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MEISTERWERKE DER S CIENCE F ICTION

MEISTERWERKE DER SCIENCE FICTION - Weltbild · 2014-06-30 · Charles Stross ist einer der bekanntesten Science-Fiction-Auto-ren der Gegenwart, der sich ebenfalls immer wieder mit

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M E I S T E R W E R K E D E R

S C I E N C E F I C T I O N

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Das Buch

Vergil Ulam, ein einsamer, kauziger Wissenschaftler, arbeitet inder ultramodernen Biochip-Forschung. Längst hat er die Schwelleethischer und legaler Methoden überschritten und widmet sichgeheimen Experimenten: der Erzeugung intelligenter Lebensfor-men aus Bakterien. Sein Ehrgeiz grenzt an Besessenheit. Als ihnsein Chef aus firmenpolitischen Gründen zur Räson ruft undzwingt, die Bakterienkulturen zu vernichten, greift Ulam zumÄußersten und injiziert sich selbst eine Versuchsprobe. Schonnach wenigen Tagen stellt er erschreckende Veränderungen ansich fest: In seinem Blut rauscht die Musik intelligenter Lebens-formen, die seinen Körper und seinen Geist Stück für Stückihren eigenen Plänen unterwerfen. Ulam stürzt in einen verän-derten Bewusstseinszustand, der zwischen Wahnsinn und Ge-nie changiert. Doch damit nicht genug: Unwissentlich überträgter die Lebensformen auf seinen einzigen Freund. Einer Seuchegleich breiten sie sich weiter aus – und beginnen, die Welt, wiewir sie kennen, von Grund auf zu verändern …

Das Meisterwerk des modernen Wissenschaftsthrillers: Mit »Blut-musik« thematisierte Greg Bear erstmals die möglichen Folgeneiner außer Kontrolle geratenen Nano- und Biotechnologie. Einfaszinierender und bis heute erschreckend aktueller Roman.

Der Autor

Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dortenglische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt erheute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientiertenAutoren der Gegenwart. Seine zuletzt veröffentlichten Romane»Das Darwin-Virus«, »Die Darwin-Kinder«, »Jäger« sowie »Quan-tico« wurden zu internationalen Bestsellern.

Mehr zu Greg Bear unter: www.gregbear.com

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M E I S T E R W E R K E D E R

Greg Bear

Blutmusik

Roman

Mit einem Vorwort vonCharles Stross

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

S C I E N C E F I C T I O N

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eISBN 978-3-641-07714-3

Titel der amerikanischen Originalausgabe

BLOOD MUSIC

Deutsche Übersetzung von Usch Kiausch

Taschenbuchneuausgabe 5/2008Redaktion: Angela Kuepper

Copyright © 1985 by Greg BearCopyright © 2008 des Vorworts by Charles Stross

Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHhttp://www.heyne.de

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

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________Vorwortvon Charles Stross

Hin und wieder liest man ein Buch, das den persönlichenBlick auf die Welt verändert. Oder eines, bei dem einemdas Blut gefriert. Doch nur äußerst selten stößt man aufeinen Roman, der beides bewirkt. Deshalb möchte ichSie warnen: Sobald Sie diese Einführung hinter sich ha-ben, werden bei Ihnen beide Reaktionen einsetzen. Wäre»Blutmusik« eine Sinfonie, hätte sie die Tonalität von»Frankenstein«.

Ich weiß noch, dass ich »Blutmusik« zum ersten Malim Jahre 1988 las; damals arbeitete ich als Pharmazeut,befasste mich in Abendkursen mit Informatik und nutztedie übrige Zeit zum Schreiben. Der gelassene, kühle Ton,in dem Greg Bear die Entwicklung einer biologischen Ka-tastrophe schildert, löste bei mir solche Höllenangst aus,wie es die Horrorgeschichten von Stephen King nie ganzvermocht haben. Doch wie kann ein Roman, in dem einkurzsichtiger Biotech-Nerd ständig nur Mist baut, bis dieSituation eskaliert, einem so schreckliche Angst einja-gen? Mal sehen, ob es mir gelingt, das Rätsel zu lösen.

Zunächst ein paar trockene Fakten zur Entstehungsge-schichte: Ursprünglich war »Blutmusik« ein Kurzroman.Bear verfasste ihn 1982 und verkaufte ihn anschließendan das SF-Magazin Analog. Nach der Veröffentlichung er-hielt »Blutmusik« als »bester Kurzroman des Jahres 1983«die wichtigsten Auszeichnungen, die für englischspra-

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chige Science Fiction vergeben werden: den Nebula Awardund den Hugo Award. Von Stanley Schmidt, Redakteurbei Analog, ermutigt, baute Bear das ursprüngliche Ma-nuskript dann zu einem Roman aus, in dem er den entsetzlichen Folgen der Ausgangssituation – eines bio-technologischen Selbstexperiments – nachspürt. Dieser(längere) Roman erschien 1985 und wurde 1986 erneutfür den Nebula und den Hugo nominiert.

Etwa zur selben Zeit überlegte Eric Drexler, Postgra-duierter am Massachusetts Institute of Technology, ob er seine radikalen molekulargenetischen Ideen publikmachen sollte. In dem populären Sachbuch »Engines ofCreation«, veröffentlicht im Jahre 1986, taufte er dasneue Wissenschaftsgebiet schließlich Nanotechnologie.Heute begegnen wir den Folgen dieser Forschung inForm von Konzernen mit Milliardenumsätzen, aber auchder weit verbreiteten Angst vor »Grey Goo« – außer Kon-trolle geratenen mikrobiologischen Maschinen, die sichalles ringsum einverleiben, um für ihre Selbstreplikationzu sorgen.

Wiederum fast gleichzeitig beackerte der Informatik-professor und Science-Fiction-Autor Vernor Vinge ein an-deres Feld. Seine kühnen Spekulationen tauchten erst-mals 1986 in der Science Fiction auf, allerdings wurde»Marooned in Realtime« (deutsch: »Gestrandet in derRealität«) anfangs nur wenig beachtet. (Den Durchbruchschaffte Vinge dann 1991 mit dem Roman »A Fire Uponthe Deep«, deutsch: »Ein Feuer auf der Tiefe«.) Doch An-fang der 1990er Jahre schlug sein Konzept der »Singulari-tät« nachhaltig ein und stellte eindeutig den wichtigstenBeitrag zur wissenschaftsorientierten SF der Dekade dar.Vinge entwickelte das Thema Künstliche Intelligenz schlüs-sig weiter – was passiert, wenn man eine K.I. schafft, dieentweder viel schneller oder viel schlauer agiert als jeder

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Mensch? – und zeigte eine Reihe beunruhigender Mög-lichkeiten auf. (Bei Vinge ist die »Singularität« ein Ereig-nis, das den Zukunftsforschern jede Möglichkeit nimmt,aus der Gegenwart zu extrapolieren und Vorhersagen zutreffen. Kennzeichnend für dieses Ereignis ist die Emer-genz einer künstlichen oder menschlichen Intelligenz,die unser heutiges Niveau so in den Schatten stellt, dasswir jämmerlichen Wesen jeden Einfluss auf das Tempodes Fortschritts verlieren.)

