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LIEBE UND PERSON MAX SCHELERS VERSUCH EINES .. PHÄNOMENOLOGISCHEN" PERSONALISMUS

Liebe und Person: Max Schelers Versuch Eines â€Ph¤nomenologischen†Personalismus

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LIEBE UND PERSON

MAX SCHELERS VERSUCH EINES .. PHÄNOMENOLOGISCHEN" PERSONALISMUS

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HEINZ LEONARDY

LIEBE UND PERSON

MAX SCHELERS VERSUCH EINES

"PHÄNOMENOLOGISCHEN" PERSONALISMUS

11 MARTINUS NIJHOFF I THE HAGUE I 1976

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© 1976 by Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands. All rights reserved, including the right to translate or to reproduce this book or parts thereof in any form.

ISBN-13: 978-90-247-1796-5 DOI: 10.1007/978-94-010-13 76-5

e-ISBN-13: 978-94-010-1376-5

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INHALTSÜBERSICHT

EINLEITUNG

1. Der Autor und sein Werk 2. Das Problem der Quellen in Schelers Philosophie 11

a. Scheler und Husserl 11 b. Andere Quellen 17

3. Die neuere Scheler-Forschung 19 4. Das Zentralproblem der Schelerschen Philosophie 23 5. Die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung 25 6. Schelers Schriften und die bestehenden

Bibliographien 30

KAPITEL I : SCHELER ALS PHÄNOMENOLOGE. EINE ALLGEMEINE EINFÜHRUNG IN SEINE "EINSTELLUNG" 35

1. Die Phänomenologie Edmund Husserls 37 2. Max Schelers "eigener Weg" in der Phänomenologie 41

a. Die phänomenologische Erfahrung 43 b. Die phänomenologische Reduktion 47 c. Das Realitätsmoment 52 d. Die Trennbarkeit von Dasein und Sosein in der Erkenntnis 55 e. Die Phänomenologie des emotionalen Lebens und die phäno-

menologische Erkenntnis 58 f. Die phänomenologische Haltung 63 g. Schelers Phänomenologie als Ontologie 65

KAPITEL 11 : DIE LIEBE 69

1. Phänomenologische Bestimmungen der Liebe 72 2. Die Liebe als wertentdeckende Bewegung. Das Verhältnis der

Liebe zur Wertewelt 76

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VI INHALTSÜBERSICHT

a. Die schöpferische Bedeutung der Liebe 79 b. Wann ist Liebe ein sittlich wertvoller Akt? 82

3. Liebe und Mitgefühl 85 4. Liebe und Trieb 91 5. Liebe und Erkenntnis. - Die Liebe als nicht-intellektuelle Grund-

potenz 94 6. Die Liebesarten 103 7. Die christliche Liebe 108

KAPITEL III : DIE PERSON 115

1. Die Wesensdefinition der Person 126 2. Die Person als Aktsubstanz 134 3. Die Aktsubstanz als ordo amoris 143 4. Die Individualität bzw. die Individualisierung der Person 150 5. Person und Freiheit 156 6. Das anschauende und das wertende Verhältnis des personalen

Geistes zur Welt. Person und Wahrheit - Person und Wert 167 7. Die Personerkenntnis im liebegeleiteten Verstehen und im

Mitvollzug 177 8. Die Person als Gottsucher 186

KAPITEL IV : SCHELERS ETHISCHER PERSONALISMUS 194

1. Allgemeine Überlegungen 194 a. Herausragende Aspekte des Schelerschen Personalismus 194 b. Personalismus - Philosophie oder Nicht-Philosophie? 198 c. Schelers Personalismus und das Husserlsche Ideal der

Philosophie als strenger Wissenschaft 200 d. Systemlosigkeit? 204 e. Zu Schelers Personlehre 206

2. Der Dualismus in Schelers Philosophie der Person und seine Ausweitung auf die metaphysische und religionsphilosophische Ebene 217

3. Schelers Personalismus als Solidarismus 233

ZUSAMMENFASSENDE SCHLUßFOLGERUNGEN 250

BIBLIOGRAPHIE 261

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VORWORT

Die hundertste Wiederkehr des Geburtstages Max Schelers war im Jahre 1974 der Anlaß zu zahlreichen Gelegenheitsveröffentlichungen, die jedoch wahrscheinlich lediglich als ein kurzes Auffiammen des Interesses an der Philosophie dieses Denkers eingeschätzt werden dürfen. Sowohl die Reichhaltigkeit wie die Vielseitigkeit seines Werkes dürfte der vornehmlichste Grund für die Tatsache sein, daß nur wenige Denker und um Darstellung bzw. Interpretation bemühte Forscher sich ein­gehend und umfassend mit Schelers Philosophie befaßt haben. Hinzu­kommt die Unvollendetheit dieses Schaffens, die einerseits auf seinen frühen Tod zurückzuführen ist, die andererseits aber wesentlich in der Eigenart seines Philosophierens verankert ist. Es besteht jedoch die berechtigte Hoffnung, daß die Herausgabe des unveröffentlichten Nach­lasses diese Unvollendetheit zwar nicht aufheben, sie aber in ihren Grenzen präziser als bisher möglich umreißen wird, und dies insbeson­dere in bezug auf die von ihm geplante Metaphysik und Anthropologie.

Vorliegender Arbeit lag der Versuch zugrunde, zwei der wesentlich­sten Grundpfeiler dieser Philosophie freizulegen und somit zur Ausar­beitung der diesem Denken "noch fehlenden architektonischen Ordnung" beizutragen.

Abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen für den Druck wurde diese Arbeit im Juni 1974 von der Philosophischen Fakultät der Universite Catholique de Louvain als Doktoratsthese angenommen. Für die Ausarbeitung dieser Dissertation steht der Autor in tiefster Dankesschuld vor allem bei seinem Promotor, Herrn Professor Dr. Jacques Etienne, der ihn mit wissenschaftlichem Rat, philosophischer Weitsichtigkeit und persönlicher Anteilnahme fortdauernd begleitet hat. Sein Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Jacques Taminiaux und dem inzwischen verstorbenen Professor Dr. H. L. Van Breda, Direktor des Husserl-Archivs, sowie seinem Nachfolger, Herrn Professor Dr. S. IJsseling, für die Einführung in die phänomenologische Bewegung und in die phänomenologische Welt. Ebenso ist er dem Institut Superieur de Philosophie zu großem Dank verpflichtet, wie auch dem Verlage Martinus Nijhoff für sein Entgegenkommen mit Bezug auf die Druckle­gung.

Löwen (Belgien), im Dezember 1975

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EINLEITUNG

1. Der Autor und sein Werk

Versucht man, den heute weitverbreiteten Vergleich zwischen Philo­sophie - der Geschichte der Philosophie in ihrer Gesamtheit wie auch jeder einzelnen Philosophie - und einem Weg auf die Philosophie Max Schelers anzuwenden, ist man wohl kaum geneigt, sie mit dem Meßkirchner Feldweg zu· vergleichen, vielleicht schon eher mit einem der "Holzwege", die "meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören"; wahrscheinlich aber ist der aufschlußreichste Vergleich derjenige der Schelerschen Philosophie mit jenen Kölner Straßen, von denen Heinrich Böll in seiner Erzählung "Entfernung von der Truppe" sagt, daß Nietz­sche hier scheiterte, Scheler aber gedieh, in die Nietzsche hineingeraten, in denen der späte Scheler aber ganz zu Hause war 1. Dieser Vergleich zielt einerseits auf die Herausstreichung der außerordentlichen Viel­wegigkeit bzw. Vielseitigkeit dieser Philosophie: und hier sei an erster Stelle erwähnt die fast alle Gebiete der Philosophie umfassende Reich­haltigkeit der Thematik, die sich von der - bisher nicht veröffentlich­ten - Logik über die Erkenntnistheorie, Ethik, Anthropologie, Wissens­soziologie, Metaphysik bis hin zur Religionsphilosophie erstreckt (wobei die außerphilosophischen Schriften wie z.B. seine Kriegsbücher und seine kulturpolitischen Werke noch hinzukommen); zweitens sei hiermit angesprochen die Vielseitigkeit der Methode: wird Scheler allgemeinverbreitet der phänomenologischen Bewegung zugeordnet, so heißt dies jedoch nicht, daß er sich nur an diese Methode bzw. Ein­stellung gehalten hat; er überschritt die Grenzen dieser Einstellung,

1 Vgl. BÖLL Heinrich, Als der Krieg ausbrach. Erzählungen I (DTV 399), München, 1965, S. 209 und S. 212. In einer späteren Ausgabe dieser Erzählung finden wir den Namen Scheler durch "ein späterer Philosoph" ersetzt.

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2 EINLEITUNG

sobald er glaubte, daß diese Einstellung dem von ihm behandelten Thema nicht gerecht werden könne (die vorliegende Arbeit kann in dieser Hinsicht als Beispiel dienen). Sowohl sein Arbeitsfeld wie seine Arbeitsweise gingen in alle Richtungen. Dies hat zur Folge, daß wir bei Scheler auch eine Vielfalt von Darstellungsarten vorfinden : einmal die typische Ausdrucksweise des akademischen Philosophen, womit die auf Schönheiten der Sprache verzichtende subtile Wirklichkeits­oder Begriffsanalyse gemeint ist; zum anderen die vom gehobenen Journalismus nicht weit entfernte Darstellungsart der mit dem Tages­geschehen eng verbundenen und für das breite Publikum bestimmten Schriften und Vorträge; und dazwischen Manifestationen eines Stils, der durch Glanz. und Pathos das Gewicht der denkerischen Leistung zu unterstreichen sucht und doch große philosophische Zusammenhänge zum Ausdruck bringt 2.

Andererseits soll dieser Vergleich eine gewisse Mittelpunkt- und Richtungslosigkeit ausdrücken, die aber stets begleitet ist von einem starken Hang zur Hierarschisierung, vom Willen, Ordnung in das Chaos der Welt und des Geistes zu bringen. Und dies führt uns notwendiger­weise zu der Persönlichkeit Max Schelers, denn wie bei wohl kaum einem anderen Denker sind Leben und Werk auf solch innige Weise verbunden, und wir wagen sogar die Behauptung, daß dem Forscher, der sich nicht mehr oder weniger intensiv mit Schelers Leben befaßt hat, das volle Verständnis der Schelerschen Gesamtlehre nie gelingen wird. Der Interpret muß mit diesem Leben Rechnung tragen, will er nicht die diesen Schriften inhärente Leidenschaft und geistige Quellkraft verlieren. Denn Scheler war viel mehr geistiger Entdecker als systemati­scher Forscher: der Ausgangspunkt seines denkerischen Lebens war weder das cartesianische Dubitare noch das kantische Cogitare, sondern das Thaumazein, das Staunen darüber, "daß überhaupt etwas ist und nicht lieber nichts". Bezeichnend in dieser Hinsicht ist schon sein Stil, diese klar und einfach beginnenden, dann meist aber sich immer mehr anfüllenden und schließlich überfüllten Sätze, worin sich sein Gedanken­gang, d.h. die immer neu aufblitzenden Präzisionen, Nuancen und die zusätzlich auftretenden Einfälle, treffend spiegelt. Schelers eigentümlich geistige Kraft beruht eben nicht auf der hartnäckigen Durchführung eines wesentlichen Gedankens, sondern auf der Weite seiner reichbegab­ten Person. Diesem sinnlich ständig suchenden Menschen, der den

I Vgl. KANTHACK Katharina, Max Scheler. Zur Krisis der Ehrfurcht, BerIin­Hannover, 1948, S. 27.

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EINLEITUNG 3

Nöten seiner zerrütteten Zeit engstens verbunden war, entspricht ein geistiges rastloses Unterwegssein, Empfänglich- und Beeindrucktsein, das nie zur Ruhe kommt. Und deshalb irren sich wahrscheinlich dieje­nigen Forscher, die den "echten" Scheler in einer bestimmten Lehre oder einer bestimmten Periode fixieren wollen; seine Echtheit liegt eben in dieser "unbodenständigen Aufgeschlossenheit für das Problematische im modernen Dasein" 3. - Aber auch hier genau liegt unserer Ansicht nach das Faszinierende, das unser Interesse fesselnde und mitreißende Element der Schelerschen Philosophie, von der Ricoeur sagt, daß sie für ihn "la grande tentation" darstelle. Verblüffende Plastizität und übergewöhnliche Aufnahmefähigkeit charakterisieren dieses Werk, gepaart mit einem ständigen Suchen nach Ordnung : aller Fanatismus, der alle Werte einem einzigen opfern will, und aller Relativismus, der alle Werte auf die gleiche Stufe stellen will, werden strikt verworfen. Sowohl im Menschen wie im Werk stehen sich bei Scheler fortlaufend gegenüber das apollonische und das dionysische Moment : der Geist ver­sucht, wenn auch nicht immer mit Erfolg, die außergewöhnliche emo­tionale Erlebnisfahigkeit einer stark vitalgefärbten und für alles Geschehen und Geschriebene offene Natur in ihre Schranken zu verweisen, was für den Philosophen bedeutet, daß er sie zu transzendieren versucht. Interessant in dieser Hinsicht erscheint uns die Charakterisierung Schelers als des größten "animal philosophieum", als der "bestia cupidissima rerum novarum" 4. Diese unbeschränkte Rezeptionsfähigkeit, die aber keinesfalls als Eklektismus angesehen werden darf, diese Feinfühligkeit für alle Zustände des menschlichen Lebens, führt aber mit sich, daß für Scheler der Wille zur Systematisierung und die kritische Überprüfung der auf diese Weise gewonnenen Auffassungen erst an die zweite Stelle treten, obwohl er immer wieder nach einem Zusammenführen der beiden seine Persönlichkeit bewegenden Pole gesucht hat: zwischen dem kon­kreten, dem Zeitgeist eng verbundenen Leben und dem dieses Leben immer wieder zu transzendieren suchenden ewigen Logos.

Angesprochen sei innerhalb dieses Vergleiches auch noch anekdotisch der überlieferte Schelersche Vergleich seiner Philosophie mit einem Wegweiser, der die Spannung zwischen diesen beiden Polen und die Spannung zwischen seinem Leben und seinem Werk unserer Ansicht

8 LÖWITH Karl, Max Seheler und das Problem einer philosophischen Anthropologie, in Theologische Rundschau N.F. 7 (1935), S. 352.

4 HElNEMANN Fritz, Neue Wege der Philosophie. Geist - Leben - Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig, 1929, S. 349-350.

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4 EINLEITUNG

nach zutreffend wiederspiegelt : als Wegweiser für das geistige Werden der Menschen wollte er sich verstanden wissen, als Wegweiser aber, der selbst nicht dahin geht, wohin er zeigt.

Infolge der engen Verknüpfheit von Schelers Leben und Werk scheint es uns unumgänglich, am Anfang dieser Arbeit kurz auf Schelers Lebens­lauf einzugehen. Dies ausführlich zu tun scheint uns nicht vonnöten, da jeder Scheler-Forscher mit dem dieses Thema eingehend behandelnden Werk von J.R. Staude 5 vertraut sein dürfte, das vom biographischen Standpunkt die bisher beste Übersicht bietet.

Als Sohn einer jüdischen Mutter und eines kurz vorher mit seiner Frau aus Erfurt ausgewanderten protestantischen ehemaligen preußi­schen Gebietsverwalters wurde Max Scheler am 22. August 1874 6 zu München geboren. Trotz der Versuche seiner Mutter und seines Onkels, ihn im jüdischen Glauben zu erziehen, wechselte er schon im Alter von 14 Jahren zum katholischen Glauben über, und von diesem Zeitpunkt an wird sein Verhältnis zum Katholizismus verschiedene Stadien durch­laufen, zwischen Annäherung, Entfernung, abermaliger Annäherung und endgültiger (?) Entfernung schwankend; dieses Verhältnis darf als kennzeichnend für eine gewisse Unbeständigkeit Schelers angesehen werden und wird auch nicht ohne Einfluß auf seine Lehre sein, wie sich später zeigen wird.

Nach Abschluß des humanistischen Gymnasiums begann er 1893 sein Hochschulstudium an der medizinischen Fakultät der Universität München, wo sein Privatleben ihm aber nur wenig Zeit fürs Studium ließ. Denn in diese Zeit fällt seine Bekanntschaft mit Amelie von Dewitz, der er in 1894 nach Berlin folgen und die er dort heiraten wird. Schelers Verhältnis zu Frauen muß als ein weiterer wichtiger Faktor in seinem Leben angesehen werden, da sie seine akademische Karriere teilweise mitbeeinflußt haben und Spannungen in seinem Leben verursacht haben, die in seinem Werk ihren Niederschlag finden. In Berlin studierte

5 STAUDE John Raphael, Max Scheler 1874-1924. An 1ntellectual Portrait, New­York - London, 1967.

6 Die hiervon abweichenden Angaben über Schelers Geburtsjahr dürfen zweifellos als falsch angesehen werden, so z.B. ÜBERWEG Friedrich, Grundriß der Geschichte der Philosophie. IV. Teil: Die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts und der Gegen­wart, 12. Aufi., BerIin, 1923, der aufS. 319 das Jahr 1875 angibt, sowie EISLER Rudolf, Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker, Berlin, 1912, der 1871

vermerkt (S. 625). Auch Schelers eigene Angabe - 1873 - im "Lebensabriß" zu seiner Dissertation "Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien" (S. 142) muß als Druckfehler angesehen werden, der in der Neuausgabe dieser Schrift in Frühe Schriften, S. 160 verbessert worden ist.

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EINLEITUNG 5

Scheler Philosophie und Soziologie, doch das intellektuelle Klima dieser industriellen Großstadt vertrieb ihn schnell von dort, und es scheint der Wunsch gewesen zu sein, bei dem damals berühmten Philosophen Rudolf Eucken zu studieren, der ihn im Jahre 1895 nach Jena übersiedeln ließ. Jedenfalls wurde er sofort nach seiner Ankunft hier der protegierte Schüler dieses Philosophen, der sich vor allem der Religions- und Kultur­philosophie und zwar unter idealistischen Voraussetzungen widmete. Mehr als Euckens eigentliche Philosophie haben aber wahrscheinlich zwei andere Faktoren das Schelersche Denken beeinflußt: erstens die Tatsache, daß für diesen Philosophen alle philosophischen Fragen sich um die eine Frage nach der Stellung des Menschen im Universum zu drehen hatten, und zweitens seine Überzeugung, daß sich der Philosoph nicht abseits vom Weltgeschehen zu bewegen habe, sondern versuchen müsse, dieses Geschehen selbst mitzubeeinflussen.

Im Jahre 1897 promovierte er bei Eucken mit der Arbeit Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien, wo er eingehend die strikte Autonomie der Logik und der Ethik, des Wahren und des Guten aufzuweisen sucht, und wo schon die ersten Ansätze zu seiner Lehre vom emotionalen Leben zu finden sind; und 1899 habilitierte er sich mit der Schrift Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philo­sophischen Methodik, die vor allem der Herausstreichung der Auto­nomie des Geistes gegenüber aller Psychologie gewidmet war. Bis 1907 dozierte er in Jena als Privatdozent Ethik und Geschichte der Philo­sophie, doch das entscheidenste und richtunggebende Ereignis dieser Jahre ist die Begegnung mit Edmund Husserl in Halle im Jahre 1901. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung dieser Begegnung für Schelers Werdegang werden wir dem Verhältnis Husserl-Scheler einen eigenen Abschnitt widmen. Sie war jedenfalls so bedeutend, daß er 1906 ein schon halbgedrucktes größeres Fragment über Logik aus dem Druck zurückzog: diese Tatsache allein scheint uns ein Beweis dafür zu sein, daß wir hier an einem Wendepunkt seines philoso­phischen Schaffens stehen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang scheint uns die Tatsache, daß diese Begegnung mit Husserl Sche1er auch zur Lektüre von Bergson geführt hat, dessen Intuitions-Theorie einen nachhaltigen Eindruck auf ihn hinterlassen hat - eine Beeinflussung, auf die man bisher kaum eingegangen ist und die unserer Ansicht nach eingehend untersucht werden sollte.

Anfang 1907 verließ er Jena, und es scheint, daß er hierzu aus persön­lich-sentimentalen Gründen gezwungen worden war; jedenfalls wurde

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6 EINLEITUNG

ihm auf Husserls Fürsprache im Wintersemester 1907-1908 eine Assisten­tenstelle bei Theodor Lipps in München zuteil. Das geistig-rege Klima dieser Stadt entsprach in großem Maße den Erwartungen unseres Philo­sophen, und seine Bekanntschaft mit dem sog. "Stefan-George-Kreis" (u.a. Alfred Schuler, Ludwig Klages, Theodor Lessing. "Stefan-George­Kreis" wird hier sehr breit ausgelegt), mag als einer der Grundsteine seiner späteren philosophischen Entwicklung angesehen werden 7. In diese Zeit fällt ebenfalls die Loslösung von seiner ersten Frau und die Bekannt­schaft mit Maerit Furtwaengler, die später seine zweite Frau werden wird. Auch lernte er 1907 Dietrich von Hildebrand kennen, der einer seiner eifrigsten Schüler und sein enger Vertrauter wurde. Doch auch in München wurden ihm skandal umwitterte Geschehnisse zum Ver­hängnis, so daß ihm von seiten der Universität die "venia legendi" entzogen wurde und er im Jahre 1911 von München nach Göttingen übersiedelte, wo er zu dem um Husserl und Adolf Reinach gescharten Phänomenologenkreis stieß. Schon bald versammelte er selbst um sich eine kleine Gruppe von Phänomenologen - er hielt seine Privatvorlesun­gen in einem Cafe -, was Husserl nicht sehr gerne sah: er wurde dennoch einer der Mitherausgeber des vom "Meister" gegründeten Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung. Die Spannung zwischen den beiden wurde bald so groß, daß Scheler am Ende des Semes­ters wieder nach München zurückzog, wo er nun als freier Schriftsteller versuchte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. In diesen Jahren entstand der Formalismus (1913), der allgemein und zu Recht als sein Hauptwerk angesehen wird. Während der Kriegsjahre befaßte er sich in erster Linie mit dem Weltgeschehen und schrieb die bis heute viel umstrittenen sog. "Kriegsbücher" , wovon nur die zwei wichtigsten hier erwähnt werden sollen: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg (1915) und Krieg und Aufbau (1916).

Beginn 1919 folgte er einem Ruf an das Soziologische Institut der neugegründeten Universität Köln, den er höchstwahrscheinlich seiner in Deutschland allgemein bekannten positiven Stellung zum Katholi­zismus zu verdanken hatte: in diesen Jahren entstand dann auch sein religionsphilosophisch bedeutendstes Werk: Vom Ewigen im Menschen (1921); zudem beschäftigte er sich zu dieser Zeit eingehend mit Hoch-

7 Ein ausgezeichnetes "Stimmungsbild" dieser Jahre in München bietet das Buch von Franziska zu REVENTLOW, Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (DTV 629), München, 1969, sowie LESSING Theodor, Einmal und nie wieder, Güters!oh, 1969.

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EINLEITUNG 7

schul- bzw. erziehungspolitischen und kulturpolitischen sowie soziolo­gischen Fragen. 1922-1923 erschien die zweite überarbeitete Auflage seines Sympathie-Buches.

Zwischen 1922 und 1924 vollzog zieh im Schelerschen Denken ein grundlegender Umschwung, und es ist bis heute nicht eindeutig geklärt, auf welche Faktoren dieser Umschwung zurückzuführen ist. Zwei Erklärungen bzw. Auslegungen sind unserer Ansicht nach auszu­schließen: die erste besteht darin, diesen Umschwung zu minimisieren und ihn als eine mehr oder weniger "normale" Entwicklung der Scheler­sehen Gedanken hinzustellen. Scheler selbst hat verschiedentlich ver­sucht, diesen Umschwung (auch wir möchten den Begriff "Bruch" vermeiden) so hinzustellen; er sieht sich jedoch gezwungen zuzugeben, daß sich vieles "tiefgehend geändert" 8 hat. Auch F. Hammer scheint diesen Umschwung so auslegen zu wollen: "Was in den letzten Jahren in überspitzter und verzerrter Form zum Ausbruch kam, war eben schon vielfach keimhaft in den Anfängen Schelers angelegt" 9. - Eine andere "Erklärung" muß unserer Meinung nach strikt zurückgewiesen werden: es ist versucht worden, den Übergang vom katholischen Denken zur panentheistischen Auffassungsweise aus einer Anwendung des Ressen­timentbegriffs auf Scheler selbst abzuleiten: da die katholische Kirche ihm nicht gestattete, eine seiner Schülerinnen zu heiraten, er diesen Schritt dennoch vollzog, sei eine Spannung und ein Bedürfnis an Selbstrechtfertigung entstanden, die sich zuerst nur in einem Angriff Schelers auf die katholische Scheidungslehre ausgedrückt habe, dann sich aber zu einer Ablehnung der katholischen Gesamtlehre ausgeweitet habe 10. Mögen diese nichtphilosophischen und sein persönliches Schick­sal bedingende Momente auch eine gewisse Rolle gespielt haben, die "Erklärung" für diesen Umschwung sind sie jedenfalls nicht. - Fest steht, daß Scheler in diesen Jahren sich immer mehr von der katholischen Kirche und ihrem Glauben loslöst. Obzwar er - nach eigener Aussage

8 Formalismus, Vorwort zur dritten Auflage, S. 17. Andererseits spricht er in Die Stellung des Menschen im Kosmos von einer "Entwicklung" seiner Ansichten (S. 5), und Nicolai Hartmann sagt in seinem Gedenkartikel anläßlich des Todes von Scheler, daß dieser Umschwung, der vielen als Bruch erscheinen mag, "schlichte philosophische Folgerichtigkeit" war (Max Scheler t, in Kant-Studien 33 (1928), S. XIV.

9 HAMMER Felix, Theonome Anthropologie? Max Schelers Menschenbild und seine Grenzen (Phaenomenologica Bd. 45), Den Haag, 1972, S. 18.

10 Vgl. OESTERREICHER John M., Sept philosoph es jui/s devant le Christ. Trad. de l'americain par M. J. Berand-ViJlars, Paris, 1955, S. 313-317.

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8 EINLEITUNG

und wie uns scheint berechtigterweise - erklärt, daß er eigentlich nie nach den strengen Maßen der Theologie der römischen Kirche em "gläubiger Katholik" gewesen war, gibt er zu, daß er sich in der Zeit vor 1922 "dem kirchlichen Gedankensystem immerhin erheblich näher als heute" 11 stand.

Wie schon angedeutet, fiel in diese Zeit (1922-24) seine Bekanntschaft mit Maria Scheu, die seine dritte Frau und - nach Schelers Tod - die Herausgeberin seiner Gesammelten Werke werden wird. Trotz der Trennung blieb er jedoch bis zum Ende seines Lebens in brieflichem Kon­takt mit Maerit Furtwaengler, und die Veröffentlichung dieser Korres­pondenz scheint uns außerordentlich wünschenswert, da sie vom biogra­phischen Standpunkt wahrscheinlich sehr aufschlußreich ist. Diese Jahre dürfen auch - wissenschaftlich gesehen - als sehr "fruchtbare" Jahre angesehen werden, da die Ausarbeitung seiner wissenssoziolo­gischen Thesen (Die Wissensformen und die Gesellschaft) hier abge­schlossen wird, und die ersten Ansätze zu seiner geplanten "Metaphysik" und der ins Auge gefaßten "Anthropologie" (wozu Die Stellung des Menschen im Kosmos eine Einleitung darstellt) große Fortschritte zu verzeichnen haben. Letztere Arbeiten sind bisher noch nicht veröffent­licht, doch besteht die berechtigte Hoffnung, daß sie nicht mehr lange der philosophischen Öffentlichkeit vorenthalten bleiben werden. Er hat bis zu seinem Lebensende diese Ausarbeitungen weitergeführt. Sein Ruf nach Frankfurt (1928) sollte die Krönung seiner philosophischen Laufbahn sein, doch sein jäher, wenn auch nicht ganz unerwarteter Tod unterbrach diese Laufbahn, bevor er in Frankfurt seine Lehrtätigkeit aufnehmen konnte. Er starb am 13. Mai 1928 und erhielt in Köln ein katholisches Begräbnis.

Schon angesprochen wurde innerhalb dieser biographischen Über­sicht· das Problem der "Phasen" oder "Perioden" in Max Schelers Philosophie. Man kann die hierüber bestehenden Ansichten in drei Kategorien aufteilen: die erste weigert ganz einfach, von "Phasen" in Schelers Denken zu sprechen und legt den Nachdruck auf das Blei­bende und Durchharrende, das durchaus in seiner Philosophie zu finden ist; sie sprechen von der "inneren Kontinuität der Person und der An­schauung" 12, sie suchen durch die systematische Erarbeitung eines Zentral begriffes das alle einzelnen Stadien dieses Denkens einigende

11 Schriften, S. 224. 12 HAECKER Theodor, Geist und Leben. Zum Problem Max Scheler, in Hochland,

23 (1925/26), Bd. 2, S. 136.

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EINLEITUNG 9

Motiv zu erfassen und argumentieren: "Das dynamisch-sympathetische Moment in Sein, das implizit von Anfang an Schelers Werk die Grund­richtung gibt, gelangt in ihm zu einer fortschreitenden begrifflichen Entfaltung, welche die letzten metaphysischen Entwürfe Schelers als Resultat seiner vorhergehenden Philosophie anzusprechen legitimiert, als Resultat in dem gen auen Sinne eines Endertrages, den das innere Telos des Gedankens aus sich hervorbringt" 13. - Eine zweite Kategorie meint, das Schelersche Denken in zwei Perioden aufteilen zu müssen; sie nehmen einen Bruch in Schelers Philosophie an, den sie allgemein um das Jahr 1922 situieren, und haben oft die Tendenz, das Schelersche philosophische Schaffen nach diesem Zeitpunkt als dekadent, als "Zer­fall" auzusehen (letztere urteilen meistens von einem streng katholischen Standpunkt): "Es liegt ein Bruch in seiner Philosophie vor, wie er radikaler nicht gedacht werden kann, ein Bruch, an dem nicht zu deuten ist. Zu verstehen ist derselbe nur aus dem Menschen Scheler heraus mit der ganzen Tragik seiner Natur und seines Lebensschicksals" 14.

War vor 1922 die vitale Sphäre nur der Unterbau des Geistigen, sei nachher das Geistige dem triebhaft Vitalen untergeordnet; auch könne man vorher von einem in engem Sachkontakt streng phänomenologischen Philosophieren sprechen, während nachher die Phänomenologie ver­gewaltigt werde.

