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1 Christian Thomas Kohl Sichtweisen aus Asien und Europa: Nagarjuna und A.N. Whitehead

Nagarjuna & a.N. Whitehead

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Eine Einführung in den Frühen Buddhismus und in die Buddhistische Philosophie.

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Christian Thomas Kohl

Sichtweisen aus Asien und Europa:

Nagarjuna und A.N. Whitehead

Abstract.

In diesem Text vergleiche ich den Begriff der Abhngigkeit und zahlreiche ganz hnliche Begriffe, die A. N. Whitehead verwendet, um das zwischen den Dingen Liegende zu bezeichnen, mit den Begriffen der Abhngigkeit und der Zwischenzustnde bei dem indischen Philosophen Nagarjuna. Die Idee der Zwischenrume, die Idee, dass viele Dinge, wie beispielsweise Vogelschwrme, nicht verklumpen, aber auch nicht auseinanderfallen, eine solche Idee lsst sich nicht auf einen einzigen Begriff festnageln, der die Vielfalt der Beziehungen zum Ausdruck bringen knnte.

ber ein altes und neues Prinzip.

[ Principle, a fundamental truth, law, doctrine, or motivating force, upon which others are based. the scientific law that explains a natural action. Webster's New World Dictionary, 1972 ]

1. Einleitung

In der Geschichte des Buddhismus ist der indische Philosoph Nagarjuna, der wahrscheinlich im 2. Jahrhundert lebte, besonders durch einen Schlsselbegriff seiner Philosophie bekannt geworden, es sind die Sanskritworte Sunyata und pratityasamutpada. Auf diese Begriffe haben sich besonders Philologen, also Sprachwissenschaftler, Indologen, gestrzt. Sie haben ihn meistens mit dem deutschen Wort Leerheit bersetzt oder mit dem englischen Wort emptiness. Diese bersetzung und zahllose philologische Interpretationen haben den Eindruck hervorgerufen, Nagarjuna htte die Dinge fr leer, illusorisch, nicht real, nicht existierend gehalten, fr eine Halluzination oder Fiktion.

Durch den Begriff der Leerheit und die damit verbundene philologische Interpretation wollen uns Sprachwissenschaftler verdeutlichen, in den philosophischen Arbeiten Nagarjunas ginge es um nichts, sie wrden im buchstblichen Sinn Leere und Abwesenheit von Inhalt illustrieren. Das ist zu einer philologischen Standardmethode der vergangenen 100 Jahren geworden. Nun drngt sich nach 100 Jahren philologischer Forschung die Frage auf: Soll das die Idee und die Aussage der Philosophie Nagarjunas sein? Wollte Nagarjuna die Auenwelt leugnen? Wollte er zurckweisen, was offensichtlich existiert? Wollte Nagarjuna die Welt in der wir leben, infrage stellen? War Nagarjuna ein Nihilist? Zu derartig seltsamen Interpretationen knnen wir kommen, wenn wir die Bedeutung eines zentralen Begriffs bersetzen, ohne nach der Idee zu fragen, die dem Begriff und dem ganzen Text zugrunde liegt. Denn die Frage nach den Ideen, die einem Begriff und einem Text zugrunde liegen, wre eine philosophische Methode der Interpretation, und der Auslegung, viel weniger eine philologische Methode des bersetzens.

Fr eine solche philosophische oder theologische Methode ist der Bibelbersetzer Martin Luther (1483 1546) bekannt geworden. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. April 2015 schreibt Reinhard Binger ber eine Korrektur der Lutherbibel durch die Evangelische Kirche Deutschland und nennt die Grnde, warum Theologen im Jahre 2015 an unzhligen Stellen zum Deutsch Martin Luthers zurckkehren. Binger schreibt:

Charakteristisch fr Luthers bersetzung war insgesamt, dass er recht frei mit den einzelnen Wrtern der Urtexte umging. Die Grammatik soll nicht ber die Bedeutung herrschen, sagte Luther einmal. bersetzung war fr den Reformator immer auch Auslegung. Nicht die Bedeutung einzelner Worte, sondern die Theologie eines Textes wollte er so przise und prgnant wie mglich ins Deutsche bertragen. Vom Ergebnis sind die in Leipzig versammelten Fachleute noch immer angetan und bis heute von Fachleuten anerkannt. Nicht die Bedeutung einzelner Worte, sondern die Theologie eines Textes wollte Martin Luther so przise und prgnant wie mglich ins Deutsche bertragen. Vom Ergebnis sind die in Leipzig versammelten Fachleute noch immer angetan.