Und jetzt komme ich endlich zu dem Teil, auf den Siegewartet haben: »Blutmusik« war der allererste Roman,der solche Themen behandelte.

Zwar benutzte Greg Bear nicht die später von Drexlerund Vinge entwickelte Terminologie, dennoch schrieb erden ersten – und grundlegenden – SF-Roman, der Nano-technologie und die Singularität in den Mittelpunktrückte. Und das 1983/84! Noch ehe Drexler mit »Enginesof Creations« den Begriff »Grey Goo« einführte und ver-breitete, malte Bear das düstere Bild einer außer Kon-trolle geratenen Nanotechnologie. Noch ehe Vinge in sei-nem Roman »Marooned in Realtime« die »Singularität« in Worte fasste, beschrieb Bear das Phänomen in »Blut-musik«. Mehr noch: Als einer der Ersten sondierte er aus nüchtern-mathematischer, materialistischer Sicht dieMöglichkeit des »Mind Uploading«, eines Abspeichernsvon Gedankenprozessen und Erinnerungen, das mit »See-lenwanderung« nichts gemein hat. Frühere Autoren hat-ten hier obskure Spekulationen als Kunstgriff benutzt,um die Romanhandlung voranzutreiben, doch Bear ge-lang es, eine plausible Übertragungstechnik zu entwi-ckeln.

Was »Blutmusik« auszeichnet, ist nicht zuletzt BearsHerangehensweise an Genetik und Informatik: Sie ba-siert nicht auf unbekümmerter vager Spekulation, son-

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dern auf unserem aktuellen Wissensstand. Zwar ist dieEntwicklung seit 1983 vorangeschritten und inzwischensteht – im Gegensatz zu damals weit verbreiteten An-sichten – fest, dass das Genom den Bauplan lebender Organismen umfasst. Doch 1983 bedeutete der wissen-schaftliche Ansatz, Gene als Elemente eines organi-schen Computerprogramms zu betrachten, einen radika-len Bruch mit früheren Theorien; die Idee, DNA dazu zu nutzen, Programme in einem Organismus gezielt zuverändern, tauchte erst gegen Ende der 1980er Jahre inden Fachzeitschriften auf. »Blutmusik« jedoch entwickel-te solche Konzepte noch weiter und warf Fragen auf, dieseltsamerweise noch kein SF-Autor gestellt hatte – etwadie Frage: Was würde passieren, wenn wir ein K.I.-Pro-gramm auf DNA umschreiben und in lebende Zellen einschleusen? Und die Antworten, die Bear lieferte, wa-ren mindestens so erschreckend wie irgendein Bioterror-Roman von Michael Crichton, wenn nicht gar erschre-ckender.

Als ich »Blutmusik« nach zwanzig Jahren ein zweitesMal las, fand ich den Roman noch genauso beängsti-gend wie in den 1980er Jahren. Die Zeiten haben sich ge-wandelt, so wie unsere Kenntnisse dessen, was mit Hilfeder Bio- und Nanotechnologien jetzt schon machbar ist.Doch Bears Roman wirkt so frisch und neu wie eh und je. Leider neigt Science Fiction, die in der nahen Zukunftangesiedelt ist, oft dazu, schnell zu veralten, weil dieRealität sie einholt oder überholt – an »Blutmusik« hatder Zahn der Zeit kaum genagt. Falls überhaupt, dannnur in der Hinsicht, dass die kühnsten Hypothesen zumPotenzial der Genetik mittlerweile zum Kanon der Lehr-meinungen zählen, so dass der Roman die Kraft zu scho-ckieren ein wenig eingebüßt hat. Dennoch weckt er beimLeser auch heute noch Angstgefühle.

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Nur selten kann ein SF-Autor für sich in Anspruch neh-men, mit seinen Büchern auch nur ein einziges neuesKonzept in die Science Fiction eingeführt zu haben. Dass Greg Bear gleich vier innovative Konzepte in einemRoman vereint, kommt einem kleinen Wunder gleich.»Blutmusik« ist im Bereich der wissenschaftsorientier-ten Science Fiction der bedeutendste Roman der 1980erJahre – und vermutlich auch das Werk, das so erschre-ckend glaubhaft ist wie kein anderes jener Zeit.

Charles Stross ist einer der bekanntesten Science-Fiction-Auto-ren der Gegenwart, der sich ebenfalls immer wieder mit demThema Singularität befasst. Zuletzt sind von ihm die Romane»Accelerando« und »Glashaus« erschienen.

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BLUTMUSIK

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Für Astrid –Glanz, Unabdingbarkeit undLeidenschaft meines Lebens.

Mit all meiner Liebe.

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INHALT INTERPHASE _______________________________________________________________________________ 15

ANAPHASE ___________________________________________________________________________________________ 19Juni bis September

PROPHASE ___________________________________________________________________________________________ 97Oktober bis Dezember

METAPHASE __________________________________________________________________________________ 191November

TELOPHASE _____________________________________________________________________________________ 381Im Februar des Folgejahres

INTERPHASE _______________________________________________________________________________ 407Gedankenuniversum

Danksagung ____________________________________________________________________________________________________________________ 411

Glossar _________________________________________________________________________________________________________________________________________ 413

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INTERPHASE

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Stündlich entstehen und sterben unzählige Billionenwinziger Lebewesen: Mikroben, Bakterien – die Klein-bauern der Natur. Sie zählen nicht viel, es sei denn alsSumme betrachtet, sofern sie in sehr großer Anzahl auf-treten. Weder verfügen sie über eine ausgeprägte Wahr-nehmungsfähigkeit, noch können sie Leid empfinden.Selbst wenn hundert Billionen dieser Lebewesen ster-ben, hat das nicht annähernd ein solches Gewicht wieder Tod eines einzigen Menschen.

Alle Geschöpfe, seien sie so winzig wie Mikroben oderso groß wie Menschen, haben innerhalb ihrer unter-schiedlichen Größenordnungen eine vergleichbare »Wir-kungskraft«, wie ja auch die Zweige eines hohen Baumsin ihrer Gesamtheit der Masse der Äste entsprechen unddie Gesamtheit der Äste der Masse des Stammes.

Davon sind wir genauso fest überzeugt, wie die KönigeFrankreichs seinerzeit von der Rechtmäßigkeit ihres na-turgegebenen Amtes überzeugt waren. Wann wird eineGeneration zur Welt kommen, die konträre Einschätzun-gen entwickelt?