Eine dritte Kategorie, und unsere biographische Übersicht ließ erkennen, daß wir uns dieser Ansicht anschließen, spricht zwar von drei Phasen oder Perioden in Schelers Philosophie, nimmt aber keinen eigentlichen Bruch an. Eine erste Phase kann man als die "Jenaer" Phase bezeichnen, wo Schelers Werke unter dem Einfluß Rudolf Euckens stark idealistische Züge aufweisen. Sie nimmt ihr Ende etwa gegen 1902-1904, nachdem die Begegnung mit Husserl und das eingehende Studium der Logischen Untersuchungen auf Schelers Gedankenwelt einen entscheidenden Einfluß gewonnen haben. Diesen Umschwung könnte man unserer Ansicht nach noch am ehesten als "Bruch" bezeich­nen, zumindest was die Methodik bzw. Einstellung betrifft: "Die erste These unter den 12 Thesen <der Habilitationsschrift>, die am Schlusse der Schrift ihren Gedankeninhalt kurz zusammenfassen, bestreitet noch jedes ,feste, in sich evidente Datum', von welchem die

13 HÖLZEN Edmund, Liebe und Sein. Zum Problem der Metaphysik in der Emotional­philosophie Max Schelers (Heidelberg Phi!. Diss.), 0.0., 1953, S. III.

14 HILDEBRAND Dietrich von, Max Schelers Stellung zur katholischen Gedankenwelt, in Der Katholische Gedanke 1 (1928), S. 447.

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10 EINLEITUNG

Philosophie ausgehen könnte (die Prinzipien der formalen Logik ausge­nommen). Diesen Satz erkennt der Verfasser heute nicht mehr an" 15.

Was die Thematik betrifft, darf unserer Meinung nach keinesfalls von einem "Bruch" gesprochen werden, da die sich Scheler nach diesem Zeitpunkt stellenden philosophischen Probleme vielfach die gleichen ("ewigen") geblieben sind wie vor diesem Datum. - Die zweite Schaffens­periode, die sich von 1902-04 bis etwa 1922 erstreckt, wird oft als die "klassische" (wegen des Erscheinens seiner Hauptwerke Formalismus und Sympathie) oder die katholisch-phänomenologische charakterisiert, während die dritte Periode - den Umschwung von 1922 haben wir bereits dargestellt - als die "panentheistisch-metaphysische" bezeichnet wird. - Diese Einteilung von Schelers Philosophie soll nun keinesfalls besagen, daß wir das Beharrende und Bleibende in diesem Schaffen irgendwie leugnen wollen. In der vorliegenden Arbeit wird im Gegen­teil immer versucht werden, auf dieses Bleibende den Nachdruck zu legen, die Ansätze, d.h. die schon vorhandenen, mehr oder weniger laten­ten Tendenzen zu späteren Ansichten herauszustreichen: die Kontinuität in der - relativen - Diskontinuität soll aufgezeigt werden.

Gemessen an seinen Plänen (der Abschluß seiner "Metaphysik" und der "Anthropologie") ist sein Lebenswerk Fragment geblieben, doch sehen wir in diesem Werk mehr als nur ein Fragment, wenn wir das Geleistete in sich selbst nehmen, und uns scheint die Hoffnung berechtigt, daß die Veröffentlichung seines Nachlasses dieses Urteil bestätigen wird. Sein Werk ist nämlich nicht nur wegen des frühen Todes fragmentarisch geblieben; dies lag auch an seinem Charakter und an seiner Art, Philo­sophie zu betreiben. Heinrich Lützeler nennt ihn deshalb zutreffend einen "geistigen Entdecker" 16, dem es nicht gegeben war, zu besitzen und auszuformen. Für ihn war Erkennen nicht der Weg zum Besitz der Wahrheit, in der er dann ruhen könnte, sondern im Erkennen erschöpfte sich irgendwie sein Verhältnis zur Welt und zu den Dingen: Erkennen war für ihn "anschauliches Haben der Phänomene" 17. Er hatte die Gabe, aus verwickelten Zusammenhängen auf den ersten Griff das Wesentliche herauszuschälen; und sobald er dieses Wesentliche aufgedeckt zu haben glaubte, ließ er es wieder fallen und wandte sich anderen Entdeckungen

15 Die transzendentale und die psychologische Methode. Vorrede zur zweiten Auflage (1922), in Frühe Schriften, S. 201.

16 LÜTZELER Heinrich, Zu Max Schelers Persönlichkeit, in Hochland 26 (1928/29), Bd. I, S. 413.

17 HILDEBRAND Dietrich von, Max Schelers Stellung zur katholischen Gedankenwelt, op. eil., S. 450.

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EINLEITUNG 11

zu. So kommt es, daß wir in diesen Schriften eine Fülle von Intuitionen, von erschauten Wesenheiten und Wesenszusammenhängen vorfinden, die aber oft kaum und manchmal gar nicht weiter erforscht und auf ihre Begründung bzw. Grundlegung hin untersucht worden sind. Das Auf­zeigen war ihm das Wesentliche, die Grundlegung stand erst an zweiter Stelle. Das Verharren in einem Gegenstand, das sich von ihm Durch­dringenlassen lag ihm nicht: immer wieder drängte ihn seine außerge­wöhnliche Intuitionskraft weiter zu anderen Horizonten, oder wie Lützeler es ausdrückt, drängten "die Dinge gleichsam mit liebevoller Heftigkeit zu ihm" 18. Seine erhöhte Fähigkeit intensivsten Erfassens und philosophischer Aufnahmebereitschaft entsprach auch seiner Fähigkeit intensivsten Lebens: Philosophie strömte bei ihm sofort aus seiner Lebensfülle, und es gelang ihm auf diese Weise immer wieder, dem Flüchtigen im Erfassen das Ewige abzugewinnen. Er nahm die Welt so, wie sie sich ihm anbot; er gestattete der Welt, sich so zu zeigen, wie sie wirklich ist, mit all ihren Widersprüchen, und viele Widersprüche in seiner Philosophie sind unserer Ansicht nach darauf zurückzuführen, daß die sich dem Denken als Korrelat anbietende Wirklichkeit sich uns vielfach widersprüchlich gibt. So sah er in der Phänomenologie auch nicht an erster Stelle die Bewegung, welche der Philosophie zur "strengen Wissenschaft" die Möglichkeit gab, sie war ihm vielmehr das Rüstzeug, das seiner intuitiven Denkart entsprach. Der Ausgangspunkt alles Philo­sophierens war für ihn der direkte und lebendige Erlebniskontakt mit der Welt, sein eigenes In-der-Welt-sein; er befindet sich sofort inmitten einer unendlich reichhaltigen Welt sinnlicher und geistiger Objekte, die ihn, sein Herz und seine Leidenschaften in eine unaufhörliche Bewe­gung setzen.

2. Das Problem der Quellen in Sehelers Philosophie

a. Seheler und Husserl

Eine ausführliche Studie über das - philosophische wie persön­liche - Verhältnis zwischen Husserl und Scheler muß der Zukunft vorbehalten bleiben, da bis zum heutigen Zeitpunkt die wichtigsten Unterlagen zu diesem Thema der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich sind. Die im Husserl-Archiv zu Löwen eingesehene Korrespondenz zwischen beiden Philosophen erwies sich als wenig ergiebig : sie befaßt

18 LÜTZELER Heinrich, Zu Max Schelers Persönlichkeit, op. eil., S. 416.

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12 EINLEITUNG

sich hauptsächlich mit der Veröffentlichung des Formalismus im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung.Viel aufschlußreicher wird sein in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung der Randnotizen einerseits Husserls in Schelers Formalismus, andererseits Schelers in Husserls Ideen 1, sowie eventuell in dessen Logischen Untersuchungen und seiner Philosophie als strenge Wissenschaft. Ein Vergleich der ethi­schen Auffassungen beider Phänomenologen wird erst dann möglich sein, wenn Husserls Ethische Untersuchungen 19 dem philosophischen Publikum vorliegen.

Die erste Begegnung fand - wie schon erwähnt - gelegentlich eines bei Hans Vaihinger in Halle veranstalteten Festes im Jahre 1901 statt, und man darf wohl sagen, daß sich zwischen ihnen nie persönliche Bindungen entwickelt haben, die man als Freundschaft bezeichnen könnte. Wohl hat Husserl Scheler zweimal in schwierigen Situationen durch Empfehlungsschreiben geholfen: in 1907 zur Erlangung einer AssistentensteIle bei Theodor Lipps, und 1910, als Scheler die "venia legendi" entzogen worden war und er daran dachte, ins Ausland zu gehen. Das gemeinsame Semester in Göttingen (1911) hat die Beziehungen jedoch merklich abgekühlt, und von dieser Zeit an nimmt Husserl immer mehr Distanz zu dem in seinen Augen etwas zu lebensbejahenden Scheler. Denn es war unserer Ansicht nach vor allem eine charakterliche Unverträglichkeit, die in diesen Beziehungen die distanzierende Rolle spielte. Die entgegengesetzten Lebensauffassungen (im faktisch-prak­tischen Sinne) und Lebensführungen haben so etwas wie eine Freund­schaft nie zugelassen. Auch war Husserl vor allem ein zurückgezogen lebender Forscher und der Lehre nur wenig zugetan, während Scheler ein brillanter Redner war und Publikum zur Anregung nötig hatte (es scheint, daß viele seiner Aufzeichnungen in Cafes verfaßt worden sind).

Scheler beschreibt diese erste Begegnung und ihre Wirkung auf ihn mit folgenden Worten: "Als der Verfasser im Jahre 1901 in einer Gesell­schaft, die H. Vaihinger in Halle den Mitarbeitern der ,Kantstudien' gegeben hatte, Husserl zum erstenmal persönlich kennenlernte, entspann sich ein philosophisches Gespräch, das den Begriff der Anschauung und der Wahrnehmung betraf. Der Verfasser, unbefriedigt von der kantischen Philosophie, der er bis dahin nahestand ... , war zur Über­zeugung gekommen, daß der Gehalt des unserer Anschauung Gegebenen ursprünglich weit reicher sei als das, was durch sinnliche Bestände,

19 VgI. ROTH Alois, Edmund Husserls Ethische Untersuchungen. Dargestellt anhand seiner Vorlesungsmanuskripte (Phaenomenologica Bd. 7), Den Haag, 1960.

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EINLEITUNG 13

ihre genetischen Derivate und logische Einheitsformen an diesem Gehalt deckbar sei. Als er diese Meinung Husserl gegenüber äußerte und bemerkte, er sehe in dieser Einsicht ein neues fruchtbares Prinzip für den Aufbau der theoretischen Philosophie, bemerkte Husserl sofort, daß auch er in seinem neuen, demnächst erscheinenden Werke über Logik eine analoge Erweiterung des Anschauungsbegriffes auf die soge­nannte ,kategoriale Anschauung' vorgenommen habe. Von diesem Augenblick an rührt die geistige Verbindung, die in Zukunft zwischen Husserl und dem Verfasser bestand und für den Verfasser zo ungemein fruchtbar geworden ist" 20. - Dies scheint uns eine erste Tatsache: Scheler fühlt sich als Philosoph den Werken und der Phänomenologie Husserls tief verpflichtet 21, und er wird sich auch noch zu Husserl bekennen, als dieser sich schon lange von ihm abgewandt hat und ihn als "Antipoden" 22 bezeichnet.

Eine zweite Tatsache muß jedoch sofort dieser ersten hinzugefügt und immer gleichzeitig mit ihr ins Auge gefaßt werden: die philosophische Distanznahme gegenüber Husserl. So schreibt er im Vorwort zum Formalismus: "Das methodologische Bewußtsein von Einheit und Sinn der phänomenologischen Einstellung, welche die nach Weltanschau­ung und philosophisch-materialen Ansichten weit auseinandergehenden Mitarbeiter des Jahrbuches zusammenhält, verdanken wir den bedeuten­den Arbeiten Edmund Husserls. Auch diese Untersuchungen verdanken in dieser Hinsicht Wesentliches den Arbeiten des Herausgebers des Jahrbuches. Aber schon für den genaueren Begriff, in dem der Verfasser diese Einstellung versteht und vollzieht, um so mehr natürlich für ihre Anwendung auf die hier erörterten Problemgruppen, muß der Verfasser wie seine ausschließliche Verantwortlichkeit auch seine ausschließliche Autorschaft in jedem Punkt in Anspruch nehmen" 23. Und in der Einleitung zu seinem Artikel Phänomenologie und Erkenntnistheorie sagt er, daß "die folgenden Bemerkungen über Natur und Geist der Phänomenologie nur beanspruchen, die Ansichten des Verfassers

20 Die deutsche Philosophie der Gegenwart, in Sympathie, S. 308, 21 Die überlieferte Behauptung, er habe die phänomenologische Methode "selb­

ständig" gefunden (VgI. STEIN Edith, Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Das Leben Edith Steins: Kindheit und Jugend (EdUh Steins Werke Bd. VII), Löwen-Freiburg, 1965, S. 192) darf unserer Ansicht nach nicht wörtlich genommen werden.

2a HUSSERL Edmund, Briefe an Roman Ingarden. Mit Erläuterungen und Erinne­rungen an Husserl. Hrsg. von Roman Ingarden (Phaenomenologica Bd. 25), Den Haag, 1968, S. 67.

aa Formalismus, S. 11.

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14 EINLEITUNG

wiederzugeben" 24. und daß jeder Phänomenologe für die Theorie von der Natur dieser "Einstellung" gesondert die Verantwortung übernimmt und trägt. - Dies führt uns zu der Feststellung, daß Scheler sich nie als "Schüler Husserls" verstanden wissen wollte, und daß die Bezeich­nung "Schüler Husserls" als "völlig irreführend" 25 angesehen werden muß. Und diese Feststellung steht in engem Zusammenhang mit der Tatsache, daß es so etwas wie eine "phänomenologische Schule" eigent­lich nie gegeben hat, sondern nur eine Gruppe von Forschern, die eine gemeinsame Haltung und Einstellung gegenüber den philosophischen Problemen besitzt. Eine solche "Schule" war auch von Husserl nie bezweckt worden 26. Die phänomenologische Philosophie bestand aus einem Kreis von Personen, die sich nicht auf bestimmte Doktrinen, Sätze und Theoreme, sondern auf eine besondere Forschungsrichtung und -methode geeinigt hatten, auf einen gemeinsam zu beschreitenden Weg ("Weg" bedeutet hier ein Mehr-als-nur-Methode, da er zu etwas hinführt, was er selbst nicht mehr ist). In der Beantwortung sehr wesent­licher Fragen und selbst in der Auffassung und Methode der Phäno­menologie gehen die ihr nahestehenden Forscher oft weit auseinander, ohne dabei die fühlbare Einheit, die eben in dieser neuen Bewußtseins­haltung liegt, zu verlieren. Und nur durch fortgesetzte tJbung dieser Bewußtseinshaltung ist es einem Philosophen möglich, in die Ergebnisse der Phänomenologie tiefer einzudringen und selbst in ihr fortzuschreiten (Worin diese Bewußtseinshaltung besteht, wird das erste Kapitel dieser Arbeit zu klären versuchen). - Bezeichnend in dieser Hinsicht scheint uns die Schelersche Behauptung, daß der Erkenntniswert der in der phänomenologischen Einstellung gefundenen Sätze auf allen Gebieten der Philosophie von der Klärung der Frage nach dem allgemeinen Wesen der "Phänomenologie", von Angaben, was Phänomenologie ist und wolle, völlig unabhängig ist 27.

War er nicht im eigentlichen Sinne "Schüler" Husserls, so muß er jedoch als einer seiner vornehmlichsten "Mitstreiter an der phänomeno­logischen Front", oder, um es mit einem einfacheren Begriff auszu­drücken, als sein Mitphänomenologe (im Sinne des Mitdenkens) ange­sehen werden 28. Scheler "war sicher ... der nach Husserl bedeutendste

24 Nachlaß I, S. 379. 25 FRINGS Manfred S., Zur Phänomenologie der Lebensgemeinschaft (Zeitschrift

für philosophische Forschung, Beiheft 24), Meisenheim 1971, S. 68, Fußnote. 16 Vgl. sein Vorwort zum ersten Band des Jahrbuches für Philosophie und phäno­

menologische Forschung (1913), S. V.

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EINLEITUNG 15

Phänomenologe" 29, sagt Roman Ingarden und zielt dabei vor allem auf Schelers geistreiche Lebendigkeit und die Breite seiner Problematik. So wird allgemein neben Husserls Werken sein Formalismus als die selbständigste und originellste Arbeit der phänomenologischen Bewe­gung der ersten Generation angesehen, ein Werk, "das auf das gesamte Geistesleben der letzten Jahrzehnte vielleicht noch stärker eingewirkt hat als Husserls Ideen" 30. - Aber Scheler war nicht nur Phänomenologe oder, wie Spiegelberg es treffender ausdrückt, er war "mehr als ein Phänomenologe" 31, und seine Bedeutung für die Phänomenologie situiert sich vor allem auf dem Gebiet der Verbreitung und Bekannt­machung dieser Philosophie sowie die des "geistreichen Anregers".

Ein ausführlicher Vergleich zwischen Scheler und Husserl müßte jedenfalls von der folgenden Voraussetzung ausgehen: Während Husserl sich als Grundlagendenker verstand, standen bei Scheler die "Sachen selbst" immer im Vordergrund, und Methodenfragen interessierten ihn eigentlich nur in zweiter Linie. Die Grundkonzeption der Phäno­menologie war bei Beiden wesentlich verschieden: was für Husserl das Ergebnis langjähriger philosophischer Bemühungen war, bildete für Scheler eigentlich nur das Sprungbrett konkreter Sachforschung und die Techne schöpferischen Leistens. Aus diesem Grunde hat man auch Schelers Philosophie als "angewandte Phänomenologie" 32 bezeichnet, die bei vielen Forschern ein Gefühl der Unbefriedigtheit zurückläßt, da die letzte Begründung oft nur vergeblich gesucht wird. Wollte Husserl mit seiner Phänomenologie noch eine neue Wissenschaft begründen, war sie für Scheler ein Instrument, ein Werkzeug, das ihm erlaubte, sich den Sachen auf eine sehr direkte bzw. "voraussetzungslose" Weise zu nähern, um eine Antwort auf die wesentlichsten menschlichen Fragen geben zu können: so schwankt unserer Ansicht nach sein Werk dauernd zwischen einerseits strenggewollter Sachphilosophie und andererseits intuitivem Platonismus ("avide de toute sorte de realites, vivant dans une intuition polymorphe du reel", wie es sein Schüler P.L. Landsberg

27 Vgl. Nachlaß I, S. 379. 28 "The most original and dynamic of Husserl's early associates was Max Scheler"

(SPIEGELBERG Herbert, "Phenomenology", in Encyclopaedia Britannica, 1966-1972. 29 HUSSERL Edmund, Briefe an Roman Ingarden, op. eit., S. 121. so STEIN Edith, Aus dem Leben einer jüdischen Familie, op. cit., S. 181. S1 SPIEGELBERG Herbert, The Phenomenological Movement. A Historical Intro­

duction, Bd. I, 2. Aufl., 3. Nachdruck, Den Haag, 1971, S. 226. 32 STEGMÜLLER Wolfgang, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie (Kröner

Taschenbuchausgabe Bd. 308), 3. Aufl., Stuttgart, 1965, S. 96.

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16 EINLEITUNG

ausdrückt 33. - Die deutlichste Abgrenzung gegenüber Husserl vollzog Scheler mit seiner Stellungnahme in der Idealismus-Realismus-Frage, in der er - wie die meisten Phänomenologen der ersten Generation -die "scharfe Kurve zum Transzendentalismus und besonders zum trans­zendentalen Idealismus" 34 Husserls ablehnt. Nach der Begegnung mit dem "Meister" erkannte er seinen Weg des Philosophierens in "einer nich bewußtseinsimmanent und idealistisch (wie jetzt bei Husserl), sondern ontologisch und realistisch gewandten Untersuchung der nur durch unmittelbare evidente Anschauung zugänglichen Wesensbestände der Welt und des Geistes" 3ö. Diese zu jener Zeit unter den Husserl­Anhängern bzw. -Schülern weit verbreitete Ablehnung des transzenden­talen Idealismus zog eine immer größer werdende philosophische Ver­einsamung des "Meisters" mit sich: auf das Vp.rhältnis zu Scheler mag sie wohl keinen großen Einfluß mehr gehabt haben, da sich hier die Distanzierung schon länger vollzogen hatte; der von Husserl oft geäus­serte Vorwurf, seine Schüler würden in Halbheiten stecken bleiben und einem Mangel an Radikalismus unterliegen, darf wohl auch auf Scheler bezogen werden.

Das erste Kapitel dieser Arbeit wird versuchen, die wichtigsten Hinweise für einen Vergleich beider Philosophen über ihre Auffassungen und Deutungen der phänomenologischen Einstellung zu geben, wobei im Rahmen dieser Arbeit der Nachdruck vor allem auf Schelers "eigenen Weg in der Phänomenologie" liegen wird. Eine ausführliche Klärung dieses Vergleiches müßte aber unserer Ansicht nach von einem anderen Vergleich ausgehen: von dem Verhältnis beider Phänomenologen zur kantischen Philosophie; eine Arbeit, die für die Husserlsche Philosophie bereits vorliegt 36, für Schelers Philosophie aber nur ansatzweise vor­handen ist und in extenso unternommen werden sollte.

33 "Les uns <comme Scheler> s'efforcent a penetrer par une lumiere limitee les arcanes de la realite concrete et de la vie vecue. Les autres comme Husserl aspirent a la clarte absolue, a une region spirituelle qui precMe ou transcende l'humaine exis­tence". (LANDSBERG Paul-L., Husserl et l'idee de la philosophie, in Revue Internationale de Philosophie, premiere annee, n° 2, 15 janvier 1939, S. 321).

34 SPIEGELBERG Herbert, Alexander Pfänders Phänomenologie nebst einem Anhang: Texte zur phänomenologischen Philosophie. Aus dem Nachlaß, Den Haag, 1963, S. 11. Zu dieser Frage siehe auch Schelers Artikel Idealismus-Realismus (1927/28).

35 Die transzendentale und die psychologische Methode, Vorrede zur zweiten Auflage (1922), in Frühe Schriften, S. 201.

86 Vgl. KERN Iso, Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus (Phaenomenologica Bd. 16), Den Haag, 1964.

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EINLEITUNG 17

b. Andere Quellen

Die anderen empfangenen Einflüsse oder Quellen des Schelerschen Denkens aufzuzeigen und eindeutig freizulegen, ist eine unserer Meinung nach ungemein schwierigere Aufgabe als die Untersuchung des Husserl­Scheler-Verhältnisses, und sie ist hisher - wahrscheinlich eben wegen dieser Schwierigkeit - auch nur sehr bruchstückhaft unternommen worden. Die außergewöhnliche Schwierigkeit liegt unserer Ansicht nach begründet vor allem in der Schelerschen Arbeitsweise und seiner überdurchschnittlichen, aber eigenartigen Rezeptivität: die Aufnahme eines Gedankens war stets und sofort begleitet von seiner Einarbeitung in seine eigene Gedankenwelt, sodaß erstens oft der aufgenommene Gedanke kaum noch wiederzuerkennen ist, daß zweitens Scheler sofort "vergaß", daß es sich um einen übernommenen Gedanken handelt: "Es flogen ihm Ideen zu und arbeiteten in ihm weiter, ohne daß er selbst etwas von der Beeinflussung merkte" 37. Seine Arbeitsweise und seine geistige Einstellung brachten es mit sich, daß bei ihm die Quellen, aus denen er schöpfte, verblaßten. Hinzu kommt bei ihm eine gewisse Nachlässigkeit bezüglich der historischen Genauigkeit und die Tendenz, Darstellung übernommener Ideen sofort zur Interpretation werden zu lassen.

Dies hat zur notwendigen Folge, daß der Scheler-Forscher sich in dieser Hinsicht vor einem fast unlösbaren Problem befindet; vor allem auch deshalb, weil Scheler aus zahllosen Quellen geschöpft hat, die sowohl zeitlich als thematisch sehr weit auseinanderliegen : vom Sokratismus über den Platonismus zum Augustinismus, von der Scholastik zur Renaissance, von Kant und dem deutschen Idealismus bis zu Schopen­hauer (und durch diesen hindurch zur orientalischen Gedankenwelt) und Nietzsehe, von Marx zu Freud, von der Lebensphilosophie zur Soziologie ... und die Reihe ist noch unvollständig. Was aber natürlich nicht heißen soll, daß wir in Scheler einen eklektischen Philosophen sehen: diese Quellen überkreuzen sich bei ihm und erhalten durch ihre Einschaltung in einen neuen Kontext auch eine neue Lebendigkeit und Bedeutung. Denn gegenüber all diesen Quellen muß die Eigenstän­digkeit des Schelerschen Denkens herausgestrichen werden : die Ge­schichte der Philosophie diente ihm vorwiegend als Anregung zum eigenen Denken und die von ihm übernommenen Ideen wandeln sich schon bei ihrer Aufnahme in die Richtung der eigenen "Kategorien".

17 STEIN Edith, Aus dem Leben einer jüdischen Familie, op. eil., S. 182.

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18 EINLEITUNG

Da wir glauben, daß ein Quellenstudium zu Schelers Philosophie eine breite philosophische Erfahrung voraussetzt, werden wir uns in dieser Arbeit darauf beschränken, die Richtungen anzugeben, in denen diese Quellen zu suchen sind. Als erste Richtung scheint uns der Einfluß des christlichen Gedankengutes und vor allem der Augustinismus, und durch diesen hindurch der Platonismus, von großer Bedeutung, obwohl in dieser Hinsicht in der Scheler-Forschung einige Kontroversen bestehen 38. Von gleichwertiger Wichtigkeit scheinen uns allerdings die sog. Lebensphilosophen; innerhalb dieser Richtung müssen die Namen von Nietzsehe, Bergson und Dilthey erwähnt werden. In diesen Zusammenhang fallen unserer Ansicht nach die Schelersche Lehre vom Vorrang der - bei ihm allerdings geistigen - Liebe vor den intellek­tuellen Bewußtseinsprozessen und die Hervorhebung des Ursprungs der eigentlich schöpferischen Kräfte aus der emotionalen Sphäre. Zum dritten sei angeführt der Einfluß des deutschen Idealismus auf die Scheler­sehe Philosophie 39. Zu erwähnen sind auch noch die Einflüsse Spinozas und Eduard von Hartmanns, die für die Thematik dieser Arbeit allerdings von geringerer Bedeutung sind.

Daß Scheler die Methode bzw. Einstellung von Husserl übernommen hat, und seine inhaltlich positiven Anschauungen diesem Einfluß nur wenig unterliegen, wurde schon zur Genüge betont; und es wurde in diesem Zusammenhang ebenfalls darauf hingewiesen, wie notwendig eine Klärung des Verhältnisses Schelers zur kantischen Philosophie für die Scheler-Forschung sei. Dieser Vergleich scheint uns von erstrangiger Bedeutung, besonders da Scheler dieser Philosophie gegenüber eine äußerst zweideutige Haltung einnimmt: er will sich einerseits alsAntipode dieser Philosophie verstanden wissen (V gl. besonders seinen Forma­lismus), andererseits hat man oft den Eindruck, als möchte er eine Art "erweiterten Kantianismus" propagieren. - Außerdem wurde schon auf den Einfluß der anderen sog. "Münchner Phänomenologen" der Nachdruck gelegt, sowie auf den zu dieser Zeit sehr die "Mode" bestim­menden "Stefan-George-Kreis" - ein Einfluß, wovon in der Scheler­Forschung bisher kaum die Rede war.

Alle diese Einflüsse zu untersuchen und ihre Bedeutung für die Scheler-

38 Vgl. GROOTEN lohan, L'augustinisme de Max Scheler, in Augustinus Magister, Paris, 1954, Bd. 2, S. 1111-1120.

89 Vgl. hierzu HASKAMP Reinhold I., Spekulativer und phänomenologischer Per­sonalismus. Einflüsse I.G. Fichtes und Rudolf Euckens auf Max Schelers Philosophie der Person (Symposion. Philosophische Schriftenreihe Bd. 22), Freiburg-München, 1966.

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EINLEITUNG 19

sche Philosophie freizulegen, muß der zukünftigen Scheler-Forschung überlassen werden. Eine Zusammenfassung dieser Einflüsse sei hier wiedergegeben: "Scheler ist ein Geist, in dem sich wesentliche, die Gegenwart entscheidend bestimmende Sinnmächte auf eigentümliche Weise verbinden und auskristallisieren. Er ist berührt von der Welle des neuerwachten katholischen Denkens und vertritt eine sich in augustini­sehen Formen bewegende Ontologie. Er ist Phänomenologe und wendet die von Husserl ausgebildete Methode der Wesensschau in eigenartiger und fruchtbarer Weise auf das metaphysische Sein, die Wertsphäre und die menschlichen Sinn-Akte, insbesondere das Gefühlsleben an. Er steht weiterhin unter dem Eindruck der Lebensphilosophie, der Freudschen Psychoanalyse und der Marxistischen Geschichtskonstruk­tion und gibt den ,vitalistischen' und ,realistischen' Tendenzen des neue­ren Denkens im Laufe seiner Entwicklung immer mehr Raum. Dabei befindet er sich deutlich im Übergang von der alten Begriffsphilosophie zur Existentialphilosophie, die in Heidegger ihren bis jetzt stärksten Vertreter gefunden hat" 40.

Wir müssen noch darauf hinweisen, daß wir in dieser Arbeit prinzipiell diese Quellen aus Schelers Sicht heraus betrachten, d.h. daß wir normaler­weise - wenn nicht ausdrücklich das Gegenteil betont wird - z.B. Kant oder Fichte eben so sehen, wie wir glauben, daß Scheler sie ver­standen hat, und daß wir uns diesem Verständnis gegenüber nicht kritisch verhalten werden.

3. Die neuere Scheler-Forschung

Es scheint uns an dieser Stelle angebracht, eine kurze Übersicht über die heutige Scheler-Forschung wiederzugeben. An erster Stelle ist hier zu vermelden die Arbeit von Manfred S. Frings, Professor an der De Paul-Universität in Chicago, der seit dem Tode Maria Schelers (1962) Herausgeber der Gesammelten Werke Max Schelers ist. Zwei Bände (Frühe Schriften und Sympathie) sind seither schon erschienen und weitere Bände in Vorbereitung. Ausserdem hat er mit seinen Arbeiten über Scheler wesentlich zum Verständnis und zur Verbreitung dieser Philosophie beigetragen (Für seine Schriften vgl. unsere Bibliographie am Ende dieser Arbeit). Zu erwarten ist. daß Schelers Nachlaß, der in

40 ADOLPH Heinrich, Die Anthropologie Max Schelers, in Imago dei, Beiträge zur theologischen Anthropologie. Gustav Krüger zum 70. Geburtstag, Gießen, 1932, S.199.

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20 EINLEITUNG

der Bayrischen Staats bibliothek zu München aufbewahrt ist, der philo­sophischen Öffentlichkeit nicht mehr sehr lange vorenthalten sein wird.

"Klassische" Werke (d.h. Werke, die der breiten philosophischen Skala dieses Denkers gerecht werden) gibt es bisher noch nicht in deut­scher Sprache, wohl aber in Französisch 41 und eine einführende Über­sicht in englischer Sprache 42. Auch zählen wir einige wichtige Artikel­von G. Gurvitsch 43, A. Schütz 44 und J. Nota 45 zu dieser Kategorie, da sie als Einleitungen in die wichtigsten Aspekte dieser Gedankenwelt jeder auf seine Art bisher unerreicht geblieben sind. - Hingegen stehen wir vor einer erstaunlich großen Zahl von Einzelanalysen bzw. aus einseitiger Perspektive dieses Werk behandelnde Arbeiten, die in den letzten Jahren - besonders im englisch-amerikanischen Bereich -stark zugenommen haben.

