveröffentlichte das Wall Street Journal auf seiner Titelseiteeinen Bericht über die längerfristige Veränderung vonEßgewohnheiten in den Vereinigten Staaten. Gleich zu Beginnwurde ganz ohne Scheu die »Seminolen-Suppe« erörtert. DieSeminolen sind auch das Maskottchen eines universitärenFootballteams, das regelmäßig an den nationalenMeisterschaften teilnimmt. Wenn die Nazis den ZweitenWeltkrieg gewonnen hätten, dienten Juden und Zigeunervielleicht als Maskottchen der Münchner Universität. Imallgemeinen betrachten Gewinner und Verlierer die Erbschaftdes Kriegs aus jeweils ganz verschiedenen Perspektiven.Die Traditionen der Grausamkeit und Aggression wurden auchnach der Eroberung des nationalen Territoriums beibehalten.Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befreiten US-amerikanischeTruppen die Philippinen - das heißt, sie befreiten die SeelenHunderttausender von den Sorgen und Nöten des Lebens. DiePresse war von diesem heroischen und großzügigenUnternehmen sehr beeindruckt und beschrieb es mit ziemlicherGenauigkeit. Der Krieg wurde von Militärs geleitet, die schongegen die Indianer gekämpft hatten und nun noch, wie siesagten, ein paar »Nigger« mehr umbrachten. Es war alsonichts Neues. Die Presse äußerte sich erfreut darüber, daß dieamerikanischen Truppen »die Eingeborenen auf englische Artabschlachteten«, damit diese »fehlgeleiteten Kreaturen, die unsWiderstand leisten, zumindest unsere Waffen respektieren«und später unsere guten Absichten erkennen. In Wirklichkeitwaren die fehlgeleiteten Kreaturen, sofern sie am Lebenblieben, mit der Abschlachtung einverstanden, wie einführender amerikanischer Soziologe anhand seiner These vom»Konsens ohne Zustimmung« (consent without consent)2erklärte. So ließe sich von einem Kind behaupten, daß esimplizit damit einverstanden ist, von seinen Eltern darangehindert zu werden, auf eine verkehrsreiche Straße zu laufen.

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Später sieht das Kind ein, daß dies nur zu seinem Bestengeschah oder, anders gesagt, daß es dem Tun der Eltern»eigentlich« zugestimmt hat. Das gilt auch für die fehlgeleitetenKreaturen, die uns Widerstand leisten.Diese Themen sind bis heute mehr oder weniger die gleichengeblieben, und das gilt auch für den Nachhall derIndianerkriege. Die Erinnerung daran wurde während desIndochinakriegs in der Militär- und Massenliteraturwiederbelebt. Während der US-Terrorkriege in Mittelamerikain den achtziger Jahren erklärte die führende liberaleIntellektuellenzeitschrift, wir müßten unseren Auftragdurchführen, »egal, wie viele ermordet werden«. Nicht andersdachten die selbsternannten Heiligen, die mit der Bibel in derHand die Indianer von Neuengland massakrierten, ebenso ihreVorgänger und viele andere: die Mongolenhorden vonDschingis Khan oder die Hunnen Attilas oder die Römer oderdie Assyrer oder die Hebräer bei der Eroberung von Kanaan.Die Liste ließe sich noch verlängern.In der besonderen Grausamkeit der europäischenKriegführung spiegelt sich die blutige Geschichte von Europaselbst. Jahrhundertelang war es in den Zentren der westlichenZivilisation — Frankreich und Deutschland - die höchste undedelste Berufung und Pflicht, einander totzuschlagen. DieserAuftrag endete 1945, aber nur, weil die von der europäischenZivilisation entwickelte Kriegswissenschaft ein so groteskesAusmaß erreicht hatte, daß die nächste Episode die letzte seinwürde, weil dann niemand mehr da wäre, um die Erbschaftdes Kriegs in Chroniken oder Kunstwerken festzuhalten.Das 20. JahrhundertWas die Welteroberung uns als Erbschaft hinterlassen hat, liegtauf der Hand. Beginnen wir mit dem Offensichtlichsten: Dieeinzigen Regionen der Welt, die sich außerhalb von Europaentwickeln konnten, hatten sich dem europäischen Zugriffentziehen können. Es sind die Vereinigten Staaten, die sichnach ihrer Befreiung von England selbst dem UnternehmenWelteroberung anschlossen, und Japan mit einigen Kolonien imSchlepptau. Man sollte darauf hinweisen, daß Japan zwar eineziemlich brutale Kolonialmacht war, aber seine Kolonienbesser behandelte als die anderen Imperialstaaten die ihren.Japan betrieb keinen Raubbau und keine Zerstörung, darumerging es den Kolonien anders als etwa Bangladesch oderHaiti. Sie konnten sich in ungefähr dem Tempo entwickeln wiedas Mutterland selbst. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es

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ihnen, an das alte Wachstum wieder anzuknüpfen, und siewurden zum Zentrum des ostasiatischen Wirtschaftsbooms.Im 20. Jahrhundert wurde, wie schon zu biblischen Zeiten, inder Ära der Kreuzzüge und in anderen ungewöhnlichgrausamen Perioden, die Zivilbevölkerung erneut zumvorrangigen Zielobjekt der Kriegführung. Die Nazis betratenNeuland, indem sie den Völkermord industrialisierten - unddabei war Deutschland die fortgeschrittenste Industriemachtder Welt und eines der kulturellen Zentren des Westens.Militärische Angriffe auf die Zivilbevölkerung erreichten ihrenGipfel mit der Bombardierung Deutschlands und Japans durchdie Alliierten. Das schrecklichste Ereignis vor Hiroshima undNagasaki war der Abwurf von Brandbomben auf Tokio imMärz 1945. Dabei kamen zwischen 80 000 und 200 000Menschen ums Leben. Man hatte keine Zeit, die Toten zuzählen, darum gehen die Schätzungen weit auseinander. In derwehrlosen Stadt waren mehr als eine Million Einwohnerobdachlos geworden. Die Brandbomben waren so wirksam,weil Tokio fast ausschließlich aus Holzhäusern bestand.Erwartungsgemäß entwickelte sich ein furchtbarer Feuersturm,der aus der Stadt ein Inferno machte. Immerhin stand Tokionun nicht mehr auf der Liste der Zielobjekte vonAtombomben, weil man in den USA erkannt hatte, daß eineweitere Zerstörung keinen Eindruck machen, sondern nur nochmehr Leichen und Trümmer hinterlassen würde. Nach demKrieg meinte das US Strategie Bombing Survey, wo man sichmit den Folgen strategischer Bombardements beschäftigte, daß»in Tokio innerhalb von sechs Stunden wahrscheinlich mehrMenschen durch Feuer umgekommen sind als zu irgendeineranderen Zeit in der Menschheitsgeschichte«. An den 50.Jahrestag dieses grausamen Vorgangs erinnerte die inHongkong erscheinende Far Rastern Economic Review - dieführende (und höchst konservative) Wirtschaftszeitung Asiens— mit einem ausführlichen Bericht, während in den VereinigtenStaaten das Datum nahezu unbeachtet blieb. Den Tenor derwenigen Reaktionen faßte ein Kommentar zusammen, den dieWashington Post mit folgenden Worten zitierte: »Wenn daszum Sieg beigetragen hat, dann war es richtig.«Im übrigen wurde Japan mit einer Flut scharfer Verurteilungenüberschüttet, weil es versäumt habe, seine eigene Schuld inangemessener Weise einzugestehen, hatte es doch einenMilitärstützpunkt in einer amerikanischen Kolonie bombardiert,die ihren Einwohnern ein halbes Jahrhundert zuvor mit List undGewalt entwendet worden war. Die Bombardierung von Pearl

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Harbor war ein Verbrechen, doch läßt sich kaum behaupten,daß es im Vergleich zu anderen Untaten ein besondersschwerwiegendes gewesen sei. In seiner offiziellenEntschuldigung hatte Japan »aufrichtiges Bedauern für unsereVergangenheit« geäußert, wozu auch »Aggression undKolonialherrschaft gehören, die [in China und anderenasiatischen Ländern] unerträgliches Leid verursacht haben«.Diese Erklärung wurde in den USA mit bitteren Wortenangeprangert, und einige Artikel sprachen sogar von seltsamenCharakterfehlern der Japaner, die es ihnen unmöglich machten,Schuld einzugestehen. Der wirkliche Grund lag darin, daß inder Entschuldigung auch von Verbrechen andererimperialistischer Mächte die Rede war, womit implizitangedeutet wurde, daß die Niederlande, Großbritannien,Frankreich und die Vereinigten Staaten ebenfalls keineblütenweiße Weste hätten. Das ging natürlich zu weit, und mankam zu dem Schluß, daß die Japaner sich wieder einmal einemSchuldeingeständnis entziehen wollten. Die Asiaten sahen dieSache zwar etwas anders und hatten die Japaner zunächstsogar begrüßt, aber das zeigt nur, was für »fehlgeleiteteKreaturen« sie sind.In Europa entsprach die Bombardierung von Dresden in etwader von Tokio und fand ungefähr zur gleichen Zeit statt.Britische und US-amerikanische Luftangriffe zerstörten dieStadt mit ihren vielen Kulturschätzen und töteten Zehntausendevon Menschen. In Großbritannien gab der 50. Jahrestag derZerstörung von Dresden Anlaß zu einiger Gewissensprüfung,während ich hierzulande nichts dergleichen finden konnte.Allerdings waren britische Städte damals schweren Angriffenausgesetzt, was die Vereinigten Staaten seit dem Krieg von1812 nicht mehr erlebt hatten. Die Briten hatten mit dem Erbedes Kriegs direkte Erfahrungen gemacht, während die USAnach 1812 im eigenen Land nur noch ihren mörderischenBürgerkrieg geführt hatten. Eine allzu lange Liste siegreicherEroberungen ist meiner Meinung nach nicht gut für denCharakter, und ich glaube, die Geschichte kann dieses Urteilbestätigen. So war Hitler, um ein neueres Beispiel zu nehmen,vor Stalingrad wahrscheinlich der beliebteste Politiker derdeutschen Geschichte gewesen.Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zivilbevölkerungdas Hauptangriffsziel von Kriegen, aber nun achtete mansorgsam darauf, daß sie wehrlos war und nicht zurückschlagenkonnte. Das schlimmste Beispiel ist der Krieg in Indochina.Erinnern wir uns an die grundlegenden Tatsachen: Frankreich

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wollte, mit US-amerikanischer Hilfe — de facto mit denLeistungen des Marshallplans — seine ehemalige KolonieSüdvietnam zurückerobern. Dabei kam etwa eine halbeMillion Vietnamesen ums Leben. 1954 zog sich Frankreichzurück, und es kam zu einer diplomatischen Vereinbarung, diezunächst die Bildung einer entmilitarisierten Zone und dann diemit freien Wahlen verbundene Wiedervereinigung des Landesinnerhalb von zwei Jahren vorsah. Wir wissen, wie die USAdarauf reagierten; die entsprechenden Dokumente sindfreigegeben worden, nachdem sie zuvor schon von DanielEllsberg in den »Pentagon Papers« veröffentlicht wordenwaren. Die USA waren strikt gegen die GenferVereinbarungen. In einem internen Bericht des NationalenSicherheitsrats wurden sie als »Katastrophe« bezeichnet, unddie Vereinigten Staaten entschieden sich nur wenige Tagespäter insgeheim dafür, die Umsetzung der Vereinbarungen zutorpedieren. Der Bericht enthält einen interessanten Satz: Erlautete, daß im Falle »lokaler kommunistischer Subversionoder Rebellion, die keinen bewaffneten Angriff darstellt« —eine wichtige Formulierung -, die Vereinigten Staaten mit einerReihe von Maßnahmen reagieren werden, die, wennnotwendig, bis zu einem Angriff auf China reichen.Die Pläne sind so interessant wie die Sprache, in der siebeschrieben werden. Die Wortwahl soll keinen Zweifel daranlassen, daß die USA die Absicht hatten, das Hauptprinzip desinternationalen Rechts, die UN-Charta, zu verletzen, die dieAnwendung von Gewalt nur als Reaktion auf einenbewaffneten Angriff und bis zu einer Entscheidung desSicherheitsrats zu-läßt. Aber es hieß: im Falle »lokalerkommunistischer Subversion [was das ist, entscheiden wir]oder Rebellion, die keinen bewaffneten Angriff darstellt«,werden wir militärische Maßnahmen ergreifen, einschließlichder Wiederbewaffnung Japans, Angriffen auf China, derDurchführung subversiver Aktivitäten von Thailand aus usw.Diese vorsätzliche Verletzung der Prinzipien des internationalenRechts wurde dann Jahr für Jahr mit den gleichen Wortenfortgesetzt. Das war eine der wenigen wirklich interessantenEnthüllungen der »Pentagon Papers«. Vieles andere warhinlänglich bekannt, aber dies war neu. Dennoch muß es in diemeisten wissenschaftlichen Darstellungen noch Eingang finden.Offensichtlich scheint es auch nach 25 Jahren noch ein heißesEisen zu sein. Es ist von großer Bedeutung, denn hier liegt dieUrsache für die Ausweitung des Kriegs nach dem von den

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USA vorsätzlich herbeigeführten Scheitern der GenferVerhandlungen.