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ANAPHASEJuni bis September

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__1La Jolla, Kalifornien

Das rechteckige schiefergraue Schild stand inmitten hell-grüner Grasbüschel auf einem niedrigen Hügel. Ringsumwuchsen Schwertlilien. Seitlich davon floss in einemkünstlich angelegten Bett aus Zement ein Bach, in des-sen trübem Wasser es von Zierkarpfen wimmelte. Aufder Seite des Schildes, die der Straße zugekehrt war,prangte in knallroten Druckbuchstaben der Name GENE-TRON, darunter der Werbespruch Wo kleine Dinge großeVeränderungen bewirken.

Die Labors und Geschäftsräume von Genetron warenrings um einen begrünten Innenhof in einem hufeisen-förmigen, schmucklosen Betonbau im Bauhausstil unter-gebracht. Der Hauptkomplex bestand aus zwei Ebenen,die über im Freien liegende Korridore zugänglich waren.Jenseits des Innenhofs, unmittelbar hinter einem künst-lich angelegten Erdhügel, der noch nicht bepflanzt war,stach ein vierstöckiger Kubus mit eingeschwärzten Glas-fassaden ins Auge, der mit einem elektrischen Stachel-drahtzaun gesichert war.

Denn Genetron hatte zwei Seiten: einerseits die offe-nen Labors, in denen an Biochips geforscht wurde, ande-rerseits das düstere Gebäude, wo im Auftrag des Verteidi-gungsministeriums militärische Nutzungsmöglichkeitenneuer Entwicklungen untersucht wurden.

Doch selbst in den offenen Labors galten strenge Si-

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cherheitsbestimmungen. Alle Angestellten hatten Dienst-marken mit Laserkennung zu tragen, und der Besucher-verkehr in den Labors wurde sorgfältig überwacht. DerGeschäftsführung von Genetron – fünf Absolventen derStanford-Universität hatten das Unternehmen drei Jahrenach Studienabschluss gegründet – war schließlich klar,dass es nicht nur um mögliche Sicherheitslecks imschwarzen Kubus ging, sondern ein weit größeres Risikoin der Industriespionage lag. Dennoch wirkte die Atmo-sphäre nach außen hin locker. Die Leitung verwendeteviel Mühe darauf, die Sicherheitsmaßnahmen unauffälligdurchzuführen.

Ein großer Mann mit gebeugten Schultern und wirremschwarzem Haar wand sich aus einem roten Sportwagender Marke Volvo und nieste zweimal, ehe er den Mit-arbeiterparkplatz überquerte. Mit ihrem frühsommerli-chen Pollenflug sorgten die Gräser derzeit dafür, dass die Schleimhäute allergischer Menschen ständig gereiztwaren.

Beiläufig begrüßte er Walter, einen Wachmann mittle-ren Alters, der dennoch drahtig wirkte. Ebenso beiläufigüberprüfte Walter die Dienstmarke des Angestellten, in-dem er sie durch den Laserscanner laufen ließ. »Sie ha-ben letzte Nacht wohl nicht viel Schlaf abbekommen,wie?«, fragte er dabei.

Vergil Ulam schürzte die Lippen und schüttelte denKopf. »Partys, Walter.« Seine Augen waren gerötet. Au-ßerdem war seine Nase inzwischen stark angeschwollen,da er sie ständig mit dem Taschentuch bearbeitet hatte,das jetzt durchfeuchtet und griffbereit in der Hosen-tasche steckte.

»Wie arbeitende Menschen wie Sie unter der Wocheauch noch Partys feiern können, wird mir ewig ein Rätselbleiben.«

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»Die Damenwelt verlangt’s, Walter«, erwiderte Vergilim Vorbeigehen. Walter grinste und nickte, obwohl erernsthafte Zweifel daran hegte, dass Vergil in dieser Hin-sicht viel erlebte – ob mit oder ohne Partys. Keine Fraugab sich gern mit einem Mann ab, der sich eine Wochelang nicht rasiert hatte, es sei denn, die Maßstäbe warenseit Walters Glanzzeiten merklich gesunken.

Ulam zählte nicht gerade zu den attraktivsten Men-schen bei Genetron. Seine riesigen Plattfüße hatten einenKörper von knapp einem Meter neunzig und ein Überge-wicht von fünfundzwanzig Pfund zu tragen. Er war zwarerst zweiunddreißig Jahre alt, litt aber bereits unter Rü-ckenschmerzen und zu hohem Blutdruck. Außerdem ge-lang es ihm nie, sich so gründlich zu rasieren, dass er diebläulichen Schatten loswurde, die an die Clownsmaskedes berühmten Emmett Kelly erinnerten.

Auch seine Stimme war kaum dazu geeignet, Sympa-thie zu wecken: Sie klang rau, leicht kratzend und wurdeschnell laut. Zwanzig Jahre Kalifornien hatten seinen te-xanischen Akzent zwar abgeschliffen, doch wenn er sichereiferte oder wütend wurde, machte sich seine Herkunftwieder so stark bemerkbar, dass seine Stimme den Ohrender Zuhörer fast wehtat.

Das Einzige, was ihn auszeichnete, waren ungewöhn-liche smaragdgrüne Augen, die groß und ausdrucksvollwirkten und von langen Wimpern beschattet wurden. Al-lerdings waren diese Augen zwar schön, aber nicht son-derlich leistungsstark: Vergil verbarg sie meistens hintereiner riesigen schwarz gerahmten Brille, denn er warkurzsichtig.

Jeweils zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, eilte erdie Treppe hinauf. Seine langen, kräftigen Beine erschüt-terten die Konstruktion aus Beton und Stahl so sehr, dassein lauter Widerhall zu hören war. Im zweiten Stock ging

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er den offenen Korridor entlang, der zur gemeinsamenBetriebsanlage der Forschungsabteilung Biochips führte,kurz Gemeinschaftslabor genannt. Normalerweise über-prüfte er morgens als Erstes die Proben in einer der fünf Ultrazentrifugen. Sein jüngster Ansatz hatte sechzigStunden lang bei einer Geschwindigkeit von zweihun-derttausend g rotiert und war jetzt so weit, dass er mitder Analyse beginnen konnte.

Für einen Mann seiner Größe hatte Vergil verblüffendzarte und sensible Hände. Nachdem er den teuren Rotoraus schwarzem Titan aus der Ultrazentrifuge gehobenhatte, schloss er die stählerne Vakuumverriegelung wie-der. Gleich darauf legte er den Rotor auf einen Labor-tisch, kniff die Augen zusammen und befreite nach-einander alle fünf Glasröhren aus den Halterungen, indenen sie unter der pilzförmigen Kappe aufgehängt wa-ren. In jeder Röhre hatten sich deutlich abgegrenzte eier-schalfarbene Schichten gebildet.