Zu Person und Persönlichkeit Max Schelers führen uns am treffend­sten - neben dem zu Anfang unserer biographischen Übersicht ange­führten Werk von J.R. Staude - die kurz nach Schelers Tod verfaßten Aufsätze seiner Schüler und Freunde, wo besonders die Namen Dietrich von Hildebrand 46, Paul-Ludwig Landsberg 47 und Nicolai Hartmann 48

zu erwähnen sind. - Von den zahllosen Einzelanalysen zu Schelers Philosophie können an dieser Stelle nur einige in den letzten Jahren

41 VgI. Dupuy Maurice, La philosophie de Max Scheler. Son evolution et son unite. Tome I : La critique de l'homme moderne et la philosophie theorique. Tome II : De l'lfthique a la derniere philosophie, Paris, 1959; und Dupuy M., La philosophie de la religion chez Max Scheler, Paris, 1959.

42 VgI. FRINGS Manfred S., Max Seheler. A Concise Introduetion into the world of a great Thinker, Pittsburgh-Louvain, 1965.

43 GURVITSCH Georges, Les tendances aetuelles de la philosophie allemande. S. 67-152 : L'intuitionisme emotionnel de Max Seheler, Paris, 1930.

44 SCHÜTZ Alfred, Max Sehelers Philosophie, in A. SCHÜTZ, Gesammelte Aufsätze. Bd. 3 : Studien zur phänomenologischen Philosophie. Hrsg. von Ilse Schütz. Einleitung und Übertragung aus dem Amerikanischen von Alexander von Baeyer, Den Haag, 1971, S. 171-183, und S. 184-219: Max Schelers Erkenntnistheorie und Ethik; sowie A. SCHÜTZ, Seheler's Theory of lntersubjeetivity and the General Thesis of the Alter Ego, in Philosophy and Phenomenological Research 2 (1942), S.323-347.

45 NOTA Jan, De Rol van de Liefde in Max Schelers Ethica, in Bijdragen 27 (1966), S. 245-253.

46 Vgl. besonders HILDEBRAND Dietrich von, Max Scheler als Persönlichkeit, in Hochland 26 (1928/29), Bd. 1, S. 70-80, und vom gleichen Autor: Max Sehelers Stellung zur katholischen Gedankenwelt, in Der Katholische Gedanke 1 (1928), S. 445-459 .

., Vgl. vor allem LANDSBERG Paul-Ludwig, L'acte philosophique de Max Scheler, in Recherehes philosophiques 6 (1936/37), S. 299-312.

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EINLEITUNG 21

erschienene Arbeiten, die uns von Wichtigkeit scheinen, angeführt werden. Herausgestrichen wurde schon die Bedeutung der Arbeiten von Manfred S. Frings, woraus wir besonders sein Werk Person und Dasein. Zur Frage der Ontologie des Wertseins hervorheben möchten, das sich als Versuch einer ontologischen Fundierung des Werts eins an Hand von Heideggers Sein und Zeit und Schelers Formalismus verstanden wissen will; d.h. das Verhältnis von Sein und Wert ist hier der Gegenstand der Untersuchung, und der Autor will aufzeigen, daß, selbst bei Annahme des "vorhandenen" Charakters aller Werte, das Dasein selbst nicht wertlos ist, daß Wert-sein ein daseinsmäßiger Charakter ist, ohne den das Da des Daseins nicht sein kann. Schon der Titel der vorliegenden Arbeit ("Liebe und Person") läßt erkennen, daß sich diese Arbeit als komplementär zu dem soeben angeführten Werke verstanden wissen will. Während dort das Verhältnis von Wert und Sein, sowie das Ver­hältnis von Personwert bzw. Wertperson und Dasein der Untersuchung unterworfen wurde, steht hier das Verhältnis von Person und Liebe im Mittelpunkt.

Auch will diese Arbeit eine gewisse Distanz nehmen zu dem Bild, das F. Hammer in seinem Buch Theonome Anthropologie? 49 von der Schelerschen Philosophie wiedergibt; der Autor gibt in seiner Einleitung zu, daß sein leitender Gesichtspunkt die "christlichen bzw. theologischen Implikationen im Schelerschen Menschenbild" (S. XI) sind und z.B. das Primat der Liebe vor dem Erkennen in seinem gemeinen Sinn nur aus theologischer Interpretation zu verstehen ist (S. XII). Das ausschließliche Festlegen des Gesichtspunktes auf die christlich-theologische Perspektive bringt es unserer Ansicht nach mit sich, daß der Autor noch nicht einmal von dem Vorsatz ausgegangen ist, der Fülle der Schelerschen Philosophie noch der philosophischen Anthropologie gerecht zu werden. Sieht man in der Person bei Scheler nur und ausschließlich den "Gottsucher", können in unseren Augen die echt philosophischen Dimensionen der Schelerschen Personlehre nie aufgezeigt werden. Zwar hat die christliche Gedankenwelt sicherlich einen großen Einfluß auf Schelers philoso­phisches Schaffen ausgeübt, doch die Beschränkung auf diesen Blick­winkel ist für uns keinesfalls gerechtfertigt : unserer Ansicht nach muß der Interpret - und diese Arbeit wird dies versuchen - zumindest dahin tendieren, "voraussetzungslos" an das philosophische Schaffen eines

48 Vgl. HARTMANN Nico1ai, Max Sehe/er t, in Kantstudien 33 (1928), S. IX-XVI. 49 HAMMER Felix, Theonome Anthropologie? Max Sehe/ers Menschenbild und seine

Grenzen (Phaenomen%gica Bd. 45), Den Haag, 1962.

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22 EINLEITUNG

Denkers heranzugehen, es ihm erlauben, sich so darzustellen, wie er wirklich ist und sich gibt 50.

Philosophisch ergiebiger erscheint uns die Fragestellung in E. Shimo­misses Arbeit Die Phänomenologie und das Problem der Grundlegung der Ethik 51, die sich als Aufgabe gestellt hat, "die explikative Interpreta­tion eines möglichen Weges zur Grundlegung der Ethik auf Grund des Versuchs Schelers" (S. 3). Er betrachtet der Schelerschen Versuch einer phänomenologischen Grundlegung der Ethik als gescheitert; der Grund hierfür liegt aber nicht in der Schelerschen Philosophie als solcher, sondern, so glaubt der Autor, die Grundlegung der Ethik fällt außerhalb aller Phänomenologie überhaupt. Daß Scheler sich erst in zweiter Linie an "Grundlegung" interessiert, wurde von uns schon angeführt; ob man aber auch die Versuche Husserls und Pfänders so einfach als gescheitert ansehen darf, nur weil sie Phänomenologen waren, scheint uns doch sehr fraglich: dies bedeutet jedoch nicht, daß nicht auch wir der Meinung sind, daß man in ethischen Grundlegungsfragen wahrscheinlich manch­mal die von der Phänomenologie gesetzten Grenzen verlassen muß -was Scheler ja häufig, und nicht nur auf diesem Gebiet, praktiziert hat.

Zwei weitere Einzeluntersuchungen befassen sich mit einem bestimmten Problem bzw. Werk unseres Philosophen: B. Rutishauser untersucht und erläutert in Max Schelers Phänomenologie des Fühlens 52 die Scheler­sehe Analyse der Scham und des Schamgefühls, während A.R. Luther in seiner Arbeit Persons in Love 53 sich auf die Wiedergabe der in "Sym­pathie" entwickelten Gedankengänge beschränkt. Unbedingt zu erwähnen sind in dieser Übersicht auch die ausgezeichneten Arbeiten von B. Lorscheid 54.

~o VgI. die viel1eicht etwas scharfe und zu kurz gehaltene, aber doch treffende Rezension dieses Werkes durch NOTA Jan, in Philosophy and Phenomenological Research XXXIV (1973), S. 298-299.

61 SHIMOMISSE Eiichi, Die Phänomenologie und das Problem der Gundlegung der Ethik. An Hand des Versuchs von Max Scheler, Den Haag, 1971.

62 RUTISHAUSER Bruno, Max Schelers Phänomenologie des Fühlens. Eine kritische Untersuchung seiner Analyse von Scham und Schamgefühl, Bem-München, 1969.

63 LUTHER A.R., Persons in Love. A Study of Max Scheler's Wesen und Formen der Sympathie, Den Haag, 1972.

64 LORSCHEID Bernhard, Max Schelers Phänomenologie des Psychischen, Bonn, 1957, und ders., Das Leibphänomen. Eine systematische Darbietung der Schelerschen Wesensschau des Leiblichen, Bonn, 1962.

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EINLEITUNG 23

4. Das Zentral problem der Schelerschen Philosophie

Wurde bisher in dieser Einleitung immer wieder der Nachdruck gelegt auf die Vielfältigkeit, die Breite der philosophischen Skala und sogar eine gewisse Mittelpunktlosigkeit, soll hier nun das der Schelerschen Philosophie Einheit gebende Moment, die zentrale Fragestellung, auf die sich alle anderen Fragestellungen stützen und von der sie ihre Stelle und auch ihren letzten Sinn zugewiesen bekommen, hervorgehoben werden.

"Die Fragen: Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein? haben mich seit dem ersten Erwachen meines philosophischen Bewußt­seins wesentlicher beschäftigt als jede andere philosophische Frage" 55.

"In einem gewissen Verstande lassen sich alle zentralen Probleme der Philosophie auf die Frage zurückführen, was der Mensch sei und welche metaphysische Stellung und Lage er innerhalb des Ganzen des Seins, der Welt und Gott einnehme. Nicht zu Unrecht pflegten eine Reihe älterer Denker die ,Stellung des Menschen im All' zum Ausgangspunkt aller philosophischen Fragestellung zu machen" 56. Diese und viele ähnliche Formulierungen verweisen eindeutig darauf, daß alles philo­sophische Suchen bei Scheler in der Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos seine grundlegende Einheit findet. Und zu Recht wird in diesem Zusammenhang immer wieder hingewiesen auf die kantische Aussage, daß seine drei berühmten Fragen: Was kann ich wissen? (Metaphysik), Was soll ich tun? (Moral) und Was darf ich hoffen? (Religion) sich auf die hinzukommende vierte Frage beziehen: Was ist der Mensch? "Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropo­logie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen" 57.

Spielte für Husserl die Bewußtseinsphänomenologie die Rolle der alle anderen philosophischen Disziplinen fundierenden Disziplin, kommt für Scheler wie für Kant der philosophischen Anthropologie diese Rolle zu. Dieselbe Idee drückt unserer Ansicht nach die Feuerbachsche Aussage aus, die philosophische Antropologie sei die "universale Wissen­schaft" 58. Die Grundlegung der Philosophie mit all ihren Disziplinen

66 Sie Stellung des Menschen im Kosmos, S. 5. 66 Vom Umsturz der Werte, S. 173. 67 KANT Immanuel, Logik. Einleitung, in Immanuel Kants Werke. Hrsg. von Ernst

Cassirer, Bd. VIII, Berlin, 1922, S.344. 68 FEUERBACH Ludwig, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in L. FEUERBACH,

Sämtliche Werke, Bd. 2, 2. Aufi., Stuttgart, 1959, S. 317.

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24 EINLEITUNG

kann in dieser Sicht nur die philosophische Anthropologie übernehmen. Nach Heidegger - in seinem Max Scheler gewidmeten Werk 59 -

beziehen sich die drei ersten Fragen Kants, wo nach Können, Sollen und Dürfen der menschlichen Vernunft gefragt wird, auf die soeben ange­führte vierte Frage, weil sie alle drei der Endlichkeit nachfragen, und die Frage nach der Endlichkeit begründet bei Heidegger die Grundlegung der Metaphysik. - Diese Formulierungen entsprechen zwar nicht der Schelerschen Denkweise, ihr Sinn dürfte aber bei bei den Philosophen ähnlich sein : beruft sich Heidegger auf Können, Sollen und Dürfen, wendet sich Scheler eher dem Wissen, Tun und Hoffen zu. Einverstanden sind beide, daß die vierte Frage die drei ersten Fragen in sich enthält, was man in der Schelerschen Einsellung vielleicht am besten so wieder­geben kann: Was ist der Mensch, dieses Wesen, das dazu fähig ist, zu wissen, zu tun und zu hoffen? Welches ist dieses X, das diese wesens­verschiedenen Akte vollziehen kann? Und dies führt uns direkt zu seiner Personlehre, die im dritten Kapitel dieser Arbeit ausführlich behandelt werden wird.

Mitbeigetragen zu dieser Zentralstellung der Frage nach der Stellung des Menschen haben wahrscheinlich auch die zeitgeschichtlichen Um­stände (1900-1920) und das Bewußtsein, daß zu dieser Zeit der Mensch sich selbst völlig problematisch geworden ist: "Der Mensch ist ein so breites, buntes, mannigfaltiges Ding, daß die Definitionen alle ein wenig zu kurz geraten. Er hat zu viele Enden" 60. Keine Zeit hatte je soviel über den Menschen gewußt, hatte soviele Kenntnisse über ihn eingesammelt, und doch wußte auch keine Zeit so wenig, was der Mensch eigentlich ist; nie war er sich so fragwürdig. Und somit ist das Zentral­problem Schelers, das alle seine Arbeiten - die ethischen, soziologischen, religions-philosophischen usw. - zusammenhält, die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Welt und zu Gott: seine Philosophie beruht auf anthropologischer Grundlage.

Und diese grundlegende philosophische Anthropologie - deren Ausarbeitung bisher noch größtenteils unveröffentlicht ist - war bei Scheler durch einen Grundgedanken, eine fundamentale Option, be­stimmt, die aller Entwicklung und allen Änderungen seiner Auffassungen zum Trotz stets die gleichen geblieben sind: der Mensch ist primär nicht ein erkennendes oder ein wollendes Wesen, sondern ein ens amans.

80 Vgl. HEIDEGGER Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, 2. Aufi., Frank­furt, 1951, S. 185-208.

GO Vom Umsturz der Werte, S. 175.

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EINLEITUNG 25

Die Liebe ist für Scheler die "Mutter und Weckerin" alles Erkennens und allen Wollens, sie ist der fundamentale geistige Akt, eine unredu­zierbare und geistige Bewegung, sie ist der eigentliche Urakt. Deshalb ist auch der emotionale Apriorismus des Liebens und Hassens das letzte Fundament alles anderen Apriorismus, so des Apriorismus der Seinserkenntnis und des W ollens von Inhalten. - Die genaue Bedeutung dieser Sätze wird in dieser Arbeit erläutert werden; sie wurden jedoch schon jetzt erwähnt, da, wie es Frings ausdrückt: "Wer diese Sätze nicht begreift, dem bleibt die ganze Schelersche Gedankenwelt verschlos­sen" 61.

5. Die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung

Die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung im All wird auch dieser Arbeit als ständiger Hintergrund dienen, deren Untersuchungsgegenstand die Schelersche Personlehre sein wird. Allein schon durch die Angabe des Themas dieser Arbeit weisen wir darauf hin, daß es sich hier um keine sog. "Einzeluntersuchung" handeln soB, sondern daß das gesamte - bisher veröffentlichte - philosophische Schaffen dieses Denkers ins Auge gefaßt werden wird: kein Werk und keine "Periode" soll hier ausgelassen werden. Dies heißt nun nicht, daß dieser Arbeit keinerlei Beschränkung auferlegt wurde : in unserem Falle ist sie schon in der Themaangabe mitgegeben; wir werden diese Philosophie als Personalismus zum Gegenstand der Untersuchung nehmen, denn sie war in all ihren Teilen personalistisch, und doch war sie gleichzeitig in all diesen Teilen mehr als nur personalistisch. Und demnach werden hier alle Aspekte der Schelerschen Philosophie -der wertethische, anthropologische, die Phänomenologie des emotionalen Lebens, der religionsphilosophische, soziologische bzw. wissenssoziolo­gische usw. - behandelt werden, aber nur insofern sie für den Persona­lismus relevant oder von Interesse sind. - Außerdem wird diese Arbeit versuchen, dem Auftrag gerecht zu werden, den Ortega y Gasset und Schütz der Scheler-Forschung mit auf den Weg gegeben haben: "Es wird die Aufgabe späterer Generationen sein, Schelers Gedanken in die noch fehlende architektonische Ordnung zu bringen" 62. Und es wird sich

61 "If this is not understood, Scheler's philosophy as a whole is not understood" (FRINGS Manfred S., Max Scheler. A concise Introduction into the world 0/ a Great Thinker, Pittsburgh-Louvain, 1965, S. 68).

62 ORTEGA Y GASSET Jose, Max Scheler. Un embriagado de esencias (1874-1928), in J. ORTEGA Y GASSET, Obras completas, Bd. IV, 5. Aufl., Madrid, S. 511, und SCHÜTZ

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26 EINLEITUNG

zeigen, daß der "Eckstein" dieses architektonischen Gefüges - wie auch der Schelerschen Gesamtphilosophie - die Liebe ist, die soeben als der Grundgedanke dieser Philosophie herausgestrichen worden ist.

Und - um noch einen Moment innerhalb dieses Vergleiches mit dem Bereich der Architektur zu verweilen - so sahen wir uns gezwungen, auch für unseren Untersuchungsgegenstand als erstes das Fundament zu durchleuchten, auf das sich die gesamte Schelersche Philosophie als Ganzes und ihre verschiedenen Teile wie Arkaden - die nach oben hin die Frage nach dem Wesen des Menschen verbindet - stützen. Und dieses Fundament ist bei Scheler ohne Zweifel die von E. Husserl übernommene phänomenologische GrundeinsteIlung : "Die von Edmund Husserl zuerst scharf formulierte ,phänomenologische Einstellung', vermöge der alle unsere Welt- und Grundbegriffe auf ihre letzten und wesensmäßigen Erlebnisgrundlagen zurückgeführt werden, beherrscht der Hauptsache nach" 63 all seine Arbeiten. Als philosophischer "Metho­den"-Begriff ist Phänomenologie das Beschreiben und Erfassen der Sachen, so wie sie sich geben, und in den Grenzen, wo sie sich geben. Allgemein gesehen kann man sagen, daß dieser Forschungsmaxime das Prinzip der gebenden Anschauung zugrundeliegt : sie gründet auf die Unmittelbarkeit der Anschauung, dem methodischen Ausschluß der Realität und einer Priorität des WesenswissenschaftIichen vor der Tatsachenerkenntnis. - Jedoch hat Scheler - wie schon erwähnt -diese Einstellung nicht "tel quel" von Husserl übernommen: er sah in dieser neuen Einstellung vielmehr eine Geisteshaltung, die seiner außerge­wöhnlichen Rezeptivität entsprach und die seinen Ausgangspunkt, den unmittelbaren Erlebnisverkehr mit der Welt, zu bestätigen schien. Somit ist Phänomenologie in seinen Augen vor allem eine Haltung der geistigen Sicht (und keine eigentliche Methode), durch die verschiedene Tatsachen, für ihn besonders das Reich der Werte und des Fühlens, zur Gegebenheit kommen, die ohne diese Haltung für immer verborgen geblieben wären. Deshalb ist ihm der Erkenntniswert der in dieser Ein­stellung gefundenen Sätze auch viel wichtiger als die Klärung der Frage nach dem Wesen dieser Einstellung, und deshalb ist es z.B. unserer Ansicht nach nicht verwunderlich, daß wir bei ihm keine Auseinander­setzung mit dem Hegeischen Begriff "Phänomenologie" der Phäno-

Alfred, Max Schelers Philosophie, in A. SCHÜTZ, Gesammelte Aufsätze. Bd. 3 : Studien zur phänomenologischen Philosophie. Hrsg. von Ilse Schütz. Einleitung und über­tragung aus dem Amerikanischen von A. von Baeyer, Den Haag, 1971, S. 171.

63 Vom Umsturz der Werte. Vorrede zur ersten Auflage, S. 6.

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EINLEITUNG 27

menologie des Geistes (1807) finden (was Husserl unseres Wissens nach auch unterlassen hat), was der philosophiegeschichtlich geschulte Leser doch eigentlich an erster Stelle erwarten würde. - Das erste Kapitel dieser Arbeit wird versuchen darzustellen, wenn auch in großen Zügen, wie Sche1er diese phänomenologische Einstellung verstanden hat, welches sein eigener Weg innerhalb dieser neuen Bewegung war, und wie er sich besonders im "Idealismus-Realismus-Streit" von Husserl distan­zierte.

Ist somit das "Fundament" seiner Philosophie die phänomenologische Einstellung, muß doch sofort der Nachdruck darauf gelegt werden, daß er nie bei dieser Einstellung stehengeblieben ist, daß er sich nie auf sie "beschränkt" hat, daß sie ihm sozusagen nur als Sprungbrett diente für weitere Betrachtungen. Diese Tatsache, daß er "seine phäno­menologische Erkenntnisposition nicht konsequent durchgehalten" 64

hat, ist ihm immer wieder zum Vorwurf gemacht worden; doch wird unserer Ansicht nach in dieser Hinsicht zu wenig auf die Frage hinge­wiesen, inwieweit die phänomenologische Einstellung in Gebieten wie der Ethik, der Anthropologie oder der Religionsphilosophie - um nur einige zu nennen - den philosophisch-berechtigten Ansprüchen gerecht werden kann. Schelers eigene Stellungnahme zu diesem Problem kann deutlich aus dem folgenden Zitat ersehen werden, das dem Vorwort zu einern religionsphilosophischen Werk Otto Gründlers entnommen ist, das aber unserer Meinung nach auch auf die anderen Gebiete Anwen­dung findet: "Der Verfasser <0. Gründler> ist sich dabei bewußt, daß seine, die Urphänomene des religiösen Lebens zur direkten Erschau­ung bringende Methode nicht allein genügen kann, um der Religion ein sicheres Fundament zu geben; sie muß eben, da sie selbst von der Da­seinssetzung der behandelten Gegenstände bewußt absieht, um ihren schau- und fühlbaren Wesensgehalt allein vor Augen zu führen, eine met ho dis c h e 65 Ergänzung finden in metaphysischen Betrachtun­gen" 66. - Auch unterscheidet er zwischen theoretischen Sätzen, die durchaus nicht phänomenologisch einsichtig sind, die aber wohl eine phänomenologisch einsichtige Basis haben, und phänomenologisch

84 KRAENZLIN Gerhard, Max Sche/ers phänomenologische Systematik. Mit einer monographischen Bibliographie: Max Scheler, Leipzig, 1934, S. 25.

65 Von uns gesperrt. 66 Max Schelers Vorwort zu GRÜNDLER Otto, Elemente zu einer Religionsphilo­

sophie auf phänomenologischer Grundlage, Kempten, 1922, S. 11. In diesem Vorwort wird auch auf die tiefe "Verwandtschaft" der Phänomenologie mit den Grundsätzen der überlieferten christlichen Philosophie hingewiesen.

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einsichtigen Sätzen. Dies gilt in besonderem Maße für das, was wir den "Eckstein" seiner Philosophie genannt haben, nämlich die Liebe, die der Untersuchungsgegenstand unseres zweiten Kapitels ist: "Heben wir - wie es für alle erklärende Theorie Voraussetzung ist - die phänomeno­logische Reduktion, d.h. das prinzipielle Absehen von der realen Beschaf­fenheit der Träger der Akte und der Setzungsform ihrer Inhalte nunmehr auf, so ist klar, daß die Wesenheiten von Liebe und Haß, desgleichen ihre Formen, Arten und Modi, nur in den konkreten und äußerst kom­plexen Tatsachen auftreten, welche die Besonderheit der menschlichen Organisation und ihrer realen Umwelt mit sich bringt" 67. Es muß also geschieden werden zwischen Gegebenheiten einerseits, die phänomeno­logisch aufweisbar sind, und Gegebenheiten andererseits, die "jenseits der Phänomenologie" liegen 68. Und die Ausführungen dieses Kapitels werden deutlich zeigen, wie beide Verfahrensweisen sich bei Scheler dauernd überschneiden, "wissenschaftlich und streng objektiv, allerdings auf dem Hintergrund einer bestimmten philosophischen Welt- und Lebensansicht" 69.

In der phänomenologischen Bestimmung des Wesens der Liebe wird als erstes versucht werden, aufzuzeigen, was die Liebe nicht ist : diese Abgrenzung gegenüber ähnlichen oder scheinbar ähnlichen Phänomenen soll uns erlauben, zur positiven Bestimmung der Liebe als eines schöpferi­schen Aktes vorzudringen: "Da ich ... die reine Liebe für eine von den sinnlichen Empfindungen und Gefühlen, mit denen Kant sie zusammen­wirft, unabhängige Funktion des Geistes halte, die dem Vernunftprinzip der Gerechtigkeit übergeordnet ist; ich lasse es mir besonders angelegen sein, diesen Begriff der Liebe, den ich mit dem christlichen Liebesbegriff eng verschmolzen halte, scharf von den modernen Begriffen der Sympa­thie, des Mitleids (Schopenhauer), des Altruismus (Comte etc.) zu sondern und seinen total verschiedenen Inhalt aufzuzeigen" 70. Liebe und Haß als unreduzierbare ursprüngliche geistige Akte, als undefinier­bare, sondern nur als Phänomene erschaubare Akte werden in diesem Kapitel als die die Schelersche Philosophie bindenden Elemente herausge­stellt werden, Liebe als der absolute Seins grund und als letztes richtungs­bestimmendes Prinzip, als wirklicher Urakt des Geistes : Liebe im Sinne des echten Plato (und nicht etwa "platonische" Liebe), die strebt nach

67 Sympathie, S. 179. 68 Sympathie, S. 180. 69 Nachlaß I, S. 257. 70 Aus einem Schreiben Schelers an Hertling (27. April 1906), in FINKE Heinrich,

Internationale Wissenscha/tbeziehungen der Görres-Gesellscha/t, Köln, 1932, S. 50-51.

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EINLEITUNG 29

inniger Vereinigung mit allem Wesenhaften, "eine Liebe, die heißer Durst ist und zugleich sachwertgerichtete höchste Objektivität, ja Wurzel alles ,objektiven' Verhaltens" 71.

Die Freilegung des "Fundaments" seiner Philosophie sowie die Untersuchung des dieses Denken tragenden Grundgedankens der Liebe als richtungbestimmenden Uraktes waren unserer Ansicht nach not­wendige Voraussetzung, um zum Personbegriff vorstoßen zu können, dem Begriff, der nach Schütz "Schelers ganzes Denken, seine Intersubjek­tivitätstheorie und seine Theorie der Sympathie, seine Religionsphilo­sophie und seine philosophische Anthropologie beherrscht "72; notwendig deshalb, weil nach Scheler die Person, oder genauer: die Wertperson allein in der Liebe bzw. im Mitvollzug des Liebesaktes zur unmittelbaren phänomenologischen Gegebenheit kommen kann. Die Person wird definiert werden als konkretes geistiges Aktzentrum, und wiederum wird die Überkreuzung der phänomenologischen Bestimmungen mit einer "Metaphysik der Person" festgestellt werden können. In diesem dritten Kapitel soll ausführlich erläutert werden, was Heidegger über die Person bei Scheler sagt: "Person darf nach Scheler niemals als ein Ding oder eine Substanz gedacht werden ... Person ist kein dingliches substantielles Sein. Ferner kann das Sein der Person nicht darin auf­gehen, ein Subjekt von Vernunftakten einer gewissen Gesetzlichkeit zu sein ... Zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert im Vollzug der intentionalen Akte, sie ist also wesenhaft kein Gegenstand. Jede psychische Objektivierung, also jede Fassung der Akte als etwas Psychi­sches, ist mit Entpersonalisierung identisch. Person ist jedenfalls als Vollzieher intentionaler Akte gegeben, die durch die Einheit eines Sinnes gebunden sind. Psychisches Sein hat also mit Personsein nichts' zu tun. Akte werden vollzogen, Person ist Aktvollzieher" 73. - Ferner gehört es zur Aufgabe dieses Kapitels aufzuzeigen, daß die Gleichstellung Allgemeingültig-Seinsgültig und Persönlich-Subjektiv zu überwinden ist, und den Sinn des Schelerschen "An-sich-Guten-für-mich" klar­zulegen. Die Probleme der Freiheit, des Fremdverstehens und der Person als Gottsucher werden sich hieran anschließen.

Das vierte Kapitel dieser Arbeit wird als erstes versuchen, die Errun­genschaften des Schelerschen Personalismus herauszustreichen, und

71 Philosophische Weltanschauung, S. 23. 72 SCHÜTZ Alfred, Max Schelers Erkenntnistheorie und Ethik, in A. SCHÜTZ, Gesam­

melte Aufsätze. Bd. 3 : Studien zur phänomenologischen Philosophie, op. eit., S. 214. 73 HEIDEGGER Martin, Sein und Zeit, 10. Aufl., Tübingen, 1963,S. 47-48.

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30 EINLEITUNG

seine Philosophie als Personalismus und als Gesamtsphilosophie in größere Zusammenhänge zu stellen: es schien uns angebracht, in diesem Zusammenhang auf einen Vergleich dieser Philosophie mit dem Husserl­sehen Ideal einer "Philosophie als strenger Wissenschaft" kurz einzu­gehen; ein Vergleich, der notwendigerweise die unterschiedliche Auffas­sung Husserls und Schelers über "Weltanschauung" aufzeigen wird. -Danach werden wir auf zwei Besonderheiten des Schelerschen Personal­ismus eingehen: die Dualität in seiner Personauffassung, die sich nach 1922 zu einem Dualismus entwickeln und auf die metaphysiche Ebene ausbreiten wird, und die Beschreibung seines Personalismus als eines echten Solidarismus, was seiner Philosophie die höchste und letzte Formulierung bringt, mit der Hoffnung auf die neue Ordnung, deren Einheitsform personal und deren Band die Liebe ist.

6. Schelers Schriften und die bestehenden Bibliographien

Wir werden an dieser Stelle die bisher veröffentlichten Schriften Max Schelers anführen, und - zwischen eckigen Klammern - unsere ab­gekürzte Anführungsweise wiedergeben, insofern diese nicht mit dem Titel übereinstimmt. Eine kurze Übersicht der geplanten Bände soll diese Angaben vervollständigen.

Außerdem werden wir die bestehenden Bibliographien vermerken, die es uns erlauben, uns in der zu dieser Arbeit gehörigen Bibliographie, mit der wir unsere Ausführungen beschließen werden, auf die Werke zu beschränken, die für das Zustandekommen dieser Abhandlung von Bedeutung waren.

Schelers Werke

Eine vollständige Aufzählung der bisher erschienenen Schelerschen Schriften findet sich bei Ranly Ernest W., Scheler's phenomenology of community, The Hague, 1966, S. 104-124.

Gesammelte Werke, Hrsg. von Maria Scheler und - seit 1969 - von Manfred S. Frings, Bern, Francke, 1954 ff.

Band 1 : Frühe Schriften, 1971. Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien Arbeit und Ethik Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine

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EINLEITUNG 31

grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik Drei kleinere Veröffentlichungen: Rudolf Euckens Religionsbegriff Kultur und Religion 1. Kant und die moderne Kultur Ethik. Eine kritische Übersicht der Ethik der Gegenwart

<Frühe Schriften> Band 2 : Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.

Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalis­mus, 5. durchgesehene Aufl., 1966.

<Formalismus> Band 3 : Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, 4.

durchgesehene Aufl., 1955. Zur Rehabilitierung der Tugend Das Ressentiment im Aufbau der Moralen Zum Phänomen des Tragischen Zur Idee des Menschen Zum Sinn der Frauenbewegung Die Idole der Selbsterkenntnis Die Psychologie der sogenannten Rentenhysterie und der rechte Kampf gegen das Übel Versuche einer Philosophie des Lebens Der Bourgeois Der Bourgeois und die religiösen Mächte Die Zukunft des Kapitalismus

< Vom Umsturz der Werte> Band 5 : Vom Ewigen im Menschen. Religiöse Erneuerung, 4. durchge-

sehene Auflage, 1954. Reue und Wiedergeburt Vorn Wesen der Philosophie und den moralischen Bedingun­gen des philosophischen Erkennens Probleme der Religion Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt Vorn kulturellen Wiederaufbau Europas

< Vom Ewigen im Menschen> Band 6 : Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, 2. durch-

gesehene Aufl., 1963. "Moralia" Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungs­setzung

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32 EINLEITUNG

Über die positivistische Geschichtsphilosophie des Wissens (Dreistadiengesetz) Vom Sinn des Leides Vom Verrat der Freude Liebe und Erkenntnis Über östliches und westliches Christentum "Nation und Weltanschauung" Über die Nationalideen der großen Nationen Das Nationale im Denken Frankreichs Der Geist und die ideellen Grundlagen der Demokratien der großen Nationen Über Gesinnungs- und Zweckmilitarismus. Eine Studie zur Psychologie des Militarismus Von zwei deutschen Krankheiten "Christentum und Gesellschaft" Der Friede unter den Konfessionen Prophetischer oder christlicher Sozialismus? Arbeit und Weltanschauung Bevölkerungsprobleme als Weltanschauungsfragen. Zusätze "Zu Wilhelm Jerusalems ,Bemerkungen'" Zu einer philosophischen Lehre von Schmerz und Leiden Der allgemeine Begriff von "Nation" und die konkreten Nationalideen Zur Frage nach dem "Ursprung" der nationalen Gruppen­form Schlußabschnitt der Erstveröffentlichung von "Das Nationale im Denken Frankreichs" "Zur Psychologie der Nationen" (zu zwei Büchern von W. Wundt und K. Joel) "Die deutsche Wissenschaft" (zu einer gleichnamigen Schrift von P. Duhem) Kleinere Veröffentlichungen aus der Zeit der "Schriften" Walther Rathenaut. Eine Würdigung zu seinem Gedächtnis Ernst Troeltsch als Soziologe Jugendbewegung

<Schriften> Band 7 : Wesen und Formen der Sympathie, 1973.

Wesen und Formen der Sympathie Die deutsche Philosophie der Gegenwart Zusätze aus den nachgelassenen Manuskripten

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EINLEITUNG 33

<Sympathie> Band 8 : Die Wissens/ormen und die Gesellschaft, 2. durchgesehene

Aufl., 1960. Probleme einer Soziologie des Wissens Erkenntnis und Arbeit Universität und Volkshochschule Zusätze aus den nachgelassenen Manuskripten

Band 10 : Schriften aus dem Nachlaß. Band 1. Zur Ethik und Erkennt-nislehre, 2. durchgesehene und erw. Aufl., 1957.

Tod und Fortleben Über Scham und Schamgefühl Zur Phänomenologie und Metaphysik der Freiheit Absolutsphäre und Realsetzung der Gottesidee Vorbilder und Führer Ordo Amoris Phänomenologie und Erkenntnistheorie Lehre von den drei Tatsachen

<Nachlaß!> In Vorbereitung: Band 4 : Politisch-pädagogische Schriften. Band 9 : Späte Schriften.

Die Stellung des Menschen im Kosmos Philosophische Weltanschauung Idealismus-Realismus Zusätze aus den nachgelassenen Manuskripten

(u.a. Rand- und Textbemerkungen in Sein und Zeit) Anhang

Band 11 : Schriften aus dem Nachlaß. Band 2. Erkenntnislehre und Metaphysik.

Band 12 : Schriften aus dem Nachlaß. Band 3. Philosophische Anthro-pologie.

Band 13 : Schriften aus dem Nachlaß. Band 4. Philosophie und Geschichte.

Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiege/ühle und von Liebe und Haß. Mit einem Anhang über den Grund zur Annahme der Existenz des fremden Ich, Halle, 1913. Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, 2.-4. Tausend, Leipzig, 1915. Krieg und Au/bau, Leipzig, 1916. Die Stellung des Menschen im Kosmos, 6. Aufl., Bern-München, 1962.

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34 EINLEITUNG

Idealismus-Realismus, in Philosophischer Anzeiger 2 (1927-28), S. 255-324. Philosophische Weltanschauung, 2. Aufl., Bern, 1954.

Philosophische Weltanschauung Mensch und Geschichte Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs Die Formen des Wissens und die Bildung Spinoza

Die Idee des Friedens und der Pazifismus. Hrsg. von Manfred S. FRINGS, 2. Aufl., Bern, 1974. Schreiben Schelers an Hertling aus Berlin, 27. April 1906, in FINKE Heinrich, Internationale Wissenschaftsbeziehungen der Görres-Gesell­schaft, Köln, 1932, S. 48-51.

Bibliographien

HARTMANN Wilfried, Max Seheler. Bibliographie, Stuttgart-Bad Canstatt, 1963.

CHEVROLET Jean-Pierre, Le sacre dans la philosophie de Max Sehe/er (These Fribourg-Suisse), Fribourg, 1970, S. 170-207.

FRINGS Manfred S., Zur Phänomenologie der Lebensgemeinschaft, in Zeitschrift für philosophische Forschung. Beiheft 24, Meisenheim am Glan, 1971, S. 73-77.

Centennial Essays. Max Sehe/er (1874-1928). Ed. by Manfred S. FRINGS, Den Haag, 1974, S. 165-173.

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KAPITEL I

SCHELER ALS PHÄNOMENOLOGE. EINE ALLGEMEINE EINFÜHRUNG IN SEINE

"EINSTELL UN G"

Eines der tiefsten Urprobleme jedes philosophischen Denkens ist das Verhältnis von Sein und Bewußtsein, und jeder Philosoph wird in dieser Sache zu klarer Stellungnahme und zu letzter Entscheidung genötigt. Die erste Aufgabe jedes Philosophen, die zwar schon innerhalb dieses gewaltigen Komplexes liegt, ihm aber in dem Sinne vorausgeht, daß sie vor allen "Aussagen" und "Erkenntnissen" bewältigt werden muß, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen "Einstellung". Unter Einstellung verstehen wir die Art und Weise, wie der betreffende Denker sich dem Sein und dem Bewußtsein nähert, den Standpunkt, von welchem aus er sie betrachtet, das Verhältnis, in das er sie zueinander stellt. -Aus diesem Grunde kommt auch kein Betrachter und Interpret einer bestimmten Philosophie umhin, sich als erstes mit diesem Problem zu beschäftigen, will er den Bau nicht vom Dach, sondern von den Funda­menten her beginnen. Bevor er sich den eigentlichen Themen und den einzelnen Teilkapiteln einer Lehre zuwendet - ja, damit diese überhaupt erst zur vollen Verständlichkeit gelangen können -, ist der Betrachter verpflichtet, sich mit diesem Urproblern auseinanderzusetzen.

Max Scheler wird - wie bereits erwähnt und allgemein angenommen - in den Kreis der Phänomenologen eingereiht, ja sogar als der vornehm­lichste Mitstreiter des "Meisters" dieser neuen Bewegung, als deren genialster Weiterentwickler angesehen. Und wenn in der Überschrift der Begriff "Methode" vermieden wurde, so geschah dies besonders deshalb, weil Scheler die Phänomenologie eben nicht nur als Methode, sondern als "Einstellung" verstanden haben will. "Einstellung" bedeutet nun auch wieder nicht, daß es sich hier um eine sogenannte Standpunkt­philosophie handelt, sondern bedeutet die Denkhaltung, die "spezifisch philosophische DenkhaItung", wie Husserl die Phänomenologie bezeich­net. Während Methode als das Einheitsbewußtsein im Forschungsver­fahren ein Denkverfahren über Tatsachen ist, definiert Scheler die

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36 SCHELER ALS PHÄNOMENOLOGE

Phänomenologie als ein Schauverfahren, das neue Tatsachen bloßlegt, die vor aller logischen Fixierung liegen. Freilich können neue Tatsachen auch durch eine Methode entdeckt werden, wenn man hier unter Methode ein zielstrebiges Verfahren der Beobachtung und Untersuchung mit oder ohne Experiment und mit oder ohne instrumentale Unterstützung unserer Sinne, Mikroskop, Teleoskop usw., versteht. Die Einstellung aber ist dabei immer dieselbe, ob es sich um physische oder um psychische Tatsachen handelt: Sie ist "Beobachtung". Dagegen handelt es sich in der Phänomenologie um eine von der Beobachtung grundverschiedene Einstellung. "Das Er-lebte und Er-schaute ist ,gegeben' nur in dem er-lebenden und er-schauenden Akt selbst, in seinem Vollzug: es erscheint in ihm und nur in ihm" 1.

Der Einfluß Husserls, von dem er diese phänomenologische Einstel­lung übernommen hat, gewinnt erst seine volle Wirksamkeit nach Schelers Übersiedlung von Jena nach München, also etwa sechs Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Husserl im Jahre 1901. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1904 2 spricht er noch nicht von der Wendung zum Objekt und zeigt sich in seinen großen Linien sehr kantisch. - Und doch scheint es dem aufmerksamen Leser, als ob Scheler durch seine Natur von vor­neherein dazu prädisponiert gewesen wäre, diese neue Einstellung anzu­nehmen.

Doch bevor wir uns einer eingehenden Betrachtung dieser neuen Denkhaltung zuwenden, erscheint es uns unerläßlich, schon jetzt auf die Tatsache hinzuweisen, daß Scheler selten purer Phänomenologe war. Manchmal ersteht sogar der Eindruck, als sei ihm die Phänomenologie nur ein Mittel, um vorher schon gefaßte Einsichten als "evident" erschei­nen zu lassen. Dies ist vor allem dadurch bewirkt, daß Scheler - neben rein theoretischen Ausführungen - meist auch ein praktisches Ziel vor Augen hat. In einem Wort: die Verbindung der Phänomenologie und eines gewissen Ethos - Verbindung, die den bekanntesten Werken Schelers den Schein einer verdächtigen, weil "engagierten" Phänomeno­logie gibt - scheint eher eine Überschneidung und Koordination, und nicht eine bewußte Unterwerfung einer wissenschaftlichen Methode unter eine moralische Option zu sein 3. - Oft schreibt der Moralist in Scheler

1 Nachlaß I, S. 380. 2 I. Kant und die moderne Kultur. Ein Gedenkblatt, in Allgemeine Zeitung (1904),

Beilage Nr. 35, S. 273-280. Aufgenommen in Frühe Schriften, S. 354-370. 3 Vgl. auch Dupuy Maurice, La Philosophie de Max Scheler. Son evolution et son

unite. Tome I : La critique de /'homme moderne et la philosophie theorique, Paris, 1959, S. 106-107.

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dem Phänomenologen vor, auf welches Gebiet die neue Einstellung ange­wandt wird. Zudem prädisponiert die neue Methode aber auch zu ge­wissen moralischen Einstellungen. Dies erklärt erstens, daß Scheler des öfteren ethische Begriffe verwenden kann, wenn er die Haltung des Phänomenologen beschreibt und erklärt, und zweitens, daß er spezifisch phänomenologische Begriffe und Ausdrücke gebraucht in der Analyse der moralischen Wirklichkeit. So finden wir an vielen Stellen eine eigen­artige Gleichheit der Terminologie und der Auffassung auf beiden Ge­bieten (Phänomenologie und Ethik). Der Weg zur phänomenologischen Einstellung, die Offensein und selbstlose Bereitschaft für die Welt bedeu­tet, ist an moralische Vorbedingungen geknüpft: Nicht das Herumwühlen im eigenen Ich charakterisiert diese philosophische Geisteshaltung, sondern die Demut vor "den Sachen selbst", oder anders ausgedrückt: der unmittelbare Erlebniskontakt mit der Welt entsteht durch die expan­sive Hingabe an die Welt, unter größtmöglicher Ausschaltung der Trieb­regungen des eigenen Ich. - Er sieht auch in der Phänomenologie nicht nur einen Weg zur philosophischen Erneuerung, sondern auch einen Weg zum Heile. Der läuternde, also offensichtlich ethische Aspekt dieser neuen Einstellung wird von ihm des öfteren unterstrichen. "Dieser Weg, sich im vollen Verlieren seiner selbst neu ,in Gott zu gewinnen' -das ist im Sittlichen die Demut und im Intellektuellen die reine, Intui­tion' " 4

1. Die Phänomenologie Edmund Husserls 5

Ihrer ganzen Struktur gemäß ist die Phänomenologie auf das gegen­ständliche Phänomen gerichtet. Alles Gegenständliche gelangt aber erst in der Erkenntnis, mithin im Bewußtsein zur Gegebenheit. Als eigentliches "Phänomen" gilt daher die Bewußtseinsgegebenheit. Das Wort "Phänomen" bedeutet also nur, daß das Gegebene vor dem Bewußtsein erscheint, und nicht, daß hinter dem Phänomen ein Unbe­kanntes läge. Die Phänomenologie fragt nicht danach, sie geht nur auf das Gegebene aus, ohne entscheiden zu wollen, ob dieses Gegebene eine Wirklichkeit oder Erscheinung ist: es ist jedenfalls da, es ist gegeben.

Im Gegensatz zum Empirismus bedeutet die Intention der Phäno­menologie auf die "Sachen selbst" keine Beschränkung auf sinnlich

4 Vom Umsturz der Werte, S. 23. 5 Hier ist keineswegs eine Gesamtdarstellung der Husserlschen Phänomenologie

beabsichtigt; sie soll nur in großen und groben Zügen wiedergegeben werden, um den darauffolgenden Vergleich mit Schelers Phänomenologie zu ermöglichen.

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oder experimentell Bestimmbares, sondern Gerichtetsein auf den Wesens­gehalt der Dinge. (Alles Individuelle und Zufällige besitzt ein Wesen, ein rein zu erfassendes Eidos.)

Im Gegensatz zum Rationalismus wendet die Phänomenologie sich gegen alle Begriffskonstruktion. Für sie ist die Rechtsquelle aller Erkennt­nis die "originär gebende Anschauung", alles, was sich in der Intuition originär darbietet.

In der "natürlichen Einstellung" steht der Mensch einer sinnlich wahrnehmbaren, gedanklich und willensmäßig bestimmbaren Wirk­lichkeit gegenüber. Diese Wirklichkeit findet er vor als eine existierende und zwar in Raum und Zeit daseiende.

Für Husserl ist nun der Ausgangspunkt eine radikale Änderung dieser natürlichen Einstellung, in der phänomenologischen "epoche". Dieser Akt besteht darin, daß alle Gegebenheiten der natürlichen Einstellung, alle sinnlich-natürlichen Daten der gegenständlichen Welt "außer Aktion" gesetzt, ausgeschaltet oder eingeklammert werden. Die ganze natürliche Welt, die in der natürlichen Einstellung immer "für uns da", "vorhanden" ist, und die immerfort dableiben wird als bewußtseins mäßige "Wirklichkeit", wird eingeklammert. Es wird gleich­sam eine "Urteilsenthaltung" geübt. Diese phänomenologische Reduk­tion erstreckt sich nun auf jedes Urteil über raum-zeitliches Dasein. Sie bezieht sich aber nicht nur auf das Objekt, sondern - was besonders wichtig ist - auch auf das Subjekt. Auch das natürliche Subjekt mit seinem individuellen Bewußtsein muß sich den Abbau seiner empirisch­sinnlichen Eigenschaften gefallen lassen, woraus sich eine neue Auffas­sung von der menschlichen Person ergibt. - In gleicher Weise fallen in den Bereich der Reduktion alle wissenschaftlichen Theorien, die fundiert sind in der Welt der natürlichen Einstellung, d.h. der physischen und psychischen Wirklichkeiten. Soweit an dieser Einstellung die Natur­und Geisteswissenschaften teilhaben, werden auch sie ausgeschaltet. Die phänomenologische Reduktion beschränkt sich aber nicht nur auf das Faktische, sondern wird auch ausgedehnt auf alles, was zur "psychi­schen" Gegenständlichkeit gehört, das Gebiet der materialeidetischen Wissenschaften. Zu den "individuellen Realitäten" gesellt sich alles transzendent Eidetische 6.

Wo liegt nun die Grenze dieser fortschreitenden Ausschaltungen? Sie liegt dort, wo wir auch das eigentlichste der Phänomenologie zu

6 VgI. HUSSERL Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolo­gischen Philosophie. 1. Buch (Husserliana Band IIl), S. 63-69.

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erblicken haben: im Bewußtsein. Das "Bewußtsein in sich selbst ... absolutes Eigensein" , die "absolute Region einer eigenständigen Subjek­tivität" wird von der Ausschaltung nicht getroffen, sie bleibt als phäno­menologisches Residuum zurück 7. Das Ergebnis der phänomenolo­gischen Reduktion und zugleich das phänomenologische Forschungs­gebiet ist nach Russerl also das "transzendental reine" Bewußtsein. Die gesamte Welt individueller und allgemeiner Realitäten ist auf die Bewußtseinsabsolutheit reduziert. - Die raum-zeitliche Welt, ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein, setzt das absolute Bewußtsein als "Feld der Sinngebung" voraus.

Gegenstand der Phänomenologie ist mithin das "Bewußtseinsapriori" und die in ihm gründenden reinen Wesenheiten; die Phänomenologie selbst eine sich auf das Bewußtseinsimmanente beschränkende, "r ein des k r i p t i v e, das Feld des transzendental reinen Bewußtseins in der pur e n In t u i ti 0 n durchforschende Disziplin" 8. - Ein grundlegendes Kennzeichen des Bewußtseins ist, auf ein Etwas bezogen zu sein, d.h. Intentionalität zu besitzen. Alles Wahrnehmen, Fühlen, Begehren usw. ist auf einen Inhalt gerichtet, ist "Bewußtsein von etwas". Empfindungen und Empfindungskomplexe sind intentionslos, aber es gibt intentionale Gefühle.

Die phänomenologische "epoche" ist deshalb von grundlegender Bedeutung, weil dadurch der oberste und entscheidende Grundsatz der Phänomenologie vorbereitet wird, nämlich die These vom unmittel­baren Zusammenhang zwischen dem Wesen des Gegenstandes und dem Wesen des intentionalen Erlebnisses. In der sinnlichen Natürlichkeit bleiben Subjekt und Objekt durch eine unüberwindliche Kluft vonein­ander getrennt. Wird aber mittels der phänomenologischen Einklam­merung die Person zu einer nichtsinnlichen Noese und das natürliche Objekt zu einem nichtsinnlichen Noema, so werden Subjekt und Objekt bzw. deren Residuen einander in ungewohnter Weise nahegebracht. Daher lehrt Russerl, daß Noesis und Noema als Korrelate untrennbar zusammengehören, d.h. er stellte damit als Erster den obersten Grund­satz der Phänomenologie, die Lehre vom Zusammenhang zwischen dem Wesen des Gegenstandes und dem Wesen des intentionalen Erlebnisses auf.

7 Vgl. ebenda, S. 69. Als Residuum des menschlichen Subjektes bleibt das reine Bewußtsein in Form eines intentionalen Erlebnisses, als Residuum des natürlichen Gegenstandes eine nicht-sinnliche Wesenheit dieses Gegenstandes. So unterscheidet Husserl zwischen Noesis und Noema.

S Ebenda, S. 141-142.

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Nicht zufällige Sachverhalte, sondern Wesenheiten und Wesens­zusammenhänge will die Phänomenologie erforschen. Die Wesenheit ist vom empirisch Tatsächlichen zu unterscheiden, sie liegt ihm zugrunde und bestimmt sein Sosein. Im Gegensatz zu ihrer empirischen Verwirk­lichung ist sie kein Daseiendes im Sinne raum-zeitlicher und individueller Bestimmtheit. Obwohl die Wesenheiten den sinnlichen Erscheinungen zugrunde liegen und in ihnen zum Ausdruck kommen, haben sie dennoch mit ihnen nichts gemeinsam. Ist dem aber so, so muß auch ihre Erkennt­nisweise eine andere sein als die induktive der empirischen Tatsachen­forschung. Bei der Wesenserkenntnis, die nach Vollzug der phänomeno­logischen Reduktion möglich wird, muß es sich also um eine Anschauung von prinzipiell eigener und neuer Art handeln. Husserl nennt sie Ideation und definiert sie als adäquate Erschauung begrifflicher Wesen und wesensgesetzlicher Allgemeingültigkeiten.

Zu jedem zufälligen Sein gehört ein notwendiges Wesen oder Eidos, das Objekt der phänomenologischen Erkenntnis ist. Dieses Wesen ist "ein neuartiger Gegenstand. So wie das Gegebene der individuellen oder erfahrenden Anschauung ein individueller Gegenstand ist, so das Gegebene der Wesensanschauung ein reines Wesen".9 Wie die sinnliche Anschauung auf individuelle Tatsachen, so ist die Wesensanschauung auf allgemeine Wesenheiten gerichtet.

Wesensanschauung ist weder Induktion noch Abstraktion, sondern Intuition im Sinne der Ideation. Als ein geistiges Schauen der Idee eines Gegenständlichen ist sie scharf zu trennen von der verallgemeinernden Induktion, die immer im Bereich der Erscheinungstatsachen bleibt. nie innere Wesensnotwendigkeiten erkennt. Ist die Wesensschau auch an die Gegebenheit der konkreten Tatsache gebunden - als Bedingung ihres Vollzuges -, so ist sie dennoch, sowohl als Akt wie hinsichtlich ihres Objektes, gegenüber der Induktion ein Neuartiges. Im Gegensatz zu anderen Akten setzt die Wesensschau nie "individuelles Dasein von Erfahrungseinzeiheiten existential" mit.

Das Lebenselement der Phänomenologie ist also die Ideation. Am konkreten Einzelding, sei dieses als Wahrnehmung oder Fiktion gegeben, wird durch Blickwendung, bei Ausschluß alles Existentialen und Indivi­duellen, das Wesen geschaut. Es ist ein Akt sui generis. - Und Philo­sophie wird damit gewissermaßen zu einer Seinslehre, sie wird wiederum Ontologie, Ontologie als Wissenschaft vom Wesen des Seienden. Der späte Husserl bezeichnete die Phänomenologie als die wahre und echte

9 HUSSERL Edmund, Ideen I (op. eil.), S. 14 (bei Husserl gesperrt).

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universale Ontologie des universalen Logos alles erdenklichen Seins : sie ist das Offenbarmachen und als Vollzug das Offenbarwerden des allem Sein immanenten, und im natürlichen In-die-Welt-hinein-Leben verborgen und anonym bleibenden Logos. Der Wille, Ontologie zu betreiben, findet sich auch schon ausdrücklich bei Brentano, dem Lehrer Husserl und Vorläufer dieser neuen Einstellung, der sich in diesem Zusam­menhang auf die Scholastik beruft. Wie die Scholastik erhält die Phäno­menologie bei Husserl, aber weit stärker noch bei Scheler - wie wir gleich sehen werden - den Charakter eines Objektivismus.

2. Max Schelers "eigener Weg" in der Phänomenologie

Scheler nennt die phänomenologische Bewegung das "System" nicht einer Person, sondern einen ganzen Kreis von Personen, die sich nicht auf bestimmte Doktrinen, Sätze, Theoreme, sondern auf eine besondere Forschungsrichtung und -Methode geeinigt hatten, auf eine Techne der Untersuchung. Weder thematisch noch weltanschaulich weist die phäno­menologische Gruppe eine Einheit auf, und Husserl spielt in seinen Augen vor allem die Rolle der Anregung, kaum die der Führung. Hinzu kommt, daß viele der ersten Mitstreiter nicht als philosophische tabula rasa zu ihm stießen, sondern wie Scheler ihren eigenen Weg schon beschritten hatten, in seinem Falle unter Rudolf Eucken auf kantischem Boden. Sie alle scharten sich um diese "neue Techne des schauenden Bewußtseins", diesen neuen Einheitsboden der Betrachtung für die ganze Philosophie, von dem aus sie eine neue Sachphilosophie erwarteten. Aber in der Beantwortung selbst sehr wesentlicher philo­sophischer Fragen und auch in der Auffassung und Methode der Phäno­menologie selbst gehen die ihr nahestehenden Forscher oft weit ausein­ander.

So wundert es nicht, daß, so sehr Scheler sich auch von Husserl abhängig zeigt, man doch schnell den Eindruck gewinnt, nicht mehr in demselben Klima zu sein. Auch betont er ja ausdrücklich seine eigene Verantwortung für die Art, wie er diese neue Einstellung auffaßt, und für alles, was ihm dank dieser Einstellung als "evident gegeben" ist. Das Klima ist allein schon deshalb verschieden, weil sein Forschungs­gebiet ein anderes ist: seine Probleme und Themen sind viel konkreter, stehen dem praktischen Leben viel näher. Die Ethik, die Religion und die Soziologie sind die Hauptbestandteile seiner Philosophie. - Auch ist seine Einstellung viel realistischer und objektivistischer - Begriffe, die im Laufe der Untersuchungen noch zu klären sind. Während Husserl

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in den Ideen seinen transzendentalen Idealismus begründet, zeichnet Schelers Phänomenologie sich durch einen betonten Objektivismus in dem Sinne aus, daß sie das Primat des Seins vor der Vernunft verkündet, die Unterwerfung des Subjekts - unfähig, sein Objekt zu konstruieren -unter das Objekt. Der Verstand muß sich der Wirklichkeit beugen, was einen ausgesprochenen Erkenntnispassivismus zur Folge hat. -Aber auch für Scheler ist die Grundlage aller philosophischen Forschung die unmittelbare Schau des Wesenhaften, die als phänomenologische Schau eine neue Tatsachensphäre zur Gegebenheit bringt.

Als erstes sollen die zwei wesentlichsten neuen Momente der Scheler­schen Phänomenologie herausgestrichen werden, die dann später an ihren Konsequenzen genauer erklärt werden sollen. Einmal ist ihm die auf Phänomenologie beruhende Philosophie in einem gewissen Sinne Empirismus. Alles und jedes Gegebene - sei es apriori oder durch Induktion und Beobachtung gegeben - beruht auf "Erfahrung". Tatsachen und Tatsachen allein, nicht Konstruktionen eines willkür­lichen "Verstandes" (Kant) sind die Grundlagen der phänomenologi­schen Philosophie 10. Für Scheler ist daher, im Gegensatz zu Husserl, die Phänomenologie sofort Tatsachenforschung. Dabei aber erhält der Tatsachenbegriff eine große Ausweitung. Es gibt einmal beobachtbare Tatsachen, z.B. Gegenstände psychologischer Forschung, dann aber auch "pure", "reine" oder "absolute" Tatsachen, eben die Gehalte, welche sich der der Phänomenologie eigenen Weise der Einstellung geistigen Schauens öffnen. Dieses unterscheidet sich von allen anderen Erfahrungsarten, z.B. der natürlichen Weltanschauung oder der wissen­schaftlichen Erfahrung, dadurch, daß sie die Tatsachen selber und unmit­telbar, d.h. nicht durch Symbole, Zeichen, Ausweisungsarten irgend­welcher Art vermittelt, sondern asymbolisch gibt. Es ist eine rein imma­nente Erfahrung und der Gehalt dieser Erfahrung ist eine rein immanente Tatsache, wo Gemeintes und Gegebenes zur Deckung kommt. Im Punkte des Zusammentreffens der Erfüllung des Vermeinten und Gege­benen erscheint das "Phänomen".

Noch wesentlicher ist die zweite Transponierung. Auf irgendwie wunderbare Weise verknüpft sich bei Scheler der Begriff des Phänomens mit dem augustinischen Begriff der Offenbarung. Das Phänomen wird jetzt das Erscheinende, das in die Erscheinung Tretende, das Aufblitzende, das sich von ihm selbst her Zeigende, das sich von ihm selbst her Offen­barende.

10 Formalismus, S. 71; Nachlaß I, S. 433.

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Die Schelersche Grundthese lautet: das Emotionale ist ein neuer Weg zur Erschließung der Welt. Die Emotionen sind keine bloßen Tätigkeiten des Subjekts, sondern Antwortreaktionen des Objektes selbst; in ihnen schließt sich der Gegenstand auf, offenbart sich die Welt. Die Emotionen sind ein Fragen der "Liebe", auf das die Welt antwortet; in ihnen erschließt sie sich und kommt durch sie erst zu ihrem vollen Dasein und Wert. Das ist der Urgedanke vom Erkenntnischarakter des Emotionalen: die Emotion, die Liebe erschließt die Welt.

Diese sich ihrer selbst bewußt werdende Emotion behauptet nun einen Vorrang vor den Ratio. Das Interessenehmen an etwas, die Liebe zu etwas sollen jetzt die primärsten und alle anderen Akte fundierenden Akte sein, in denen der Geist einen Gegenstand erfaßt. Die Ratio selbst soll sich auf ihnen aufbauen. Die Liebe ist die conditio si ne qua non. Ohne Interessenahme gibt es überhaupt kein Erkennen, kein Urteil. Sie leitet weiter die Auswahl dessen, was jeweils zur Wahrnehmung kommt; die Richtungen des VorsteIlens folgen den Richtungen unserer interessenehmenden Akte, insbesondere der Liebe und des Hasses. Jede Vertiefung unseres Weltbildes ist darum an die Vertiefung unserer Interessen- und unserer Liebessphäre gebunden. Das ist das Schelersche Primat der Liebe vor der Erkenntnis, das ist ganz allgemein die zentrale Stellung des Emotionalen, die er diesem überall einräumt: das eigentlich Schöpferische im Leben und in der Erkenntnis liegt nicht in intellektuellen Bewußtseinsprozessen, sondern in der emotionalen Sphäre 11.

a. Die phänomenologische Erfahrung

Für Scheler stellt sich die phänomenologische Erkenntnis als eine Erfahrungsart dar. Und die phänomenologische oder "reine" Tatsache ist eine Tatsache, die durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Gegebenheit kommt. Den Gehalt einer solchen Anschauung bezeich­nen wir "Phänomen", das mit "Erscheinung" (eines Realen) oder mit "Schein" nicht das mindeste zu tun hat. Anschauung solcher Art ist "phänomenologische Erfahrung" oder "Wesensschau". Das Was, das diese Erfahrung gibt (Wesenheiten, Wesenszusammenhänge), kann nicht mehr oder weniger gegeben sein - so wie wir einen Gegenstand mehr oder weniger genau etwa "beobachten" können -, sondern es ist entweder "erschaut" und damit "selbstgegeben" (restlos und ohne

11 Es kann nicht genug auf die Bedeutung des zuletzt Gesagten hingewiesen werden, da es sich um eine Grundthese der Schelerschen Philosophie handelt, die wir immer wieder antreffen werden und die vorliegender Arbeit gleichsam als roter Faden dient.