Die Ausweitung des Kriegs durch die USADie USA torpedierten die Genfer Verhandlungen - sieerrichteten im Süden Vietnams einen Terrorstaatlateinamerikanischen Zuschnitts und brachten bis 1960 etwa70 000 Einheimische um. Aber die Unterdrückung riefWiderstand hervor. Das von den USA inthronisierte Regimewar so schwach, daß es schon nach den ersten Reaktionen aufseine repressiven Maßnahmen zusammenbrach. John F.Kennedy stand nun vor der Wahl, sich entwederzurückzuziehen oder den Krieg zu eskalieren. Er entschied sichfür die Eskalation. 1961 und 1962 griffen die USASüdvietnam direkt an und bombardierten das Land. Bis 1962hatten mit US-Kampfpiloten bemannte Bomber deramerikanischen Luftwaffe etwa ein Drittel der gesamtenEinsätze geflogen. Zwar waren die Flugzeuge mitsüdvietnamesischen Kennzeichen markiert, aber der wirklicheSachverhalt war alles andere als ein Geheimnis. 1961 und1962 ordnete die Regierung Kennedy (in Verletzung desGenfer Abkommens) den Einsatz chemischer Mittel zurVernichtung landwirtschaftlicher Produkte an. 1963 war dasMarionettenregime in Südvietnam erneut am Ende undversuchte sogar, auf dem Verhandlungswege eine friedlicheRegelung zu erreichen. Kennedys Botschafter, Henry CabotLodge, klagte hinter verschlossenen Türen darüber, daß diesüdvietnamesische Regierung »keinen ausreichend starkenPolizeistaat auf die Beine gestellt habe ... weil sie, anders alsHitler-Deutschland, nicht effizient genug vorgeht« und es ihrnicht gelinge, »den starken und gut organisierten Gegner imUntergrund, dessen Triebkraft ein tiefer und ständig erneuerterHaß ist«, zu unterdrücken, ein Haß auf das Marionettenregimeund die fremden Invasoren, die es errichtet hatten. Im übrigenenthüllt diese Terminologie wie auch die übrigenAufzeichnungen, daß sich, ungeachtet einiger Vorwände, dieUS-Regierung bewußt war, mit Südvietnam im Krieg zu sein.Wie immer man die Legitimität des nordvietnamesischenEngagements beurteilen mag, bleibt doch die Tatsacheunbezweifelbar, daß ein solches Engagement noch nicht einmalvermutet wurde, als die Vereinigten Staaten Jahre später denKrieg auf Nordvietnam ausgedehnt hatten.Weil das Regime in Südvietnam versagt hatte - seineUnterdrückungsmaßnahmen waren ineffektiv und es suchte

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eine diplomatische Regelung -, wurde es durch einen von derRegierung Kennedy unterstützten Militärputsch beseitigt. DiesePolitik verfolgte Kennedy - einer der wirklichen Falken inseiner Regierung - bis zum Ende: Bevor an eine diplomatischeRegelung oder den Rückzug der US-Truppen gedacht werdenkonnte, mußte in Südvietnam ein militärischer Sieg errungenwerden. In den USA herrscht über diese Zusammenhängenoch immer keine Klarheit, was auch mit unterschiedlichenTheorien über Kennedys Ermordung zu tun hat, aber dieDokumente sprechen eine eindeutige Sprache.Im Februar 1965 eskalierten die USA den Krieg gegenSüdvietnam erneut und begannen nebenher, auf sehr vielniedrigerem Niveau, den Norden zu bombardieren. Das wurdein den Vereinigten Staaten breit diskutiert: Sollen wirNordvietnam angreifen? Demgegenüber fiel dieBombardierung des Südens nicht ins Gewicht. Das gleiche giltfür die internen strategischen Planungen, über die esmittlerweile Dokumente in reichlicher Zahl gibt, nicht nur diePentagon-Papiere, sondern tonnenweise Geheimdokumente,die in den letzten Jahren für die Öffentlichkeit freigegebenwurden. Es zeigt sich — wiederum eine der wenigen wirklichinteressanten Enthüllungen der Pentagon-Papiere —, daß eskeine Planungen für die Eskalierung des Bombenkriegs imSüden gab, während der Krieg gegen den Norden sorgfältigvorbereitet wurde und man sich über den Zeitpunkt und denUmfang der Bombenabwürfe nachhaltig Gedanken machte.Die dreimal so starke Bombardierung des Südens wurde kaumerwähnt. Hier und da gab es einige eher zufälligeEntscheidungen. McNamaras vor einiger Zeit erschieneneMemoiren bieten ein ähnliches Bild: Den Krieg gegen denNorden diskutiert er ausführlich, der Süden wird nicht einmalerwähnt. Er teilt uns mit, was er am 21. Januar 1965, einemsehr wichtigen Tag, getan hat: Es gab eine große Debatte umdie Bombardierung von Nordvietnam. Was er an diesem Tagsonst noch tat, sagt er nicht, wir wissen es aber aus anderenDokumenten: Er ordnete zum ersten Mal den Einsatz von Jet-Bombern an, um den Luftkrieg gegen Südvietnam noch weiterzu eskalieren. Aber dazu findet sich bei ihm kein Wort.Der Grund dafür, daß der Krieg gegen Südvietnam imöffentlichen Bewußtsein und in den geheimen Planungen keineRolle gespielt hat, liegt für mich auf der Hand, und man sollteihm Aufmerksamkeit schenken, wenn man gewillt ist, in denSpiegel zu blicken. Die Bombardierung von Nordvietnam warfür die USA in mehrfacher Hinsicht eine teure Angelegenheit.

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Zum einen in internationaler Hinsicht, denn Nordvietnam wurdeals eigenständiger Staat betrachtet, der in vielen LändernBotschaften unterhielt. Außerdem gab es die Gefahr einesVergeltungsschlags. Die USA bombardierten eine chinesischeEisenbahnlinie, die von Südwest- nach Südostchina führte unddabei durch nordvietnamesisches Gebiet verlief. Die USAbombardierten sowjetische Schiffe und Botschaftsgebäude.China und die Sowjetunion könnten zurückschlagen. Das wargefährlich und mußte bei der Bombardierung Nordvietnams inRechnung gestellt werden. Andererseits war der in vielgrößerem Maßstab gegen Südvietnam geführte Kriegrisikolos. Die Südvietnamesen konnten sich nicht dagegenwehren. Folglich gab es zu der Zeit keine Probleme und auchkeine Proteste. Praktisch nichts. Die Proteste richteten sich fastausschließlich gegen die Bombardierung des Nordens. Derandere Krieg ist aus der Geschichte fast vollständigverschwunden und findet weder in McNamaras Memoirennoch in anderen Darstellungen Erwähnung. Und es gab, wiegesagt, dafür noch nicht einmal konkrete Planungen. Nur einebeiläufige Entscheidung: Es kostet uns nichts, warum sollten wiralso nicht ein paar Leute umbringen? Es ist ein interessanterVorfall, der uns eine Menge über die Denkweise verrät, diesich von den frühesten Zeiten bis heute erhalten hat. Und hierhandelt es sich nicht um die weit zurückliegendeVergangenheit, nicht um Amalekiter oder Kreuzzüge oderDschingis Khan.Der Krieg wurde also ausgeweitet; Laos und Kambodschawaren die nächsten Ziele. Auch hier stand die Zivilbevölkerungim Zentrum der Angriffe. Der Brennpunkt blieb jedoch immerSüdvietnam. Dazu gehörte die großflächige Bombardierungdes dichtbesiedelten Mekong-Deltas wie auch Luftangriffe aufGebiete südlich von Saigon, die vor allem Dörfer und Städteim Visier hatten. »Auf diese Stadt«, so wurde entschieden,»lassen wir ein paar B-52-Bomber los.« UmfangreicheTerroroperationen namens »Speedy Express« und »BoldMariner« sollten in erster Linie die Bevölkerung treffen, in derder Widerstand seinen Rückhalt besaß.Man könnte sagen, daß das Massaker von My Lai bloß eineFußnote zu einer dieser Operationen und imGesamtzusammenhang geradezu bedeutungslos war. DieQuäker hatten in der Nähe eine Klinik eingerichtet und wußtensofort Bescheid, weil Verwundete eintrafen und von denEreignissen berichteten. Die Quäker machten sich nicht einmaldie Mühe, die Berichte weiterzugeben, weil so etwas

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fortwährend passierte. Nichts Besonderes an My Lai. Später,nachdem die Fakten zunächst unterdrückt worden waren,wurde es bekannt, und, wie ich meine, aus gutem Grund: Mankonnte das Massaker einigen halbverrückten, ungebildeten GIsin die Schuhe schieben, die nicht wußten, wer demnächst aufsie schießen würde, und so die Aufmerksamkeit von denKommandanten ablenken, die, weit vom Schuß, dieGreueltaten — wie etwa die Bombardierung der Dörfer -angeordnet hatten. Und man konnte die Aufmerksamkeit vonden Apologeten zu Hause ablenken, die das alles befördertenund verteidigten. Diese Leute müssen von der Kritik verschontbleiben, aber ein paar durchgedrehte GIs, die etwasSchreckliches taten, das geht in Ordnung. Ich wurde nach derAufdeckung des Massakers von der New York Times Reviewof Books gebeten, einen Artikel über My Lai zu schreiben,aber ich habe die Vorgänge dort kaum erwähnt. Es ging mirum den Kontext, und das halte ich weiterhin für richtig.Zu Beginn der siebziger Jahre war deutlich geworden, daß dieVereinigten Staaten den Krieg im Grunde gewonnen hatten.Sie hatten ihre vorrangigen Ziele erreicht, die, wie dieDokumente zeigen, darin bestanden, Vietnam eine erfolgreiche,unabhängige Entwicklung unmöglich zu machen. Das Landsollte nicht zu einem »Virus« werden, der andere Staateninfizieren und zu einem ähnlichen Kurs inspirieren würde. Manbefürchtete, daß Japan sich mit einem unabhängigen Asienarrangieren und womöglich zum industriellen Zentrum einer derUS-amerikanischen Kontrolle entzogenen neuen Ordnung inFernost werden könnte. Die USA hatten den ZweitenWeltkrieg im Pazifik geführt, um genau dies zu verhindern undwaren nicht bereit, so etwas in der Nachkriegszeit zutolerieren. Jahre später trug McGeorge Bundy,Sicherheitsberater von Kennedy und Johnson, die Überlegungvor, daß die USA sich 1966, nach den Massakern inIndonesien, aus Vietnam hätten zurückziehen sollen. Was inIndonesien geschah, ist mit den Ereignissen in Ruanda zuvergleichen. Die Armee sorgte dafür, daß innerhalb wenigerMonate eine halbe bis eine Million Menschen ermordetwurden, wobei das Militär von den USA unterstützt undermutigt wurde. Vor allem zerstörte sie, und darauf kam es an,die einzige Partei, die von den Massen unterstützt wurde. DieOpfer der Massaker waren zumeist Bauern, die kein Landbesaßen. Die CIA verglich die Massenmorde mit denen vonHitler, Stalin und Mao. In den USA wurden sie von links bisrechts mit unverhohlener Euphorie begrüßt. Man muß das

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nachlesen, um es zu glauben. In der Geschichtsschreibungwerden diese Ereignisse nicht wieder auftauchen. Sie sind zubrisant. Bundy jedenfalls meinte, daß Vietnam schon 1966weitgehend zerstört war und in den Nachbarstaaten keinKommunismus mehr drohte. Somit besäße der Virus keineAnsteckungsgefahr mehr, und der Krieg war für dieVereinigten Staaten gegenstandslos geworden.