Hinter dem dicken Brillenrand schnellten Vergils Au-genbrauen erst hoch und zogen sich dann zusammen. Alser lächelte, enthüllte er bräunlich gefleckte Zähne – Folgeeiner Kindheit, in der er regelmäßig Wasser getrunkenhatte, das mit natürlichem Fluor angereichert war. Geradewollte er die Pufferlösung und die unerwünschten Schich-ten absaugen, da meldete sich das Labortelefon. Also ver-staute er die Röhre, die er in Arbeit hatte, in einem Ständerund nahm ab. »Gemeinschaftslabor, Ulam am Apparat.«

»Vergil, ich bin’s, Rita. Hab Sie hereinkommen sehen,aber in Ihrem Labor nicht erreicht …«

»Bin wie üblich in meinem zweiten Zuhause, Rita. Wo-rum geht’s?«

»Sie hatten mich doch gebeten – mir aufgetragen –,Ihnen Bescheid zu sagen, wenn hier ein gewisser Herrauftaucht. Ich meine, er ist jetzt da.«

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»Michael Bernard?«»Ich glaube, er ist es, Vergil. Aber …«»Bin gleich unten.«»Vergil …«Er legte auf und überlegte kurz, wie er mit den Glas-

röhren verfahren sollte, ließ sie dann aber an Ort undStelle.

Genetrons kreisförmiger Empfangsbereich, ringsumvon Panoramafenstern eingefasst und großzügig mitSchusterpalmen in verchromten Übertöpfen ausgestat-tet, grenzte an den Ostflügel des Erdgeschosses. Als Ver-gil von der Laborseite her eintrat, blendete ihn das grelle,weiße Morgenlicht, das schräge Streifen auf den himmel-blauen Teppich warf. Während er am Empfangstresenvorbeiging, erhob sich Rita von ihrem Platz.

»Vergil …«»Danke«, erwiderte er flüchtig und blickte zu dem

distinguiert wirkenden grauhaarigen Mann hinüber, derneben der einzigen Couch in der Lobby stand. Zweifelloswar das Michael Bernard. Vergil erkannte ihn von Abbil-dungen wieder. Und vom Titelfoto, das das Time Maga-zine vor drei Jahren von ihm gebracht hatte. Breit lä-chelnd, streckte Vergil die Hand aus. »Freut mich, Siekennenzulernen, Mr. Bernard.«

Zwar erwiderte Bernard den Händedruck, doch er wirk-te verunsichert.

In der breiten Doppeltür des schicken Eingangsbürosvon Genetron, das hauptsächlich dazu diente, Besucherzu beeindrucken, tauchte Gerald T. Harrison auf, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Hilfesuchend sah Bernard zu ihm hinüber.

»Ich bin sehr froh, dass Sie meine Nachricht erhaltenhaben«, fuhr Vergil fort, ehe er Harrison bemerkte.

Unverzüglich verabschiedete sich Harrison von sei-

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nem Gesprächspartner am Telefon und legte unwirschauf. »Der Rang eines Vorgesetzten bringt nun mal ge-wisse Privilegien mit sich, Vergil.« Mit falschem Lächelnbaute er sich neben Bernard auf.

»Entschuldigung, aber um welche Nachricht geht’sdenn überhaupt?«, fragte Bernard.

»Das hier ist Vergil Ulam, einer unserer Spitzenfor-scher«, erklärte Harrison in schleimigem Ton. »Wir allefreuen uns sehr über Ihren Besuch, Mr. Bernard. – Vergil,wir reden später über die Sache, die Sie erörtern woll-ten.«

Vergil hatte Harrison keineswegs um ein Gespräch ge-beten. »Alles klar«, erwiderte er, während das alte, wohl-bekannte Gefühl an ihm nagte, wieder einmal umgan-gen, zur Seite gedrängt worden zu sein.

Bernard hatte keine Ahnung, wer er war.»Später, Vergil«, wiederholte Harrison nachdrücklich.»Selbstverständlich, alles klar.« Mit einem flehenden

Blick zu Bernard hinüber zog er sich zurück, drehte sichum und schlurfte durch die Hintertür hinaus.

»Wer war das?«, erkundigte sich Bernard bei Harrison.»Ein äußerst ehrgeiziger Bursche. Aber wir haben ihn

im Griff.«

Harrisons Arbeitszimmer lag zu ebener Erde im westli-chen Flügel des Laborgebäudes. Ringsum standen Holz-regale, in denen die Bücher ordentlich aufgereiht waren.Hinter dem Schreibtisch befand sich auf Augenhöhe ein Regal mit den allseits bekannten Ringbüchern ausschwarzem Kunststoff – Loseblattsammlungen, die ausdem Cold Spring Harbor Laboratory stammten. Die Reihedarunter barg mehrere Telefonbücher – Harrison sam-melte uralte Exemplare. Außerdem füllten Handbücherder Informatik mehrere Regale. Eine von Leder einge-

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fasste Schreibunterlage mit Millimeterpapier schützte dieschwarze Schreibtischplatte, auf der sich auch eine mitdem Zentralrechner Genetrons verbundene Workstationbefand.

Von den Gründern Genetrons waren nur Harrison undWilliam Yng so lange geblieben, dass sie miterlebt hat-ten, wie die Labors die Arbeit aufnahmen. Beide Gründerwaren jedoch mehr an der Vermarktung von Forschungs-ergebnissen als an der Forschung selbst interessiert, ob-wohl ihre Promotionsurkunden, die sie als Naturwissen-schaftler auswiesen, an der holzgetäfelten Wand hingen.

Mit erhobenen Armen, die Hände im Nacken ver-schränkt, lehnte Harrison sich im Sessel zurück. Vergilfiel die leichte Andeutung von Schweißflecken in denAchselhöhlen auf.

»Das war sehr peinlich, Vergil«, bemerkte Harrison.Sein weißblondes Haar war sorgfältig so gekämmt, dasses die vorzeitig gelichteten Stellen überdeckte.

»Tut mir leid.«»Mir mindestens ebenso. Also waren Sie’s, der Mr. Ber-

nard zu einem Besuch in unseren Labors eingeladenhat.«

»Ja.«»Warum?«»Ich dachte, er könne sich für unsere Arbeit interessie-

ren.«»Das haben wir uns auch gedacht, und eben darum

haben wir ihn ja eingeladen. Ich glaube nicht, dass er vonIhrer Einladung überhaupt wusste.«

»Anscheinend nicht.«»Sie haben’s hinter unserem Rücken gemacht.«Vergil stellte sich vor den Schreibtisch und blickte

missmutig auf das Computerterminal.»Sie haben sehr viel nützliche Arbeit für uns geleistet.