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Abzug, weder durch ein Bild, noch durch ein Symbol hindurch), oder es ist nicht erschaut und damit nicht gegeben. Die erschauten Wesenheiten und Wesenszusammenhänge sind vor aller induktiven Erfahrung "gege­ben" (a priori) 12 - nicht vor jedwelcher Erfahrung, da ja für Scheler die Wesensschau in der Erfahrung fundiert ist.

Eine Wesenheit oder Washeit ist hierbei als solche weder ein Allge­meines noch ein Individuelles. Erst die Beziehung auf die Gegenstände, in denen eine Wesenheit in die Erscheinung tritt, bringt den Unterschied ihrer allgemeinen oder individuellen Bedeutung hervor. So wird eine Wesenheit allgemein, wenn sie identisch an einer Mehrheit sonst ver­schiedener Gegenstände in die Erscheinung tritt in der Form: alles, was dieses Wesen "hat" oder "trägt". Sie kann aber auch das Wesen eines Individuums ausmachen, ohne dadurch aufzuhören, eine Wesenheit zu sein. Wo immer wir nun solche Wesenheiten oder Zusammenhänge zwischen ihnen haben, da ist die Wahrheit der Sätze, die in ihnen Erfül­lung finden, von der ganzen Sphäre dessen, was beobachtet, beschrieben, was durch induktive Erfahrung festgestellt werden kann und - selbst­verständlich - von allem, was in eine mögliche Kausalerklärung ein­gehen kann, völlig unabhängig und kann durch diese Art von "Erfah­rung" weder verifiziert noch widerlegt werden. Oder: Die Wesenheiten und ihre Zusammenhänge sind "vor" aller Erfahrung dieser Art oder auch apriori "gegeben", ("Als ,Apriori' bezeichnen wir alle jene idealen Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter Absehen von jeder Art von Setzung der sie denkenden Subjekte und ihrer realen Naturbeschaffenheit und unter Absehen von jeder Art von Setzung eines Gegenstandes, auf den sie anwendbar wären, durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Selbstgegebenheit kommen") 13, die Sätze aber, die in ihnen Erfüllung finden, apriori "wahr".14

Apriorische Gültigkeit weisen also nur die intuitiverfaßten Wesen­heiten als Gegebenheiten der phänomenologischen Erfahrung auf. Aposteriorische Geltung hat die Erfahrung der sinnlichen Wahrnehmung, weil sie auf zufallige Tatsachen gerichtet ist. - Apriori gilt für Scheler mithin ein Urteil, das eine anschauliche Wesenheit, einen Wertverhalt oder Zusammenhänge innerhalb dieser Sphäre bestimmt, aposteriori ein solches, das Tatsachenerkenntnis vermittelt. - Apriorische Erfahrung

12 VgI. Nachlaß I, S. 433. 13 Formalismus, S. 67. 14 Sätze sind also nur darum apriori "wahr", weil die Tatsachen, in denen sie

Erfüllung finden, "a priori" gegeben sind. Wahrheit ist also Übereinstimmung mit Tatsachen, die selbst apriori gegeben sind.

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ist also reines und unmittelbares Erfahren, das "einsichtige" oder "evi­dente" Tatsachen zu Tage fördert, aposteriorische ein durch Setzung einer Naturorganisation des realen Aktträgers bedingtes und hierdurch vermitteltes Erfahren.

Hauptsächlich zwei Merkmale unterscheiden die phänomenologische Erfahrung von jeder anderen Erfahrungsart, z.B. der der natürlichen Weltanschauung und der der Wissenschaft. Erstens gibt nur sie die Tat­sachen "selber" und unmittelbar, d.h. nicht vermittelt durch Symbole oder Zeichen irgendwe1cher Art. Scheler erklärt dies an dem Beispiel "Rot". Es kann auf die verschiedenste Weise bestimmt werden, zo z.B. als die Farbe, die das Wort "Rot" bezeichnet; oder als Farbe dieses Dinges oder dieser bestimmten Oberfläche; als in einer bestimmten Ordnung z.B. des Farbenkegels bestimmt; als die Farbe, die "ich eben sehe", usw. Sie erscheint hier überall gleichsam als das X einer Gleichung oder als das einen Bedingungszusammenhang erfüllende X. Die phäno­menologische Erfahrung aber ist diejenige, in der die Gesamtheit dieser Zeichen, Anweisungen, Bestimmungsarten ihre letzte Erfüllung findet. Sie allein gibt das "Rot" selbst. Sie macht aus dem X einen Tatbestand der Anschauung.

Zweitens ist die phänomenologische Erfahrung eine rein "immanente" Erfahrung. Im Gegensatz zu aller nichtphänomenologischen Erfahrung, die prinzipiell ihren anschaulichen Gehalt transzendiert, da in ihr immer mehr "vermeint" als "gegeben" ist, besteht in der phänomenologischen Erfahrung keine Trennung mehr zwischen "Vermeintem" und "Gege­benem". In ihr ist nichts gemeint, was nicht gegeben wäre, und nichts ist gegeben außer dem Gemeinten. Nur das, was im jeweiligen Akte des Erfahrens selbst anschaulich ist - sei es auch selbst wieder ein Etwas, das in einem Hinausweisen eines Inhalts über sich selbst besteht -, niemals etwas, was durch einen Inhalt als außer und getrennt von ihm vermeint ist, gehört ihr an. - In der Deckung von "Gemeintem" und "Gegebenem" wird uns der Gehalt der phänomenologischen Erfahrung allein kund 15.

Es stellt sich noch die Frage, ob denn Scheler keine apriorisch gültigen Denk/unktionen mehr kennt? Auch Scheler - und hierin geht er mit Kant überein - spricht von der transzendentalen Gültigkeit des a

15 Als weiteres Charakteristikum kann man noch anführen, daß die phänomenolo­gische Erfahrung eine reine Anschauung ist, d.h. daß in ihr die sinnlichen Funktionen keine (intentionale) Rolle mehr spielen.

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priori, gewinnt sie aber auf eine ganz andere Weise als letzterer. Zu der aus der apriorischen Natur der Wesenseinsicht fließenden Unersetz­und Unzerstörbarkeit einer Wesenserkenntnis gesellt sich für ihn das Gesetz der Funktionalisierung : und zwar in dem Sinne, daß die Tatsach­enerkenntnis unter die Leitung einer schon vollzogenen Wesenseinsicht gestellt wird, die dadurch für die erstere eine transzendentale Geltung gewinnt. "Alles, was für das (selbstgegebene) Wesen von Gegenständen (und was an Wesenszusammenhängen) gilt, das gilt auch für die Gegen­stände dieses Wesens apriori" 16.

Alle Tatsachenerkenntnis wird modifiziert von Funktionsgesetzen, die jedoch nicht formal sind - wie bei Kant die Verstandes kategorien -, sondern in Wesenserkenntnissen gründen. Die durch Funktionalisierung gewonnenen apriorischen Geistesfunktionen - da auch sie von den zufälligen Tatsachen ausgehen - können verschieden sein in Raum und Zeit. - "Deutet man den Funktionalisierungsgedanken erkenntnistheo­retisch aus, so ergibt sich, daß auch Scheler apriorisch gültige Denkfunk­tionen kennt, nämlich die durch Funktionalisierung der Wesenseinsichten gewonnenen, die für die Tatsachenerfahrung bestimmend sind" 17.

Es gibt Wesenseinsichten, die nur an einem einzigen konkreten Geschehnisfluß erzielbar sind; solche, die nur bestimmten Kulturen und Zeitaltern 18 zugänglich sind. Daher ist jede einzelne Wesenserkennt­nis unvertretbar, ein vollständiges Erfassen der Wesenswelt nur durch historische und numerische Kooperation möglich. - Da die Wesenheit nicht von der Zahl der Verwirklichungen der Idee abhängt, kommt die Phänomenologie als Methode Scheler auch aus einem psychologischen Motiv sehr gelegen: an einem einzigen Geschehnisfluß kann er den authentischen Sinn und den wahren Gehalt der Idee wiederfinden, und er kann jenen Leuten entgegentreten, die behaupten, z.B. die Liebe sei nichts als wechselseitige Illusion, denjenigen, die alle wahren Formen der menschlichen Verhalten und Gefühle nach den falschen Formen

16 Nachlaß I, S. 383. 17 NEWE Heinrich, Die religiöse Gotteserkenntnis und ihr Verhältnis zur metaphy­

sischen bei Max Scheler. Untersucht unter besonderer Berücksichtigung der histo­rischen wie methodisch-erkenntnistheoretischen Grundlagen, Würzburg, 1928, S. 50.

18 Interessanterweise bemerkt Scheler in diesem Zusammenhang, daß für die Philo­sophie (wie auch für die Kunst und die Gesetzgebung) verschiedene Zeitgeister gleich­sam verschiedene Seiten und Teile der geistigen Kultur fackelartig erhellen (Vgl. Nachlaß I, S. 296). Die Wandlung vorn "Geist der Zeiten" zum "Zeitgeist" (Vgl. LÖWITH Karl, Von Hegel zu Nietzsche, 5. Auflage, Stuttgart, 1964, S. 220-227) ist also auch bei ihm als vollzogen zu betrachten.

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beurteilen, indem sie aufzeigen, daß schlechte Eigenschaften häufiger sind als gute, Laster zahlreicher als Tugenden, usw ....

Außerdem ist es unmöglich, die gewonnenen Wesenseinsichten durch Beobachtung und Induktion zu bestätigen oder zu widerlegen. "Was sich nach sorgfältigster Vornahme der phänomenologischen Reduktion so als Wesenheit und als Wesenszusammenhang aufweisen und erschauen läßt, das ist durch alle mögliche empirische Forschung: alle Beobach­tung, Beschreibung, Induktion, Deduktion und Kausalforschung (auf dem Gebiete des Realen), nicht zu bestätigen und nicht zu widerlegen, muß aber in allen empirischen Feststellungen geachtet sein" 19. - Und dies aus folgendem Grund: "Ist die Frage, ob ein Vorgegebenes eine echte Wesenheit ist, so ist evident, daß, wenn es eine solche ist, jeder Versuch, das Vorgegebene zu ,beobachten', darum unmöglich ist, da­um der Beobachtung die Richtung auf das Objekt und seinen Sachverhalt zu erteilen - die exemplifizierende Schauung des Vorgegebenen an einern Objekt schon vorausgesetzt ist" 20. - Wesenserkenntnisse können demnach an einern einzigen exemplifizierenden Fall vollzogen werden. Sie sind zwar nicht unabhängig von der Erfahrung, wohl aber vorn Quantum der Erfahrung und von aller Induktion. Letzterer wie aller auf Wirklichkeit gerichteten Beobachtung und Messung geben sie vorher. Diese - einmal gewonnenen - Wesenserkenntnisse gelten aber von vorneherein, d.h. apriori, für alle zufälligen beobachtbaren Tatsachen des betreffenden Wesens in unendlicher Allgemeinheit und Notwendig­keit. Sie gelten also hinaus und hinüber über den Bereich der realen Welt, der uns durch sinnliche Erfahrung und deren beliebige instrumen­tale Unterstützung zugänglich ist. Sie gelten für das Seiende, wie es "an sich selbst und in sich selbst" ist.

b. Die phänomenologische Reduktion

An Hand der Verschiedenheit der Auffassung über die phänomenolo­gische Reduktion wollen wir nun aufzeigen, wie Scheler zwar in seiner Wertphänomenologie ohne Zweifel in die Fußstapfen Husserls getreten ist, aber auch wie er sofort seinen eigenen Weg verfolgt hat, und insbe­sondere, wie er zwar mit dem Husserlschen Prinzip übereingeht, daß das Dahingestelltseinlassen und Einklammern des Realseins die Vorbe­dingung aller Wesenserkenntnis ist, wie er aber gleichzeitig Husserls

IV Nachlaß I, S. 395. 20 Ebenda.

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"falsche" Realitätslehre verwirft, die diesen in seinen Augen in den transzendentalen Idealismus geführt hat.

Er behauptet zunächst, daß die Methode Husserls, die natürlichen Gegenständlichkeiten "einzuklammern", um auf diese Weise eine hinter der sinnlich-natürlichen Erscheinung ruhende Seinsschicht aufzudecken, äußerlich-formal und unzulänglich sei. Die rechte Methode sei nicht der logische Prozeß des "Absehens" von den Daseinsmodi oder des "Einklammerns" von Dasein. Die Ausschaltung der in der natürlichen Einstellung stets implizierten Daseinssetzung genüge keineswegs. Wäh­rend Husserl das Existenzurteil zurückhalten will, möchte Scheler hin­gegen alle Akte suspendieren, die das Realitätsmoment selbst geben; d.h., um das reine Wesen hervortreten zu lassen, müssen alle begierlichen, triebhaften Akte (d.h. die Realität gebenden Akte) ausgeschaltet werden. Dazu bedarf es aber an erster Stelle einer Lehre vom Realitätsmoment selbst 21. "Denn soll das Realitätsmoment aufgehoben werden, damit echtes Wesen zu Tage trete, soll jene ,Entwirklichung' der Welt vorge­nommen werden, die auf alle Fälle Bedingung ihrer Verwesentlichung ist, so muß vor allem klar sein, was denn das Realitätsmoment selber ist, das wir durch die Reduktion abzustreifen haben, und worin dieses Moment gegeben ist. Handelt es sich doch darum, eben die Akte und Verhaltungsweisen zu suspendieren, die dieses Moment erst geben und das Realsein zugängig machen" 22.

Scheler macht Husserl den Vorwurf, sich niemals intensiv mit dieser Frage beschäftigt zu haben. "Und es wäre dann auch erst auf Grund einer Lehre vom Wesen der Realität und des Realitäthabens möglich, die Techniken und Methoden des Geistes aufzuweisen, durch die wir das vollziehen können, was E. Husserl die ,phänomenologische Reduk­tion' genannt hat; eine Geisteshaltung, die er selbst trefflich in seinen Untersuchungen auszuüben wußte, deren Beschreibung und Theorie ihm aber darum völlig mißlang, weil ihn nur eine ganz unklare und, soweit sie gegeben, sicher falsche Realitätslehre - Realsein heiße: eine Stelle in der Zeit haben - dabei leitete. Nur durch Ausschaltung der das Realitätsmoment gebenden Akte und psychischen Funktionen kann ja jenes Absehen von Realität eintreten, jenes Dahingestelltsein-

21 Aus Gründen des Aufbaus und der Klarheit sind wir gezwungen, die Schelersche Lehre von der Realität und deren Erfahrensart erst nach der Lehre von der Aufhebung dieses Realitätsmomentes wiederzubringen. Einiges sei deshalb hier nur vorläufig erwähnt, um dann im weiteren Verlauf dieser Arbeit genauer erklärt zu werden.

22 Idealismus - Realismus, in Philosophischer Anzeiger 2 (1927/28), S. 282.

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lassen und Einklammern des Realseins, das Husserl mit Recht als Wesens­bedingung aller Wesenserkenntnis ansieht - als der reinsten theoreti­schen Haltung überhaupt" 23.

Die "Ausschaltung" und "Zurückhaltung" der in der natürlichen Weltanschauung stets implizierten Daseinssetzung genüge keineswegs. Nicht um die Zurückhaltung des Daseinsurteils könne es sich hier handeln, sondern um die Abstreifung des Realitätsmomentes selbst, das dem Prädikate des Daseinsurteils Erfüllung gibt, respektive um die Ausschaltung der Akte, die dieses Moment selber geben. Dies geschieht durch die Außerkraftsetzung der das Realitätsmoment selbst gebenden unwillkürlichen Funktionen. - Und so fragt sich Scheler, was denn an dem "blühenden Apfelbaume" (ein Beispiel Husserls) nun anders werden soll durch die bloße Zurückhaltung des Daseinsurteils; man sieht gar nicht, wie sich nur dadurch eine neue Gegenstandswelt eröffnen soll, die in der natürlichen Weltanschauung noch nicht mitenthalten war. Die Einklammerung der Daseinssetzung hat nichts zur Folge als ein schärferes Heraustreten des zufälligen Soseins des Gegenstandes, der dabei seine Raum- und Zeitstelle durchaus beibehält. Und während für Husserl nach Vollzug der phänomenologischen Reduktion das "reine Bewußtsein" als Residuum übrigbleibt, über das sich dann die Phänomenologie zu beugen hat, bleibt für Scheler die "Wesenssphäre" übrig, mit dem Vorwurf, daß Husserl nur zufälliges Sosein und nicht echte Wesenheiten erreiche. Residuum 24 ist nach der Entwirklichung der Welt für beide die "ideale Wesenswelt", für Scheler aber nicht etwas, das wie bei Husserl gleichzeitig als nur "bewußtseinsimmanent" anzu­sprechen wäre. "Ganz anders aber steht es, wenn wir unter Voraussetzung einer Lehre vom Realitätsmoment und den es gebenden Akten unter Reduktion die wirkliche Inhibierung dieses Moments und die wahrhafte Außerkraftsetzung (nicht nur ein logisches Absehen) der es gebenden Akte verstehen. Dann haben wir es nicht mehr mit einer bloßen Methode, das heißt einem Denkverfahren, zu tun, sondern mit einer Techne, das heißt einem Verfahren inneren Handeins, durch das gewisse Funktionen, deren Vollzug in der natürlichen Weltanschauung stets erfolgt, faktisch außer Kraft gesetzt werden, mit einem Handeln ferner, durch das ein

23 Die Wissensfarmen und die Gesellschaft, S. 281-282. 24 Der Begriff "Residuum" wird sowohl von Husserl wie auch von Scheler in

diesem Zusammenhang verwendet. Er scheint uns unglücklich gewählt, besonders deshalb, weil damit zusehr der privative Charakter der phänomenologischen Reduk­tion hervorgehoben wird und zu wenig ihre schöpferische Funktion.

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Verschwinden des Realitätsmomentes selber gesetzt wird, nicht nur des Urteils über es" 25.

Ist nun diese Außerkraftsetzung des Realitätsmomentes selbst wirk­samer in Bezug auf die Entdeckung des Wesens als die Zurückhaltung des Daseinsurteils ? Scheler ist hiervon überzeugt, da in seinen Augen mit dem Realitätsmoment bzw. mit den es gebenden Akten eine wohl­geordnete Reihe von Gegenstandsbestimmtheiten der natürlichen Weltanschauung notwendig mitverschwindet, zu denen z.B. das zufällige Sosein und seine raumzeitliche Stellung gehören. Zu gleicher Zeit aber taucht mit dem Verschwinden der das Realitätsmoment gebenden Akte etwas Neues in die Erscheinung, etwas, was in der natürlichen Weltan­schauung nicht enthalten war, etwas, was sich uns als ein Grundbestand­teil des echten Wesens enthüllen wird. - Dieses Neue erscheint aber nicht nur durch den negativen Akt der Ausschaltung, sondern ist ebenso begründet in dem positiven Akt der Einschaltung, der Einschaltung der begierdefreien Liebe zu dem Sein und Wertsein aller Dinge, in diesem neuen geistigen Grundverhältnis zur Welt, in der geistigen Liebe. Das Liebesverhältnis zur Welt ist für Scheler die oberste Bedingung jedes rein objektiven, der Sache selbst hingegebenen Verhaltens überhaupt. Und hiermit stoßen wir zum ersten Male auf diese überaus fundamentale liebesgeleitete "Hingabe an die Welt", die für Schelers Phänomenologie und insbesondere für seine phänomenologische Reduktion auszeichnend charakteristisch ist. Wohl muß betont werden, daß Scheler sich zu dieser Reduktionsauffassung erst spät hin entwickelt hat, daß erst im Spätwerk die Reduktion als asketischer Akt und als begierdefreie liebesgeleitete Schau der Wesenheiten in voller Ausarbeitung auftritt. Zwei Aspekte müssen also berücksichtigt werden: einerseits die eigentliche Reduktion, d.h. der Versuch nach möglichster Ausschaltung alles begierlichen trieb­haften Verhaltens, das ja die Bedingung alles Realitätseindruckes und des Zustandekommens jeder sinnlichen Wahrnehmung des zufälligen Jetzt-Hier-Soseins ist; andererseits das liebende, die Urphänomene und Ideen der Welt aufsuchende Verhalten.

Wenn wir die phänomenologische Reduktion vollziehen, sehen wir also von zwei Dingen ab 26: Einmal vom realen Aktvollzug und all seinen Begleiterscheinungen, die nicht im Sinne und in der intentionalen Richtung des Aktes selbst liegen, sowie von allen Beschaffenheiten seines Trägers (Tier, Mensch, Gott). Der intentionale Akt, der das Objekt

25 Idealismus - Realismus, S. 282-283. 26 Vgl. Nachlaß I, S. 394.

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erfaßt, muß sozusagen herausgezogen werden aus dem psychophysischen Ganzen, d.h. dem Leben der individuellen Person, die ihn vollzieht. -Zweitens muß abgesehen werden von aller Setzung (Glaube und Un­glaube) der Besonderheit des RealitätskoejJizienten 27, mit dem in der natürlichen Anschauung und in der Wissenschaft sein Gehalt "gegeben" ist (Wirklichkeit, Schein, Einbildung, Täuschung). Auf Seiten des Ob­jektes (gleich welcher Natur, sei es physisch, mathematisch, vital usw.) sieht man also von seiner kontingenten Existenz (Existenz hic et nunc) ab, man schaut nur sein pures Quid, seine Essentia. Nur das, was wir dann noch unmittelbar vorfinden, d.h. in einem Erleben dieses Wesens von einem Gehalte dieses Wesens, ist Sache der phänomenologischen Untersuchung.

Scheler glaubt, mit dieser seiner Reduktionsmethode von innen her unmittelbar an das phänomenale Sein heranzukommen. "Seine unmittel­bare Wesensschau fördert nicht mehr ideale Wesenheiten, die trotz ihrer Einklammerung sich an der natürlichen Gegenständlichkeit orien­tieren, zutage, sondern phänomenale Werte und Wertzusammenhänge, die sich toto coelo von einem natürlichen Weltbilde unterscheiden" 28.

Die - eher negative - Methode der phänomenologischen Einklamme­rung wandelt sich bei ihm in die Methode der phänomenologischen Wesens schau. Nicht durch formales Einklammern der Sinnesdaten an der natürlichen Gegenständlichkeit, sondern in unmittelbarer auf das Phänomenale gerichteter Schau will er die phänomenale Welt er­greifen. Diese Welt besteht nach Scheler nicht mehr aus den "blutarmen", am Empirischen abgezogen "Wesen" der Dinge, sondern aus den leben­digen Werten und Wesenheiten, deren Gegenstand von jedermann und überall erlebt wird.

Ein weiteres Abweichen Schelers von der Lehre des "Meisters" rührt daher, daß Husserl seine Lehre von der Reduktion in eine - logisch keineswegs geforderte - Verbindung mit seinem "Idealismus des abso­luten Bewußtseins" bringt. Wie auch Nicolai Hartmann schon betonte, ist aber die Reduktion zunächst völlig unabhängig von dem erkenntnis­theoretischen Gegensatz "Idealismus und Realismus". "Residuum ist bei der Entwirklichung der Welt wohl die ,ideale' Wesenswelt, nicht aber

27 Die Realitätskoeffizienten selbst und ihr Wesen bleiben indes Gegenstand der Untersuchung; nicht sie, sondern nur die Setzung eines besonderen Modus ihrer wird ausgeschaltet.

28 KRAENZLIN Gerhard, Max Schelers phänomenologische Systematik. Mit einer monographischen Bibliographie: Max Scheler, Leipzig, 1934, S. XII.

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etwas, was gleichzeitig auch als nur ,bewußtseinsimmanent' anzusprechen wäre. Die Behauptung E. Husserls, daß die ,immanenten Wesen' den ,transzendentalen Wesen' vorhergingen, und daß daher die Wesensge­setze des Bewußtseins ,von etwas' auch Gesetze der Gegenstände des Bewußtseins werden müßten - eine Form, die bei Husserl der Gedanke Kants von der ,kopernikanischen Wendung' annimmt - ist jedenfalls eine Behauptung, die aus dem Verfahren der Reduktion in keinem Sinne folgt 29. - Husserl hat seine phänomenale Wesenheit in eine unverrück­bare Beziehung zu einem "cogito", zu einem "reinen Bewußtsein" eingespannt und beiden Elementen, subjektivem Sein oder Noesis und objektivem Sein oder Noema, die Vernunft als letzte Einheit zugrunde­gelegt. Scheler räumt dieses "reine Bewußtsein" als letzten Beziehungs­punkt alles Seins weg. Die phänomenalen Werte und Wesenheiten kennen keine unverrückbare Relation auf subjektives Sein; es gibt nur ein objektives Sein: die Werte und ein Grundgesetz in diesem objektiven Sein: die Liebe.

Durch die Lehre vom Realitätsmoment und seiner Erfahrungsart wird uns klar werden, daß für Scheler das Sein des "Be-wußtseins" wesens gesetzlich an das vorgängige ekstatische Haben und Erleiden des das Realitätsmoment gebenden Widerstandserlebnisses gebunden ist, und daß die besondere Seinsform des Bewußtseins oder des reflexiven Seins einerseits mit dem Realitätsmoment gleichzeitig, andererseits seine Folge, nicht aber sein fundierender Grund ist.

c. Das Realitätsmoment

Im vorigen Abschnitt haben wir schon auf dieses Problem hingewiesen und angedeutet, welche Bedeutung die Frage nach dem Wesen der Realität in Schelers Phänomenologie genießt. Die Bedeutung dieses Problems läßt sich deutlich an den folgenden Worten Schelers erläutern : "Sollte sich nämlich bei der Untersuchung dieser Frage zeigen, daß Realsein selbst nur im Widerstande ursprünglich gegeben ist, in dem sich irgendwelche inneren und äusseren Sachkomplexe selbst gegen unsere Strebens- (Trieb- und Willens-) Impulse behaupten, - daß überhaupt nicht das rein theoretische Wissensverhältnis zur Natur, sondern nur unser Kampf- und Herrschaftsverhältnis zu ihr das ursprüng­liche Realerlebnis und Wirkerlebnis der Dinge vermittelt, so wäre das pragmatisch bedingte Wissen um Natur in einem Ur phänomen der

29 Idealismus-Realismus, S. 283.

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Weltontik woh!fundiert" 30. Ausgangspunkt ist für Scheler also die pragmatische Einsicht, daß das primäre Verhältnis des Menschen wie aller lebendigen Wesen zur Welt ein praktisches ist, und daß daher hinter aller "natürlichen", unreflektierten Weltanschauung praktische Motive stehen. Für Scheler ist die Wurzel aller Realitätserfassung das Wider­standserlebnis, das das Daseiende in uns auslöst, indem es unser Wollen hemmt. Der Pragmatismus schließt hieraus, daß es nur praktisch beding­tes Erkennen gibt. Für Scheler hingegen folgt hieraus nur, daß zur Her­stellung eines theoretischen Verhältnisses zwischen Mensch und Welt jene praktischen Motive sorgfältig auszuschließen sind.

Die eigentliche Lehre von der Realität hat bei Scheler eine Entwicklung erfahren, auf die wir schon hingewiesen haben. In der ersten Zeit seines philosophischen Schaffens, bis zur Ethik 31 liegt der Akzent im Realitäts­erlebnis mehr auf einem statischen Moment, auf einem Sein. Die Dinge sind immer Milieudinge, die Objektives und menschliche, subjektive Tätigkeit mitumfassen. In dieser phänomenologischen Welt ist die Liebe das Grundgesetz des Seins, und als solche ist sie auf das innigste mit dem Sein verbunden. Hierdurch wird das Sein selbst mit einer Aktualität ausgestattet. Im Sinne dieser phänomenologischen Grundauffassung bedeutet die phänomenale Realität prinzipiell eine Seins sphäre, eine "Gegenstandsschicht", obgleich auch schon hierdaraufhingewiesen wird, daß die Eigenart des Milieudinges in seinem " Wirken", in seinem "Wirksamsein" liegt. Es ist dieses dynamische Moment, welches in den späteren Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt. Auch die Auffassung von der Realität wird in diesem Sinne beeinflußt. Nicht mehr ein gegen­ständlicher Wert, der liebevoll gefühlt wird, sondern das Erleben eines bloßen "Widerstandes" gilt nunmehr als Realität. Das phänomenale Sein wird in weitgehender Weise "funktionalisiert". Realsein ist nun nicht mehr "Gegenstandsein" , sondern Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität. - Dem phänomenalen "Gegenstande", dem Milieuding war zwar immer ein Wirken eigen, nun aber wird das "Ding­liche" einer weitergehenden "phänomenologischen Reduktion" unter­zogen und lediglich das Funktionale, das Dynamische der phänomenalen

30 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 281. Dieses Teilkapitel hätte - wie schon angedeutet - normalerweise im vorigen Abschnitt behandelt werden müssen, da es erst auf Grund einer Lehre vom Wesen der Realität und des Realitäthabens möglich wird, die Techniken und Methoden des Geistes aufzuweisen, durch die wir die phänomenologische Reduktion vollziehen können.

31 Ethik. Ein Forschungsbericht, in Jahrbücher der Philosophie 2 (1914), S. 81-118. Aufgenommen in Frühe Schriften, S. 371-409.

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Welt als das Element festgehalten, das ausschließlich die Realität konsti­tuiert 32.

In der erkenntnistheoretischen Realitätsfrage wendet sich Scheler also ebensowohl gegen den Idealismus wie gegen den kritischen Realis­mus. "Alles Seiende ist vom menschlichen Geiste evident unabhängig". Hiermit widerspricht er Kants Lehre und lehnt gleichzeitig Husserls transzendentalen Idealismus, d.h. die Lehre vom alle Wirklichkeit konsti­tuierenden "reinen Ich" ab. Im Gegensatz zum kritischen Realismus ist das Dasein 33 des Gegenständlichen ohne Beziehung zum Erkennen, da es als "dynamischer" Verhalt nur auf Akte des Strebens und Begeh­rens bezogen ist. Wir erfahren das Realsein einer Sache nur durch den Widerstand, den diese Sache unserer vitalen Spontaneität, dem immer aktiven Leben unserer Bestrebungen gegenüber leistet. Ohne voluntatives Verhältnis zur Welt käme es überhaupt nicht zu einem Realitätsbewußt­sein 34. - Es gibt für Scheler eine Priorität des Realitätsbewußtseins vor allem Denken und Wahrnehmen. Auch beim Fehlen jedes Erkennt­nisgegenstandes würde die Realität erlebt als ein Widerstand gegen den zentralen Triebimpuls. Und aus diesem Grunde ist auch das Absehen vom Realitätsmoment am Seienden kein logischer, sondern ein asketi­scher Akt - der voluntativen Kategorie zugehörig. Unsere Begierde­bezogenheit zur Welt muß zerschnitten werden, die Strebe- und Willens­funktionen dürfen nicht ausgeübt werden.