Nach dem KriegDer Krieg wurde dennoch fortgesetzt. Wir haben denVietnamesen ein grauenhaftes Erbe hinterlassen: an die vierMillionen Tote in Indochina, noch mehr MillionenWaisenkinder, Verstümmelte, Flüchtlinge, drei verwüsteteLänder - nicht nur Vietnam. In Laos sterben noch heuteMenschen an Minibomben, die von US-Kampfflugzeugen ineiner der umfangreichsten Aktionen der Geschichte auf zivileZiele abgeworfen wurden. Nur in Kambodscha ging es nochschlimmer zu.Unter einer Erblast des Kriegs hat Vietnam bis heute zu leiden,nämlich unter den Folgen des in der Geschichte beispiellosenEinsatzes chemischer Kampfmittel, womit schon die RegierungKennedy begonnen hatte. Der Chemo-Krieg hat in den USAgroße Aufmerksamkeit gefunden, weil US-Soldaten dadurchgeschädigt wurden. Aus diesem Grunde wissen wir so vielüber die Auswirkungen von Agent Orange und Dioxin.Natürlich hatten und haben die Vietnamesen sehr viel stärkerdarunter zu leiden, aber das findet hierzulande so gut wie keineBeachtung. Ein paar Artikel über dieses Thema habe ichauftreiben können, wie zum Beispiel einen umfangreichenBeitrag des Wall Street Journal vom Februar 1997. Dort hießes, daß in Südvietnam schätzungsweise eine halbe MillionKinder mit dioxinbedingten Mißbildungen geboren wurden -eine Folge der Millionen Tonnen von Chemikalien, die aufSüdvietnam herabregneten, als die USA versuchten,Feldfrüchte und Laubwerk zu zerstören. Ferner heißt es indem Bericht, japanische und vietnamesische Wissenschaftlerhätten herausgefunden, daß in den Dörfern des Südens viermalmehr Kinder mit Schädigungen zur Welt kommen als imNorden, dem zumindest die Schrecken des Chemo-Kriegserspart blieben. Und dann gibt es noch die totgeborenenFöten, von denen einige an seltenen Krebserkrankungengestorben sind, und die, konserviert, in südvietnamesischenKrankenhäusern ganze Räume füllen. Bisweilen liest mandarüber in der Auslandspresse oder, bei uns, in der

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medizinischen Fachliteratur. Störungen derFortpflanzungsfähigkeit sind im vietnamesischen Südenebenfalls verbreiteter als im Norden. Der Bericht sprach offenvon der Verantwortung der USA für diese und andere Greuel.Hilfe habe Vietnam, so heißt es weiter, vor allem aus Europaund Japan erhalten, während »die Vereinigten Staaten nachdem verlorenen Krieg mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigtwaren und sich um Südvietnam nicht weiter kümmerten«. DerAusdruck »verlorener Krieg« bedeutet, daß wir dasMaximalziel der totalen Eroberung verfehlt haben und nur denVirus daran hindern konnten, die ganze Region zu verseuchen.Aber wir haben unter der Zerstörung Indochinas so sehrgelitten und sind deshalb emotional dermaßen befangen, daßman Hilfe bei der Beseitigung der von uns angerichtetenSchäden nicht erwarten kann, geschweige denn einige Wortedes Bedauerns. 3In den Jahren vor diesem Bericht ist, meiner Kenntnis zufolge,nur noch ein weiterer Artikel zu diesem Thema erschienen.1992 berichtete die Südostasien-Korrespondentin der NewYork Times, Barbara Crossette, im Wissenschaftsteil über dieFolgen des Chemo-Kriegs.4 Dort hieß es, daß vieleWissenschaftler die Weigerung der USA, sich mit diesemAspekt zu befassen, für keine gute Idee, wo nicht gar für einenFehler halten, weil die Bevölkerung von »Vietnam eineumfangreiche Kontrollgruppe darstellt«. Da nur die Menschenim Süden - viele in erheblichem Ausmaß - den Chemikalienausgesetzt waren, aber die gleichen Gene besitzen wie die imNorden, wäre die Erforschung der Folgen eine Artkontrolliertes Experiment. Wenn wir das vietnamesischeAngebot zur Zusammenarbeit akzeptierten, könnten wir ausdiesen Forschungen eine Menge über die Auswirkungen vonDioxin erfahren, was uns zunutze käme. Es ist also eigentlicheine Schande, diese Gelegenheit nicht wahrzunehmen. Aberauch dafür haben wir kein Ohr, weil wir emotional so befangensind.Bereits dieses Ausmaß an moralischer Feigheit istrekordverdächtig, aber die vollständige Geschichte ist nocherstaunlicher. In einer, wie ich finde, der erstaunlichstenpropagandistischen Leistungen der Geschichte haben es dieVereinigten Staaten geschafft, die Schuld den Vietnamesen indie Schuhe zu schieben.Es stellt sich heraus, daß wir, als wir sie angriffen undumbrachten, eigentlich die unschuldigen Opfer waren. Dennochsind wir so heiligmäßig, daß wir für ihre an uns begangenen

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Verbrechen noch nicht einmal Wiedergutmachung verlangen.Wir möchten nur, daß sie ihre Schuld zugeben und sichentschuldigen — so George Bush in einer Rede, die auf derTitelseite der New York Times ausführlich erörtert wurde.Und gleich daneben, in einer anderen Spalte, wurden wiedereinmal die Japaner verurteilt, die, aufgrund welcher kulturellenoder genetischen Defekte auch immer, sich nicht zu den vonihnen begangenen Verbrechen zu bekennen vermögen.Dieses Spektakel wird Jahr für Jahr neu aufgeführt, ohne daßes kritische Kommentare hervorriefe. Und es hat mittlerweileschwindelerregende Dimensionen angenommen. Offenbarhaben sich die Vietnamesen vor kurzem dazu entschlossen,ihrer Schuld ein bißchen ins Auge zu sehen und für ihreVerbrechen Reparationen zu zahlen. Ein Artikel auf derTitelseite der New York Times berichtet, daß Vietnam sichbereit erklärt habe, die von dem Marionettenregime im Südenangehäuften Schulden zu begleichen. Das Regime war von unsals Deckmantel für die Angriffe installiert worden. Die NewYork Times freut sich, daß wir nun »das Ende eines düsterenKapitels in der amerikanischen Geschichte feiern« können. DieVerbrecher stellen sich endlich ihrer Schuld, und somit könnenwir ihnen großherzig vergeben, weil sie nun für ihre Untatenzahlen und sie zugeben, obwohl wir, wie Präsident Bush undandere sie streng ermahnt haben, niemals vergessen können,was sie uns antaten. 5Vielleicht wird ja eines Tages eine neue Regierung inAfghanistan Rußland die Schulden zurückzahlen, die das vonden Sowjets als Deckmantel für die Invasion von 1979eingesetzte Marionettenregime in Kabul aufgehäuft hat. Dannkann Rußland das Ende eines düsteren Kapitels seinerGeschichte feiern und vielleicht gar seine emotionaleErschöpfung überwinden. Und die Afghanen werden endlichihren schuldhaften Widerstand gegen die russische Invasioneingestehen, bei der eine Million Menschen starben und die einverwüstetes Land zurückließ, dessen Reste jetzt von den US-gestützten Terrormilizen endgültig zerschlagen werden. Aberdergleichen wird nicht geschehen, weil die Sowjetunion denKrieg verlor und kurz danach, nicht zuletzt infolge dieserNiederlage, auseinanderbrach. Im Oktober 1989 erkannte dieRegierung Gorbatschow offiziell an, daß der Angriff aufAfghanistan unrechtmäßig und unmoralisch gewesen sei. Die13 000 gefallenen wie auch die vielen in Afghanistaninhaftierten Soldaten hätten sich an der Verletzunginternationaler Rechts- und Verhaltensregeln beteiligt. Dieses

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Eingeständnis fand in den USA große Beachtung — undwurde mit selbstgerechter Rhetorik kommentiert. Die bösenund gottlosen Kommunisten, so der Tenor, seien endlich aufdem Weg in die westliche Zivilisation, hätten aber noch einenlangen Marsch vorsieh.Undenkbar, daß die USA diesem Beispiel folgen und für ihreviel größeren Verbrechen in Indochina um Entschuldigungbitten. Wie undenkbar, das wird noch einmal an dem Aufruhrum McNamaras Memoiren-Bestseller deutlich. Er wurdeentweder als Verräter beschimpft oder für seinen Mutgepriesen, weil er zugab, daß die Vereinigten Staatenkostspielige Fehler begangen hatten. Dafür, daß er sichentschuldigte, wurde er verurteilt oder gelobt, aber nicht, weiler bei den Opfern in Indochina um Verzeihung gebeten hätte -darüber verliert er kein Wort —, sondern weil er sich bei denAmerikanern entschuldigte. Er fragte sich, ob die »hohenKosten« angesichts der amerikanischen Verluste, desSchadens für die US-Wirtschaft und der Belastung der inneren»politischen Einheit« gerechtfertigt waren. Für die Opfer inVietnam kein Wort, und natürlich kein Gedanke daran, denenzu helfen, die weiterhin unter den Folgen leiden und an ihnensterben. Vielmehr liegt es, wie wir hörten, in ihrerVerantwortung, Reparationen zu zahlen und ihre Schuldeinzugestehen. Es ist schon erstaunlich, daß sich unter denen,die McNamara in seiner Haltung bestätigten, auch einige derschärfsten Gegner des Vietnamkriegs befanden, die einstmalsan der Spitze der Protestbewegung gestanden hatten. Sielobten McNamara dafür, daß er ihre Position bezogen habe,was, wenn sie nachdächten — ich fürchte, sie tun es nicht -,bedeutete, daß man ein anderes Land ruhig angreifen undzerstören kann, solange die Kosten sich in Grenzen halten. Umdie Folgen muß man sich nicht kümmern, sondern nur dafürsorgen, daß die Schuld am Gegner hängen bleibt und er unsdie Auslagen zurückerstattet, die wir für seine Vernichtungaufwenden mußten. Ich glaube nicht, daß die Gegner desVietnamkriegs das als ihre Überzeugung betrachten, aber es istdie Position, der sie stillschweigend zustimmen.Die allgemeinen Lehren, die uns die Geschichte vermittelt, sindeindeutig genug. Die Erblast des Kriegs müssen die Verlierertragen. Dafür liefert die Geschichte seit Tausenden von JahrenBeweise. Die Mächtigen sind emotional zu erschöpft oder zusehr mit ihrer Selbstanbetung beschäftigt, um irgendeineVerantwortung zu übernehmen, obwohl es gerade für sie einZeichen ungewöhnlicher moralischer Feigheit ist, sich selbst als

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leidendes Opfer darzustellen. Es ist ein beachtlicher Schrittüber die »Heiligung des Kriegs« und deren neuere, mit demAufkommen säkularer Religionen verbundende Formen desmodernen (auch des unsrigen) Zeitalters hinaus.Des weiteren lehrt uns die Geschichte, daß es leicht ist, dieVerbrechen anderer zu erkennen und mit Seelenqual und Zorndarauf zu reagieren, was durchaus gerechtfertigt sein kann -weil es möglicherweise dazu führt, daß den Opfern geholfenwird. Das kann, wie etwa die Hilfe der Sowjetdiktatur für dieOpfer amerikanischer Verbrechen, nur gutgeheißen werden.Aber es ist, gemessen an den elementarsten moralischenMaßstäben, kein besonders beeindruckendes Vorgehen. DasMinimum an moralischem Anstand wäre die Bereitwilligkeit,sich den eigenen Vergehen in aller Offenheit zu stellen. Das istdas Minimum. Darüber hinaus wäre es moralisch anständig,den Opfern zu helfen und auch an die zukünftigen Opfer zudenken, die es zweifellos geben wird, wenn die Ursachen fürdie Verbrechen nicht schonungslos und ehrlich aufgedecktwerden. Zu diesen Ursachen gehören die institutionellenStrukturen, die nicht verändert werden, sondern weiterhin einerPolitik und den mit ihr verbundenen kulturellen Einstellungenund Doktrinen Vorschub leisten, die zu den von mir erörtertenEreignissen führen. Solche Dinge sollten uns beschäftigen undin einer freien Gesellschaft zum Grundbestand lebenslangerBildung gehören.Anmerkungen

1 Vgl. im Alten Testament 1. Sam. 15 (Anm. d. Übers.}.2 Vgl. dazu Profit Over People, Kap. 2 (Anm. d. Übers.)3 Peter Waldman, »In Vietnam, the Agony of Birth DefectsCalls an Old WartoMind«, WSJ, 18.Feb.1997.4 Barbara Crossette, NYT, 18. Aug. 1992, Wissenschaftsteil.5 NYT, 24. Okt. 1992.