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Rothwild hat Sie als brillant, vielleicht sogar unersetzlichbezeichnet.« Rothwild überwachte das Biochip-Projekt.»Andere behaupten allerdings, man könne sich nicht aufSie verlassen. Und jetzt … dies.«

»Bernard …«»Es geht hier nicht um Mr. Bernard, Vergil, sondern

um das hier.« Harrison schwenkte die Workstation he-rum und drückte auf eine Taste: Vergils geheime, sorgfäl-tig verschlüsselte Computerdatei rollte über den Bild-schirm. Vergil riss die Augen auf, und ihm wurde dieKehle eng, allerdings gelang es ihm, sich so weit zu be-herrschen, dass er nicht nach Luft rang. »Ich hab nochnicht alles gelesen, aber es klingt so, als hätten Sie einigeäußerst verdächtige Dinge vor, die möglicherweise gegenethische Grundsätze verstoßen. Wir hier bei Genetronhalten uns allerdings gern an die Richtlinien, besondersin Anbetracht unserer künftigen Marktposition. Aber nichtnur deswegen. Auch persönlich lege ich großen Wert da-rauf, dass wir unsere Betriebsführung an ethischen Prin-zipien ausrichten.«

»Ich habe nichts unternommen, das gegen ethischeGrundsätze verstößt.«

»Ach nein?« Harrison ließ den angezeigten Text aufdem Display erstarren. »Sie entwerfen lediglich neueDNA-Abschnitte für mehrere Mikroorganismen, für diedie Bestimmungen der National Institutes of Health gel-ten. Und Sie arbeiten mit Zellen von Säugetieren, was wirhier grundsätzlich nicht tun, da wir nicht ausreichendvor biologischen Gefahrenstoffen geschützt sind – jeden-falls nicht in den Zentrallabors. Aber bestimmt könntenSie mir nachweisen, dass Ihre Forschung völlig unschäd-lich und harmlos ist. Sie sind nicht zufällig dabei, eineneue Seuchenart zu erzeugen, um sie an Revolutionärein der Dritten Welt zu verscherbeln, oder?«

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»Nein«, erwiderte Vergil lahm.»Gut. Einiges von diesem Material übersteigt mein Be-

griffsvermögen. Sieht aber so aus, als versuchten Sie un-ser Projekt – die Erzeugung medizinisch anwendbarerBiochips – in gewisser Hinsicht auszuweiten. Möglicher-weise verfügen Sie über wertvolle Erkenntnisse.« Er hieltkurz inne. »Was, zum Teufel, treiben Sie da überhaupt,Vergil?«

Vergil setzte die Brille ab und säuberte die Gläser miteinem Zipfel seines Laborkittels. Plötzlich musste er lautund feucht niesen, was Harrison leicht angewidert zurKenntnis nahm.

»Wir haben den Code erst gestern geknackt. Fast zufäl-lig. Warum haben Sie die Datei versteckt? Geht’s dabeium Dinge, die Sie uns lieber vorenthalten möchten?«

Ohne die Brille wirkte Vergil hilflos und ähnelte einerEule. Er stammelte irgendeine Erwiderung, brach jedochgleich darauf ab, streckte das Kinn vor und runzelte diedicken schwarzen Brauen, so dass sein Gesicht einenebenso genervten wie verblüfften Ausdruck annahm.

»Mir kommt’s so vor, als hätten Sie unsere Forschungs-einrichtungen für eigene genetische Arbeiten genutzt.Selbstverständlich unbefugt, aber Sie haben sich ja niesonderlich um irgendwelche Hierarchien geschert.«

Mittlerweile war Vergils Gesicht knallrot angelaufen.»Ist Ihnen nicht gut?« Harrison, der es offensichtlich

genoss, Vergil in die Enge zu treiben, bedachte ihn miteinem forschenden Blick, konnte aber nur mit Mühe einschadenfrohes Grinsen unterdrücken.

»Mir fehlt nichts, keine Sorge. Ich habe … Ich befassemich derzeit mit Biologik.«

»Mit Biologik? Sagt mir nichts.«»Ein Ableger der Biochip-Forschung. Es geht dabei um

selbstständig arbeitende organische Computer.« Die Vor-

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stellung, noch mehr preiszugeben, bereitete Vergil Höl-lenqualen. Er hatte Bernard deswegen angeschrieben –offenbar ohne Erfolg –, damit er sich die Arbeiten persön-lich ansah. Vergil wollte seine Ergebnisse nicht einfachGenetron überlassen, obwohl eine Klausel in seinem An-stellungsvertrag besagte, dass dem Unternehmen, dasihn beschäftigte und bezahlte, all seine Arbeitsresultatezustanden. Eigentlich war seine Idee recht simpel gewe-sen, auch wenn deren Umsetzung ihn zwei Jahre Arbeit,heimlicher und mühseliger Arbeit, gekostet hatte.

»Die Sache fasziniert mich.« Harrison drehte das Ter-minal herum und scrollte durch die Datei. »Wir redenhier nicht nur über Proteine und Aminosäuren. Sie ma-nipulieren Chromosomen, rekombinieren die Gene vonSäugetieren. Wie ich sehe, vermischen Sie diese sogarmit den Genen von Viren und Bakterien.« Aus HarrisonsAugen wich jeder Glanz. Jetzt wirkten sie so hart wiegraues Gestein. »Ihre Arbeit könnte zur Folge haben,dass Genetron sofort, auf der Stelle dichtmachen muss,Vergil. Für derartige Experimente fehlen uns die Schutz-vorrichtungen. Sie haben ja nicht mal die P-3-Standardsfür genetische Forschungen berücksichtigt.«

»Ich hantiere ja auch gar nicht mit reproduktiven Ge-nen herum.«

»Gibt’s auch andere?« Wütend, weil er sich von Vergilauf den Arm genommen fühlte, beugte Harrison sich vor.

»Introns. DNA-Abschnitte, die keine Proteine codie-ren.«

»Was ist damit?«»Ich beschränke mich auf diese Gebiete. Und … füge

weiteres nicht-reproduktives genetisches Material hinzu.«»Klingt für mich wie ein Widerspruch in sich selbst,

Vergil. Wir haben keinen Beweis dafür, dass Intronsnicht doch irgendwas codieren.«

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»Ja, aber …«»Aber …« Harrison streckte abwehrend die Hand hoch.

»Das alles ist ziemlich irrelevant. Was immer Sie auchvorhaben mögen: Tatsache ist, dass Sie drauf und dranwaren, unseren Vertrag zu brechen. Hinter unserem Rü-cken haben Sie sich an Bernard gewandt und versucht,seine Unterstützung für ein persönliches Projekt zu ge-winnen. Ja oder nein?«

Darauf erwiderte Vergil nichts.»Ich nehme an, dass es Ihnen schlicht an Welterfah-

rung mangelt, Vergil. Zumindest kennen Sie sich in derGeschäftswelt nicht gut aus. Vielleicht waren Ihnen dieFolgen gar nicht klar.«

Vergil, dessen Gesicht immer noch knallrot war, schluck-te heftig. Er spürte starken Blutandrang in den Ohrenund ein durch Stress bedingtes Schwindelgefühl. Erneutmusste er zweimal niesen.