"Nicht ein Triebbewußtsein führt zum erlebten Widerstande, oder ein Hemmungsbewußtsein des gehemmten Triebimpulses, sondern der primär ekstatisch erlebte Widerstand ist es, der den Actus der Reflexio erst herbeiführt, durch den der Triebimpuls erst bewußtseinsfähig wird.

32 Wir sehen hier eine gewisse Annäherung Schelers an die Husserische Reduk­tionsmethode. Während er in seiner Wertphilosophie die "Einklammerung" des natür­lich Gegebenen noch als formales äußerliches Verfahren ablehnte und glaubte, in der phänomenologischen Anschauung die phänomenalen Werte und Wesenheiten an den natürlichen Gegenständen der Welt unmittelbar ablesen zu können, geht er jetzt auf ein weitgehendes Funktionalisieren und Dynamisieren der Realität über; d.h., daß die Erscheinungsweisen der natürlich-gegenständlichen Welt in größeren Maße abgetragen werden müssen. - Die wesentlichen Unterschiede beider Denker in der Reduktionsfrage bleiben jedoch bestehen.

33 Auch ontologisch ist es für Scheler ein Wesensgesetz, daß Dasein nie aus dem Logos notwendig folgt, sondern dynamisch gesetzt ist.

34 Hierin weiß Scheler sich mit Schopenhauer einig, der mehrfach den Gedanken ausspricht, daß es für ein rein intellektuelles Subjekt einen Unterschied zwischen real und irreal nicht gebe. Realität, Wirklichkeit ist für beide keine logische, sondern eine voluntative Kategorie.

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Das Bewußtwerden (und der mit ihm verknüpfte Ich-Bezug) ist in allen den mannigfaltigen Stufen und Graden, in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der Welt. Realsein ist uns also immer schon mitgegeben, wenn irgendetwas Bewußtseinsimmanentes vorhanden ist. Realitätserlebnis und Werden vom Sein des Bewußt­seinsimmanenten ist also mindestens von gleicher Ursprünglichkeit" 35.

Das ursprüngliche Wirklichkeitserlebnis als Erlebnis des Widerstandes der Welt geht demnach allem Be-wußtsein, aller Vor-stellung, aller Wahr­nehmung vorher. Die Wahrnehmung, die Erinnerung, das Denken und alle perzeptiven Akte vermögen uns den Wirklichkeitseindruck nicht zu verschaffen, sie geben immer nur das zufällige Sosein der Dinge, nie­mals ihr Dasein. Dies kann uns nur geben das Erlebnis des Widerstandes der schon erschlossenen Weltsphäre, und dieser Widerstand besteht eben nur für unser strebendes, triebhaftes Leben, für unsern zentralen Lebens­drang : der erlebte Widerstandseindruck gegen die unterste, primitivste Stufe des seelischen Lebens, die der Mensch mit Tier und Pflanze gemein hat, gegen das Triebzentrum, vermittelt uns das Dasein der Welt. Und so läßt sich verstehen, warum Scheler die phänomenologische Reduktion einen asketischen Akt nennt: dieser zentrale Lebensdrang, im Verhältnis zu dem die Welt vor allem als Widerstand erscheint, der die Bedingung aller sinnlichen Wahrnehmung des zufälligen Jetzt-Hier-So ist, muß außer Kraft gesetzt werden, das Gefühlsdrangzentrum muß inaktualisiert werden; nur so kann die Welt entwirklicht werden, oder wie Scheler es positiv ausdrückt, so nur kann sie "ideiert" werden. - Es ist leicht ersichtlich, daß diese Lehre auf einer Grundvoraussetzung beruht: der Trennbarkeit von Dasein und Sosein in der Erkenntnis.

d. Die Trennbarkeit von Dasein und Sosein in der Erkenntnis

Der Bewußtseinsidealismus vertritt die Ansicht, daß, weil das Soseiende der Dinge im Bewußtsein sein kann, auch das Dasein im Bewußtsein sein kann, während für den kritischen Realismus Sosein und Dasein der Dinge extramental sind - im Bewußtsein findet sich nur ein Abbild oder eine Repräsentation des Soseienden. - Beide Lehren beruhen auf der Nichttrennbarkeit von Dasein und Sosein im Verhältnis zum Intellekt. "Diese falsche Voraussetzung besteht darin, anzunehmen, daß das, was wir Dasein oder Realität irgend eines Gegenstandes nennen (Innenwelt, Außenwelt, fremdes Ich, Vitalwesen, totes Ding usw.) und

35 Idealismus-Realismus, S. 291.

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das, was wir sein Sosein (zufälliges Sosein, respektive sein ,Wesen', essentia) nennen, untrennbar seien in Bezug auf die Frage, ob sie dem Wissen (scientia), ferner dem Reflexwissen (Be-wußtsein, conscientia) immanent sind, respektive sein können oder nicht" 36. - In Schelers Augen haben beide Lehren je einen wahren und einen falschen Satz. Der Bewußtseinsidealismus hat darin recht, daß er das Sosein "in mentem einspringen" läßt, der kritische Realismus darin, daß das Dasein immer "extra mentem" bleibt. Das Sosein ist beim Erkennen "in mente" und zugleich "in re", d.h. extra mentem, Dasein nie "in mente" Darum ist allein Sosein erkennbar, nie das Dasein. "Eine meiner positiven Hauptthesen ist nun: Alles (,zufällige' und ,Wesens-') Sosein kann dem Wissen und Bewußtsein prinzipiell selber und genau so, wie es jenseits des Bewußt­seins ist, also nicht nur vertreten durch ein repräsentierendes ,Bild', Wahrnehmung, Vorstellung, repräsentativem Gedanken, immanent sein und wahrhaft selbst einwohnen, - freilich je in ganz verschiedenen Graden der Adäquation, freilich auf ganz verschiedenen Stufen der Relativität seines Daseins zu Dasein und Beschaffenheit (Organisation) des ,wissenden' Subjekts. Niemals aber sein Dasein, das vielmehr wesens­notwendig, wissens- und bewußtseins transzendent, wissens- und bewußt­seinsfremd und unabhängig bleibt - wesensnotwendig transzendent im Grenzfalle auch für einen ,göttlich allwissenden Geist'. Oder: Sosein und Dasein jedes möglichen Gegenstandes sind trennbar in Bezug auf das mögliche ,in mente' Sein. Sosein kann in mente sein, und ist es auch, in evidenter Soseinserkenntnis, also mit Ausschluß von Täuschung und Irrtum, - Dasein niemals" 37.

Zu bemerken ist noch, daß das Realitätsproblem nicht nur mit sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen verbunden ist. Es gilt ebenso für die Sphäre des Gewesenseins, das uns niemals durch Wahrnehmung gegeben sein kann. Es tritt nicht minder auf bei der Unterscheidung, was psychisch real und was nur Bewußtseinsphänomen "von" Psychischem ist. Die Realität eines Gewesenen ist mir primär nicht gegeben durch sogenannte Erinnerungsbilder, sondern durch einen Widerstand und einen Druck auf mein Gegenwartserlebnis, durch einen Druck durch "etwas", das durch meine Willensmacht nicht mehr abänderlich ist. Auch das gewesene Wirkliche meldet sich primär nicht als "Gegenstand", sondern als Wider­stand gegen mein auf die Zukunft ausgerichtetes Leben. Es sind stets

36 Idealismus-Realismus, S. 255-256. 87 Ebenda, S. 256.

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Versuche, etwas "Gewesenes" praktisch zu verwerten, die einem Gewe­senen den primären Wirklichkeitscharakter geben.

Es erscheint mir unumgänglich, auf die Gefahr dieser Schelerschen Auffassung aufmerksam zu machen. Für die Erkenntnis zieht Scheler einen absoluten Trennungsstrich zwischen Dasein und Sosein. Bassenge nennt diese These von der Trennbarkeit von Dasein und Sosein in der Erkenntnis Schelers "Zauberformel für die Lösung der verschiedensten philosophischen Grundprobleme" 38. Dasein ist zwar für den erken­nenden Geist total unerkennbar, andererseits spricht er aber von einer "Gegebenheit" des Daseins bzw. der Realität. Hier tritt ein offensicht­licher Widerspruch zutage: wenn uns etwas "gegeben" ist, muß es doch in irgendeiner Weise erkennbar sein. Und besonders, weil Scheler das Dasein und die Daseinsarten als Gegenstand der Metaphysik hinstellt, müssen wir doch irgendetwas von ihm erkennen können. Dasein bleibt deshalb unerkennbar, weil uns die Realität nur als Wider­stand gegen unser triebhaftes voluntatives Verhalten zur Welt gegeben ist (also nicht in perzeptiven Akten), und weil diesem Triebleben keine direkte Erkenntnisfunktion zukommt. - Der Hauptgrund dieser Scheler­sehen Stellungnahme liegt unserer Ansicht nach darin, daß Scheler jedwelchem Idealismus ausweichen will : so sagt er, daß, wenn man zur Rechtfertigung der Realitätserfahrung nur intellektuale Akte und ihre Gesetze heranzieht, man konsequent zum Idealismus kommen muß. Für ihn ist das ausschließliche Korrelat aller intellektualen Akte immer nur das Sosein einer vorgegebenen Realität. Das Realitätserlebnis als vorgewußtes und vor bewußtes Erlebnis erweckt irgendwie den Eindruck, als ob es sich um ein vom Bewußtseinsnehmen unabhängiges Etwas handle. Realsein aber bedeutet nicht nur "Unabhängig-sein" vom möglichen Erkenntnisakt, sondern es ist ihm gleichgültig : es ist nicht von ihm abhängig (Nur-Unabhängigkeit wird hier durch Nicht-Abhän­gigkeit ersetzt).

Eine zweite Schwierigkeit dieser Lehre rührt daher, daß dieser Tren­nung von Dasein und Sosein in der Erkenntnis kein ontisches Korrelat entspricht. Wie Takiyettin richtig bemerkt, gibt es nichts in der Natur, das "nicht Dasein und Sosein zugleich hätte" 39. Ontisch gesehen steht das Seiende als solches in einem unzerreißbaren Zusammenhang, der

88 BASSENGE Friedrich, Drang und Geist. Eine Auseinandersetzung mit Schelers Anthropologie, in Zeitschrift für philosophische Forschung XVII (1963), S. 392.

39 TAKIYEITIN Temuralp, Über die Grenzen der Erkennbarkeit bei Husserl und Sche­ler, Berlin, 1937, S. 87.

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ein Ganzes bildet und darum nur als Ganzes zu erforschen ist. Der Weg der menschlichen Erkenntnis kann jedoch nicht immer dement­sprechend verfahren; d.h. sie muß zergliedern und wieder zusammenset­zen. Wenn diese Auseinanderreißungen und Zergliederungen auch notwendige Umwege für das Erkennen darstellen, so muß man sich doch immer dieses künstlichen Prozesses bewußt bleiben und nicht das Ontische selbst für zergliedert halten. - Scheler begeht hier den Fehler, daß er nicht nur zergliedert, sondern sogar eine scharfe Trennung zwischen Dasein und Sosein zieht. Beide Seinsmomente treten aber nie isoliert und unabhängig voneinander auf. Man kann sie zwar "unter­scheiden", nie aber trennen oder gar verselbständigen, wie Scheler es zu tun scheint. Indem er den Husserlschen Idealismus überwinden wollte, hat er die Richtigkeit einer anderen These Husserls völlig übersehen: es kann nichts sein, ohne so oder so bestimmt zu sein; oder, wie Nicolai Hartmann es später formuliert: "Kein Sosein ohne Dasein, und kein Dasein ohne Sosein" 40.

e. Die Phänomenologie des emotionalen Lebens und die phänomenolo­gische Erkenntnis

Scheler führt eine für die ganze phänomenologische Bewegung überaus bedeutsame neue Lehre ein : er stellt eine ganz neue Auffassung vom emotionalen Erlebnis auf. Das intentionale Erlebnis, das bei Husserl Noesis genannt wird und noch einen intellektuellen Vorgang im "reinen Bewußtsein" darstellt, kann bei Scheler auch ein emotionales Erlebnis sein. Er behauptet, die ontologische oder die Seinsbedeutung des emo­tionalen Lebens, des Nachfühlens, Mitfühlens, des Hasses und der Liebe usw. entdeckt zu haben. Das emotionale Leben geht nun in der Bedeutung eines Seinsverhältnisses in den obersten Grundsatz der Phänomenologie ein. "Es ist nämlich unser ganzes geistiges Leben -nicht bloß das gegenständliche Erkennen und Denken im Sinne der Seinserkenntnis -, das ,reine' - von der Tatsache der menschlichen Organisation ihrem Wesen und Gehalt nach unabhängige - Akte und Aktgesetze hat. Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, und das Wollen hat einen ursprünglichen apriorischen Gehalt, den es nicht vom ,Denken' erborgt, und den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat" 41. Und: "Wertphänome­nologie und Phänomenologie des emotionalen Lebens ist als ein völlig

40 HARTMANN Nicolai, Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin, 1935, S. 128. 41 Formalismus, S. 82.

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selbständiges, von der Logik unabhängiges Gegenstands- und For­schungsgebiet anzusehen" 42.

Ausgangspunkt ist für Scheler die Tatsache, daß die phänomenale Welt der Wesenheiten und Werte hinter die Realität der natürlichen Gegebenheiten mit ihren sinnlich-wahrnehmbaren Einzeldingen und Einzelsubjekten zurückgeht in eine Seinssphäre, wo objektives und sub­jektives Sein in einheitlichen Seinsstrukturen zu finden sind - der Wert ist also primär eine Art Seinsstruktur, wo Objektives und Subjekti­ves vereint sind.

Der strukturhafte Aufbau der phänomenalen Realität, der Versuch, den Realitätsbegriff aus einer ursprünglichen, Subjekt und Objekt um­schließenden Seinssphäre hervorgehen zu lassen, wird vor allem durch jenen Grundzatz ausgedrückt, den Scheler als den höchsten Grundsatz der Phänomenologie bezeichnet: den Satz, daß ein Zusammenhang bestehe zwischen dem Wesen des Gegenstandes und dem Wesen des intentionalen Erlebnisses. "Und zwar ein Wesenszusammenhang, den wir an jedem beliebigen Fall eines solchen Erlebnisses erfassen können. Nicht also das ist die Behauptung, daß sich - wie Kant sagt - die Gesetze der Gegenstände nach den Gesetzen der sie erfassenden Akte ,richten' müssen, daß die Gesetze des Erfassens der Gegenstände auch Gesetze der Gegenstände des Erfassens sind. Hier wäre der Zusammen­hang einseitig. Aber ebenso schließen wir den absoluten Ontologismus aus, d.h. die Lehre, es könne Gegenstände geben, die ihrem Wesen nach durch kein Bewußtsein erfaßbar sind. Jede Behauptung der Existenz einer Gegenstandsart fordert auf Grund dieses Wesenszusammenhangs auch die Angabe einer Erfahrungsart, in der diese Gegenstandsart gegeben ist. Insofern sagen wir: Werte müssen ihrem Wesen nach in einem fühlenden Bewußtsein erscheinbar sein" 43.

Objektives Sein des puren Gegenstandes und intentionales subjektives Sein des Menschen fallen also in einen Zusammenhang, eben in der eigenartigen Gegenstandssphäre der phänomenologischen Wesenheiten und Werte zusammen. Noesis und Noema, oder Erfahrungsgegenstand und "subjektive" Erfahrungsart, oder phänomenales Sein und Wissen von phänomenalem Sein bleiben für Scheler wie für alle Phänomenologen als Korrelate unmittelbar aufeinander angewiesen. Das "Erfahrenwerden" des phänomenalen Seins ist unmittelbar in der phänomenalen Gegen­ständlichkeit begründet.

42 Formalismus, S. 83. Es wird sich sogar zeigen, daß der Apriorismus des Liebens und des Hassens als das letzte Fundament alles anderen Apriorismus anzusehen ist.

43 Ebenda, S. 270.

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Bei Scheler tritt die Unmittelbarkeit der phänomenologischen An­schauung in viel höherem Maße hervor als in der phänomenologischen Reduktion, in der Einklammerungsmethode Busserls. Scheler braucht keine phänomenologische "epoche", um an die phänomenalen Gegen­stände heranzukommen; er vermag die phänomenale Seins schicht. die Werte und Wesenheiten, umittelbar an der empirischen Gegenständ­lichkeit in Erfahrung zu bringen. Und seine Bauptaufgabe sieht er darin, diese für den natürlichen Menschen schwer verständliche Seinsregion der Werte und Wesenheiten eingehend zu beleuchten.

Die grundlegende Tätigkeit des Geistes ist hierbei der Akt der Ideie­rung, die Möglichkeit also, in den empirischen Dingen deren Wesens­gehalt zu erfassen, ihr ewig bleibendes Sosein, ihre Essentia. Diese Wesenheiten erscheinen, indem die das Realitätsmoment gebenden Akte außer Kraft gesetzt werden. - Es bleibt noch darauf hinzuweisen, daß Scheler das Wesen der Subjektivität nicht primär als Bewußtseins­subjektivität begreift, als das ego der cogitationes (Busserl), sondern als Personalität (Das dritte Kapitel wird sich ausführlich hiermit befas­sen).

Wie aber kommt Scheler nun zum Wissen? Den Beginn aller Philo­sophie sieht er im Anschluß an das alte aristotelische Wort in der geistigen Gemütsbewegung der Verwunderung darüber, daß irgendwelche konkrete Wesensstrukturen überhaupt da sind und in bestimmter Weise da sind. Aus dieser Verwunderung wächst die Absicht, eben diese bleibenden und allem zufälligen Geschehen gegenüber apriorischen Strukturen der Welt aufzudecken und herauszustellen. - Und Wissen ist in Schelers Augen immer eine Ekstasis, ein Sich-selbst-Transzendieren. Er definiert es als einen Akt des Teilnehmens an einem anderen Seienden, an seinem Sosein. Wissen ist also ein "Aussichheraustreten" . Die Tendenz, jene Sehnsucht, die Grenzen des eigenen Seins zu sprengen und sich zu verlieren an ein anderes Sein, ist Hingabe und Liebe. So wird ein emo­tionales Phänomen als letzte Wurzel der wahrnehmenden wie intellek­tuellen Tätigkeit des Menschen angesetzt und damit wieder der Anschluß gefunden an die Welt der Werte und ihr Erlebnis im Menschen.

Ist nun Wissen ein Seinsverhältnis, so kann sein Ziel nicht wieder Wissen sein, sondern nur die Entwicklung und das Anderswerden eines Seienden. Das Wissen muß einen ontischen Sinn haben, kein Wissen um des Wissens willen. Scheler hat dem Wissen drei oberste Wesensziele gesetzt, die eine feste Rangordnung unter sich haben. Auf der untersten Stufe steht das Herrschafts- und Leistungswessen. Sein Ziel ist die prak­tische Beherrschung und Umbildung der Welt für unsere Ziele und

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Zwecke. Es will eine Veränderung der Welt auf Grund menschlicher Machtzentren bewirken. Die nächste Stufe ist das Bildungswissen, welches das Werden und die Vollentfaltung der Person der Wissenden zum Ziele hat. Hier bauen wir uns unser eigenes personhaftes Wesen zu einem Mikrokosmos aus, der in ganz bestimmter und für jedes Individuum verschiedener Weise zum Spiegel und zur Konzentration des Makrokosmos wird. Auf der obersten Stufe haben wir das Erlösungs­wissen mit dem Ziel, das Werden der Welt und ihres Gottes zu gestalten. Wir müssen uns unserer Identität mit dem göttlichen Sein innewerden, uns bewußt werden, daß nur durch uns als einer Individuationsform Gottes Gott selbst erst zur Vollendung gelangen kann 44.

Der Begriff des Wissens als des Zieles alles Erkennens muß nach Scheler mit rein ontologischen Begriffen bestimmt werden; d.h. Wissen ist für ihn ein Seinsverhältnis, das Verhältnis des Teilhabens eines Seienden am Sosein eines anderen Seienden. Des "Gewußte" wird "Teil" dessen, der "weiß", ohne Veränderung dieses Soseins; das Dasein, wie schon gesagt, bleibt notwendig transintelligibel, bleibt außerhalb und jenseits der Wissensbezogenheit, aber das Sosein der Sache vermag selbst (und nicht etwa eine Repräsentation seiner) in unseren Geist einzutreten, indem es Gegenstand einer Intention wird, die nicht ein Bild ist, sodern ein Akt. Und das bewegungs bestimmende Moment für den Vollzug dieses Aktes der Teilhabe ist die sich selbst und sein eigenes Sein transzendierende Teil-nahme, die Scheler Liebe nennt. "Wissen ist also da und nur da, wo das Sosein als streng Identisches sowohl extra mentem, nämlich in re ist als auch und zugleich in mente -als ens intentionale oder als ,Gegenstand' ".45 Wissen besteht also nur durch die Tendenz in dem "wissenden" Seienden, aus sich herauszu­treten zur Teilhabe an einem anderen Seienden, und diese Tendenz ist die Liebe.

Und erst jetzt ist es uns möglich, zu sagen, was eigentlich Erkenntnis ist, denn Erkenntnis ist ein auf Wissen zurückführbarer Begriff."Erkennt­nis ist Wissen von etwas ,als' etwas, setzt also immer zwei Arten von Wissen voraus: ein Wissen durch Anschauung und ein Wissen durch Gedanken. Erkenntnis ist stets die Deckungseinheit irgendeines Anschau­ungskorrelats (sei es Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung, sei es sinn-

44 Diese Formulierung weist darauf hin, daß sich hier auf den "späten" Scheler bezogen wird, wo ein noch "unfertiger" Gott erst durch den Menschen zu sich selbst gelangt. Vor 1922 wurde dieses oberste Wissen als "Heilswissen" bezeichnet.

45 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 204; siehe auch Philosophische Weltanschauung, S. 40.

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liehe oder asensuelle Anschauung), das heißt eines Bildes, mit einem Gedachten. Erkennen heißt irgend ein Bild der Bedeutungssphäre ein­reihen" 46. Dies heißt nun aber keineswegs, daß Scheler ein Verfechter der sog. Bildertheorie ist, die Erkenntnis auf eine wesensmäßig unkon­statierbare Übereinstimmung mit von allem und jedem möglichen Wissen "unabhängigen" Seinsbeständen zurückführt, für die die Bilder nur be­wußtseinsimmanent sind. Für Scheler ist das Sosein der Sachen ebenso­wohl "in mente" d.h. bewußtseinsimmanent, als auch "extra mentem", d.h. in der Sache; es kann in mente "einspringen", und "ausspringen", ohne daß das reale Dasein diesen Sprüngen folgt, und es ist im strengsten Sinne das Sosein "selbst". Scheler verteidigt die realistische These, daß es zum realen Gegenstand gehört, daß er unabhängig von allen wissenden Akten ist und besteht, aber dieses "unabhängig" bedeutet für ihn nur, daß es für das reale Sein (sofern es auch Sosein ist) objektiv gleichgültig ist, ob sein Sosein in die Wissensteilhabe eingeht oder nicht. Was aber beim Wissen in unseren Geist eintritt, ist dieses ontisch ungeteilte und unteilbare Sosein selbst der Sache: es wird Gegenstand einer Intention, die nicht ein Bild, sondern ein Akt ist. Die Bilder, von denen Scheler in seiner Erkenntnisdefinition spricht, sind eben nichts vom Sosein des (z.B. wahrgenommenen) Gegenstandes selbst als Daseiendes verschiede­nes, sie sind mit ihm identisch. Das Sosein der Sache ist im strengsten Sinne in dieser Deckung, in der Koinzidenz der Bild- und Bedeutungs­gegenständlichkeit selbst gegeben. Nach der in seinen Augen falschen Definition der Wahrheit als "adaequatio intellectus cum re" könnten immer nur Bilder mit Bildern verglichen werden : für Scheler ist nicht ein Bild der Sache, sondern ihr Sosein selbst "in mente" (durch das Verhältnis der Teilhabe). Das Kriterium aber dafür, daß das Sosein des Gegenstandes "selbst" in unseren Geist hereinleuchtet, ist die gegen­seitige Deckung des vollen Anschauungsphänomens dieses Gegen­standes mit dem vollen Gedankensinn. Und somit ist Evidenz nur das reflexive Wissen von diesem "Einleuchten" des Gegenstandes. Durch die Teilhabe unseres Seins am Sosein der Welt werden die Dinge zu ihrer objektiven Bedeutung hinaufgeführt. Wissen kann demnach auch nie wahr oder falsch sein, sondern nur evident oder nichtevident, der Soseinsfülle des Gegenstandes adäquat oder nichtadäquat. Wahr oder falsch können immer nur die Sätze als die unseren Urteilen immanenten idealen Seinskorrelate sein, und sie sind wahr, sobald sie mit dem maxi­mal adäquaten Sosein des Wissensgegenstandes übereinstimmen.

46 Idealismus-Realismus, S. 274.

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Dies hat zur bedeutsamen Folge, daß die von der Phänomenologie ange­strebten Erkenntnisideale der Selbstgegebenheit und Evidenz der Wahr­heit und Falschheit vorhergehen: die Erkenntnistheorie ist demnach für Scheler eine Disziplin, die der Phänomenologie nicht etwa zugrunde­läge oder vorherginge, sondern die ihr folgt. Alle Erkenntnistheorie setzt in seinen Augen die phänomenologische Erforschung vom Wesen der Gegebenheiten voraus. Erkenntnis als eine besondere Form eines "Bewußtseins von etwas" baut sich erst auf das unmittelbare Bewußtsein von ihm selbstgegebenen Tatsachen auf, was Scheler mit folgenden Worten zusammenfaßt : "Keine Erkenntnis ohne vorhergehende Kennt­nis; keine Kenntnis ohne vorhergehendes Selbstdasein und Selbstgegeben­sein von Sachen" 47. Hinzu kommt bei Scheler eine bedeutende Aus­weitung des Apriorismus, denn alles, was durch unmittelbare Selbst­anschauung "selbst" im Erleben und Anschauen da ist, das ist auch für alle mögliche Beobachtung und Induktion aus dem Beobachten apriori gegeben, als pure Wesenheit; d.h. alles, was für das selbstgegebene Wesen von Gegenständen gilt, das gilt auch für die Gegenstände dieses Wesens apriori. Und Sätze, die sich in so Gegebenem erfüllen, sind a priori wahr.

f Die phänomenologische Haltung

Für Husserl ist die phänomenologische Reduktion das Ende einer langen und schwierigen Untersuchung und Entdeckung. Demgegenüber und besonders im Gegensatz zum aktivistischen Charakter der kantischen Erkenntnistheorie vertritt Scheler nicht die Meinung, daß der Gegenstand der Erkenntnis erst durch eine komplizierte Formungstätigkeit des Subjekts konstituiert wird, daß ihn dieses Subjekt auf Grund apriorischer kategorialer Ausrüstung erst aus einem chaotischen Kernmaterial aufbaut. Das Subjekt findet vielmehr nach Sche1er den apriorischen Gehalt am Gegenstande selbst vor und kann ihn durch das Verfahren der "Wesensschau" in eigentümlicher Intuition von der empirischen Gegebenheit dieses Objektes ablösen. Philosophie ist nichts als Erkennt­nis, und zwar streng objektive, allein durch den Gegenstand und nichts anderes bestimmte Erkenntnis 48. - Die phänomenologische Intuition, die den Kontakt zu der Welt der Wesenheiten und Werte herstellt, zeitigt bei Scheler, im Gegensatz zu Husserl, ausgeprägte augustinische

47 Nachlaß I, S. 397. 48 Hiermit schließt Scheler, genau wie Husser!, jegliches "EvidenzgeilihI" als

Erkenntniskriterium aus.

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Züge. Alleinige Aufgabe des Verstandes ist es, aufmerksam und auf­nahmebereit zu sein. Einem solchen Verstande, und nur ihm, tun sich die Wesenheiten kund, gewissermaßen spontan; und nur so wird möglich jene "Vermählung des Geistes mit der Sache", die allein Erkenntnis zu heißen verdient. Hier handelt es sich zweifellos um eine der grundlegenden Auffassungen Augustins; und hierdurch wird die phänomenologische Intuition Schelers zweifach passiv (wobei der spontan-aktive Charakter keineswegs außer Acht gelassen werden darf): passiv als Intuition und passiv in dem Maße, wo die Welt der Wesenheiten und Werte selbst die Erwartungen und das Suchen des Verstandes "erfüllt" 40.

(Letztere Aussage beweist eine gewisse Tendenz der Dinge und Wesen­heiten, sich dem Menschen kundzutun, eine Art "Liebe" der Dinge zu den Menschen. Auf diesen Zug der Schelerschen Philosophie werden wir im 2. Kapitel zurückkommen.)

Um aber aufmerksam sein zu können, muß der Verstand asketisch sein, d.h. er muß von den Trieben und dem Dasein der Welt Abstand nehmen. Und so wird die phänomenologische Reduktion bei Scheler eher ein moralisches Phänomen als ein logisches. Die Entwirklichung oder Ideierung der Welt ist ein im Grunde asketischer Akt. Philosophie ist deshalb ein "ewiges Ersterben" (Platon), die Annihilierung des ganzen, ungeteilt machtvollen Realitätseindrucks mit seinem affektiven Korrelat, die Beseitigung der "Angst des Irdischen", um so in die Regionen vor­zustoßen, wo die reinen Wesenheiten und Werte wohnen.

Die moralischen Bedingungen der phänomenologischen Reduktion sind zugleich die moralischen Bedingungen des philosophischen Aktes. In sich selbst genommen ist die philosophische Erkenntnis dasselbe wie die Wesensschau, deren strenge Evidenz und deren apriorischen Wert sie übernimmt. Die Phänomenologie erfordert eine philosophische "Bekehrung" des ganzen Menschen: durch die Liebe werden wir der Kontingenz der natürlichen und wissenschaftlichen Erschauung der Welt entzogen. "Die Liebe zum absoluten Wert und Sein bricht die im Menschen befindliche Quelle der Seinsrelativität alles Umwelt-seins" 50.

Die Demut oder die Verdemütigung des natürlichen Ich ist die moralische Voraussetzung des für die Erkenntnis der Philosophie notwendigen gleichzeitigen Abstreifens der zufälligen Daseinsmodi von den puren Wasgehalten und der faktischen Verwobenheit des erkennenden Aktes

49 Vgl. GROOTEN Johan, L'augustinisme de Max Scheler, in Augustinus Magister, Paris, 1954, S. 1119.

&0 Vom Ewigen im Menschen, S. 90.

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in den vitalen Bereich eines psychophysischen Organismus. Die Demut leitet uns also zum Wesen, während die Selbstbeherrschung das Instru­ment der Selbstgegebenheit der Ideen ist. Sie führt vom inadäquaten, im äußersten Falle nur symbolischen Meinen in die Richtung der vollen Adäquation der anschauenden Erkenntnis.