VII. Sozioökonomische Souveränität1999 sind viele globale Probleme unter dem Begriff derSouveränität erörtert worden. Souveränität ist das Rechtpolitischer Gebilde, ihren Kurs — sei er gefährlich oder nicht— frei von äußeren Einflüssen selbst zu bestimmen. In derwirklichen Welt ist das die Beeinflussung durch hochkonzentrierte Macht, deren Zentrum die Vereinigten Staatenbilden. Diese konzentrierte globale Macht trägt, je nachdem,welchen Aspekt von Souveränität und Freiheit man

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berücksichtigt, unterschiedliche Namen. Es kann sich um den»Konsens von Washington« handeln oder um den WallStreet/Treasury-Komplex (die Verbindung vonFinanzministerium und Bankwesen), um die NATO oder dieinternationalen Wirtschaftsinstitutionen (Welthandels-organisation, Weltbank und Internationaler Währungsfond), umdie G-7 (die reichen Industrienationen des Westens) oder dieG-3, oder, genauer, die G-l. Grundlegender ließe sich dieseMacht als Geflecht von Megakonzernen beschreiben, diemiteinander durch vielfache strategische Bündnisse verknüpftsind. Die von ihnen gesteuerte Weltwirtschaft ist de facto eineArt von privatwirtschaftlichem Merkantilismus, der in denmeisten Bereichen zur Bildung von Oligopolen neigt und zumZweck der Sozialisierung von Risiken und Kosten sowie derUnterdrückung widerständiger Elemente staatlichen Schutzbeansprucht.Die Frage nach der Souveränität stand 1999 in zweierleiHinsicht auf der Tagesordnung. Zum einen ging es um dasRecht auf Sicherheit vor militärischen Interventionen in einerauf souveränen Staaten beruhenden Weltordnung. Zumanderen ging es um das Recht auf Sicherheit vorsozioökonomischen Interventionen in einer Welt, die vonmultinationalen Konzernen beherrscht wird. Dazu gehören vorallem die Finanzinstitutionen mitsamt dem Rahmen, innerhalbdessen sie ihre Interessen wahrnehmen können. Das Problemder sozioökonomischen Intervention stand im Mittelpunkt derheftigen Proteste gegen die Tagung derWelthandelsorganisation (WTO), die im November 1999 inSeattle stattgefunden hat.Ich will hier das zweite Thema erörtern: die Probleme vonSouveränität, Freiheit und Menschenrechten imsozioökonomischen Bereich. Zunächst eine allgemeineBemerkung: Souveränität ist kein Wert an sich, sondern nur inihrer Beziehung auf Rechte und Freiheiten, die sie befördernoder einschränken kann. Ferner setze ich etwas voraus, wasunbezweifelbar erscheinen mag, tatsächlich aber umstritten ist -daß wir nämlich, wenn wir von Freiheiten und Rechtensprechen, dabei an Menschen denken, also an Personen ausFleisch und Blut, nicht an abstrakte politische und juristischeKonstruktionen wie Konzerne, Staaten oder Kapital. Wenndiese Gebilde, was fragwürdig ist, überhaupt Rechte besitzen,sollten sie von den persönlichen Rechten abgeleitet sein. Dasist im Kern die Lehre des klassischen Liberalismus undzugleich das Leitmotiv für jahrhundertelange Kämpfe der

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Bevölkerungsmehrheit um Rechte und Freiheiten. Aber dieseLehre findet ihren Gegner in der offiziellen Doktrin derGegenwart, die im politischen wie auch im sozioökonomischenBereich von den Reichen und Privilegierten unterstützt wird.

Der politische BereichIm politischen Bereich heißt der vertraute Slogan:»Souveränität des Volks durch eine Regierung, die vom Volk,aus dem Volk und für das Volk gewählt wird.« DieWirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus, denn hier gilt dasVolk als gefährlicher Feind, der um seines eigenen Bestenwillen kontrolliert werden muß. Diese Probleme gehen auf diefrühesten demokratischen Revolutionen der Moderne imEngland des 17. Jahrhunderts und in den amerikanischenKolonien ein Jahrhundert später zurück. In beiden Fällenerlitten die Demokraten eine - allerdings nicht vollständige undschon gar nicht dauerhafte - Niederlage. Im 17. Jahrhundertwollte die englische Bevölkerung mehrheitlich weder vomKönig, noch vom Parlament regiert werden. Das waren, derStandardversion des Bürgerkriegs zufolge, die hauptsächlichenKonkurrenten; aber wie in den meisten Bürgerkriegen, wollteein Großteil der Bevölkerung weder den einen noch denanderen Wettbewerber an der Macht sehen. In Flugschriftenhieß es, man wolle »von Landsleuten, wie wir es sind, regiertwerden, die unsere Bedürfnisse kennen«, nicht von »Ritternund Edelleuten, [deren] Gesetze uns Angst einflößen undunterdrücken, und die von unseren Leiden nichts wissen«.1Ein Jahrhundert später hatten die rebellischen Bauern in denKolonien ganz ähnliche Ideen, aber das Verfassungssystemwar anders konstruiert. Ketzereien durften nicht sein. Das Zielbestand darin, »die Minderheit der Wohlhabenden vor derMehrheit zu schützen« und sicherzustellen, daß »das Land vondenen regiert wird, die es besitzen«. Soweit James Madison,einer der Väter der Verfassung, und John Jay, Präsident desKontinentalkongresses und der erste Vorsitzende Richter amObersten Gerichtshof. Ihre Konzeption setzte sich durch, aberdie Konflikte gingen weiter. Sie nahmen immer neue Formenan und sind auch heute noch lebendig. Die Doktrin der Elitenjedoch ist nahezu unverändert geblieben.2Gehen wir mit raschem Schritt ins 20. Jahrhundert, wobei ichnur die liberale, fortschrittliche Seite des politischen Spektrumsberücksichtige — am anderen Ende ist man weit wenigersanftmütig. Hier nun wird die Bevölkerung als »unwissenderund lästiger Außenseiter« betrachtet, dem die Rolle des

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»Zuschauers«, nicht aber des »Teilnehmers« zukommt,abgesehen von periodischen Möglichkeiten, sich zwischenverschiedenen Repräsentanten privater Macht für den einenoder den anderen zu entscheiden.3 Das nennen wir Wahlen.Bei Wahlen gilt die öffentliche Meinung dann als irrelevant,wenn sie den Forderungen der wohlhabenden Minderheit, derdas Land gehört, widerspricht. Gerade jetzt gibt es dafürwieder hervorragende Beispiele.Eines davon betrifft die internationale Wirtschaftsordnung -diesogenannten Handelsabkommen. Wie Umfragen zeigen, ist dieBevölkerung in ihrer Mehrheit ganz und gar gegen das, was davor sich geht, aber auf die Wahlen hat das keinen Einfluß, weildie Machtzentren — die Minderheit der Wohlhabenden - sichdarin einig sind, daß es gelte, einen bestimmten Typ von sozio-ökonomischer Ordnung durchzusetzen. Diskutiert werdenDinge, für die sich die Mächtigen nicht besonders interessieren,wie zum Beispiel Charakterfragen, oder Reformen, von denenohnehin klar ist, daß sie nicht verwirklicht werden. Das ist ganztypisch und zeigt, daß der Öffentlichkeit - dem unwissendenund lästigen Außenseiter - tatsächlich die Rolle des Zuschauerszugedacht ist. Wenn die Bevölkerung, was oft geschieht, sichorganisiert und versucht, die politische Arena zu betreten, umihre eigenen Interessen durchzusetzen, gibt es ein Problem.Das ist dann keine Demokratie mehr, sondern eine »Krise derDemokratie«, die überwunden werden muß.Das alles sind Zitate aus dem liberal-fortschrittlichen Bereichdes politischen Spektrums, aber diese Grundsätze sindweitverbreitet, und die letzten 25 Jahre sind eine dieserregelmäßig auftretenden Perioden gewesen, in denen eingroßer Feldzug gegen die »Krise der Demokratie« geführtwurde, um die Öffentlichkeit in ihre Rolle als apathischer,passiver und gehorsamer Zuschauer zurückzudrängen. Sovielzum politischen Bereich.

Der sozioökonomische BereichIm sozioökonomischen Bereich spielt sich etwas Ähnliches ab.Auch hier gibt es seit langer Zeit Konflikte, die in engerBeziehung zu den Auseinandersetzungen im politischen Bereichstehen. Vor 150 Jahren, in der Frühzeit der industriellenRevolution, gab es in Neuengland eine sehr lebendige,unabhängige Arbeiterpresse, die von jungen Bäuerinnen undstädtischen Proletariern betrieben wurde. Sie verurteilten diemit dem sich formierenden Industriesystem einhergehende»Degradierung und Unterordnung«, die die Leute zwang, sich

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um des Überlebens willen zu verkaufen. Man sollte sich, auchwenn es schwerfällt, daran erinnern, daß Lohnarbeit damals alseine Form von Leibeigenschaft betrachtet wurde. DieseAnsicht vertraten nicht nur die Arbeiter in den Fabriken,sondern auch die Gebildeten, wie etwa Abraham Lincoln oderdie Republikaner oder sogar die Leitartikler der New YorkTimes (was sie heute vielleicht gerne vergessen würden). DieArbeiter wehrten sich gegen die Rückkehr zu, wie sie sagten,»monarchistischen Grundsätzen« in der Industrie undforderten, daß die Fabriken denjenigen gehören sollten, diedort tätig waren — das war der republikanische Geist. Sieverurteilten den »neuen Zeitgeist — Bereicherung um jedenPreis«, eine entwürdigende und erniedrigende Vorstellung vomLeben, die den Menschen mit enormer Anstrengung in dieKöpfe gehämmert werden mußte - was de facto seitJahrhunderten betrieben wird.4Im 20. Jahrhundert hält die Literatur der PR-Industrie einenreichen und instruktiven Vorrat an Informationen darüberbereit, wie man den »neuen Zeitgeist« vermittelt, sei es durchdie Erzeugung künstlicher Bedürfnisse oder durch die Lenkungdes öffentlichen Bewußtseins (Edward Bernays) oder durchdie Verbreitung einer »Philosophie der Vergeblichkeit« unddes fehlenden Lebenssinns, um die Aufmerksamkeit auf »dieeher überflüssigen Dinge« zu lenken, die »Ausdruckmodebewußter Konsumtion sind«.5 Wenn man damit Erfolghat, werden die Menschen bereit sein, das ihnen angemessenebedeutungslose und untergeordnete Leben zu führen und diesubversive Idee einer selbständigen Lebensweise vergessen.Es handelt sich dabei um ein umfassendes sozial-technologisches Projekt, das schon seit langer Zeit betriebenwird, aber erst im 19. Jahrhundert wirklich umfassendeDimension gewann. Man kann dieses Projekt aufunterschiedliche Weise betreiben. Eine davon habe ich geradeerörtert. Sie ist altbekannt und bedarf keiner weiterenBeispiele. Eine andere Methode besteht darin, das Gefühl derSicherheit zu untergraben, indem man mit der Verlagerung vonArbeitsplätzen ins Ausland droht. Eine der Hauptfolgen und,wenn man rationales Verhalten unterstellt, einer der, wie manannehmen muß, wichtigsten Zwecke der sogenannten»Handelsabkommen« - sogenannt, weil es hier nicht umFreihandel geht; diese Abkommen haben sehr stark gegen denMarkt gerichtete Elemente, und es sind in dem Sinne keineAbkommen, als die meisten Menschen nichts von ihnen halten— besteht darin, der Drohung, ohne daß sie verwirklicht