»Also gut, ich will Ihnen die Konsequenzen aufzeigen.Es fehlt nicht mehr viel dazu, dass wir Hackfleisch ausIhnen machen und es als Dosenfutter verkaufen.«

Nachdenklich hob Vergil die Augenbrauen.»Allerdings sind Sie für die MAB-Forschung ein wichti-

ger Mann. Wenn es nicht so wäre, würden wir Sie sofortrausschmeißen, und ich würde persönlich dafür sorgen,dass Sie nie wieder in einem Labor der Privatwirtschaftarbeiten können. Aber Thornton, Rothwild und die ande-ren glauben, dass Sie vielleicht doch noch zu retten sind.Ja, Vergil, wir möchten Sie retten, vor sich selbst bewah-ren. Ich habe mich in dieser Angelegenheit noch nichtmit Yng beraten und werde sie nicht weiterverbreiten,wenn Sie sich künftig nach Vorschrift verhalten.«

Mit gesenkten Brauen fixierte er Vergil. »Brechen Siedie Arbeit an allen außerplanmäßigen Projekten sofortab. Ihre Datei bewahren wir hier weiter auf, aber ich ver-

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lange von Ihnen, dass Sie unverzüglich alle Experimenteeinstellen, die nicht unmittelbar mit der medizinischenAnwendung von Biochips zu tun haben. Außerdem müs-sen Sie alle Organismen, mit denen Sie herumexperi-mentiert haben, vernichten. In zwei Stunden werde ichIhr Labor persönlich inspizieren. Falls Sie diese Dinge bisdahin nicht erledigt haben, werden wir Sie fristlos entlas-sen. Zwei Stunden, Vergil. Und wir räumen Ihnen wederAusnahmen noch Verlängerungen ein.«

»Ja, Sir.«»Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen.«

__2Vergils Entlassung hätte seine Kolleginnen und Kollegennicht sonderlich traurig gemacht. In seinen drei Jahrenbei Genetron hatte er unzählige Male gegen die unge-schriebenen Gesetze des Labors verstoßen. BenutzteReagenzgläser und Petrischalen wusch er nur selten aus.Zweimal hatte man ihn beschuldigt, Spritzer von Äthi-diumbromid, einem starken Mutagen, einfach auf demArbeitstisch zurückgelassen zu haben. Auch mit Radio-nukliden ging er nicht gerade vorsichtig um.

Die meisten Leute, mit denen er zusammenarbeitete,waren nicht gerade für Unterwürfigkeit bekannt. Schließ-lich waren sie junge Spitzenwissenschaftler, die aufeinem vielversprechenden Gebiet forschten und größten-teils damit rechneten, es in wenigen Jahren zu Wohl-stand und einer eigenen Firma zu bringen. Doch Vergilfiel aus allen hier üblichen Verhaltensmustern heraus.Tagsüber arbeitete er still und intensiv vor sich hin,abends machte er Überstunden. Er neigte nicht zur Ge-

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selligkeit, war aber auch nicht unfreundlich. Die meistenMenschen ignorierte er schlichtweg.

Seinen Arbeitsplatz im Labor teilte er sich mit HazelOverton, einer Wissenschaftlerin, die so peinlich genauund sauber arbeitete, wie man es sich nur wünschenkonnte. Hazel hätte ihn wohl am wenigsten vermisst.Vielleicht war sie es gewesen, die in seine Datei einge-drungen war. Sie kannte sich mit Computern recht gutaus und hatte möglicherweise nach etwas Ausschau ge-halten, mit dem sie ihn drankriegen konnte. Doch dafürhatte er keinen Beweis, und es brachte nichts, sich para-noid zu verhalten.

Das Labor lag im Dunkeln, als Vergil eintrat. Mit einerwinzigen UV-Lampe führte Hazel gerade einen Fluores-zenz-Scan an einer mit Elektrophorese behandelten Ma-trix von Eiweißkörpern durch. Als Vergil Licht machte,blickte sie auf und nahm die Brille ab, drauf und dran,ihrem Ärger Luft zu machen.

»Du kommst spät«, bemerkte sie. »Und dein Arbeits-platz sieht so schlampig aus wie ein nicht gemachtesBett. Vergil, du bist wirklich ein …«

»Chaot«, ergänzte er an ihrer Stelle und warf seinen La-borkittel über einen Hocker.

»Du hast mehrere Reagenzgläser auf dem Arbeitstischim Gemeinschaftslabor stehen lassen. Ich fürchte, mitdenen kannst du nichts mehr anfangen.«

»Scheiß drauf.«Hazel sah ihn mit großen Augen an. »Meine Güte, hast

du eine Laune.«»Hab ’ne Abmahnung bekommen. Muss meine ganze

außerplanmäßige Arbeit einstellen und alles wegräumen,sonst setzt Harrison mich auf die Straße.«

»Ist eigentlich nur recht und billig.« Hazel wandte sichwieder ihrer Untersuchung zu. Im Vormonat hatte Har-

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rison auch eines ihrer persönlichen Projekte gestoppt.»Woran hast du überhaupt gearbeitet?«

»Wenn’s dir nichts ausmacht, wäre ich jetzt lieber al-lein.« Über den Arbeitstisch hinweg warf Vergil ihr einenfinsteren Blick zu. »Du kannst das auch im Gemein-schaftslabor fertigmachen.«

»Stimmt, aber …«»Falls nicht«, unterbrach Vergil sie drohend, »werde

ich dein niedliches Agarose-Gel mit dem kleinen Fingerauf dem Fußboden verschmieren.«

Hazel sah ihn wütend an und kam dann zu demSchluss, dass es ihm ernst war. Gleich darauf schaltetesie die Elektroden ab, nahm ihre Sachen an sich undsteuerte auf die Tür zu. »Mein Beileid!«

»Tja.«Er musste planmäßig vorgehen. Während er sich am

stoppeligen Kinn kratzte, suchte er nach einer Möglich-keit der Schadensbegrenzung. Jene Teile des Experi-ments, die er nicht unbedingt benötigte, konnte er op-fern – beispielsweise die E.coli-Kulturen. Darüber war ermittlerweile weit hinaus. Er hatte sie lediglich als Weg-markierungen für den Fortschritt seines Experimentsund als eine Art Reserve für den Fall aufbewahrt, dass die nächsten Arbeitsschritte nicht klappten. Doch es war alles wunderbar gelaufen. Sein Versuch war zwar nochnicht abgeschlossen, doch er stand so kurz vor der Voll-endung, dass er bereits einen Vorgeschmack des Erfolgsspürte – so köstlich wie kühler, reiner Wein.

Während Hazels Seite des Labors sauber und ordent-lich aussah, herrschte auf seiner ein Chaos aus Arbeits-instrumenten und Chemikalienbehältern. Eines seinerwenigen Zugeständnisse an die Arbeitssicherheit, eineweiße Saugmatte, die Spritzer auffing, hing halb von derschwarzen Arbeitsplatte herunter und wäre zu Boden ge-

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fallen, hätte auf einem Zipfel nicht ein Reinigungsmittelgestanden.

Er ging zur weißen Wandtafel hinüber, rieb sich denStoppelbart und starrte auf die kryptischen Botschaften,die er am Vortag darauf notiert hatte.

Kleine Ingenieure. Bedienen die winzigsten Maschinender Welt. Besser als MABs. Kleine Chirurgen. Bekämp-fen Tumore. Computer mit Riesenkapazität. (Computer= spezifizieren Tumoren, ha!) Größe von Volvox.