"Die Philosophie oder die Wesenserkenntnis hat es mit der Erkenntnis der ihrem Dasein nach absoluten und asymbolischen Gegenstands­wirklichkeiten zu tun. Für die Erkenntnis der absoluten Dinge aber gibt es überall eigentümliche bevorzugte Haltungen des Gemütes und Geis­tes, gewisse Gesamtsituationen und Lebensarten, die nicht ohne einen sittlich-geistigen Aufschwung, unter Umständen durch dauernde Übung einer Lebensart, der ganzen Menschenperson in eine höhere Daseins­ordnung, zum ,Wesenhaften', - wie Platon schon die wahre Aufgabe des Philosophen definiert - in das erhabene Selbstdasein treten zu können. An Stelle des unsere Sinne unterstützenden Instrumentes und der logischen Schlußfolgerungen, die uns in den positiven Wissenschaften über die Schranken unseres natürlichen Weltbildes weit hinausführen, ... tritt hier als erkenntnisbedingendes und erkenntnisdisponierendes Mittel eine innere Tat des Zentrums unserer Person selbst, eine Tat, die immer auch eine sittliche Tat ist, - ein machtvolles ,Heraus' aus unseren sonstigen allzumenschlichen, vitalen und leiblichen Bedingt­heiten. Und erst an die in dieser Tat vermittelte Anschauungsreinheit schließt sich dann das volle Erleben von Realitäten an, für die wir -ohne jene Tat - blind waren, blind sein mußten" 51.

g. Schelers Phänomenologie als Ontologie

Es ist vor allem ein Verdienst Schelers, die ontologische Natur des obersten Grundsatzes der Phänomenologie in den Vordergrund gerückt zu haben. In seiner Wertphilosophie nimmt der bei Husserl noch kor­relativ gefaßte Zusammenhang von phänomenalem Gegenstand und intentionalem Erlebnis eine explizit-ontologische Gestalt an: Der Wert ist das Sein und das emotionale Erlebnis, insbesondere die Liebe, ist das Grundgesetz des Seins. Damit ist aus der phänomenalen Seins­schicht Husserls eine auf dem irrationalen Leben basierte Ontologie, d.h. eine Form von scholastischem Objektivismus, hervorgegangen. "Es bleibt aber ohne Zweifel ein Verdienst Schelers, die Neubegründung einer nicht auf Sinnlichkeit beruhenden Ontologie als Erster in Angriff

51 Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Leipzig, 1915, S. 117-118.

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genommen zu haben. Mit den phänomenalen Werten und Wesenheiten als der eigentlichen Realität hat er ein Seiendes in den Vordergrund gerückt, das von der empirischen Welt der Einzeldinge weitab steht" 52.

Das Reich der reinen Wesenheiten, dem die Sphäre der reinen Werte koordiniert wird, steht bei Scheler als eine an-sieh-seiende Region da. "Wesenszusammenhänge und Wesenheiten ... haben nun stets eine von Hause aus ontische Bedeutung. Und in diesem Sinne geht denn auch die Ontologie des Geistes und der Welt aller Theorie der Erkenntnis voran" 53.

Bei Scheler soll das Wertfühlen von jeglichem subjektiven Bewußt­seinsmoment abgelöst bleiben. Sein Wertfühlen ist ein Gesetz des phäno­menalen Seins, ein kosmisches Erleben. Dieses Erleben soll in unmittel­barer Schau die Seins weisen und Sinngesetze einer ursprünglich phänomenalen Wirklichkeit darstellen. "Die alte platonische For­derung, daß der Mensch in der Philosophie - nicht nur sein isolierter Verstand oder sein isoliertes Gemüt usw. - Teilnahme am Wesenhaften suchen müßte, ist also nicht, wie viele sehr kindisch annehmen, ein bloß psychologisches Merkmal des Charakters Platons : es ist eine in der wesenhaften Einheit und der sachlichen Problematik der Philosophie gelegene Forderung der Erkenntnismöglichkeit seitens ihres Gegen­standes selber. Es ist eine nicht psychologisch und nicht nur philosophie­erkenntnis-theoretisch, sondern ontisch gegründete Forderung" 54.

Die Phänomenologie als Wesenswissenschaft wird auch als "philoso­phische Eidetik" und als ontologische Eidetik bezeichnet; ihr wird die Aufgabe zugewiesen, über die Region der empirischen Wirklichkeit hinwegzugreifen und Metaphysik als "setzende" Disziplin möglich zu machen. So hat sie Wahrheiten zu ermitteln, die, "obzwar gefunden an dieser zufälligen Weltwirklichkeit, nicht nur für diese Weltwirklichkeit, sondern für jede mögliche Weltwirklichkeit gelten, also auch für jenen Teil der Weltwirklichkeit, der die Grenzen aller möglichen Erfahrung vom Wesen der nur zufälligen und induktiven Erfahrung überschreitet" 55.

Dieser Sprung der Erkenntnis ist evident zulässig für Scheler. Und man kann ihm den Vorwurf nicht ersparen, daß er eine eingehende Erkenntniskritik ersetzt durch den Hinweis, daß das Recht, Metaphysik zu treiben, "evident" einleuchte. Diese Evidenz erscheint uns fragwürdig,

52 KRAENZLIN Gerhard, Max Schelers phänomenologische Systematik. Mit einer monographischen Bibliographie: Max Scheler, Leipzig, 1934, S. 79.

53 Nachlaß I, S. 396. M Vom Ewigen im Menschen, S. 85. 55 Ebenda, S. 291.

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allein schon durch die Tatsache, daß er mit derselben "Evidenz" zu widerspruchlichen Aussagen kommt (z.B. in der Gottesauffassung der verschiedenen Perioden). Und so glaubt Katharina Kanthack, daß die Schelersche Ontologie nicht aus dem phänomenologischen Verfahren und seiner Anwendung erwachsen sei: "Sie hat vielmehr ihren Ursprung in kühnen Setzungen ethischer und anthropologischer Provenienz und streift sich das Verfahren nur wie eine schützende und sichernde Haut über. Das aber bedeutet für die Phänomenologie eine untragbare Zumu­tung" 56. Dieser Vorwurf scheint uns insofern berechtigt, als man diesen Sprung der Erkenntnis besser und tiefer fundieren muß als Scheler, nicht aber, daß man ihm nicht von der Phänomenologie zur Ontologie folgen sollte.

Wie Husserl hatte auch Scheler sich mit "Erkenntnistheorie" (Metho­denlehre, Kritik der bestehenden Erkenntnisauffassungen usw.) beschäf­tigt, bevor er Phänomenologe wurde. Sowohl seine Doktorarbeit wie seine Habilitationsschrift sowie die - nicht veröffentlichte - "Logik" zeugen davon. Aber entwickelte sich bei Husserl die Phänomenologie aus dieser Arbeit über erkenntnistheoretische Probleme heraus, kann man den Schelerschen Übergang zur Phänomenologie als einen Bruch mit seinen früheren Arbeiten bezeichnen. Erst die Begegnung mit Husserl und durch diesen hindurch mit Brentano haben ihn zu dieser neuen Einstellung geführt, zusammen mit einer gewissen Enttäuschung über die vorher gehabten Einstellungen und Auffassungen. Daher wird auch verständlich, daß bei ihm die Bestrebungen zur Beschreibung dessen, was Phänomenologie eigentlich ist, erst an zweiter Stelle fungieren : das wichtigste war ihm die Anwendung dieser neuen Einstellung auf die von ihm größtenteils schon vorher gesehenen Probleme. Und dies hat zur notwendigen Folge, daß bei ihm die erkenntnistheoretische Ausein­andersetzung mit seiner eigenen Einstellung vielfach zu kurz kommt. - Trotzdem war es aber am Anfang dieser Arbeit notwendig, auf Schelers phänomenologische Denkhaltung einführend, d.h. keineswegs ausführlich bzw. gesamtdarstellend, einzugehen.

Voraussetzung aller Phänomenologie ist, wie wir sahen, für Scheler der lebendigste, intensivste und unmittelbarste Erlebnisverkehr mit den Sachen selbst, und zwar mit den Sachen, wie sie sich ganz unmittelbar im Er-leben, im Akte des Er-lebens geben, und in ihm und nur in ihm

58 KANTHACK Katharina, Max Sehe/er. Zur Krisis der Ehrfurcht, Berlin, 1948, S. 127-128.

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"selber da" sind. Die Reflexion richtet sich nur auf das, was auf diese Art unmittelbar da ist. Dies setzt voraus, daß uns die Phänomene selbst gegeben sein können, und hieran zweifelt Scheler keinen Moment: was in der phänomenologischen Erfahrung in Erscheinung tritt, sind Tat­sachen, sind die "Sachen selbst". Und er geht sogar so weit, daß er behauptet, in der phänomenologischen Erfahrung seien uns die Tat­sachen ohne Vermittlung durch Zeichen oder Symbole irgendwelcher Art gegeben, was der sprachphilosophisch geschulte Leser wohl kaum annehmen kann. - Es wurde in diesem Kapitel auch aufgezeigt, wie Scheler zur transzendentalen Gültigkeit des apriori gelangt : nach ihm gilt alles, was für das - selbstgegebene - Wesen von Gegenständen gilt, auch für die Gegenstände dieses Wesens apriori. Auch sahen wir, daß für Scheler Wesenserkenntnisse von einem einzigen Menschen an einem einzigen exemplifizierenden Fall vollzogen werden können: hier fehlt unserer Ansicht nach eine Fundierung der phänomenologischen Erfahrung in der Intersubjektivität.

Die deutlichste Abgrenzung gegenüber Husserl aber ergab sich aus der Schelerschen Realitätsauffassung, die eine ganz andere Auffassung über die phänomenologische Reduktion mit sich brachte. Hier liegt auch begründet die Ablehnung des Husserlschen Übergangs zum trans­zendentalen Idealismus; Ablehnung, die Scheler mit den anderen Münch­ner Phänomenologen gemein hatte: für sie war Phänomenologie primär auch Ontologie, was bei Scheler vor allem in seiner Wertontologie zutage tritt.

Hervorhebenswert schien uns ebenfalls die Bindung des phänomeno­logischen Erkenntnisaktes an gewisse moralische Vorbedingungen: der Nachdruck liegt hier auf der moralischen Haltung der Demut, die eine Vorbedingung der "Weltoffenheit" darstellt; nur sie gewährt dieses Zur-Verfügung-Stehen für die Sachen, welches für Scheler die Grundlage aller adäquaten phänomenologischen Erkenntnis ist.

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KAPITEL n

DIE LIEBE

Als eine der schwierigsten, wenn auch interessantesten Aufgaben der Scheler-Forschung darf wohl die Auseinandersetzung mit der Liebes­lehre dieses Philosophen angesehen werden. Schwierig deshalb, weil die unzähligen Aussagen Schelers zu diesem Problem so verschiedenartig sind, daß sie einfach nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Diese Tatsache begründet aber andererseits das Interesse, das der Scheler-Forscher dieser Lehre entgegenbringen muß, da sie wie wohl kein anderes Kapitel seiner Philosophie für seine Vielseitigkeit und "Mittelpunktlosigkeit" charakteristisch ist. Hier tritt mit äußerster Schärfe die Dualität der Grundeinstellungen dieses Denkers zutage : Dualität, von der er sich bis zum Ende seines Lebens nicht befreien kann, und die ihm immer wieder den Vorwurf der System- und Zentrums­losigkeit einbrachte. Letztere Vorwürfe gelten unserer Ansicht nach aber nur dann in vollem Maße, wenn man Scheler von dem einen oder dem anderen Standpunkt dieser Dualität her betrachtet, den zweiten Standpunkt vernachlässigend oder als Abirrung erklärend. Doch wird wird diese Haltung unserer Meinung nach diesem großen Denker nicht gerecht. Der Reichtum und die Fülle dieser Lehre kann nur dann adäquat erkannt werden, wenn man immer und gleichzeitig die Spannung und den von ihr erzeugten Dynamismus mehrerer Grundeinstellungen vor Augen behält. So scheint uns, daß Scheler besonders deshalb häufig verkannt wird, weil man bei ihm nur eine Entwicklung festzustellen glaubt, dabei aber dieses Hin- und Hergerissensein von mehreren gleichzeitig vorhandenen Mittelpunkten übersieht.

Wie schon angedeutet, soll besonders dieses Kapitel über die Liebe die Bestätigung bringen, daß er zwar von der Grundhaltl;lng des Phäno­menologen ausgeht, dann aber an einem gewissen Punkte die von dieser Erkenntniseinstellung gesetzten Grenzen überschreitet, um nicht mehr nur phänomenologische Wesenheiten aufzudecken. Der Phänomenologe

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wird zum christlichen Denker, wird zum Metaphysiker. - Dieses grundlegende Merkmal des Schelerschen Denkens findet seinen Ursprung hauptsächlich in der Zielsetzung, die er seinem Leben und seinem Werke voranstellt. Diese Zielsetzung läßt sich vielleicht am besten mit folgender, in unseren Augen sehr typischen Aussage Schelers erläutern: "Darum verleugnet auch dieses nicht der Begründung unserer Philosophie, sondern eben dem Sinn-Verständnis der bestehenden Weltanschauungen an erster Stelle gewidmete Werk <er spricht von den Schriften zur Soziologie und Weltanschauungs/ehre> unsere eigene Philosophie und ,Weltan­schauung' nicht und möchte auf indirekte Weise demselben Ziele dienen, dem die systematischen Werke des Verfassers direkt dienen: der Klärung und Festigung einiger zentraler Grundideen, mit denen der Mensch von heute an die Mannigfaltigkeit des chaotischen Lebens der Tage herantritt" 1. Dieser Auszug unterrichtet uns nicht nur über die Ein­stellung Schelers zu seinem Werk und über sein Ziel- neben dem Aufbau einer systematischen Philosophie liegt ihm, und dies ist ihm mindestens genau so wichtig, die Überwindung der Nöte seiner zerrütteten Zeit am Herzen -, sondern er macht auch in Hinblick auf sein eigenes Werk den Unterschied zwischen "Philosophie" und "Weltanschauung" 2.

Hier liegt in unseren Augen einer der wichtigsten Schlüssel zum Ver­ständnis des ganzen Scheler. Und einige Seiten weiter erklärt er uns, wie er diese Unterscheidung verstanden haben will. Er spricht hier von der setzenden Weltanschauung, die er mit der philosophischen Metaphy­sik gleichsetzt: "Sie besitzt ... drei wesensverschiedene Erkenntnisquel­len : a) die natürliche Weltanschauung in ihrer Konstanz, b) die philo­sophische Eidologie, die unter Reduktion des Realitätsmomentes (das nur als möglicher Widerstand gegen eine Aktion in Streben, Wollen, passiver und aktiver Aufmerksamkeit uns gegeben wird) auf allen Sach­gebieten ein Aprioriwissen (d.h. ein vom Quantum induktiver Erfahrung unabhängiges Wissen) aller formalen und materialen Daseinsmöglich­keilen entwickelt; c) den Stand der Wissenschaften" 3.

Nach Schelers Ansicht darf man also nicht bei der Phänomenologie stehen bleiben, da sie nur eine der menschlichen Erkenntnisquellen darstellt. Und wir sehen deutlich, wie in seiner Metaphysik-von der eine

1 Schriften, Gesamtvorrede, S. 8. I Wir werden im IV. Kapitel auf diese Unterscheidung zurückkommen. Hier sei

schon vorweggenommen, daß für Scheler Weltanschauung der "Name für die organisch und geschichtlich gewordene Art und Weise großer zusammenhängender Gruppen, Welt, Seele und Leben tatsächlich anzuschauen und zu werten" (Schriften, S. 7), ist.

a Schriften, S. 20.

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DIE LIEBE 71

systematische und geschlossene Abhandlung durch seinen frühen Tod verhindert wurde - immer wieder seine Weltanschauung zum Vorschein kommt und gewissermaßen die Phänomenologie "verlängert". Es braucht wohl nicht betont zu werden, daß es sich bei Scheler um die christliche Weltanschauung handelt. - Hieraus ersieht man, daß diejenigen Kommentatoren Scheler Unrecht tun, die ihn entweder nur als Phänomenologen oder nur als christlichen Denker darstellen. Beide Aspekte immer und gleichzeitig im Auge behalten - das ist wohl die größte Schwierigkeit aller Scheler-Forschung. Wenn auch um der Klarheit willen Einteilungen vorgenommen werden müssen, so muß doch versucht werden, besonders in diesem Kapitel über die Liebe, dieser Dualität, die man fast Zwiespältigkeit nennen könntc, gerecht zu werden. Scheler wollte sich eben nicht nur als "reiner Philosoph" verstanden wissen, sondern auch und vor allem als "Denker seiner Zeit".

Auch eine zweite Dualität, die das Schelersche Geistesschaffen und insbesondere seinen Personalismus und seine Metaphysik durchwebt, muß hier noch erwähnt werden. Auch sie wird im IV. Kapitel eingehend behandelt werden, muß hier aber schon angedeutet werden, da sie für das Verstehen der Liebes-Lehre Schelers von einiger Wichtigkeit ist. Es ist die Dualität von Geist und Leben, von Liebe und Trieb: Dualität, die sich in seiner panentheistischen Schaffensperiode zu einem wahren Dualismus entwickelt. In der sogenannten "klassischen" Schaffensperiode liegt der Schwerpunkt noch auf der Person als Geist in einer streng personalistisch aufgebauten Welt und im geistigen Bezug zu der alle Personen und Welten übergipfelnden unbedingten Gottesperson, wäh­rend in der Zeit nach 1922 das Vitalwesen, das dynamisch Triebhafte im Menschen immer mehr hervorgehoben wird. Ansätze zu dieser Gegen­überstellung von Geist und Leben sind aber schon vor 1922 und besonders in Sympathie anzutreffen: in Schelers Augen soll sie den Gegensatz von "Sinnlichkeit" und "Vernunft" überwinden, den er als eine der Struktur des Geistes völlig unangemessene Trennung verwirft. - In diesem Zusammenhang muß auch auf die bekannte Schelersche Lehre hingewiesen werden, nach der es eine Erfahrungsart gibt, deren Gegen­stände dem "Verstande" völlig verschlossen sind, für die dieser so blind ist wie Ohr und Hören für die Farbe, - eine Erfahrungsart aber, die uns echte objektive Gegenstände und eine ewige Ordnung zwischen ihnen zuführt : das Fühlen der Werte.

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1. Phänomenologische Bestimmungen der Liebe

Der Heideggerianische Satz, daß das ontisch Nächste das ontologisch Fernste ist, gilt wohl nirgendwo in dem Maße wie gerade für die Liebe, denn welches Wort wird schon heutzutage häufiger in den Mund genom­men als "Liebe", welches Verbum öfter konjugiert als "lieben"? Doch was wissen wir von dem, was uns manchmal so tief berührt und uns oft in solch starke Erschütterungen zu versetzen vermag? Dies mag einer der Gründe sein, aus denen heraus Scheler versucht hat, in dieses Problem einzudringen. "In dem Bewußtsein, daß Liebe als letzte Wesenheit nicht definierbar, sondern nur erschaubar zu machen ist, daß also ein unauf­lösbarer Erkenntnisrest, der sich nicht in eine Begriffsbestimmung einzwängen lassen will, übrig bleibt, hat Scheler vor allem in seinem Werk ,Wesen und Formen der Sympathie' ... auf eine derart tiefsinnige Weise über das Wesen der Liebe philosophiert, daß kein moderner Denker die Liebe zum Objekt seiner Betrachtungen machen kann, ohne sich anerkennend oder kritisch auf ihn zu beziehen" 4. Bereits die ersten Veröffentlichungen Schelers nach der Bekanntschaft mit der Phänomenologie Husserls enthalten die von ihm bis zu seinem Tode vertretene Anschauung der Liebe. Während er das Begriffspaar Liebe­Haß höchstwahrscheinlich von Franz Brentano übernommen hat, gehen die faktisch bestimmenderen Einflüsse auf seine Liebesauffassung von Pascal aus. Auch mag die persönliche Annäherung an das Christentum, die Scheler in diesen Jahren vollzog, ein Grund gewesen sein, sich mit der zentralen Lehre von der Liebe auseinanderzusetzen.

Da für Scheler Philosophie ihrem Wesen nach "streng evidente durch Induktion unvermehrbare und unvernichtbare für alles zufällig Daseiende apriori gültige Einsicht in uns an Beispielen zugänglichen Wesenheiten und Wesenszusammenhängen des Seienden, und zwar in der Ordnung und dem Stufenreich, in denen sie sich im Verhältnis zum absolut Seien­den und seinem Wesen befinden" ist, hat auch die Liebe ihre Wesens­gesetze, die über den empirischen Gesetzen des Daseins und Auftretens stehen, in denen jene Wesenheiten empirische Realität gewinnen. Was Scheler aufzeigen will, sind nur jene letzten identischen Aktwesenheiten, die in allen Differenzen, die die Liebesakte aufweisen können, dieselben sind. Zugang zu diesen Wesenheiten gibt ihm die phänomenologische Reduktion, und so untersucht er die Liebe und ihre wesensmäßigen

4 FÜRSTNER H., Schelers Philosophie der Liebe, in Studia Philosophica 17 (1957), S.23.

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PHANOMENOLOGISCHE BESTIMMUNGEN 73

Gesetze, ohne auf das hic et nunc existierende Individuum zu achten. "Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, und das Wollen hat einen ursprünglichen apriorischen Gehalt, den es nicht vom ,Denken' erborgt, und den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat. Es gibt einen apriorischen ,ordre du cceur' oder ,logique du cceur', wie Blaise Pascal treffend sagt" 5. Der in Schelers Augen grundfalsche Dualismus von "Vernunft" und "Sinnlichkeit" hatte nach ihm dazu geführt, daß die Eigenart ganzer Aktgebiete übersehen oder mißdeutet wurden. Neben der Vernunft, der logischen Seite des Geistes, gibt es auch noch die alogisch-apriorische Seite, und die ihr entsprechende Wissenschaft ist die Wertphänomenologie und die Phäno­menologie des emotionalen Lebens, die also als ein völlig selbständiges, von der Logik unabhängiges Gegenstands- und Forschungsgebiet anzu­sehen ist. Auch liegt in Liebe und Haß eine eigene Evidenz, die nicht an der Evidenz der "Vernunft" zu messen ist. Ja, es wird sich sogar zeigen, wie wir später sehen werden, daß für Scheler der Apriorismus des Liebens und Hassens das eigentliche Fundament alles anderen Apriorismus, sowohl des apriorischen Seinserkennens als auch des apriorischen W ollens ist.

Liebe und Haß sind für Scheler "ganz ursprüngliche und unmittelbare Weisen des emotionalen Verhaltens zum Wertgehalt selbst, so, daß nicht einmal eine Funktion des Aufnehmens des Wertes (z.B. des Fühlens, des Vorziehens) dabei phänomenologisch gegeben ist" 6. "Ursprünglich" ist hier im tiefsten Sinne des Wortes gemeint, da es sich bei Liebe und Haß um absolut primitive und unreduzierbare Phänomene handelt. "Es ist an erster Stelle das Verdienst Franz Brentanos, der Liebe und Haß (allerdings bei weitgehendster Formalisierung dieser Begriffe) als eine unreduzierbare ,Grundklasse psychischer Erscheinungen' erklärte und selbst das Urteil ihnen unterzuordnen neigt, daß diese Akte von der Sphäre bloß zuständlicher Affekte und Gefühle oder von bloßen Verbindungen solcher mit Objektvorstellungen sowie von allen ,Trieben', ja der Srebenssphäre überhaupt scharf losgetrennt und einge­hend untersucht werden" 7.

Dieses Zitat führt uns zu den negativen phänomenologischen Bestim­mungen der Liebe, die Scheler als erstes angreift 8. Für ihn ist die Liebe

I Formalismus, S. 82. 8 Sympathie, S. 152. 7 Ethik, in Frühe Schriften, S. 400. 8 Vgl. Sympathie, S. 150-155.

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ein Akt, der vom Wechsel der Gefühlszustände vollkommen unabhängig ist. Es ist völlig ausgeschlossen, ihn auf das Mitgefühl zurückzuführen, wie wir später sehen werden. Ebenso unsinnig ist es, ihn als eine Kom­plexion von Gefühlen und Strebungen anzusehen. Dies zeigt sich schon an der einfach feststellbaren Tatsache, daß die Liebe in diesem Wechsel der Zustände wie ruhige, feste Strahlen auf ihrem Gegenstand verharrt.­Ist die Liebe kein Gefühlszustand, so ist sie doch auch kein Fühlen 9 "von Etwas" : es kann ja ein positiver Wert im Fühlen gegeben sein, ohne daß er Liebe zu dem Gegenstande zu erwecken vermöchte, der ihn trägt.

Schwieriger und schwerer erschaubar ist das Verhältnis der Liebe zum Vorziehen. So sieht z.B. Franz Brentano keinen Unterschied und setzt die Liebe im "Ursprung sittlicher Erkenntnis" dem Vorziehen gleich, was Scheler ihm zum Vorwurf macht. Das Vorziehen gehört zur Sphäre des Werterkennens (und zwar des Erkennens der Höhen­stufe der Wertes), wogegen die Liebe nicht zu den erkennenden Akten zählt. Sie stellt ein eigentümliches Verhalten zu Wertgegenständen dar, das sicher keine bloße Erkenntnisfunktion ist. Wohl wird sich zeigen, daß sie Werterkenntnis fundiert 10, sie ist aber keine solche Erkenntnis. Zudem ergeht die Liebesintention nicht auf einen Wert oder einen "höheren" Wert schlechthin, so wie wir einen Wert einem anderen "vorziehen", sondern auf Gegenstände, welche und sofern sie werthaltig sind. Ich "liebe" keinen Wert, sondern immer Etwas, was werthaltig ist. - Vorziehen als emotionaler Erkenntnisakt setzt immer den Tatbe­stand zweier Werte A und B voraus, zwischen denen in einem Vergleichs­akt der Vorzug erfolgt. Nicht so die Liebe. Sie ist vielmehr die intentionale Bewegung, in der sich von einem gegebenen Werte A eines Gegenstandes her die Erscheinung seines höheren Wertes realisiert. Und dieses "Er­scheinen" des höheren Wertes steht im Wesenszusammenhang mit der Liebe. Sie ist also kein Verhalten zu zwei vorgegebenen Werten wie das Vorziehen, in dem immer eine Mehrheit von gefühlten Werten min­destens intendiert ist, während in der Liebe auch ein Wert gegeben sein kann. - Ferner weist Scheler zurück, daß Liebe und Haß eine Art "Antwortreaktion" sei auf das im Vorziehen gegebene Höhersein und Niedrigersein von gefühlten Werten. Den Antwortsreaktionen gegenüber bezeichnet er die Liebe als einen spontanen Akt. Dem Akt der Liebe ist

9 Er grenzt die Liebe scharf gegen das "Fühlen" ab, da Fühlen für ihn eine Funk­tion, die Liebe aber ein Akt, eine Bewegung ist.

10 Auch alles Vorziehen ist insofern im Lieben fundiert, als erst im Lieben der höhere Wert aufblitzt, der dann etwa vorgezogen werden kann.

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nicht wesenhaft, daß er nach gefühltem Wert oder nach vorgezogenem Wert sich auf diesen Wert "antwortend" richte, sondern dieser Akt spielt vielmehr in unserem Werterfassen die eigentlich entdeckerische Rolle. "In Liebe und Haß tut unser Geist etwas viel Größeres als ,ant­worten' auf schon gefühlte und eventuell vorgezogene Werte. Liebe und Haß sind vielmehr Akte, in denen das jeweilig dem Fühlen eines Wesens zugängliche Wertreich (an dessen Bestand auch das Vorziehen gebunden ist) eine Erweiterung resp. Verengerung erfährt" 11.

Neben der Unmöglichkeit, die Liebe auf etwas Anderes als sie selbst, auf etwas Ursprünglicheres zurückzuführen, betont Scheler die wesen­hafte Unabhängigkeit der Liebe von der Richtung auf den Andern oder die Gemeinschaft: "Vor allem aber ist zu beachten, daß Liebe und Haß schon als Akte von allen anderen Akten und unter sich verschieden sind : d.h. daß sie nicht erst werden, was sie sind, sei es in Relation auf ihre Träger, sei es auf ihre Objekte, sei es auf ihre möglichen Wirkungen und Leistungen" 12. Dieser fundamentale Satz besagt, daß die Liebe keine wesenhaft soziale Verhaltungs weise 13 ist, wie es Z.B. die Funk­tionen des Mitfühlens sind; d.h. sie ist nicht relativ auf die Beziehungs­punkte "Ich" und der "Andere", noch auf Gemeinschaft. "Für das Stattfinden von Liebe und Haß ist also die Richtung des Aktes auf einen ,Anderen', sowie irgendeine bewußte Verknüpftheit der Menschen durch­aus nicht notwendige Voraussetzung" 14. Dies kommt daher, daß Liebe für Scheler primär auf Werte und auf Gegenstände (insofern sie Träger von Werten sind) gerichtet ist, wobei es prinzipiell gleichgültig ist, ob "ich" oder ein "Anderer" die betreffenden Werte hat. Es gibt also ebenso ursprünglich eine "Selbstliebe" 15, wie es eine "Fremdliebe" gibt. Aber genau so wenig wie die Richtung auf den Anderen für die

11 Formalismus, S. 266. 12 Sympathie, S. 153. 13 Am Ende seiner Abhandlung über "Die Psychologie der sogenannten Renten­

hysterie" kommt er sozialethisch zu der Schlußfolgerung, "daß die tiefsten und sittlich wertvollsten Akte und Motive des menschlichen Wesens, Liebe und echtes Mitgefühl immer mehr aus der sozialen Sphäre und der Sphäre der sozialen Übel herausgezogen und in die Sphäre des individualpersänlichen Verhaltens von Mensch zu Mensch hineingezogen werden sollten" (Vom Umsturz der Werte, S. 308).

14 Sympathie, S. 153. 15 Im Gegensatz zu dieser Selbstliebe, wo mir mein individuelles Selbst als Gegen­

stand der Liebe gegeben ist, herausgelöst aus allen sozialen Beziehungen und nur als Träger der höchsten Wertarten gefaßt, bedarf der "Egoismus" des Hinsehens auf den Anderen. Gerade der Egoist ist ganz von seinem "sozialen Ich" eingenommen; Egoismus setzt also die Gegebenheit des Einzelnen als Glied der Gesellschaft voraus.

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Liebe wesenscharakteristisch ist, so wenig auch die Richtung auf die Gemeinschaft. Gemeinschaft ist nur ein Objekt der Liebe, - unter ande­ren Objekten, da es zwar Gemeinschaftsliebe gibt, im doppelten Sinne einer Liebe zum Ganzen der Gemeinschaft und zu jedem Einzelnen als Glied der Gemeinschaft, aber es auch gleichzeitig eine davon völlig un­abhängige Fremdliebe zum Individuum selbst gibt, das hierbei ohne jeden Bezug auf eine mögliche Gemeinschaft gemeint ist oder sogar im Gegen­satz zu einer solchen (Liebe zum intimen Individuum) gemeint sein kann.

Nachdem er die Liebe gegen andere Begriffe abgegrenzt hat, geht Scheler zu ihren positiven Bestimmungen über. Um der Klarheit willen werden wir als Erstes die fundamentale Bedeutung und die zentrale Stellung der Liebe in Schelers Philosophie herausstreichen, um nachher auf die wichtigsten Aspekte und Schattierungen näher einzugehen.