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werden muß, Nachdruck zu verleihen: Man winkt mit demZaunpfahl der Arbeitsplatzverlagerung, um die Arbeitnehmerzu disziplinieren.Eine weitere Maßnahme ist die »Flexibilisierung desArbeitsmarkts«. Die Weltbank drückt sich da ganzunmißverständlich aus: »Zunehmende Flexibilisierung desArbeitsmarkts ist — obwohl als Euphemismus für sinkendeLöhne und Jobrationalisierung in Verruf geraten [aber genaudas bedeutet es in Wirklichkeit] - in allen Regionen der Weltvon großer Bedeutung. Zu den wichtigsten Reformen gehörendie Mobilisierung der Arbeit und die Flexibilisierung der Löhnesowie die Entflechtung von Arbeitsverträgen und staatlichenSozialleistungen.« 6Damit werden die in langen, bitterenKämpfen errungenen Rechte und Vergünstigungen wiederzunichte gemacht.Wenn von der Flexibilisierung der Löhne die Rede ist, geht esnatürlich um eine Korrektur des Lohnniveaus nach unten, nichtnach oben. Und wenn von Mobilität der Arbeit die Rede ist,geht es nicht, wie die Theorie des freien Markts seit AdamSmith fordert, um das Recht der Leute auf freie Wahl desArbeitsplatzes, sondern um das Recht, Beschäftigte nach Lustund Laune zu feuern. Und gemäß der gegenwärtigen, aufInvestivkapital beruhenden Version der Globalisierung müssenKapital und Konzerne sich frei bewegen können, nicht aberreale Personen, weil deren Rechte nun einmal sekundär sind.Diese von der Weltbank als »wesentliche Reformen«bezeichneten Mechanismen werden vielen Ländern alsBedingungen für die Ratifizierung von Unterstützungs-programmen durch Weltbank und IWF aufgenötigt. In diereichen Industrienationen werden sie durch andere, ebensowirksame Methoden eingeführt. Alan Greenspan bekundetevor dem Kongreß, daß die »größere Unsicherheit derArbeiter« ein wichtiger Faktor in der »Märchenwirtschaft« sei.Sie hält die Inflationsrate niedrig, weil die Arbeiter nicht mehrfür Lohnerhöhungen und Vergünstigungen zu kämpfen wagen.Sie sind verunsichert. Und das zeigen die Statistiken mitwünschenswerter Deutlichkeit. In den letzten 25 Jahren, indenen die »Krise der Demokratie« beseitigt wurde, haben dieLöhne für die Mehrheit der Arbeiterschaft, vor allem fürdiejenigen, die keine Kontrollfunktionen ausübten, stagniertoder abgenommen, während die Anzahl der monatlichenArbeitsstunden gestiegen ist und mittlerweile zu den höchstenaller Industrienationen gehört. Das bejubelt dieWirtschaftspresse als eine »willkommene Entwicklung von

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überragender Bedeutung«, weil die Arbeiter jetzt gezwungensind, ihren »luxuriösen Lebensstil« aufzugeben, während dieKonzernprofite »alle Erwartungen übertreffen«.

Es gibt keine AlternativeIn den ökonomisch abhängigen Regionen werden weit härtereMaßnahmen ergriffen. Eine von ihnen ist die »Schuldenkrise«,die im wesentlichen auf Programme der Weltbank und desIWF aus den siebziger Jahren und auf die Tatsachezurückgeht, daß die Reichen in der Dritten Welt in der Regelkeine sozialen Verpflichtungen haben. Das gilt vor allem fürLateinamerika und ist eines der größten Probleme dieserRegion. Die »Schuldenkrise« ist im übrigen keine einfachewirtschaftliche Tatsache, sondern in erster Linie einideologisches Konstrukt. Die »Schulden« selbst könnten durcheinige recht einfache Verfahren beseitigt werden.7Aber das darf nicht sein. Die Schulden sind ein wirksamesKontrollinstrument, das nicht einfach aufgegeben werden kann.Im Augenblick wird für etwa die Hälfte der Weltbevölkerungdie nationale Wirtschaftspolitik praktisch von WashingtonerBürokraten betrieben. Zugleich ist die Hälfte derWeltbevölkerung (nicht genau dieselbe, es gibt jedochÜberlappungen) einseitigen Sanktionen seitens der USAausgesetzt. Auch sie sind eine Form des ökonomischenZwangs, der die nationale Souveränität untergräbt, und derwiederholt, zuletzt von den Vereinten Nationen, alsunannehmbar verurteilt worden ist, ohne daß sich dadurch ander Lage etwas geändert hätte.In den reichen Ländern können ähnliche Resultate mit anderenMethoden erreicht werden. Bevor wir dazu kommen, möchteich noch an etwas erinnern, was keinesfalls vergessen werdendarf. Die Vorgehensweise in den ökonomisch abhängigenRegionen kann sehr brutal sein. Vor einigen Jahren fand in SanSalvador eine von Jesuiten organisierte Konferenz statt, diesich mit dem Staatsterrorismus der achtziger Jahre und dessenFortsetzung durch die von den Siegern erzwungenesozialwirtschaftliche Politik beschäftigte. Die Konferenz wiesmit besonderem Nachdruck auf die »Kultur des Terrors« hin,die nach dem Abklingen der direkten Terrormaßnahmenweiterlebt und dazu dient, »die Erwartungen der Mehrheit imZaum zu halten«, damit sie jeden Gedanken an »Alternativen,die den Forderungen der Mächtigen nicht entsprechen« fallenläßt. So lernen die Menschen, daß es, um Margaret Thatchersunbarmherzigen Satz zu zitieren, »keine Alternative gibt« —

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There Is No Alternative, kurz: TINA. Das ist mittlerweile dervertraute Schlachtruf der Konzerne, wenn es um dieGlobalisierung geht. In den abhängigen Regionen bestand diegroße Errungenschaft der Terroroperationen darin, alleHoffnungen zu zerstören, die in den siebziger Jahren in Mittel-und Südamerika in Massenbewegungen und der vomKatholizismus proklamierten »vorrangigen Sorge für dieArmen« ihren Ausdruck gefunden hatte. Die katholischeKirche wurde für diese Abweichung vom Pfad der Tugendhart bestraft.Bisweilen werden diese Vorgänge recht genau und ingemessenem Ton nachgezeichnet. Gegenwärtigbeweihräuchern wir uns selbst, weil wir in unserenlateinamerikanischen Quasi-Kolonien höchst erfolgreich fürdemokratische Verhältnisse gesorgt haben. In einerbedeutenden wissenschaftlichen Untersuchung zu diesemThema wird die Sache etwas anders und vor allem realistischerdargestellt. Die Studie stammt von Thomas Carothers, einemführenden Spezialisten auf diesem Gebiet, der »aus derPerspektive des Insiders« schreibt, weil er unter der RegierungReagan im Außenministerium für, wie sie genannt wurden,»Programme zur Beförderung der Demokratie« zuständig war.Er meint, daß Washington gute Absichten hatte, in der Praxisjedoch »die Grundordnung ... gänzlich undemokratischerGesellschaften« aufrechterhalten und einen »Wandel vonunten« vermeiden wollte. Wie ihre Vorgängerinnen habe auchdie Regierung Reagan »eine pro-demokratische Politik[gefördert], um radikaleren Veränderungen den Wind aus denSegeln zu nehmen, dabei jedoch nur auf begrenzte, von obenverordnete Formen demokratischen Wandels gesetzt, die dietradierten Machtstrukturen, denen die Vereinigten Staaten seitlangem verbunden waren, nicht gefährden konnten«. Nochgenauer wäre die Formulierung: »die tradiertenMachtstrukturen, mit denen die tradierten Machtstruktureninnerhalb der Vereinigten Staaten seit langem verbundenwaren«.Carothers ist mit den erreichten Resultaten nicht zufrieden,betrachtet aber die in seinen Augen »liberale Kritik« alsgrundsätzlich verfehlt. Sie lasse, sagt er, die altenAuseinandersetzungen »ungelöst«, weil es ihr »ewig gleicherwunder Punkt sei«, der Restaurierung tradierterMachtstrukturen keine Alternative entgegensetzen zu können— in diesem Falle dem mörderischen Terror, der in denachtziger Jahren Hunderttausende von Menschen das Leben

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kostete, Millionen zu Flüchtlingen machte und in denverwüsteten Gesellschaften Waisen und Krüppel zurückließ.Auch hier gilt: Es gibt keine Alternative.8Das gleiche Dilemma erkannte Präsident CartersLateinamerika-Spezialist Robert Pastor, der eher zu denTauben als zu den Falken gehört. Er erklärt in einembemerkenswerten Buch, warum die Regierung Carter dasmörderische und korrupte Somoza-Regime bis zum bitterenEnde unterstützen mußte und dann, als sogar die tradiertenMachtstrukturen sich gegen den Diktator wandten, die von denUSA aufgestellte und ausgebildete Nationalgardeaufrechtzuerhalten suchte, die gegen die Bevölkerung »miteiner Brutalität vorging, die sonst einem nationalen Feindvorbehalten bleibt«. Auch hier ging es darum, Alternativennicht zuzulassen. Pastor fährt fort: »Die Vereinigten Staatenhatten nicht die Absicht, Nicaragua oder die anderen Staatenin der Region zu kontrollieren, wollten aber auch nicht, daß dieEntwicklung außer Kontrolle geriet. Nicaragua sollteunabhängig handeln können, außer [seine Hervorhebung] wennsich dies gegen die US-amerikanischen Interessen richtete.«9Anders gesagt: Die Lateinamerikaner sollten frei sein - unserenWünschen gemäß zu handeln. Sie sollen ihre politischen Kursfrei wählen können, dabei aber keine Entscheidungen treffen,mit denen wir nicht einverstanden sind, in welchem Falle wirdie tradierten Machtstrukturen restaurieren müssen — wennnötig, mit Gewalt. So sieht die liberalere und fortschrittlichereSeite des politischen Spektrums aus.Natürlich gibt es außerhalb dieses Spektrums auch andereStimmen. So forderte der Papst in einer Neujahrsansprache,daß die Menschen »das Recht auf eine Beteiligung an denEntscheidungen, die ihre Lebensweise oft so grundlegendverändern«, haben sollten. Augenblicklich jedoch werden ihreHoffnungen durch eine Marktordnung »grausam zerstört«, inder »politische und finanzielle Macht konzentriert sind«,während die Finanzmärkte »unberechenbar fluktuieren« und»Wahlen manipuliert werden können«, weil die Mächtigen»die negativen Auswirkungen auf andere Menschen für völligunbedeutend« halten. Solche extremistischen Ansichten bliebenin der US-Presse natürlich nahezu unerwähnt.Warum herrscht in den USA quer durch das offiziell zulässigepolitische Spektrum hindurch Einmütigkeit darüber, daßLateinamerikanern - und nicht nur ihnen - die Ausübung derSouveränität, die Kontrolle über ihr eigenes Leben, nichtgestattet werden kann? Es ist das globale Gegenstück zur

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Furcht vor der Demokratie im eigenen Lande. Das Themaselbst ist nicht neu und läßt sich gut anhand freigegebenerDokumente illustrieren. Ein höchst interessantes Beispiel bietetdie Konferenz, auf der 1945 auf Geheiß der USA alleamerikanischen Staaten zusammenkamen, damit Washingtonihnen die Notwendigkeit einer »Economic Charter for theAmericas« (Wirtschaftscharta für die amerikanischen Staaten)vermitteln konnte. Die Charta wollte dem »wirtschaftlichenNationalismus [also der Souveränität] in all ihren Formen« einEnde machen. Die lateinamerikanischen Staaten sollten eine»exzessive« industrielle Entwicklung, die den US-Interessenins Gehege kommen könnte, vermeiden und ihre Wirtschaftstatt dessen »komplementär entwickeln«. So konnte Brasilienbilligen Stahl produzieren, an dem die US-Konzerne nichtinteressiert waren. Hauptsächlich ging es darum, unsereRessourcen zu schützen, wie George Kennan es formulierte,auch wenn zu dem Zweck »Polizeistaaten« notwendig waren.Aber bei dem Versuch, die Charta durchzusetzen, stießWashington auf Gegenwehr. Interne Erklärungsversuche desAußenministeriums liefen darauf hinaus, daß dielateinamerikanischen Staaten »die falschen Entscheidungentreffen«. Sie wollten eine »Politik der breiteren Streuung desReichtums und der Anhebung des Lebensstandards derMassen« und waren davon überzeugt, daß »die erstenNutznießer der Ressourcenentwicklung eines Landes dieEinwohner dieses Landes« sein sollten, nicht aber US-Investoren. Das geht natürlich nicht, und darum darf es keineSouveränität geben. Freiheit können sie haben — sofern siedie richtige Entscheidung treffen. 10Das gleiche Ziel verfolgen Handelsabkommen wie etwaNAFTA. Bei seiner Ratifizierung ließ die Propaganda zunächstverlauten, es werde der arbeitenden Bevölkerung in allen dreidaran beteiligten Ländern — Kanada, USA, Mexiko -entscheidende Vorteile bringen. Kurz danach, als dieTatsachen auf den Tisch kamen, war davon keine Rede mehr,und das längst Offensichtliche wurde dann auch öffentlicheingeräumt. Das Ziel von NAFTA bestand darin, Mexiko aufdie Reformen der achtziger Jahre »festzunageln«, als die Löhnefielen, während die Reichen und ausländische Investoren großeGewinne machten. Die Besorgnisse wurden auf einerKonferenz über Entwicklungsstrategien in Lateinamerikageäußert, die 1990 in Washington stattfand. »Eine»demokratische Öffnung« in Mexiko«, so hieß es warnend,»könnte die besonderen Beziehungen auf die Probe stellen,