Nagarjuna hat bisher keinen philosophischen bersetzer vom Rang Martin Luthers gefunden, wir sind durch philologische Methoden des bersetzens noch immer mit dem Ergebnis konfrontiert, dass Nagarjunas Philosophie als nihilistisch, schwierig, verwirrt, bestenfalls exotisch, sonst als widersprchlich gilt. Sunyata wird von Philologen meistens mit Leerheit bersetz und dann fgen sie hinzu, mit diesem Begriff sei aber eigentlich nicht Leerheit gemeint. Anschlieend wollen sie uns dann weismachen, Nagarjunas Philosophie knne mit europischen philosophischen Ideen kaum verstanden, verglichen und interpretiert werden.

Europische Philosophen haben sich bisher auch nur ganz selten mit indischen Philosophien auseinander gesetzt. Indische Philosophie war fr sie bestenfalls eine Weisheitslehre, aber keine Philosophie. Darauf ist der Philosophie-Historiker Elmar Holenstein in seinem Philosophie-Atlas eingegangen.

Holenstein schreibt: Der Forschungsstand ist heute ein anderer als in den Jahrzehnten unmittelbar vor und nach 1800. Zu viele der wahrhaft groen Philosophen auerhalb Europas waren Kant (1724 -1804) und Hegel (1770 1831) wohl noch nicht einmal dem Namen nach vertraut, etwa Nagarjuna, Vasubandhu, Bhartrihari, Dharmakirti, Shankara, Gangesha in Sd-Asien, Xun Zi, Wang Bi, Fazang Zhu Xi, Wang Yangming, Yi Hwang und Ogyu Sorai in Ostasien. () Von der Mehrzahl dieser Gelehrten sind Texte berhaupt erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts in europische Sprachen zugnglich gemacht worden.(1).

Eine bedeutende Ausnahme war der Philosoph Karl Theodor Jaspers (1883 1969).

Nagarjuna hat seine Idee von der Wirklichkeit keineswegs nur in den Begriffen 'Sunyata' und 'Pratityasamutpada' zum Ausdruck gebracht. Diese beiden Sanskrit-Begriffe sind nur eine Verallgemeinerung von 25 Gleichnissen, mit denen er die Wirklichkeit verglichen hat.

Welche Ideen liegen diesen 25 Gleichnissen zugrunde? Es sind die Ideen der Abhngigkeit, des Zusammenhangs, der Bindungen, Verschrnkungen, der Zwischenrume, Verwicklungen der Dinge. Fr diese Ideen haben wir bis heute keinen einzelnen, einzigen oder zusammenfassenden Begriff. Warum nicht? Einfach deswegen, weil jeder dieser ganz hnlichen Begriffe einen ganz hnlichen Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Es ist aber nicht immer von demselben Sachverhalt die Rede.

Die Worte Sunyata und Pratityasamutpada knnen nur als Sammelbegriffe verstanden werden, die nicht alle Facetten der Bindungen und Abhngigkeiten der Dinge zum Ausdruck bringen knnen. Sunyata und Pratityasamutpada lassen sich nicht auf eine einzige Bedeutung festnageln.

Die Hauptstrmungen der europischen Philosophien sind ganz andere Wege gegangen. Sie haben vor allem seit Platon (428 348 vor Christus) die Idee vom Sein und von der Substanz verabsolutiert oder aber seit Ren Descartes (1596 1650) das Subjekt. Sie konnten seit Aristoteles (384 322 vor Christus) mit Zwischenzustnden gar nichts anfangen. Aristoteles hatte dogmatisch behauptet, entweder existiert ein Zustand oder nicht. Etwas Drittes gibt es nicht. Der Anblick eines Vogelschwarms htte ihn belehren knnen. In einem Vogelschwarm befinden sich die Vgel nicht in einem einheitlichen Zustand. Sie verklumpen nicht mit anderen Vgeln, aber sie fallen auch nicht auseinander. Sie befinden sich in einem Zwischenzustand, den Aristoteles zurck gewiesen hatte. Allerdings gibt es in der europischen Philosophie des 20. Jahrhunderts vereinzelte Anstze, die in die gleiche Richtung weisen, in die Nagarjuna vor fast 2000 Jahren gegangen ist. Ein Ansatz ist von A.N. Whitehead (1861 1947) im 20. Jahrhundert vertreten worden. Sein Ansatz soll in kurz gefasster Form mit Nagarjunas Ansatz verglichen werden.