Eindeutig das Gefasel eines Durchgeknallten. Hazel hattees bestimmt nicht beachtet, oder doch? Es war allgemeinüblich, jede verrückte Idee, eine spontane Eingebungoder auch Witze auf der Wandtafel zu notieren, wobeiman damit rechnen musste, dass das nächste gehetzteGenie alles wieder löschen würde. Und dennoch …

Vielleicht hatten die Notizen bei der schlauen HazelNeugier geweckt. Insbesondere, da er mit seiner Arbeitan den MABs im Rückstand war.

Offensichtlich war er allzu leichtsinnig vorgegangen.Medizinisch anwendbare Biochips, kurz MABs ge-

nannt, sollten das erste praktische Ergebnis der Biochip-Revolution darstellen: die Verbindung von elektronischenSchaltkreisen auf Siliziumbasis mit Proteinmolekülen. Inder Fachliteratur wurde seit Jahren über Biochips speku-liert, doch Genetron hatte vor, der Food and Drug Admi-nistration – der Bundesbehörde, die unter anderem fürdie Zulassung von Arzneimitteln zuständig war – bereitsim Laufe der nächsten drei Monate die ersten anwend-baren Arbeitsergebnisse zur Prüfung und Genehmigungvorzulegen. Denn die Konkurrenz schlief nicht.

La Jolla und seine Umgebung stellten ein Zentrum derBiochip-Forschung dar, das später in Analogie zu Silicon

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Valley als Enzyme Valley bekannt werden sollte. Sechsauf Biochips spezialisierte Firmen hatten sich hier be-reits niedergelassen. Manche hatten als PharmazeutischeBetriebe angefangen und darauf gesetzt, mit den Ergeb-nissen der DNA-Rekombination irgendwann Geld zu ma-chen. Von älteren Konzernen mit größerer Erfahrungvom Markt gedrängt, hatten sie sich auf die Biochip-Forschung umgestellt. Allerdings war Genetron das ersteUnternehmen, das sich speziell zu diesem Zweck ge-gründet hatte.

Widerstrebend löschte Vergil die Notizen von der Ta-fel. Sein ganzes Leben lang hatten sich die Umstände sogegen ihn verschworen, dass er immer wieder daran ver-zweifelte. Oft hatte er das Unglück aber auch selbst he-raufbeschworen – er war ehrlich genug, sich das einzu-gestehen. Ob bei seiner Arbeit oder im Privatleben: Nichtein einziges Mal war es ihm gelungen, eine Sache zuEnde zu bringen. Und er hatte noch nie viel Talent dafürgezeigt, die Folgen seiner Handlungen richtig abzuschät-zen.

Aus der Schreibtischschublade, die er stets verschlos-sen hielt, holte er vier dicke Spiralhefte heraus und legtesie zu dem wachsenden Stapel von Dingen, die er ausdem Labor schmuggeln musste. Er brachte es nicht übersich, alle Forschungsergebnisse zu vernichten. Die Kul-turen weißer Blutkörperchen – speziell präparierte Lym-phozyten – wollte er unbedingt retten. Aber wo sollte ersie aufbewahren? Was konnte er außerhalb des Laborsdamit anfangen? Nichts. Es gab keinen Ort, an den ersich flüchten konnte. Die Ausrüstung, die er benötigte,befand sich im Besitz von Genetron, und es würde Mo-nate dauern, ein anderes Labor einzurichten. Währenddieser Zeit würde sich die ganze bisherige Arbeit buch-stäblich in Luft auflösen.

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Durch die hintere Labortür betrat Vergil den innerenKorridor und ging an der für Notfälle vorgesehenenDuschanlage vorbei. Die Inkubatoren wurden außerhalbdes Gemeinschaftslabors in einem separaten Raum auf-bewahrt. An der Wand waren sieben grau emaillierteKästen in der Größe von Kühlschränken aufgereiht –elektronische Überwachungsgeräte, die die Temperaturenund den Kohlendioxidgehalt jeder Arbeitseinheit kon-trollierten. Im hinteren Teil des Raums befand sich inmit-ten älterer Inkubatoren aller Größen und Formen (erstan-den bei Zwangsversteigerungen von Labors, die Konkursangemeldet hatten) ein Forma-Modell aus glänzendemrostfreiem Stahl und weißer Emaille für besondere wis-senschaftliche Zwecke. An dessen Tür klebte ein Leuko-plaststreifen, auf dem handschriftlich Vergil Ulam vorbe-halten vermerkt war.

Er öffnete den Inkubator, um ein Gestell mit Petrischa-len herauszuholen. In jeder Schale hatten die Bakterienuntypische Kolonien gebildet, orangerote und grüne Zu-sammenballungen, die an Luftaufnahmen von Paris oderWashington D.C. erinnerten. Von den Klümpchen gingenstrahlenförmig Linien aus, die die Kolonien in einzelneAbschnitte unterteilten, wobei jeder Abschnitt eine ganzeigene Struktur aufwies. Vergil nahm an, dass diese Ab-schnitte unterschiedliche Funktionen erfüllten. Da indiesen Kulturen jede Bakterie das geistige Potenzial einerMaus besaß, war durchaus vorstellbar, dass die Kultureneinfach strukturierte »Gesellschaften« gebildet und be-stimmte Arbeitsteilungen vorgenommen hatten. In letz-ter Zeit war Vergil so mit der Veränderung der B-Lympho-zyten beschäftigt gewesen, dass er diese Entwicklungnicht verfolgt hatte.

All diese Kulturen betrachtete er als seine Kinder. Undsie hatten sich als außergewöhnliche Kinder entpuppt.

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Während er einen Bunsenbrenner entzündete, eineZange nahm und nach und nach jede Schale mit den mu-tierten Kolibakterien in die Flamme hielt, hatte er plötz-lich so starke Schuldgefühle, dass ihm übel wurde.

Bald darauf kehrte er in sein Labor zurück und legtedie Petrischalen in ein sterilisierendes Bad. Hier war dieGrenze: Weitere Materialien konnte und wollte er nichtopfern. Sein Hass auf Harrison war stärker als alles, waser je für einen anderen Menschen empfunden hatte.Während Tränen der Frustration ihm die Sicht trübten,öffnete er den Gefrierschrank des Labors, um ihm eineSpinnerflasche und eine Palette aus weißem Kunststoffzu entnehmen, in der zweiundzwanzig Reagenzgläsersteckten. Die Spinnerflasche enthielt eine bernsteinfar-bene Flüssigkeit: Lymphozyten in einem Zellkultur-Me-dium. Er hatte einen speziellen Rührstab mit mehrerenspiralförmigen, mit Teflon beschichteten »Paddeln« kon-struiert, der das Medium gründlich umrührte, ohne dieZellen allzu stark in Mitleidenschaft zu ziehen.