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indem sie eine Regierung ins Amt bringt, die auswirtschaftlichen und nationalistischen Gründen eher daraninteressiert ist, die USA herauszufordern.« ÄhnlicheBefürchtungen wurden schon 1945 und seitdem wiederholtlaut, aber jetzt ist Mexiko ja zum Glück an das NAFTA-Abkommen gebunden. Diese Befürchtungen haben auch einhalbes Jahrhundert lang für Terror und Folter gesorgt - nichtnur in der westlichen Hemisphäre. Und sie liegen denAbkommen über die Rechte von Investoren zugrunde, die jetztin einer durch die enge Zusammenarbeit von Staat undKonzernen geprägten Globalisierungsphase durchgesetztwerden.11

Der Aufstieg der KonzerneKehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück: zu denumstrittenen Fragen von Recht und Freiheit, also dersubstantiellen Souveränität. Kommen Rechte und FreiheitenPersonen von Fleisch und Blut zu oder nur den Bereichen, woReichtum und Privilegien zu Hause sind? Oder nur abstraktenKonstruktionen wie Konzernen, Staaten oder dem Kapital?Die Vorstellung, daß solche Gebilde umfassendere Rechtehaben als konkrete Personen, ist im 20. Jahrhundert mitVehemenz vertreten worden. Die prägnantesten Beispiele sindBolschewismus, Faschismus und Privatkonzerne, die eineForm privatisierter Tyrannei darstellen. Zwei von diesenSystemen sind zusammengebrochen, das dritte lebt und gedeihtunter dem Banner der Alternativlosigkeit - Es gibt keineAlternative zu dem System eines von Staat und Konzernenbetriebenen Merkantilismus, das sich hinter Zauberformeln wie»Globalisierung« oder »Freihandel« versteckt.Ein Jahrhundert früher, als die Konzerne sich in denVereinigten Staaten zu entwickeln begannen, wurde dieDiskussion darüber mit relativ großer Offenheit geführt. VieleKonservative verurteilten diese Entwicklung und sprachen voneiner »Rückkehr zum Feudalismus« oder einer »Form vonKommunismus«, was keine völlig unangemessene Analogiedarstellt. Vertreter eines Neo-Hegelianismus waren derAnsicht, daß auch organische Gebilde Rechte besäßen unddaß chaotische Systeme - wie die unkontrollierbaren Märkte— zentral gesteuert werden müßten. Ich möchte daranerinnern, daß im heutigen sogenannten »Freihandel« einziemlich großer Bestandteil, vielleicht 70 Prozent, dergrenzüberschreitenden Transaktionen (die zu Unrecht»Handel« genannt werden) tatsächlich innerhalb von zentral

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gesteuerten Institutionen ablaufen, in Konzernen undKonzernverbindungen, sofern wir Outsourcing und andereMaßnahmen dazurechnen. Das ist eine völlig eigenständigeMethode der marktwidrigen Wettbewerbsverzerrung.Die konservative Kritik — »konservativ« im traditionellenSinne; Vertreter eines solchen Konservatismus gibt es heutekaum noch - fand ihren Widerhall zu Beginn des 20.Jahrhunderts bei Liberalen wie John Dewey, Amerikasführendem Sozialphilosophen, in dessen Werk das Problemder Demokratie einen bevorzugten Platz einnimmt. Für Deweyhaben demokratische Formen keine wirkliche Substanz, wenn»das Leben des Landes« — Produktion, Handel, Medien -von privaten Tyranneien beherrscht wird, die in einem Systemagieren, das er »Industriefeudalismus« nannte. Hier werden diearbeitenden Menschen der Kontrolle der Managerunterworfen und die Politik wird »zum Schatten, den dieWirtschaftsmächte auf die Gesellschaft werfen«.12 Er gabdamit Ideen Ausdruck, die in der Arbeiterschaft viele Jahrezuvor weit verbreitet gewesen waren. Das gleiche gilt für seineForderung, den Industriefeudalismus durch eineselbstverwaltete industrielle Demokratie zu ersetzen.Interessanterweise stimmten fortschrittlich gesonneneIntellektuelle, die den Prozeß der Konzernbildungbefürworteten, mehr oder weniger diesem Vorschlag zu. Soschrieb etwa Woodrow Wilson, daß »die meisten Menschenjetzt Konzernen dienen«, die »den größeren Teil derGeschäftswelt des Landes« ausmachen. Amerika habe sich»sehr verändert« und sei »nicht mehr Schauplatz individuellenUnternehmergeistes ... individueller Möglichkeiten undErrungenschaften«, sondern ein neues Amerika, in dem »kleineGruppen von Männern große Konzerne kontrollieren unddamit Macht und Herrschaft über den Reichtum und diegeschäftlichen Möglichkeiten des Landes ausüben«, ja, siewerden »zu Konkurrenten selbst der Regierung« unduntergraben die Souveränität der Bevölkerung, die mittels mdes demokratischen Systems ausgeübt wird.13 Dennochunterstützte er den Prozeß der Konzernbildung. Er hielt ihn fürwenig glücklich, aber unvermeidbar und befand sich damit inÜbereinstimmung mit der Geschäftswelt, die gerade nach denMarktzusammenbrüchen der vorangegangenen Jahre zu derÜberzeugung gelangt war, daß Märkte verwaltet undfinanzielle Transaktionen geregelt werden müßten. Vielefortschrittliche Intellektuelle waren der gleichen Ansicht.

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Ähnliche Probleme ergeben sich auch heute in derinternationalen Arena; man denke an die Reform derFinanzstrukturen und damit zusammenhängende Probleme.Vor einem Jahrhundert erhielten, in einem radikalen juristischenVerfahren, Konzerne die Rechte von Personen zugesprochen,was eine gewaltsame Verletzung der Prinzipien des klassischenLiberalismus bedeutete. Sie wurden damit auch von früherenVerpflichtungen zu bestimmten Aktivitäten befreit, für derenBetreibung sie die Konzession erhalten hatten. Außerdemverlegten die Gerichte die Macht von den Aktienbesitzern indie Hände des zentralen Managements, das nun mit derunsterblichen juristischen Person identifiziert wurde. Wer mitder Geschichte des Kommunismus vertraut ist, wird erkennen,daß zur gleichen Zeit in der sozialistischen Bewegung ganzähnliche Prozesse abliefen, die von linksmarxistischen undanarchistischen Kritikern des Bolschewismus vorhergesagtworden waren. Nicht nur Rosa Luxemburg wies schon sehrfrüh darauf hin, daß die Ideologie des Zentralismus die Machtden Arbeitern entreißen und in die Hände der Partei, dann desZentralkomitees und schließlich des alleinherrschendenVorsitzenden legen würde. Das geschah dann auch gleich nachder Machtergreifung durch die Bolschewisten 1917, die zurVernichtung aller Restbestände an sozialistischen Formen undPrinzipien führte. Die Propagandisten beider Seiten ziehen, auswohlverstandenem Eigeninteresse, eine andere Geschichte vor,aber diese ist, wie ich meine, genauer.In den letzten Jahren sind den Konzernen Rechtezugesprochen worden, die weit über die von Personenhinausgehen. Gemäß den Regeln der WTO können Konzernedas Recht auf »nationale Behandlung« verlangen; wenn alsoGeneral Motors in Mexiko produziert, kann er fordern, wieeine mexikanische Firma behandelt zu werden. Dieses Rechtsteht nur juristischen Personen zu. Ein Mexikaner kann nichtnach New York kommen und dort beanspruchen, nachmexikanischem Recht behandelt zu werden.Andere Regeln sehen vor, daß die Rechte von Investoren,Kreditgebern und Spekulanten ganz allgemein die Rechte vonPersonen aus Fleisch und Blut außer Kraft setzen, wodurch diepolitische Souveränität der Bevölkerung unterminiert und dieDemokratie eingeschränkt wird. Konzerne können aufverschiedene Weise souveräne Staaten verklagen, und es gibtdafür interessante Beispiele. Vor einigen Jahren versuchteGuatemala, die Kindersterblichkeit zu verringern, indem es dieVermarktung entsprechender Arzneimittel durch multinationale

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Konzerne einschränkte. Die vorgesehenen Maßnahmenstanden im Einklang mit Richtlinien derWeltgesundheitsorganisation und hielten sich an internationaleVereinbarungen, aber der Gerber-Konzern sah hierin eineEnteignung. Die WTO drohte mit einer Klage, und Guatemala,das Sanktionen durch die USA befürchtete, zog dieMaßnahmen zurück.Die erste Klage dieser Art im Rahmen der neu formuliertenWTO-Regeln wurde von Venezuela und Brasilien gegen dieUSA eingereicht. Die Südamerikaner beschwerten sichdarüber, daß die Regulierungen der US-Umweltbehörde zurFörderung von Erdöl ihre Rechte als Exporteurebeeinträchtige. Washington gab damals nach, angeblich auchaus Angst vor Sanktionen, doch stimmt mich dieseInterpretation skeptisch. Ich glaube nicht, daß die USAHandelssanktionen von Venezuela und Brasilien fürchteten.Wahrscheinlicher ist, daß die Regierung Clinton keinenzwingenden Grund sah, Umwelt und Gesundheit zu schützen.Diese Probleme haben mittlerweile ein dramatisches, wo nichtgar obszönes Ausmaß angenommen. Millionen Menschensterben weltweit an heilbaren Krankheiten, weil die den WTO-Regeln eingeschriebenen protektionistischen Elemente privatenMegakonzernen das Recht auf monopolisierte Preisbildungzugestehen. So können etwa Thailand und Südafrika, die einegut entwickelte pharmazeutische Industrie besitzen,lebensrettende Arzneien zu einem Bruchteil der marktüblichenKosten herstellen, scheuen aber aus Angst vorHandelssanktionen davor zurück. 1998 drohten die USAsogar damit, ihre Zahlungen an die WTO einzustellen, fallsdiese weiterhin die Auswirkungen von Handelsbedingungen aufdie Gesundheit überwache.14 Das sind keine aus der Luftgegriffenen Bedrohungen.All dies läuft unter der Bezeichnung »Handelsrechte«. Es hataber mit Handel nichts zu tun. Es hat etwas mitmonopolistischer Preisbildung zu tun, die durch in sogenanntenFreihandelsabkommen festgelegte protektionistischeMaßnahmen gefördert werden. Diese Maßnahmen sollen dieRechte der Konzerne sichern. Darüber hinaus hemmen sie, wieviele andere Regulationsmechanismen dieser Abkommen,ökonomische Innovations- und Wachstumsprozesse. Es gehtum die Rechte der Investoren, nicht um den Handel. Und auchdieser ist kein Wert an sich. Er ist ein Wert, wenn er demWohlergehen der Menschheit nützt, sonst nicht.