2. A.N.Whitehead

A. N. Whitehead war in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts ein auerordentlicher Mathematiker, Philosoph und Wissenschaftsphilosoph, der die philosophische Tradition Europas als eine Reihe von Funoten zu Platon charakterisierte und sie gegen den Strich brstete, aber auch von ihr lernte, um die beiden grundlegenden Ideen der europischen Philosophie, die Ideen der Substanz und des absoluten Subjekts, abzuschtteln und hinter sich zu lassen. Damit hat Whitehead den europischen Denkweisen eine neue Richtung gegeben. Welche Richtung? Auf das zwischen den Dingen Liegende, wie es Albert Einstein fr die Physik seit Faraday formulierte. Auf die Mitte, auf die Vereinigung, auf den Durchgang, den bergang, auf die Beziehung und das Band zwischen den Dingen, auf den Kontakt, wie es Vincenzo Gioberti 1864 in Neapel fr die europischen Denkweisen formulierte (2).

Whiteheads organistische Prozessphilosophie ist von Christoph Kann zusammengefasst worden und soll hier nicht wiederholt werden. Doch dient Christoph Kanns gelungene Zusammenfassung als eine bequeme Grundlage fr diesen kleinen berblick: Christoph Kann, Funoten zu Platon. Philosophiegeschichte bei A. N. Whitehead. Felix Meiner Verlag Hamburg 2001.

An dieser Stelle soll an einen wichtigen Punkt der Philosophie Whiteheads erinnert werden. Ich meine vor allem den Begriffe der wechselseitigen Abhngigkeiten der Dinge und ganz hnliche Begriffe, die ich ohne einen Vollstndigkeitsanspruch darstellen mchte. Sie lassen sich nicht auf einen Begriff bringen.

Whitehead verwendet immer wieder andere Begriffe, er lsst sich nicht auf einen Begriff festnageln, denn der voreilige Gebrauch irgendeines gelufigen Worts muss unweigerlich dazu fhren, meint Whitehead in Abenteuer der Ideen, dass wir den angestrebten Grad von Allgemeinheit nicht erreichen. Wir brauchen die Ausdrcke zusammen, das immanent Schpferische, die Konkreszenz, das Erfassen, das Fhlen, die subjektive Form, die Gegebenheiten, Wirklichkeit, Werden und Prozess, sagt Whitehead.

Relationalitt oder die wechselseitige Abhngigkeit der Dinge. Fr diese und hnliche Begriffe hat sich weder bei Whitehead selber noch in seiner Wirkungsgeschichte ein einzelner Begriff durchgesetzt. Wie beilufig taucht der Begriff der Abhngigkeit auf, wenn eine unabhngige, unbewegliche, starre Existenz der Dinge negiert wird (Seite 66 bei Christoph Kann).

Wie ein roter Faden durchzieht dieser Begriff Whiteheads Gesamtwerk. Wirkliche, konkrete Dinge sind abhngig von anderen konkreten Dingen, sie befinden sich in einer Vernetzung mit ihrer realen Welt (Seite 196). Whitehead spricht von einer offensichtlichen Verbundenheit des Universums (Seite 201). An einer anderen Stelle ist von Relationen die Rede, sie bezeichnen die Beziehungen oder auch die inneren Relationen, die alle Realitt aneinander binden (Seite 208).

Bei unseren Anschauungen - macht Whitehead gegenber Immanuel Kant geltend geht es nicht nur um abstrakte Daten. Den Daten entsprechen wechselseitige Zusammenhnge der Realisierung (Seite 229) in einem mehrstufigen Empfindungsprozess. Christoph Kann fasst Whitehead's Sichtweise zusammen: Initiiert durch die Aristotelische Substanzmetaphysik hat fr Whitehead die Philosophie einen Weg eingeschlagen, der den Gesichtspunkt einer universellen Bezogenheit der Erfahrungswirklichkeit sowie den platonisch Grundgedanken vom Sein als Werden preisgegeben hat (Seite 239).

Bei der Substanzmetaphysik bleibe - nach Whitehead die Frage nach Zusammenhngen und Beziehungen zwischen den Dingen auerhalb der Betrachtung, eine Welt, in der es Beziehungen zwischen realen Individuen gibt, wird schlechthin unverstndlich (Seite 126).

Whitehead meint, auch bei den mathematischen Grundlagen der Physik Isaak Newton's lassen sich keine inneren Grnde des Zusammenwirkens angeben (Seite 181). Es fehlen reale Beziehungen zu realen Subjekten und realen Objekten (Seite 171). Auch fehlt die Kategorie des Bezogenseins der Dinge, schreibt Whitehead an einer anderen Stelle mit ganz hnlichen Worten (Seite 132). Denn gem unserem natrlichen Bewusstsein und unserer Selbsterfahrung erscheint die Natur nicht als ein Nebeneinander isolierter Materieteilchen, sondern als ein Geflecht organisch verbundener Wesenheiten (Seite 182).