Die Reagenzgläser enthielten eine Salzlösung und einespezielle Konzentration von Nährstoffen, die die Zellenwährend der Untersuchung unter dem Mikroskop schüt-zen sollten. Mit einer Pipette entzog er der Spinner-flasche Flüssigkeit und gab vorsichtig einige Tropen invier Reagenzgläser ein. Danach stellte er die Flasche wie-der auf ihrem Untersatz ab und schaltete das Rührwerkein.

Sobald die Lymphozyten in den Reagenzgläsern sichauf Zimmertemperatur erwärmt hatten (meistens half ermit einem kleinen Ventilator, der sanft für die Zufuhrwarmer Luft sorgte, ein wenig nach), würden sie aktivwerden und die Entwicklung fortsetzen, die wegen derKälte im Gefrierschrank vorübergehend zum Stillstandgekommen war.

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Sie würden weiter lernen und die veränderten Teileihrer DNA durch neue Abschnitte ergänzen. Wenn dieneue DNA im Laufe normalen Zellwachstums zur RNAtranskribiert wurde und diese RNA als Matrize zur Er-zeugung von Aminosäuren diente, die sich später in Pro-teine umwandelten …

… würden die Proteine nicht nur als Einheiten der Zell-struktur fungieren, sondern auch für andere Zellen les-bar sein. Oder aber die RNA selbst würde ausgestoßen,von anderen Zellen absorbiert und eingelesen werden.Es gab jedoch noch eine dritte Möglichkeit, die sich erstabgezeichnet hatte, nachdem Vergil Fragmente bakteriel-ler DNA in die Chromosomen von Säugetieren eingeführthatte: Vielleicht würden sogar DNA-Abschnitte abgesto-ßen und weitergegeben werden.

Jedes Mal, wenn Vergil über diese Dinge nachdachte,schwirrte ihm der Kopf. Die Zellen verfügten über un-zählige Möglichkeiten und Tausende von Kanälen, ummiteinander zu kommunizieren und geistiges Potenzialzu entwickeln.

Immer noch empfand er die Vorstellung, dass ZellenIntelligenz entwickelten, als so fremdartig und faszinie-rend, dass er innehielt, wie angewurzelt dastand und dieWand anstarrte, bis er ruckartig aus seinen Tagträumenaufschreckte und sich wieder an die Arbeit machte.

Als Nächstes zog er ein Mikroskop zu sich heran undführte eine Pipette in eines der Reagenzgläser ein. Nach-dem das kalibrierte Instrument die vorgegebene Flüssig-keitsmenge aufgenommen hatte, ließ er sie in die rundeVertiefung einer kleinen Glasscheibe tröpfeln.

Von Anfang an war Vergil klar gewesen, dass seineVorstellungen weder abstrus noch rein akademisch wa-ren. Die ersten drei Monate bei Genetron – in dieser Zeithatte er mitgeholfen, die Schnittstellen zwischen Sili-

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zium und Proteinen für die Biochips zu entwickeln – hat-ten ihn davon überzeugt, dass den MAB-Projektleiternbei ihren Planungen ein völlig offensichtlicher und äu-ßerst interessanter Aspekt entgangen war.

Was sprach dafür, sich auf Silizium, Proteine und Bio-chips im Format eines hundertstel Millimeters zu be-schränken, wenn doch nahezu alle lebenden Zellen übereinen funktionierenden Rechner mit riesiger Speicher-kapazität verfügten? Jede Säugetierzelle war mit einemDNA-Satz von mehreren Milliarden Basenpaaren ausge-stattet, die sämtlich Teilinformationen darstellten. Waswar die Reproduktion denn anderes als ein überaus kom-plexer und zuverlässiger Rechenprozess der Biologie!

Doch Genetron hatte diese gedankliche Verbindungnoch nicht hergestellt, und Vergil hatte schon vor langerZeit für sich beschlossen, seinen Vorgesetzten nicht aufdie Sprünge zu helfen. Er würde seine Arbeit tun undseine Hypothesen dadurch beweisen, dass er Milliardenleistungsfähiger zellularer Computer schuf, um Genetrondanach zu verlassen und sein eigenes Labor einzurich-ten, seine eigene Firma zu gründen.

Nach achtzehn Monaten der Vorbereitung und For-schung hatte er damit begonnen, abends und nachts ander Genmaschine zu arbeiten. Mit Hilfe des Computerskonstruierte er Basen-Sequenzen, um Codons zu erhal-ten, die ihrerseits die Grundlage für einfache DNA-RNA-Protein-Abfolgen bildeten.

Die ersten dieser Ketten hatte er als Plasmide in Koli-bakterien eingeführt. Die Kolibakterien hatten die Plas-mide absorbiert. Bei der Zellteilung hatten die Bakterienauch die Plasmide dupliziert und an andere Zellen wei-tergegeben. In der kritischen Phase der Arbeit hatte Ver-gil die virale reverse Transkriptase dazu benutzt, eineRückkoppelungsschleife zwischen RNA und DNA zu ge-

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nerieren. Selbst die ersten und primitivsten der so be-handelten Bakterien hatten Ribosomen als Codier- undLeseelemente und die RNA als auszulesendes und zu be-schreibendes »Magnetband« verwendet. Mit Hilfe derRückkoppelungsschleife hatten die Zellen ihr eigenes Ge-dächtnis entwickeln können und die Fähigkeit herausge-bildet, die aus der Umgebung aufgenommenen Informa-tionen zu verarbeiten und entsprechend zu agieren. Dieeigentliche Überraschung hatte er erlebt, als er die vonihm veränderten Mikroben getestet hatte. Selbst die DNAder Bakterien verfügte im Vergleich zu den von Men-schen produzierten Computern über eine gewaltige Re-chenkapazität. Vergil brauchte nichts anderes zu tun, alsdas zu nutzen, was bereits vorhanden war, und musstenur winzige Anstöße geben.

Mehr als einmal beschlich ihn das Gefühl, dass seineArbeit allzu leicht voranging – dass er in Wirklichkeiteher Diener als Meister der Schöpfung war. Vor allem, alser merkte, dass die Moleküle sich wie von selbst richtigordneten. Und wenn dabei einmal ein Fehler auftrat, er-kannte er sofort, was er falsch gemacht hatte und wie die-ser zu korrigieren war.

Doch am unheimlichsten war der Augenblick, als ermerkte, dass er weit mehr schuf als winzige Computer.Sobald er den Prozess, also die genetischen Sequenzenin Gang gesetzt hatte, die für die neue Zusammenset-zung und Reproduktion der DNA-Abschnitte sorgten, be-gannen die Zellen als autonome Einheiten zu agieren. Siefingen an zu »denken« und bildeten komplexere »Ge-hirne« heraus.

Die ersten von ihm veränderten Kolibakterien hattenlediglich über die Lernkapazität von Plattwürmern ver-fügt. Er hatte sie einfach konstruierte, T-förmige Laby-rinthe durchlaufen lassen und mit Zucker belohnt. Es

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