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Allgemein gesprochen läuft das Prinzip der WTO-Regeln undanderer, damit zusammenhängender Vertragswerke daraufhinaus, daß Souveränität und demokratische Rechte denRechten der Investoren untergeordnet werden müssen. In derPraxis bedeutet das, daß die Menschen den Rechten derjuristischen Personen, also den Privattyranneien, unterzuordnensind. Solche und ähnliche Probleme führten zu den großenDemonstrationen in Seattle. Aber in mancherlei Hinsicht tratder Konflikt zwischen öffentlicher Souveränität und privaterMacht einige Monate später, in Montreal, noch deutlicherhervor. Dort wurde in bezug auf das sogenannte »Protokollüber biologische Sicherheit« ein etwas zweideutigerKompromiß erzielt, der, der New York Times zufolge, »nachintensiven Verhandlungen erreicht wurde, bei denen dieVereinigten Staaten oftmals in Gegnerschaft zu allen anderenTeilnehmern standen«. Die Auseinandersetzungen drehten sichum das »Vorbeugeprinzip«, das der Chefunterhändler derEuropäischen Union so definierte: »Staaten müssen die Freiheitund das souveräne Recht haben, vorbeugende Maßnahmen«gegen genetisch verändertes Saatgut, Mikroben, Tiere undFeldfrüchte, die sie für schädlich halten, »zu ergreifen«. DieVereinigten Staaten beharrten jedoch auf den Regeln derWTO, denen zufolge der Import von Gütern nur verbotenwerden kann, wenn ihre Schädlichkeit wissenschaftlichnachgewiesen ist. 15Worum geht es hier? Um die Frage, ob Menschen das Rechthaben, keine Subjekte von Experimenten sein zu wollen.Nehmen wir ein einfaches, eher persönliches Beispiel. Stellenwir uns vor, die Fachschaft Biologie marschiert in den Hörsaalunserer Universität und verkündet: »Ihr seid Gegenstand vonExperimenten, bei denen wir euch Elektroden ins Gehirnpflanzen, um zu sehen, was dann passiert. Ihr dürft euchweigern, aber nur, wenn ihr wissenschaftlich nachweisen könnt,daß euch Schaden zugefügt wird.« Normalerweise ist esziemlich schwierig, wissenschaftliche Nachweise dieser Art zuerbringen. Haben wir trotzdem das Recht, uns zu verweigern?Den Regeln der WTO zufolge nicht. Wir müßten uns denExperimenten unterwerfen und wären damit dem ausgeliefert,was Edward Herman »Produzenten-Souveränität« genannthat.16 Der Produzent hat die Macht, während dieKonsumenten sehen müssen, wie sie sich verteidigen. Das gilt,wie Herman zeigt, auch für die einheimische Produktion. DieHersteller von Pestiziden und anderen chemischen Produktenmüssen nicht belegen, daß ihre Erzeugnisse umweltverträglich

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sind. Vielmehr muß die Öffentlichkeit wissenschaftlichnachweisen, daß sie schädlich sind, wobei sie sich oft genugauf schlecht finanzierte staatliche Behörden verlassen müssen,die der Industrielobby und anderen Drangsalierern ausgesetztsind.Darum ging es bei dem faulen Kompromiß von Montreal. Undes ging, wie man an der Kräfteverteilung sieht, nicht umsPrinzip. Auf der einen Seite standen die Vereinigten Staatenund ein paar andere Länder, die an Biotechnologie und demExport von High-Tech-Landwirtschaftsprodukten interessiertsind, auf der anderen Seite all jene — fast alle —, die nichterwarteten, von den Experimenten zu profitieren. Ausähnlichen Gründen befürwortet die Europäische Union hoheZölle für landwirtschaftliche Produkte. Das taten die USA vorvierzig Jahren ebenfalls, jetzt aber nicht mehr - und nichtdeshalb, weil sich die Prinzipien verändert hätten, sondern weilsich die Machtstrukturen gewandelt haben.Das vorrangige Prinzip besagt, daß die Reichen und Mächtigenin der Lage sein müssen, das zu tun, was sie wollen (wobei siesich natürlich auf edelste Motive berufen). Daraus folgt, daßSouveränität und demokratische Rechte dem weichen müssen,und die Menschen sich in diesem Fall - und das macht ihn sodramatisch — nicht weigern dürfen, Gegenstand .vonExperimenten zu sein, wenn US-Konzerne davon profitierenkönnen. Es ist ganz natürlich, daß sich die USA auf die WTO-Regeln berufen, denn sie haben das vorrangige Prinzipschließlich formuliert, und darum geht es.Diese Probleme sind zwar sehr real und betreffen eine großeAnzahl von Menschen in der Welt, sind aber de factozweitrangig gegenüber anderen Methoden, die Souveränitätzugunsten der Ausweitung privater Macht einzuschränken. Amwichtigsten war, denke ich, die Auflösung des Systems vonBretton Woods, die Anfang der siebziger Jahre von den USA,Großbritannien und anderen betrieben wurde. Entworfenhatten es die USA und Großbritannien in den späten vierzigerJahren. Das war die Zeit der Wohlfahrtsprogramme undradikaler demokratischer Maßnahmen. Auch deshalb reguliertedas System die Wechselkurse und kontrollierte denKapitalfluß. Es ging darum, schädliche Spekulationen zuverhindern und die Kapitalflucht einzudämmen. Die Gründe fürdie Einrichtung des Systems wurden deutlich benannt - derfreie Kapitalfluß führt zu einem »virtuellen Parlament« desglobalen Kapitals, das eine von ihm als irrational empfundeneRegierungspolitik blockieren kann. Darunter fallen zum Beispiel

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Arbeiterrechte, Bildungs- oder Gesundheitsprogramme oderMaßnahmen zur Wirtschaftsförderung, oder, kurz gesagt, alles,was der Bevölkerung nutzt, nicht aber den Profiten (und darumim technischen Sinne als irrational gilt).25 Jahre lang funktionierte das System von Bretton Woodsmehr oder weniger gut. Viele Ökonomen bezeichnen dieseÄra als »Goldenes Zeitalter« des modernen Kapitalismus(genauer gesagt: des modernen Staatskapitalismus), in derWirtschaft, Handel, Produktivität, Investitionen,wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen florierten wie nie zuvor.Damit war es zu Beginn der siebziger Jahre vorbei. DasSystem wurde zerschlagen, die Finanzmärkte dereguliert, dieWechselkurse freigegeben.Die auf Bretton Woods folgende Epoche wurde oft das»bleierne Zeitalter« genannt. Es gab eine gewaltige Explosionkurzfristig angelegten Spekulationskapitals, das die produktiveWirtschaft völlig marginalisierte. Die Sozialwirtschaft verfiel infast jedem Bereich - das Wachstum verlangsamte sich, dieProduktivität nahm ab, ebenso die Kapitalinvestitionen,während die Zinsraten stiegen (und damit das Wachstumhemmten), die Märkte unbeständiger wurden und dieFinanzkrisen sich häuften. Das blieb, auch in den reichenLändern, nicht ohne Auswirkungen auf den Arbeitssektor:stagnierende oder fallende Löhne, längere Arbeitszeiten (vorallem in den USA), Beschneidung sozialstaatlicher Leistungen.Dazu nur ein Beispiel: In unseren großen Zeiten heute, die inaller Munde sind, ist das durchschnittliche Familieneinkommenauf das Niveau von 1989 zurückgefallen, und das lag schonniedriger als das von 1970. Zudem wurden in dieser Zeit diesozialstaatlichen Leistungen erheblich reduziert. Insgesamtgewährt die neue Weltordnung dem »virtuellen Parlament« desKapitals der Investoren sehr viel größereEinspruchsmöglichkeiten, was zu einem alarmierenden Verfalldemokratischer und souveräner Rechte und einem Abbau desGesundheitssystems führt.In den reichen Gesellschaften sind diese Auswirkungenimmerhin spürbar, in den armen Ländern aber eineKatastrophe. Insgesamt wirken sich diese Problemegrenzüberschreitend aus, es geht also nicht darum, daß eineGesellschaft reicher, eine andere dagegen ärmer wird. Was wirin Betracht ziehen müssen, ist die Weltbevölkerung insgesamt.Neueren Analysen der Weltbank zufolge war der Reichtumder obersten fünf Prozent der Weltbevölkerung 1988 78malso hoch wie der Reichtum der untersten fünf Prozent, während

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er 1993 (neuere Daten gibt es noch nicht) 114mal so hochwar, und der Abstand dürfte seitdem noch gewachsen sein.Diese Zahlen zeigen auch, daß das oberste eine Prozent derWeltbevölkerung genausoviel verdient wie die unteren 57Prozent, und das sind immerhin 2,7 Milliarden Menschen.17Es vermag nicht zu überraschen, daß die Zerschlagung dernach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Wirtschaftsordnungvon einem entschiedenen Angriff auf die Demokratie - Freiheit,Souveränität, Menschenrechte — begleitet wurde. DerSchlachtruf dieses Angriffs lautete und lautet: Es gibt keineAlternative. Das klingt wie eine Parodie auf denVulgärmarxismus. Der Schlachtruf ist natürlich reinerSelbstbetrug. Die sozioökonomische Ordnung, die jetzt vonoben verfügt wird, ist das Ergebnis der Entscheidungen vonMenschen, die in von Menschen geschaffenen Institutionenwirken. Die Entscheidungen können widerrufen, dieInstitutionen verändert werden. Sollte es sich als notwendigerweisen, können sie zerschlagen und ersetzt werden. Dashaben aufrechte und mutige Menschen im Lauf der Geschichteimmer wieder vollbracht.

Anmerkungen

1 Vgl. Chomsky, Deterring Democracy, Kap. 12.2 Zu Madison vgl. Chomsky, Powers and Prospects, Kap. 5,des weiteren meinen Artikel »'Consent Without Consent':Reflections on the Theory and Practice of Democracy«,Cleveland State Law Review 44.4 (1996). Zu Jay vgl. FrankMonaghan, owzry (Bobbs-Merrill, 1935), S. 323.3 Walter Lippmann. Ausführlichere Darstellungen in Chomsky,Towards a New Cold War, Kap. l und 2; Necessary Illusions,Kap. l; Deterring Democracy, Kap. 12. ZumGesamtzusammenhang vgl. die Pionierarbeit von Alex Carey,Taking the Risk Out of Democracy (Univ. of Illinois Press,1997).4 Vgl. Chomsky, Powers and Prospects, Kap. 4.5 Zu Bernays vgl. Profit Over People, Kap. 2 (Europa Verlag,2000). Vgl. ferner Smart Ewen, Captains of Consciousness(McGraw-Hill, 1976).6 World Bank, World Development Report, 1995. MitErläuterungen zit. in Jerome Levinson, »The InternationalFinancial System: A Flawed Architecture«, Fletcber Forum23: l (Winter/Frühjahr 1999).

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7 Vgl. dazu »Jubeljahr 2000« in diesem Buch.8 Carothers, »The Reagan Years«, in Abraham Lowenthal(Hg.), Exporting Democracy 0ohns Hopkins Univ. Press,1991); In the Name of Democracy (Univ. of California Press,1991); »Dithering in Central America«, NYT Book Review,15. Nov. 1998.9 Condemned to Repetition (Princeton, 1987).10 Vgl. Chomsky, Turning the Tide, Kap. 2; sowie Wirtschaftund Gewalt, Kap. 2.11 Vgl. Chomsky, Profit Over People, Kap. 4.12 Zit. nach Robert Westbrook,/o&» Dewey and AmericanDemocracy (Cor-nell, 1991).13 Zit. nach Martin Sklar, The Corporate Reconstruction ofAmerican Capita-lism, 1890-1916 (Cambridge Univ. Press,1988), S. 413f.14 Shawn Crispin, »Global Trade: New World Disorder«, FarEastern Econo-mic Review (Bangkok), 17. Feb. 2000.15 Konferenz von Montreal (First Extraordinary Meeting ofthe Conference of Parties to the UN Convention on BiologicalDiversity to Finalize and Adopt a Protocol on Biosafety —Resumed Session) (2000), Andrew Pollack, »130 Nation«Agree on Safety Rules for Biotech Food«, NYT, 30.Jan.2000; Pollack, »Talks on Biotech Food Turn on a SafetyPrinciple«, NYT, 28. Jan. 2000.16 Edward Herman, »Corporate Junk Science in the Media«,Z Magazine, Jan, Feb. 1999.17 Weltbankökonom Branko Milanovic, zit. nach DougHenwood, Left Business Observer 93, Feb. 2000.

GlossarAP: Assodated Press. Ältester und größter Nachrichtendienstin den USA. Entstand 1848 aus dem Zusammenschluß vonsechs New Yorker Zeitungen, die einen gemeinsamenTelegrafendienst für Nachrichten aus dem Auslandeinrichteten. 1856 erhielt dieser Service den NamenAssociated Press.CIA: Central Intelligence Agency. 1947 aus dem Office ofStrategie Services entstanden. Geheim- und Nachrichtendienstder US-Regierung. Vor der Gründung der CIA leiteten vorallem die Army, die Navy und das FBI die Nachrichtendiensteder USA. Kompetenz-, Informations- undKoordinationsdefizite zwischen diesen drei Organen führtenzur Einrichtung der CIA als zentralem Nachrichtendienst.