Dieses Geflecht zwischen den Dingen, taucht unter verschiedenen Bezeichnungen auf. Whitehead nennt es auch Beziehungsfeld (Seite 183), manchmal ist von einer notwendigen Kohrenz oder Bezogenheit aller Glieder eines Systems die Rede (Seite 108) oder von einem Kraftfeld (Seite 185) oder von elementaren Prozesseinheiten, die den materiellen Dingen zugrunde liegen, statt der berholten Idee eines leeren Raumes (Seite 185).

Whitehead weist darauf hin, in der neuen Physik gebe es eine Wechselwirkung mit der Umgebung (Seite 186), atomare Einheiten werden von einem Feld umfasst, das zugleich das Feld anderer Organismen ist (Seite 187). Hier wird deutlich, wie Whitehead Einheiten der Physik zum Modell fr seinen Begriff einer organistischen Wirklichkeit nimmt, wie Christoph Kann zutreffende betont (S. 188).

Es geht Whitehead immer wieder um die wesentliche Verbundenheit der Dinge (S. 127) und um den Strukturzusammenhang der Geschehnisse (S. 187), was manchmal nexus oder Funktionszusammenhang genannt wird (S. 188).

3. A. N. Whitehead: Abenteuer der Ideen

Ich mchte belegen, dass es sich bei diesen zahlreichen Begriffen nicht um willkrlich herausgegriffene Begriffe handelt. Einige Textpassagen aus Whiteheads Buch Abenteuer der Ideen [A.N. Whitehead. Abenteuer der Ideen. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971] sollen mit den Worten Whiteheads die eben erwhnten einzelnen Begriffe zusammenhngend darstellen und seine philosophischen Methoden kurz erlutern.

Whitehead schreibt dort: Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, eine Zusammenordnung von Ideen auszuarbeiten, die sich in den konkreten Fakten der realen Welt manifestieren soll. Sie sucht nach den allgemeinen Zgen, die die vollstndige Realitt eines Faktums charakterisieren, und ohne die jedes Faktum den Charakter einer Abstraktion annehmen msste. Die Wissenschaft dagegen abstrahiert und begngt sich damit, das Faktum nicht in seiner Vollstndigkeit, sondern nur im Hinblick auf gewisse wesentliche Aspekte zu verstehen. Die Wissenschaft und die Philosophie kritisieren sich wechselseitig, und die eine regt immer das Vorstellungsvermgen der anderen an. Philosophische Systeme haben die Aufgabe, die konkreten Fakten zu erleuchten, von denen die Einzelwissenschaften abstrahieren. Und die Einzelwissenschaften sollten ihre Prinzipien in den konkreten Fakten finden, die das philosophische System ihnen prsentiert. Die Geschichte des Denkens ist die Geschichte der Fehlschlge und Erfolge dieses gemeinsamen Unternehmens(S. 286).

Etwas spter lesen wir in dem Sptwerk Whiteheads Abenteuer der Ideen: Die griechische Auffassung vom gegliederten Zusammenhang der Harmonie ist durch den Fortschritt des Denkens gerechtfertigt worden. Aber die lebhafte Vorstellungskraft der Griechen neigte auch dazu, jeden Faktor des Universums mit einer ganz eigenstndigen Individualitt auszustatten, wie sie sich z. B. in dem selbstgengsamen Reich der Ideen beobachten lsst, das in Platons frhem Denken dominierte und hin und wieder auch in seinen spteren Dialogen noch durchschlgt.

Man kann den Griechen aus dieser exzessiven Individualisierung keinen Vorwurf machen. Denn schlielich baut ja unser ganzes Sprechen auf dem gleichen Irrtum auf. Wir sprechen habituell von Steinen, Planeten und von Tieren, ganz so, als ob es mglich wre, dass ein individuelles Ding auch nur einen Augenblick lang losgelst von seiner Umwelt existieren knnte, die in Wahrheit doch ein notwendiger Bestandteil seines eigenen Wesens ist. Diese Weise des Abstrahierens ist einfach eine Denknotwendigkeit, bei der die entsprechende systematisch geordnete Umwelt stillschweigend vorausgesetzt und in den Hintergrund verdrngt wird. Das ist eine Feststellung, der man nicht widersprechen kann(S. 297).

Und noch einmal kommt Whitehead auf die Prinzipien zu sprechen, die der Physik Newtons zugrunde liegen: Die Newtonsche Physik beruht auf der Vorstellung, dass jedes Stck Materie eine vollkommen unabhngige Individualitt besitzt: jeder Stein msste sich danach absolut vollstndig beschreiben lassen, ohne dass man auf irgendeinen anderen materiellen Krper einzugehen brauchte. Es wre denkbar, dass er sich - gleichsam als der einzige Bewohner des Universums allein in einem berall gleichfrmigen Raum befnde und immer noch der gleiche Stein wre, der er jetzt ist. Und es wre auch nicht ntig, bei seiner Beschreibung auf seine Vergangenheit oder Zukunft einzugehen: er lsst sich immer jetzt, in diesem Augenblick, vollkommen adquat begreifen.

Das ist die konsequente Newtonsche Grundvorstellung, die im Lauf der Entwicklung der modernen Physik Stck fr Stck verschwand und preisgegeben wurde. Sie beruht ganz und gar auf der Annahme der eindeutigen Lokalisierbarkeit (simple location) und der uerlichkeit aller Beziehungen zwischen Krpern ( external relations), wobei es allerdings im letzteren Punkt zu einigen Meinungsverschiedenheiten kam. Newton neigte dazu, diese Beziehungen als Druck und Sto zwischen sich berhrenden Krpern aufzufassen; seine unmittelbaren Nachfolger so z.B. Roger Cotes fgten dem noch den Begriff der Fernwirkung hinzu. In beiden Fllen aber blieb das, was vorlag, ein rein in der Gegenwart aufgehendes Faktum, nmlich das Bestehen einer uerlichen Beziehung zwischen Krpern, die sich entweder berhrten oder voneinander entfernt waren.

Die gegenteilige Auffassung, nach der Beziehungen intern beziehungsweise wesenszugehrig sind, ist in ihrer Darstellung meist durch eine Sprache verzerrt worden, die die uerlichkeit der Beziehungen im Sinne Newtons als Voraussetzung enthlt. Den meisten Vertretern dieser Auffassung, selbst F.H. Bradley, ist es so gegangen. Man muss sich hier darber klar werden, dass nicht nur Beziehungen die durch sie zueinander in Beziehung gesetzten Dinge modifizieren, sondern dass auch das Umgekehrte gilt und die Dinge das Wesen der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen modifizieren. Eine Beziehung ist nichts Abstrakt Universales, sondern genauso konkret wie die Dinge, zwischen denen sie besteht.

Das ist eine Wahrheit, die z.B. durch den Gedanken, dass die Ursache der Wirkung immanent bleibt, illustriert wird. Wir werden ein Verstndnis der Natur finden mssen, in dem diese konkrete Verbundenheit physischer und geistiger Funktionen ihren Ausdruck findet, ebenso wie die Verbundenheit zwischen Vergangenheit und Gegenwart und der konkrete Zusammenhang unter physischen Realitten, die fr sich betrachtet individuell verschieden sind.

Die moderne Physik hat den Standpunkt der eindeutigen Lokalisierbarkeit aufgegeben. Die physischen Dinge, die wir als Sterne, Planeten, Felsbrocken, Molekle, Elektronen, Protonen und Energiequanten bezeichnen, muss man sich als Modifikationen eines Feldes vorstellen, das sich ber die Gesamtheit von Raum und Zeit erstreckt. Diese Modifikation ist in einem bestimmten Bereich besonders intensiv, und das ist nach normalem Sprachgebrauch der Ort, wo sich der fragliche Gegenstand befindet. Aber sie bereitet sich von dort mit endlicher Geschwindigkeit bis in die entferntesten Raum Zeitbereiche aus. Es ist selbstverstndlich ganz natrlich und fr gewisse Zwecke auch vollkommen angemessen, wenn man diesen Zentralbereich der Erregung als das Ding selbst anspricht, das sich dort befindet. Aber man kommt in Schwierigkeiten, wenn man diese Denkweise zu lange durchhlt. Denn in der Physik ist das Ding mit dem identisch, was es tut, und was es tut, ist eben genau diese Ausbreitung eines Erregungsvorgangs. Und man kann den Zentralbereich auch nicht von den entfernteren Bereichen der Erregungsausbreitung trennen. Das Ding widersetzt sich hartnckig dem Versuch, es als ein rein gegenwrtiges Faktum aufzufassen(S. 301 303).

Die folgenden Zitate sind dem Kapitel Zur philosophischen Methode entnommen: Unbestreitbar ist in der Philosophie der Einfluss der frheren Literatur viel grer als in allen anderen Wissenschaften, und mit Recht. Aber die Ansicht, dass sich in ihr ein technisches Vokabular herausgebildet htte, das fr alle Zwecke und fr alle vorkommenden Bedeutungsnuancen hinreichend wre, ist vollkommen unbegrndet. Tatschlich ist die philosophische Literatur ja so ungeheuer umfangreich und die Vielzahl der philosophischen Schulen so gro, dass sich berall eine Flle von Belegen fr die hchst verstndliche und endschuldbare Unkenntnis irgendeines bestimmten Sprachgebrauchs finden lsst(S. 406 407).