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Innerhalb der CIA gibt es vier Abteilungen: dieNachrichtenabteilung, die Abteilung für Wissenschaft undTechnologie, die Administrationsabteilung und dieEinsatzabteilung.DEA: Drug Enforcement Administration: Die DEA ist eineBehörde des Justizministeriums. Sie ist für die Durchsetzungder Drogengesetzgebung zuständig, indem sie den staatlichenBehörden die Straffälligen überführt, die in den VereinigtenStaaten Drogen hergestellt oder mit solchen gehandelt haben.GATT: General Agreement on Tariffs and Trade, dt.:Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen. Das 1948gegründete GATT gilt als wichtigstes und erfolgreichstesmultilaterales Handelsabkommen. Es verfolgt insbesonderedrei Prinzipien: Gegenseitigkeit (d.h. handelspolitischeLeistungen, die sich die GATT-Mitglieder gewähren, müssengleichwertig sein), Liberalisierung (d.h. Abbau von Zöllen) undMeistbegünstigungen (d.h. Zoll-und Handelsvorteile, die sichzwei GATT-Mitglieder einräumen, sollen allen Mitgliederzugute kommen). Infolge des Abkommens sind die Grenzenfür Zollbeschränkungen weltweit enorm gesunken.IMF/IWF: International Monetary Fund, dt.: InternationalerWährungsfonds. Seit 1944 überwacht der IWF mit Sitz inWashington D. C. die Wechselkurspolitik seinerMitgliedsstaaten. Er analysiert jährlich die nationaleWirtschaftsentwicklung und -politik, überprüft geldpolitischeMaßnahmen und beurteilt die Auswirkungen der Politik seinerMitgliedsstaaten auf deren Zahlungsbilanzen. Im WorldEconomic Outlook begutachtet der IWF halbjährlich dieWeltwirtschaftslage.MAI: Multilateral Agreement on Investigation, dt.:Multilaterales Abkommen über Investitionen. InternationalesWirtschaftsbündnis mit dem Ziel, die Befugnisse vonKonzernen global auszubauen und eine Euro-AmerikanischeFreihandelszone zu schaffen. Das MAI steht den OECD-Mitgliedern und den EU-Staaten, aber auch allen anderenStaaten offen, die seine Aufnahmekriterien erfüllen undanerkennen.NAFTA: North American Free Trade Agreement, dt.:Nordamerikanisches Freihandelsabkommen. 1992unterzeichnetes Handelsabkommen mit dem Ziel, sämtlicheZollbestimmungen und andere Handelsbeschränkungenzwischen den USA, Kanada und Mexiko abzubauen. DasAbkommen schafft langfristig eine Freihandelszone zwischenden drei größten Ländern Nordamerikas. Seine Entstehung

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wurde angeregt durch den erfolgreichen Abbau von Zöllen unddem damit verbundenen Anstieg des Handels unter den EG-Mitgliedsstaaten.NATO: North Atlantic Treaty Organization, dt.: Organisationdes Nordatlantikvertrags. 1949 in Washington D.C.gegründet, dient die Organisation als Sicherheitsbündniszwischen gleichberechtigten Mitgliedsstaaten Westeuropas undNordamerikas. Die völkerrechtliche Grundlage bildet dabeider Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Ziel derNATO ist es, die Sicherheit der Mitgliedsstaaten durch dieZusammenarbeit auf politischem, wirtschaftlichem undmilitärischem Gebiet zu stärken. Das Abkommen schließt denBeistand, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, imFalle eines bewaffneten Angriffs gegen einen derMitgliedsstaaten ein. In Friedenszeiten ist es Aufgabe derNATO, den Frieden durch die Ausarbeitung vonVerteidigungsplänen, Rüstungsarbeit und die Errichtung vonInfrastruktur zu sichern. Seit 1991 hat die NATO neueAufgaben der Friedenserhaltung und Krisenbewältigung zurUnterstützung der Vereinten Nationen (-> UN) und derOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (->OSZE) übernommen.OAS: Organization of American States, dt.: OrganisationAmerikanischer Staaten. Aus der PAN (= Pan-AmericanUnion, dt.: Panamerikanische Union) entstandene und im Zugedes Kalten Krieges 1948 gegründete Organisation zurFörderung der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellenZusammenarbeit ihrer Mitglieder, zu denen beinahe alleunabhängigen Staaten Amerikas gehören. KubasMitgliedschaft wurde 1962 gekündigt. Hauptanliegen der OASist der Schutz vor feindlichen Interventionen ausländischerStaaten und die Erhaltung des Friedens zwischen denMitgliedsstaaten.OECD: Organization for Economic Cooperation andDevelopment, dt.: Organisation für WirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung. Als Nachfolgerin derOEEC (= Organization for European Economic Cooperation,dt.: Organisation für europäische wirtschaftlicheZusammenarbeit) seit 1961 in Paris bei der Planung undFörderung von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Entwicklungund der Hilfe für Entwicklungsländer beratend tätig. DieOECD hat 29 Mitgliedsstaaten und verschiedeneSonderorganisationen wie die IEA, die NEA, den DAC oderdas CCET

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OSZE: Organization for Security and Cooperation in Europe,dt.: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.Aus der KSZE (= Konferenz der Sicherheit undZusammenarbeit in Europa) entstandene und seit 1995 inOSZE umbenannte Organisation zur Förderung der Stabilitätund Sicherheit in ganz Europa und der engerenZusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft,Kultur und Umweltschutz. Unter dem OSZE-Dach sollenkünftig alle gesamteuropäischen Abrüstungsmaßnahmen,Gespräche über andere vertrauensvolle Maßnahmen undKonfliktverhütungen stattfinden.UN/UNO: United Nations, dt.: Vereinte Nationen oderVereinigte Nationen. Auf Initiative der Außenminister Chinas,Großbritanniens, der UdSSR und der USA 1945 zurSicherung des Weltfriedens gegründet, zur Förderung derinternationalen Zusammenarbeit und zum Schutz derMenschenrechte mit Sitz in New York. Zu ihren SpezialOrganisationen zählen die UNESCO, ILO, FAO, WHO, dieIBRD und der IMF. Die Bundesrepublik Deutschland und dieDeutsche Demokratische Republik traten der UN 1973 bei.Derzeitiger Generalsekretär ist Kofi Annan.UNCTAD: United Nations Conference on Trade andDevelopment, dt.: Konferenz der Vereinten Nationen fürHandel und Entwicklung. Fördert und unterstützt seit 1964 diewechselseitigen Beziehungen zwischen Handel, wirtschaftlicherEntwicklung und internationaler Wirtschaftshilfe. DieUNCTAD mit Sitz in Genf galt lange als wichtigstes Forum desNord-Süd-Dialogs. Sie hat jedoch mit Entstehung derWelthandelsorganisation (-> WTO) bei den Industriestaatenviel von ihrem Einfluß verloren. Die Entwicklungsländerhingegen halten an der UNCTAD fest. Insgesamt vertritt dieKonferenz 188 Mitgliedsstaaten.UNICEF: United Nations International Children's EmergencyFund, dt.: Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Unterstütztseit 1946 in 160 Staaten Kinder und Mütter in den BereichenGesundheit, Familienplanung, Hygiene, Ernährung undErziehung und leistet Soforthilfe in Notsituationen.UNSCOM: United Nations Special Commission for theElimination of Iraq's Weapons of Mass Destruction, dt.: UN-Sonderkommission für die Vernichtung derMassenvernichtungswaffen im Irak. 1991 durch die Resolution687 des UN-Sicherheitsrats als dessen Hilfsorgan gegründet,mit dem Ziel, die Resolution 687 und ergänzende Resolutionenzu erfüllen.

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USAID: U. S. Association for International Development, dt.:U. S. Organisation für Entwicklungshilfe. Im September 1960gegründete UN-Organisation mit Hauptsitz in Washington, diemit der Weltbank zusammenarbeitet. Sie soll Kredite undDarlehen mit günstigeren Laufzeiten an Entwicklungsländervergeben als die Weltbank.WHO: World Health Organisation, dt.:Weltgesundheitsorganisation. Seit 1946 unterstützt die WHOmit Sitz in Genf weltweit den Auf- und Ausbau vonGesundheitsdiensten in Entwicklungsländern, fördert dieVorbeugung und Bekämpfung von Krankheiten und dermedizinischen Forschung. Unter Federführung der -> UNkooperiert die WHO seit 1996 mit verschiedenen anderenOrganisationen in einem gemeinsamen AIDS-Programm.WTO: World Trade Organization, dt.:Welthandelsorganisation. Mit Sitz in Genf unterstützt die WTOseit 1995 die internationalen Handelsbeziehungen, kontrolliertHandelspraktiken und versucht, Handelskonflikte zu schlichten.Sie fördert die Umsetzung und Weiterverfolgung der GATT-Prinzipien (-> GATT). Die WTO setzt sich aus 132Mitgliedsstaaten und der EU-Kommission zusammen. DasStreitbeilegungsverfahren der WTO verfügt über kein eigenesGericht. Im Konfliktfall wird dem WTO-Rat von einem eigensdafür eingesetzten Ausschuß ein Bericht des verletzten Staatsoder der geschädigten Organisation vorgelegt. Seit der erstenMinisterkonferenz 1996 hat die WTO Abkommen zurLiberalisierung in den Bereichen Telekommunikation,Informationstechnologie und Finanzleistungen geschlossen.

Zeitschriften-SiglenAFP Agence-France PressAP Associated PressBG Boston GlobeBW Business WeekFT Financial TimesCSM Christian Science MonitorGW Guardian WeeklyNYT New York TimesWP Washington PostWSJ Wall Street Journal

Zitierte Bücher von Noam Chornsky

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After the Cataclysm: Postwar Indochina and theReconstruction of Imperial Ideology. The Political Economy ofHuman Rights: Bd. 2, zus. mit Edward Herman. Cambridge,MA: Southend Press, 1979. The Culture of Terrorism.Cambridge, MA: South End Press, 1988.Deterring Democracy. New York: Verso, 1991; erw.Neuausg. New York: Hill & Wang, 1992.Fateful Triangle: The United States, Israel, and the Palestinians.Cambridge, MA: South End Press, 1983; rev. Ausg. 1999.For Reasons of State. New York: Pantheon, 1973 (dt.: AusStaatsräson, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974).Necessary Illusions: Thought Control in Democratic Societies.Cambridge, MA: South End Press, 1989.A New Generation Draws the Line: Kosovo, East Timor andthe Standards of the West. New York: Verso, 2000. (dt.:Global War Crime. Kosovo, Ost-Timor und der Westen, abFrühjahr 2002 im Europa Verlag).The New Military Humanism: Lessons From Kosovo.Monroe, ME: Common Courage Press, 1999.The Political Economy of Human Rights, 2 Bde. (Bd. 1: TheWashington Connection and Third World Fascism; Bd. 2:After the Cataclysm: Postwar Indochina and theReconstruction of Imperial Ideology), zus. mit EdwardHerman. Cambridge, MA: South End Press, 1979.Profit Over People: Neoliberalism and Global Order. NewYork: Seven Stories, 1998 (dt.: Profit Over People.Neoliberalismus und globale Weltordnung. Hamburg undWien: Europa Verlag, 2000).Pirates and Emperors: International Terrorism in the RealWorld. Claremont, 1986: Montreal, Quebec: Black RoseBooks, 1987; Amana, 1988.Powers and Prospects: Reflections on Human Nature and theSocial Order. Cambridge, MA: South End Press, 1996.Rethinking Camelot: JFK, the Vietnam War, and US PoliticalCulture. Cambridge, MA: South End Press, 1993.Towards a New Cold War: Essays on the Current Crisis andHow We Got There. New York: Pantheon, 1982.Turning the Tide: US Intervention in Central America and theStruggle for Peace. Cambridge, MA: South End Press, 1985(dt.: Vom politischen Gebrauch der Waffen. Zur politischenKultur der USA ttnd dm des Friedens. Wien: GuthmannPaterson, 1987).The Washington Connection and Third World Fascism, ThePolitical Economy of Human Rights: Bd.1, zus. mit Edward

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Herman. Cambridge, South End Press, 1979.World Orders Old and New. New York: Columbia UniversityPress, 1996.Year 501: The Conquest Continues. Cambridge, MA: SouthEnd Press, 1993 (dt.: Wirtschaft und Gewalt. Lüneburg: zuKlampen, 1994; München: dtv, 1997).

Zum Autor.. Noam Chomsky, geboren am 7. Dezember 1928, politischerAktivist, Sprachtheoretiker und seit 1961 Professor amMassachusetts Institute of Technology (MIT), ist Träger vonzehn Ehrendoktorwürden und etlicher anderer hoherAuszeichnungen und Preise, Mitglied der American Academyof Art and Sciences und der National Academy of Scienceund Autor mehrerer Bestseller über Linguistik, Philosophie undPolitik. Zuletzt erschien auf deutsch »Profit Over People.Neoliberalismus und globale Weltordnung«, eine alarmierendeund vernichtende Kritik an der »Logik des freien Markts«.Die New York Times würdigt Noam Chomsky als denbedeutendsten lebenden Intellektuellen — und beklagt zugleichseine radikale Haltung gegenüber der US-Außenpolitik. Der'Zeit' gilt Chomsky als »der einzige Intellektuelle von Rang, derfür die eigentlich antiintellektuelle Bewegung derGlobalisierungsgegner überhaupt eine Rolle spielt«.