Der Sprachgebrauch, der zu einer bestimmten Zeit in bestimmten philosophischen Schulen herrscht, bildet immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtvokabular der philosophischen Tradition. () Mit Hilfe der gerade gngigen Sprechweisen kann man immer nur die Lehrmeinungen der gerade herrschenden Schule und ihrer anerkannten Varianten zum Ausdruck bringen(415).

Immer wieder kommt Whitehead auf die Rolle zu sprechen, die der Philosophie und ihren Methoden zukommen. Er schreibt: Das Hauptverfahren der Philosophie im Umgang mit ihren Gegebenheiten ist die Methode der beschreibenden Verallgemeinerung(S. 416).

Diese Methode der beschreibenden Verallgemeinerung hat Whitehead immer wieder genannt und selber auch angewandt. So schreibt er beispielsweise in seinem Werk Prozess und Realitt: Die wichtigste Methode der Mathematik ist Deduktion; die der Philosophie ist deskriptive Verallgemeinerung ( Zitiert in: Christoph Kann, op. cit., S.144).

Auch fr die Metaphysik, fr die Lehre von den Prinzipien und Grundlagen, macht Whitehead in Prozess und Realitt Verallgemeinerungen geltend: Metaphysische Kategorien sind nicht dogmatische Feststellungen des Offensichtlichen, sie sind vorlufige Formulierungen der allgemeinen Prinzipien(Zitiert in: Christoph Kann: op. cit. S. 145). Fr die Forschungsmethode spielt die Verallgemeinerung auch eine Rolle. Die wahre Forschungsmethode geht aus von der Grundlage einzelner Beobachtungen, wodurch Anwendbarkeit gewhrleistet werden soll. In einem zweiten Schritt hebt die Methode von diesem Ausgangspunkt ab, schwebt durch die dnne Luft phantasievoller Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen, die durch rationale Interpretation geschrft sind(Christoph Kann, op. cit. S. 110).

Spter lesen wir in Abenteuer der Ideen ber das Allgemeine: Schon das erste undeutliche Aufdmmern eines groen Prinzips pflegt von einer ungeheuren emotionalen Kraftentfaltung begleitet zu sein. Die turbulente Flle der einzelnen Handlungen, die aus solchen komplexen, einen Kern tiefer Intuition umgebenden Gefhlen entspringen, fllt in primitiven Zeiten oft abstoend und bestialisch aus. Schlielich aber bildet sich in der zivilisierten Sprache eine ganze Gruppe von Wrtern heraus, von denen jedes die allgemeine Idee in irgendeiner speziellen Form verkrpert. Wenn wir das Allgemeine erkennen wollen, das in diesen speziellen Ausprgungen enthalten ist, mssen wir die ganze Gruppe der entsprechenden Wrter einer vergleichenden Betrachtung unterziehen, in der Hoffnung, das ihnen gemeinsame Element zu entdecken. Das ist ein fr die Zwecke der philosophischen Verallgemeinerung unbedingt notwendiges Vorgehen; denn der voreilige Gebrauch irgendeines gelufigen Worts muss infolge der mit seiner blichen Konnotationen unweigerlich dazu fhren, dass wir den von uns angestrebten Grad von Allgemeinheit nicht erreichen(S. 417).

Um also durch philosophische Verallgemeinerung als Verallgemeinerung des Erlebnisakts zu verstehen zum Begriff des fundamentalen, konkret Wirklichen (final actuality) zu gelangen, bedarf es einer scheinbaren Redundanz von Ausdrucksformen: und zwar weil wir darauf angewiesen sind, dass die jeweils verwendeten Wrter sich wechselseitig korrigieren. Wir brauchen die Ausdrcke zusammen, das immanent Schpferische, die Konkreszenz, das Erfassen, das Fhlen, die subjektive Form, die Gegebenheiten, Wirklichkeit, Werden und Prozess (S. 419).

4. Nagarjuna

Nagarjuna war einer der bedeutendsten buddhistischen Philosophen Indiens. Wahrscheinlich lebte er im 2. Jahrhundert. In seinem Hauptwerk, Mulamadhyamaka-Karika, Lehrstrophen ber die grundlegenden Lehren des Mittleren Weges [MMK (2)], war die erste Frage nicht die nach dem Geist oder dem Bewusstsein, sondern nach den Dingen der Welt, in der wir leben. Besonders hat Nagarjuna auf die Abhngigkeit der physischen Objekte von anderen Objekten hingewiesen. Dadurch hatte er eine neue Sichtweise fr das zwischen den Dingen Liegende erffnet.

Hier einige Bilder von abhngigen, an einander gebundenen Objekten, die Nagarjuna in den 25. Kapiteln der MMK untersucht. Seine Bilder, Metaphern, Allegorien oder symbolische Beispiele haben eine Frische und Realittsnhe, die abstrakte philosophische Ideen und Begriffe nie erreichen knnen:

1. Ein Ding und seine Ursache. 2. Der Geher, das Gehen und die begangene Strecke. 3. Der Seher und das Sehen. 4. Ursache und Wirkung. 5. Kennzeichen und Zu-Kennzeichnendes. 6. Leidenschaft und der von Leidenschaft Ergriffene. 7. Entstehen, Bestehen und Vergehen. 8. Tat und Tter. 9. Der Sehende und das Sehen. 10. Feuer und Brennstoff. 11. Anfang und Ende. Leid und Ursachen des Leids. 13. Der Junge und der Alte, se Milch und saure Milch. 14. Etwas und etwas anderes. 15. Der Begriff des Seins und der Begriff des Nichts. 16. Bindung und Befreiung. 17. Tat und ihre Frucht. 18. Der Begriff der Identitt und der Begriff der Verschiedenheit. 19. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 20. Der Grund und die Frucht. 21. Entstehen und Vergehen. 22. Der Gedanke den Buddha gibt es ber den Tod hinaus und der Gedanke es gibt ihn nicht. 23. Das Reine und das Unreine. 24. Der Buddha und bodhi [Erwachen]. 25. Nirvana und das Seiende.

Mein Kommentar: Ein Ding ist nicht unabhngig von seinen Bedingungen, aber auch nicht identisch mit ihnen, ein Geher existiert nicht ohne eine begangene Strecke, aber er ist auch nicht eins mit ihr. Bei einem Seher gibt es weder eine Identitt mit dem Sehen, noch eine Trennung vom Sehen. Es gibt keine Ursache ohne eine Wirkung und keine Wirkung ohne eine Ursache. Der Begriff Ursache hat keine Bedeutung ohne den ergnzenden Begriff der Wirkung. Ursache und Wirkung sind nicht eins, aber sie fallen auch nicht in zwei getrennte Begriffe auseinander. Ohne ein Kennzeichen knnen wir nicht von einem Zu-Kennzeichnenden sprechen und umgekehrt. Wie sollte es einen von Leidenschaft Ergriffenen geben, ohne Leidenschaft? Ohne eine Tat gibt es keinen Tter, ohne Brennstoff kein Feuer.

Bei diesen Bildern, die meistens aus Zwei-Krper-Systemen, manchmal aus zwei oder drei Begriffen bestehen, sind die Krper oder Begriffe nicht eins, aber sie fallen auch nicht auseinander. Die Krper sind abhngig von einander, sie

sind aneinander gebunden. Sie befinden sich in einem Zwischenzustand, in dem sie weder richtig zusammen, noch richtig getrennt sind. Etwas passiert zwischen ihnen. Das ist der erste und wichtigste Aspekt der Philosophie Nagarjunas. Er soll uns ffnen fr das zwischen den Dingen Liegende und fr einen Umgang mit den Dingen, bei denen wir nicht immer auf Granit beien mssen, bei dem wir das Loslassen lernen knnen.

Abb. 1. MMK, 1. Kapitel: Ursache und Wirkung. Eine Hochgeschwindigkeits-Photographie von Harold E. Edgerton. Foto: http://www.artsology.com/gfx/edgerton/edgerton_banana.jpg

Kommentar: Ein Geschoss, das gerade durch eine Banane durchgedrungen ist. Die Durchdringung des Geschosses ist die direkte Ursache fr die Wirkung: die Banane beginnt zu platzen. Das Durchdringen und der Beginn des Platzens passieren in demselben Moment. Ursache und direkte Nahwirkung knnen nicht von einander getrennt werden, weder zeitlich noch rumlich. Beide Prozesse sind nicht dasselbe, aber es sind auch nicht zwei getrennte Prozesse. Es gibt nicht erst das Durchdringen des Geschosses und spter den Beginn des Platzens. Die zwei Prozesse sind abhngig von einander. Sie sind aneinander gebunden. Sie befinden sich in einem Zwischenzustand, in dem sie weder zusammen, noch getrennt sind. (etwas passiert zwischen ihnen)

Abb. 2. MMK, 2. Kapitel: Ein Lufer und die gelaufene Strecke. 2012. Foto: Reuters. http://img.thesun.co.uk/multimedia/archive/01561/UsainBolt1_1561217a.jpg Usain Bolt (rechts im Bild). Kommentar: Ein Mensch ist nicht unabhngig von seinen Bedingungen, aber auch nicht identisch mit ihnen. Ein Lufer existiert nicht ohne eine gelaufene Strecke, aber er ist auch nicht eins mit ihr. Ein Lufer und die gelaufene Strecke sind weder eins noch zwei getrennte Krper. Das wichtigste Kennzeichen der Krper ist ihre Interdependenz und die sich daraus ergebende Substanzlosigkeit, die Unmglichkeit allein und unabhngig zu existieren.

Abb. 3. MMK, 8. Kapitel: Tat und Tter. Foto: http://fighting.de/wp-content/uploads/2012/04/fighting.jpg

Kommentar: Wenn es keine Tat gibt, gibt es auch keinen Tter. Beide existieren nicht fr sich alleine. Tat und Tter sind keine isolierten Komponenten. Sie entstehen nur in Abhngigkeit von einander. Sie sind aneinander gebunden. Nicht das Verhalten von Krpern, sondern das zwischen ihnen Liegende, das Zusammenspiel zwischen einem Tter, dem Boxer, und seiner Tat, dem Schlag, ist entscheidend.

Abb. 4. MMK.10. Kapitel: Feuer und Brennstoff. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fa/Lightmatter_firebreath.jpg

Kommentar: Ohne Feuer gibt es keinen Brennstoff. Ohne Brennstoff gibt es kein Feuer. Die materiellen oder immateriellen Komponenten eines Zwei-Krper-Systems existieren nicht isoliert, sie sind nicht eins und existieren doch nicht unabhngig von einander. Etwas passiert zwischen diesen Krpern und deswegen sind sie nicht substantiell real. Nagarjuna betont eine zentrale Idee: Die Krper sind nicht getrennt und sie sind nicht eins. Das wichtigste Kennzeichen der Krper ist ihre Abhngigkeit von einander und ihre Bindung aneinander.

5. Ergebnis

Nagarjuna und Whitehead haben es abgelehnt, sich auf einen einzigen Begriff, der die Beziehungen, Bindungen, die Zwischenzustnde der Dinge, die Zwischenrume, das zwischen den Dingen Liegende, die Mitte, die Zwischenbereiche und die verflochtenen Zusammenhnge kennzeichnet, festzulegen. Dadurch wird die Wirklichkeit verwssert oder vernebelt, sie ist nicht ganz so bedeutend, real, hart und unerbittlich, wie wir auf den ersten Blick meinen.

Viele Dinge gleichen einem Regenbogen oder einer schwebenden, luftigen, in einander flieenden, leichten Wolke. Durch ihre Bindungen haben sie auch etwas Unwirkliches an sich, das sich schwer in Worten aber vielleicht etwas leichter in Bildern darstellen lsst. Bei einem Zwischenzustand verklumpen die Dinge nicht miteinander, aber sie sind auch nicht getrennt voneinander, ganz hnlich wie bei einem Vogelschwarm. Welch ein befreiender Anblick! https://www.youtube.com/watch?v=XH-groCeKbE

6. Literatur.

(1) Elmar Holenstein, Philosophie-Atlas: Orte und Wege des Denkens. Amman Verlag, Zrich 2004, S. 19

(2) Vgl. Paolo Zellini, Eine kurze Geschichte der Unendlichkeit. Verlag C.H. Beck. Mnchen 2010

(3) Nagarjuna: Die Philosophie der Leere: Nagarjunas Mulamadhyamaka-karikas. bersetzung des buddhistischen Basistextes mit kommentierenden Einfhrungen / Bernhard Weber-Brosamer, Dieter M. Back. Wiesbaden Harrassowitz 1997 [ MMK ]

(4) A.N. Whitehead, Abenteuer der Ideen. Suhrkamp Verlag AG, 2000

7. 2015 CV of Christian Thomas KOHL

2010-2012 lecturer in history and philosophy of physical sciences at Tibet Institute, Rikon, Zurich (http://www.tibet-institut.ch). He has studied the history and philosophy of sciences at the Universities of Paris and Berlin. In 1973 he graduated in political science. He tries to follow the approaches of Edwin Arthur Burtt and Alfred North Whitehead. His core areas of research are the metaphysical foundations of quantum physics. He has also studied Indonesian and Indian music and was promoting music from India, Pakistan, Tibet and China. Since the 1980s, he has been interested in the philosophy and history of Indian Buddhism. Since 1990 he has been working as a lecturer of history of sciences and languages in Waldorf Schools ofSwitzerland, France and Germany. He belongs to the Sakya and Drikung school of Tibetan Buddhism. During the past three decades he has worked on 'reconciling' the fundamental principles of quantum physics and Buddhist philosophy. His home university is the University of Education, Freiburg (https://www.ph-freiburg.de).

Homepage: http://ctkohl.googlepages.com