2. Die Liebe als wertentdeckende Bewegung. Das Verhältnis der Liebe zur Wertewelt

Die zentrale Bedeutung der Liebe in seiner Lehre läßt sich allein schon an einigen Aussprüchen Schelers erkennen, wie: "Eine gute Ethik ist diejenige, die in einem Maximum von Liebe auf Erden das höchste Ziel aller menschlichen Bestrebungen erblickt" 16, oder: Der Liebesakt als solcher ist das "summum bonum" 17. Es ist über jeden Zweifel erhaben, aber bisher nicht immer genug unterstrichen worden, daß sie den Kern- und Angelpunkt ebensowohl der Ethik Schelers wie auch seiner Erkenntnislehre darstellt. Die Liebe beflügelt das künstlerische Schauen und Schaffen, sie treibt den Geist heraus aus dem egoistischen Ich und der Konvention der gemeinen Natur- und Weltansicht. Und keine volkstümliche Redeweise wird von Scheler härter zurückgewiesen als diejenige, die besagt, daß Liebe "blind" mache. Nicht Liebe, sondern Begierde 18 macht blind, "wogegen die Liebe das geistige Auge über­haupt erst für alle die Werte öffnet und sie in den Geist einströmen läßt, deren fühlendes Sehen irgendwelche (z.B.) Gerechtigkeit erst möglich macht. Die Liebe ist die Wurzel aller echten ,Objektivität' im Verhalten - sie ist es in der Moral wie in der Erkenntnis und das

16 Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, S. 82. 17 Vom Umsturz der Werte, S. 86. 18 Dieses unsinnige Sprichwort denkt bei Liebe offenbar nur an sinnliche Trieb­

leidenschaft. "Was ,blind' macht, ist nie die Liebe in der empirischen Gemütsbe­wegung, sondern die sie stets begleitenden sinnlichen Triebe, die die Liebe faktisch hemmen und einschränken". (Sympathie, S. 160)

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Einzige, letzte Agens, das unsern Geist aus dem Umkreis unseres Leibes und seiner Begierdeimpulse sich heraus ins Freie, zu Dingen und Werten hinbewegen läßt. Man muß auch Gerechtigkeit und Erkenntnis noch ,lieben', um danach zu verlangen und in einer dieser Richtungen tätig zu sein".19 Diese die Liebe verherrlichenden und ihre eminente Stellung herausstreichenden Sätze lassen aber noch nichts über ihre positiven phänomenologischen Bestimmungen verlauten. Letztere finden sich hauptsächlich in seinem überarbeiteten Werke: Wesen und Formen der Sympathie, das als erster Band einer geplanten größeren Arbeit unter dem Titel: "Die Sinngesetze des emotionalen Lebens" gedacht war.

Wie schon gesagt, ist Liebe als letzte Wesenheit von Akten nicht definierbar, sondern nur erschaubar. Im Akt der Liebe ist unmittelbar ein positiver Wert gegeben. Der positive Wert der geliebten Dinge oder Personen muß also schon irgendwie gegeben und gefühlt sein, aber dies kann auch ohne Liebe geschehen. Liebe ist erst da vorhanden, wo noch hinzutritt zu dem an ihr als real bereits gegebenen Werte die Bewegung, die Intention auf noch mögliche höhere Werte als diejenigen sind, die bereits da und gegeben sind, die aber als positive Qualitäten noch nicht gegeben sind.

Als erste phänomenologische Charakterisierung gilt also die Auffas­sung der Liebe als einer Bewegung, und zwar einer Bewegung, die vom niederen zum höheren Wert geht, in der jeweilig der höhere Wert eines Gegenstandes oder einer Person erst zum Aufblitzen kommt. Sie ist eine Bewegung in der Richtung auf das "Höhersein des Wertes". Liebe ist also immer auf Wertgegenstände gerichtet, auch auf den Menschen nur insofern, als er Träger von Werten ist. Man kann, im Unterschiede zum Wertfühlen und -erkennen, erst von Liebe sprechen, wenn die Bewegung zu einem möglichen höheren Wert des geliebten Gegenstandes einsetzt. "Die Liebe aber richtet sich auf Setzung des möglichen höheren Wertes, die selbst ein positiver Wert ist (bzw. die Erhaltung des höheren Wertes) und auf Aufhebung des möglichen niedrigeren Wertes (die selbst ein positiver Wert ist)" 20. Wie er diese Bewegung verstanden haben will, wird durch sein Zurückgreifen auf Plato deutlich: für letzteren ist Liebe Bewegung vom Nichtseienden zum Seienden 21. So ist auch für

19 Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, S. 82-3. 20 Vgl. Axiom I, 1 und 4, in Formalismus, S. 48,

1. Die Existenz eines positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert. 4. Die Nichtexistenz eines negativen Wertes ist selbst ein positiver Wert.

21 Diese Gemeinsamkeit soll jedoch nicht über die wesentlichen Unterschiede zwischen der griechischen Liebesauffassung und Schelers Liebeslehre hinwegtäuschen.

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Scheler Liebe weder emotional bejahendes Anstarren eines vor uns stehenden Wertes, noch richtet sich die Liebe zu einem Menschen auf die wertvollen Eigenschaften dieses Menschen - wir lieben einen Anderen nicht wegen seiner positiven Werte (wie Anmut, Schönheit, Güte) -, sondern Liebe geht immer auf mögliches Sein, insofern dieses als Wertsein bestimmbar ist. So bleibt auch die grundlegende Wesens­korrelation von Person und Wert gewahrt. Liebe ist immer ein Sichtrans­zendieren, das ein Wachstum der fremden und eigenen Person eben kraft dieser Liebe anstrebt. "Die Liebe liebt und schaut im Lieben immer etwas weiter als nur auf das, was sie in Händen hat und besitzt. Der Triebimpuls, der sie auslöst, mag ermüden, sie selbst ermüdet nicht. Dieses ,sursum corda", das ihr Wesen ist, mag auf verschiedenen Höhen­lagen der Wertregionen grundverschiedene Formen annehmen. Den bloßen Lüstling stößt die immer rascher abnehmende Genußbefriedigung an seinen Annehmlichkeitsobjekten bei gleichem, ja selber abnehmendem Triebimpuls in immer rascherer Folge von Objekt zu Objekt. Denn dieses Wasser macht durstiger, je mehr man trinkt. Umgekehrt macht die -ihrer Natur nach - immer rascher zunehmende und immer tiefer erfül­lende Befriedigung des Liebhabers geistiger Objekte, seien es Sachen, seien es geliebte Personen, bei gleichem oder abnehmendem ursprünglich auf sie hingeleitetem Triebimpuls gleichsam immer neue Versprechungen; sie läßt den Blickstrahl der Liebesbewegung immer ein wenig weiter über das Gegebene hinausspähen. Die Bewegung entfaltet - im höchsten Falle der Personliebe - eben hierdurch die Person in der ihr eigentümli­chen Idealitäts- und Vollkommenheitsrichtung prinzipiell ins Unbe­grenzte" 22.

Die Liebe zielt immer und wesensmäßig über das hinaus, was schon gegeben ist. Der Tatbestand der Liebe besagt also nicht, daß wir unsere Liebe auf Werte richten, die uns vorher schon im Wertfühlen und Vorziehen gegeben waren. Die Liebe ist eigentlich die Entdeckerin in unserem Werterfassen. Sie folgt nicht dem Wertfühlen und Vorziehen, sondern schreitet ihm als sein Pionier und Führer voraus.

Dies ist der Sinn der Bezeichnung Schelers der Liebe als eines spontanen Aktes. Sie ist nicht Antwort, reaktives Verhalten auf schon "gegebene" Werte. Wäre nämlich die Liebe zu einer realen Person nur Liebe zu den

Bezeichnenderweise kennen die Griechen keinen liebenden Gott, da Liebe hier immer als Übergang von Mangel zu Besitz angesehen wird. Nie kommt der Eros zur Befrie­digung, immer bleibt er Begehren und Verlangen (Vgl. NOTA Jan, De Rol van de Lie/de in Max Seheler's Ethica, in Bijdragen 27 (1966), S. 247-248).

22 Ordo Amoris, in Nachlaß I, S. 358.

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positiven Werten, die sie in sich hat und die schon vor dem Eintritt der Liebe "gegeben" waren, also ware sie nur eine Reaktion auf ein Gut (Anmut, Schönheit, Güte), das der Andere mehr oder weniger zufällig hat, so verlöre die Liebe ihren persönlichen Charakter : dieser geliebte Andere wäre ja immer ersetzbar, da wir uns gut vorstellen können, daß auch ein Dritter Träger derselben positiven Werte sein kann - dem wir deshalb aber vielleicht niemals unsere Liebe schenken würden. Wir dürfen nach Schelers Ansicht eben nur da von Liebe reden, wenn die Intention auf einen höheren Wert geht. Erst in der Liebe blitzt der höhere Wert auf, gleichsam am Ende der Bewegung der Liebe erschließt sich der höhere Wert. Bevor wir uns nun der Frage zuwenden, ob die Liebe diesen höheren Wert auch schafft, möchten wir zuerst die Scheler­sehe Definition der Liebe wiedergeben: "Liebe ist die Bewegung, in der jeder konkrete individuelle Gegenstand, der Werte trägt, zu den für ihn und nach seiner idealen Bestimmung möglichen höchsten Werten gelangt; oder in der er sein ideales Wertwesen, das ihm eigentümlich ist, erreicht" 23.

a. Die schöpferische Bedeutung der Liebe

Bei Scheler ist die Liebe als schöpferische Bewegung, in der der höhere Wert zum Aufblitzen kommt, definiert. Dieses "schöpferisch" liegt in der Tatsache begründet, daß Liebe eine Bewegung ist in der Richtung auf "Höhersein" eines Wertes. Nun ist diese Bewegung zwar nicht als absolut schöpferische Tätigkeit wie bei Fichte zu verstehen. Aber durch die Liebe kann im Hinblick auf die Person ein unendliches Wachstum des Wertreiches angenommen werden. D.h., der personale Akt der spon­tanen Liebe, der jeglicher Erkenntnisfunktion der Person vorausgeht (wie wir noch zeigen werden), steht im Verhältnis zum Werte so, daß er den Wert selbst oder das Höhersein der Werte zwar nie schafft, daß aber in seiner Kraft neue und höhere Werte erscheinen. Insofern die Liebe diese höheren Werte aufblitzen läßt, ist es die Person selbst, die diese Werte im intentionalen Bereich "hervorbringt", "ins Dasein treten läßt". "Aber bezogen auf alles mögliche Wertfühlen und Wertnehmen, ja selbst auf alles Vorziehen, d.h. relativ auf die Fühlsphäre und Vorzugs­sphäre - erst recht also auf die gesamte durch Vorziehen fundierte Sphäre des W ollens, Wählens und Handeins -läßt sie für diese Gegeben­heitssphären völlig neue und höhere Werte ins Dasein treten. D.h. Liebe ist ,schöpferisch' für ein auf diese Sphären relatives ,Dasein' " 24.

28 Sympathie, S. 164. 24 Ebenda, S. 157.

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Zur genaueren Begründung dieser Sätze greift Scheler auf die Phäno­menologie zurück. Durch das Vollziehen der phänomenologischen Reduktion will er beweisen, daß die Liebe als "wertbezogen überhaupt" anzusehen ist. So weist er jede Lehre zurück, die in der Liebe eine spezi­fisch menschliche Tatsache sieht. Für ihn ist Liebe ursprünglich auf Wertgegenstände gerichtet und auch auf den Menschen nur, soweit und insofern er Träger von Werten ist, und sofern er einer Werterhöhung fähig ist 25. So können wir diese Akte und ihre Gesetze untersuchen, ganz ohne auf die Existenz der Menschen als Träger der Liebe hinzu­blicken, und ganz ohne auf die empirische Tatsache hinzublicken, daß sich viele dieser von Menschen faktisch vollzogenen Akte auch wieder auf Menschen beziehen. Dies erweist sich schon durch die einfache Tatsache, daß wir Vielerlei lieben, was mit dem Menschen nichts zu tun hat - da Liebe überhaupt auf Gegenstände des gesamten Wert­reiches bezogen ist -, und dessen Wert und Werterkenntnis vom Men­schen ganz unabhängig ist.

Nachdem er festgestellt hat, daß Liebe als wertbezogen überhaupt zu gelten hat, sagt er, daß Liebe Bewegung in der Richtung vom niederen zum höheren Wert ist, ohne daß hierbei notwendigerweise die beiden Werte gegeben sein müssen. " ,Liebe' beginnt erst zu dem betreffenden Gegenstande oder Wertträger, wenn jene Bewegung zu einem möglichen höheren Wert des geliebten Gegenstandes einsetzt, wobei noch völlig dahingestellt ist, ob dieser ,höhere Wert' schon existiert (nur z.B. noch nicht ,wahrgenommen', ,entdeckt' ist), oder ob er noch nicht existiert und nur (im idealen und individual - nicht allgemeingültig-bezogenen Sinne des Wortes) an ihm sein ,soll' " 26.

Liebe ist also weder ein Aufsuchen des je höheren Wertes, noch ein Streben 27, den Wert des Gegenstandes zu erhöhen. Man liebt einen Menschen "so wie er ist". Dieses Sein ist weder ein "Seinsollen" noch

25 Es muß an dieser Stelle davor gewarnt werden, "Wert" mit "Wohl" zu verwech­seln. Liebe als solche zielt nicht wesenhaft auf das Wohl des anderen, sondern auf den höchsten Wert seiner Person hin; und auf sein "Wohl" nur insofern, als dieser Wert seiner Person dadurch gefördert wird.

26 Sympathie, S. 159. 27 Für das Verhältnis von Liebe und Streben ist charakteristisch, daß zwar beiden

die Bewegungsnatur wesensmäßig zukommt, daß aber das allem Streben immanente "Ziel" eines zu realisierenden Inhalts der Liebe vollkommen fehlt. Es ist ja für die Liebe indifferent, ob der positive Wert, zu dem sie Bewegung ist, bereits existiert oder nicht. Und während das Streben in seinen "Befriedigung" sich verzehrt, bleibt die Liebe in ihrer Aktion entweder dieselbe oder sie wächst, indem sie sich immer mehr in ihren Gegenstand und seinen Wert vertieft.

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ein existential-empirisches Sein, sondern ein "ideales Sein" 28, denn die Liebe zeichnet "der empirisch gegebenen Person immer ein ,ideales' Weltbild gleichsam voraus, das dennoch zugleich als ihr ,wahres' und ,wirkliches', nur noch nicht im Fühlen gegebenes echtes Dasein und Wertsein in Einem erfaßt ist".s9 - "Nicht eine strebende Zielsetzung oder wollende Zwecksetzung, hinzielend nach dem höheren Wert und seiner Realisierung findet statt; sondern die Liebe selber ist es, die im Gegenstande nun den je höheren Wert ganz kontinuierlich, und zwar im Laufe ihrer Bewegung zum Auftauchen bringt" 30. Die echte Liebe öffnet das geistige Auge für immer höhere Werte des geliebten Gegen­standes, sie macht sie sehen (sie macht uns also keineswegs blind); und dieses Augenöffnen ist eine Folge der Liebe, die sie hinsichtlich der Gradabstufung von Interesse, Aufmerksamkeit, Beachten usw. hat: sie öffnet die Augen für höhere Werte, als dem Interesse gegeben waren, das ja auch schon mehr ist als Aufmerksamkeit.

Um dies zu verdeutlichen, macht Scheler schon von der Sprache her einen Unterschied: Liebe ist gerichtet auf das "Höhersein eines Wertes" und nicht "auf einen höheren Wert". (Der höhere Wert selbst, um den es sich bei der Liebe handelt, ist in keiner Weise schon vorher "gegeben", sondern erschließt sich erst in der Bewegung der Liebe.)

Die Liebe erweitert also das Wertreich, das einem Wesen gegeben ist, und dies nicht in dem Sinne, daß etwa ein Schaffen, Machen von Werten stattrande - Werte können weder geschaffen noch vernichtet werden -, sondern dieser Akt spielt die eigentlich entdeckerische Rolle in unserm Werterfassen : er stellt gleichsam eine Bewegung dar, "in deren Verlauf jeweilig neue und höhere, d.h. dem betreffenden Wesen noch völlig unbe­kannte Werte aufleuchten und aufblitzen" 31.

28 Dieses ideale Sein ist in Verbindung zu sehen mit dem "idealen Sollen", das stets fundiert ist auf einen solchen Wert, der auf ein mögliches Realsein hin, d.h. in dieser Beziehung betrachtet wird, und dem das (reale) "Seinsollen" gegenübergestellt ist, das außerdem auch noch durch eine Beziehung auf ein mögliches, seinen Gehalt realisierendes Wollen hin betrachtet wird, das also zugleich die Forderung und den Befehl an ein Streben darstellt, das wesenhaft die Richtung auf die Realisierung eines nicht realen Wertes behält (vgI. Formalismus, S. 194). Das ideale Sollen wie auch die Liebe ist eben wesenhaft kein solches Streben.

29 Sympathie, S. 156. 30 Ebenda, S. 160. 31 Formalismus, S. 267.

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b. Wann ist Liebe ein sittlich wertvoller Akt?

Wenn Liebe auch immer ein positivwertiger Akt ist, wie z.B. die geistigen Akte der Liebe zum Schönen, zur Erkenntnis, zur Kunst ... , so sind diese Akte doch sicher nicht immer unmittelbar Träger sittlicher Werte. Was also macht das ethisch Wertvolle an der Liebe aus?

Man könnte antworten, Liebe sei dann ein sittlich wertvoller Akt, wenn sie "Liebe zum Guten" ist. Diese Antwort aber wird von Scheler streng verworfen. Er behauptet sogar: Liebe zum Guten (qua Guten) ist notwendig Pharisäismus 32. Nicht nur die Guten sollen wir lieben, sondern Alle, sofern sie Träger von Werten sind. So ist für die christliche Liebesidee die Liebe (unter den Akten) der Träger des Wertes "gut" in ursprünglichstem Sinn, da sich das sittliche Gutsein einer Person nach dem Maß der Liebe, die sie hat, bestimmt. Eben an jener Bewegung vom niedrigen zum höheren Wert kommt der Wert "gut" zur ursprüng­lichsten Erscheinung.33 Andererseits stellt Scheler fest, daß auch die Liebe zum Schönen, zur Erkenntnis ... Träger sittlicher Werte sein kann, sofern diese Liebesakte als Personakte aufgefaßt sind. Die Liebe wird also dann zum sittlich wertvollen Akt, wenn sie Liebe der Person zur Person selbst ist. "Die Liebe zum Person wert, d.h. zur Person als Wirk­lichkeit durch den Personwert hindurch, ist die sittliche Liebe im präg­nanten Sinne" 34. Und diese Liebe zur Person ist nicht die Liebe zu ihren Merkmalen, Eigenschaften und Tätigkeiten. Wir lieben diese Person nicht, weil sie diese oder jene Eigenschaft besitzt, diese oder jene Tätig­keit ausübt, diese oder jene Tugend ihr eigen nennt, sondern wir beziehen diese Eigenschaften, Begabungen mit in unseren Gegenstand, weil sie dieser individuellen Person zugehören. - Deshalb spricht Scheler

82 Vgl. Sympathie, S. 165-166. 83 Hieraus leitet Scheler auch das Prinzip der Solidarität ab. Die Liebe als Träger

von "sittlich gut" und der von Erfahrung unabhängige Satz, daß jede Liebe Gegenliebe setzt und insofern ein neues sittlich Gutes zur Erscheinung bringt, begründen das .. Prinzip der Solidarität aller sittlichen Wesen". Es besagt, daß "prinzipiell Jeder für Alle und Alle für Jeden mitverantworten, was sie sittlich wert sind; daß ,Alle für Einen' und ,Einer für Alle' ,stehn', soweit es sich um die Gesamtverantwortung der Menschheit als Träger aller sittlichen Werte vor der Idee des sittlich vollkommenen Wesens handelt; daß also auch Jeder an der ,Schuld' eines Anderen ,mitschuldig' ist und Jeder an den positiven sittlichen Werten Aller Andern ursprünglich teil hat" (Sympathie, S. 166). Dies kommt daher, daß der Bestand eines Bösen immer in dem schuldhaften Mangel der Liebe Aller zum Träger des Bösen mitgegründet ist, notwen­dig mitbedingt ist durch das Fehlen der Gegenliebe, diese aber durch einen Mangel an ursprünglicher Liebe. (Das IV. Kapitel wird sich ausführlich mit diesem Prinzip befassen).

84 Sympathie, S. 167.

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auch von der "absoluten" Liebe, da sie nicht abhängig ist vom mög­lichen Wechsel dieser Eigenschaften, Tätigkeiten. Letztere machen also nicht die ganze Person aus; sie kann nicht aus ihnen zusammengesetzt werden; hinzu kommt immer ein "unbegründbares Plus", das erst unsere Liebe zu dieser Person "erklären" kann.

In diesem Zusammenhang muß noch hinzugefügt werden, daß für Scheler das individuelle Wertwesen der Person uns überhaupt nur durch und im Akt der Liebe, d.h. daß ihr Wert als Individuum nur in diesem Aktverlauf zur Gegebenheit kommt. "Die Gegenständlichkeit als ,Liebesgegenstand' ist gleichsam der Ort, wo allein die Person existiert und darum auch auftauchen kann" 35. - "Liebesgegenstand" bedeutet jedoch keinesfalls, daß die Liebe die Person "vergegenständliche", da seiner Ansicht nach das, was an einem Menschen Person ist, uns niemals als Gegenstand gegeben sein kann. Weder in der Liebe noch in anderen echten Akten, und seien es auch Erkenntnisakte, ist es möglich, Personen zu vergegenständlichen. Kann alles andere im Menschen (Ich, Psyche, Liebe usw.) uns noch gegenständlich gegeben sein und im Vordringen zur eigentlichen Person eine vermittelnde Rolle spielen, dieser letzte Personkern bleibt jeder vergegenständlichenden Erkenntnis oder Liebe notwendig transzendent (Das Kapitel über die Person wird Ausführ­licheres zu diesem Problemkreis bringen). - Alle Werte, die an Körper, Leib, Seele haften, können vergegenständlicht werden, nie aber die reinen Personenwerte, d.h. der Wert der Person selbst. Wir können ihren rein sittlichen Wert nie "gegenständlich" erfassen, da dieser ja selbst ursprünglich nur getragen ist vom Akte ihrer Liebe : dieser aller­letzte sittliche Personenwert ist uns daher nur im Mitvollzug ihres eigenen Liebesaktes gegeben.

Der Wert der Person kann zwar im Fühlen gegeben sein: soll jedoch der Personenwert in Richtung auf seinen idealen Wert heraustreten, vermag dies nicht mehr allein die werterkennende Funktion des Fühlens. Hier übernimmt die schöpferische und entdeckerische Liebe Aufgaben, die nur sie erfüllen kann. Dies ist gemeint, wenn Scheler schreibt : "Es ist an erster Stelle das durch Liebe zur Person selbst vermittelte ,Ver­stehen' ihres zentralsten Springquells, das uns die Anschauung dieses ihres idealen individuellen Wertwesens vermittelt" 36. Liebe muß als

85 Sympathie, S. 168. 36 Formalismus, S. 480. Diese verstehende Liebe ist der große Werkmeister und

der plastische Bildner, der aus dem Gemenge von empirischen Einzelheiten heraus -gegebenenfalls nur an einer Handlung, ja einer Ausdrucksgeste - die Linien ihres Wertwesens herauszuschauen und herauszuarbeiten vermag.

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sichtranszendierende Liebe verstanden werden, in der sie schöpferisch ist: Die Eigenschaften des Sichtranszendierens und des Schöpferischen sind wesenhaft miteinander verbunden. Zur liebe gehört jenes verste­hende Eingehen auf die andere soseinsverschiedene Individualität als die andere und verschiedene, jene restlose Bejahung der Realität und des Soseins des Partners. Denn bei Scheler gilt die Liebe nicht einer Idee (z.B. des Schönen oder des Guten wie bei Plato), sondern sie gilt der Individualität, dieser nicht zu analysierenden, aus nichts anderem herzuleitenden Einheit, sie gilt dem "individuum ineffabile", d.h. dem Personwert. Das heißt mit anderen Worten, daß es sich bei der Liebe keinesfalls um idiopathische Einsfühlung handelt, um ein Einswerden 37,

in der das fremde Ich in mein eigenes hereingenommen wird, da in der Liebe die Person des Anderen als des Anderen sich mir offenbart. Je tiefer wir nun in unserm liebevollen Verhalten in einen Menschen eindrin­gen, desto mehr nähern wir uns seinem individuellen Personkern; d.h. die verschiedenen Hüllen, die sein soziales Ich um sein Personzentrum errichtet hat, werden immer mehr abgebaut, um bis zur intimen Person vorzudringen 38. Ähnliches meint wohl M. Buber, wenn er sagt, daß ich dann, wenn ich "Du" zu einem Anderen sage, auf den Kern seiner geistigen Person gestoßen bin. Erst in der Liebe konstituiert sich im Phänomen klar und scharf das aus der Einsfühlung allmählich wieder auftauchende Bewußtsein von zwei verschiedenen Personen; und dieses Bewußtsein ist nicht eine bloße Voraussetzung der Liebe, sondern auch ein im Laufe ihrer Bewegung allererst Vollherauswachsendes. Deshalb sind die Beschreibungen, die Hegel und Von Hartmann von der Liebe geben - sie stellen sie mehr oder weniger der idiopathischen Einsfühlung

37 Aus diesem Grunde hat man Scheler vorgeworfen, er lege zuwenig Nachdruck auf den gemeinschaftlichen Charakter in seiner Liebeslehre, er habe den Gemein­schaftsbezug, dieses Miteinander der Liebenden, nicht in die Wesensbestimmung der Liebe aufgenommen, und damit die menschliche Liebe nicht in ihrer ganzen Tiefe erfaßt. Uns scheint dieser Vorwurf nur sehr bedingt berechtigt und vor allem in dem schon besprochenen Schelerschen Mangel an Synthese begründet. Man kann ihm nämlich leicht zwei Aussagen seiner Personlehre entgegenhalten, einmal die Feststellung, daß Gemeinschaft zur evidenten Wesenheit der Person gehört, zum anderen ein Wesensmoment der menschlichen Liebe, nämlich daß die andere Person mir nur im Mitvollziehen ihrer Akte gegeben sein kann. - Für ihn ist die Person immer gleichzeitig und gleichursprünglich intime und soziale Person.

38 Die absolut intime Sphäre einer Person kann nie ganz erreicht werden, da der Inhalt dieser Sphäre aller möglichen Fremderkenntnis ewig transzendent ist. Selbst im intimsten Dialog ist eine vollkommene Erfassung unmöglich. Etwas entwischt mir immer, ich kann den Anderen nie ganz assimilieren.

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gleich - eine evidente Fälschung des Phänomens. "Wenn ich jemanden so nehme, fasse, behandle, ,als ob' er mit dem eigenen Ich wesensiden­tisch wäre, so heißt dies erstens, daß ich einer Realitätstäuschung, zweitens, daß ich einer Soseinstäuschung verfallen bin" 39. - Realitäts­täuschung deshalb, da in diesem Augenblick seine Realität als "Anderer" im Phänomen aufgehoben wäre; es gäbe dann eine echte Wesenheit "Fremdliebe" überhaupt nicht, und der von seinem Richtungsgegenstand "Ich" und "Anderer" und dessen Wechsel unabhängiger Aktcharakter der Liebe wird hier verkannt. Soseinstäuschung, da die vom eigenen Ich wesensverschiedene Individualität des Anderen nicht anerkannt wird. Mit der Tiefe der Liebe steigt das Verschiedenheitsbewußtsein des Soseins der Personen, und es ist sogar ausschließlich in der tiefsten und vollkommensten Liebe, daß uns die Grenze der absolut intimen Person aufgeht.

3. Liebe und Mitgefühl

Um weiterhin den Begriff der Liebe und seinen Inhalt phänomeno­logisch 40 noch klarer herauszustreichen, erscheint es uns notwendig, ihn gegen den ihm am nächsten stehenden Begriff abzugrenzen, und, in der Sphäre der Wirklichkeit, seinen Unterschied mit der angrenzenden Stufe innerhalb des emotionalen Lebens aufzuzeigen. Wir können in diesem konkreten Falle ohne weiteres "Wirklichkeit" mit "emotionalem Leben" gleichsetzen, da Liebe ja dieser Sphäre angehört, und da hier -zumindestens auf den höheren Stufen - ebensowohl die Liebe als auch das Mitgefühl ihren Sinn finden müssen, denn das Leben der Gefühle ist ja keineswegs ausschließlich und restlos eine stumme, blinde Wirklich­keit von Zuständen, die sich nach der Regel der Kausalität in uns folgten und verbänden, sondern unser emotionales Leben ist vielmehr "ein großartig differenziertes System natürlicher Offenbarungen und Zeichen, in denen wir uns selbst erschlossen werden" 41. Sowohl das Mitgefühl wie die Liebe geben im Erleben selbst so etwas wie einen "Sinn", eine "Bedeutung", durch die sie gewisse objektive Wertunterschiede eines Seins oder eines Tuns wiedergeben. Dies ist nur möglich, weil überhaupt

89 Sympathie, S. 81. 40 Auch hier muß wieder betont werden, daß Scheler nie "reiner" Phänomenologe

ist, daß phänomenologische Einsichten und metaphysische Ansichten sich immer wieder überschneiden.

41 Schriften, S. 36.

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alle Gefühle eine erlebte Bezogenheit auf das Ich bzw. auf die Person besitzen, die sie von anderen Inhalten und Funktionen scheidet, eine Bezogenheit, die prinzipiell verschieden ist von jener, die auch ein Vor­stellen, Wollen und Denken begleiten kann. Nun muß man innerhalb des emotionalen Lebens Unterscheidungen machen bezüglich der Tiefe des Gefühls, welche wesenhaft verbunden ist mit den wohl charakteri­sierten Stufen des Gefühls, die der Struktur unserer gesamten menschli­chen Existenz entsprechen. Scheler nimmt folgende vier Tiefenschichten an: 1. Die Gefühlsempfindungen, die ausgedehnt und ortsbestimmt am Organismus sind; 2. Die nur dem Ganzen des Organismus und seinem Vitalzentrum zukommenden Vitalgefühle, die nicht als Qualitäten des den Leib habenden seelischen "Ichs" erlebt werden, sondern sie sind ichbezogen erst durch die Vermittlung der Ichbezogenheit des Leibes; 3. Die seelischen Gefühle, die unmittelbar ichbezogen sind und zugleich funktionell bezogen auf wahrgenommene, vorgestellte, phantasierte Gegenstände, Personen der Umwelt, Dinge der Außenwelt oder des eigenen - erst durch die Vorstellungstätigkeit vermittelten - Selbst. Erst auf dieser Stufe wird das Gefühl "intentional" und kognitiv werter­fassend; es kann in der Form der Sympathie "nachgefühlt", bzw. "mitgefühlt" werden. Die zwei ersten Gefühlsarten hingegen bleiben "zuständlich", und sie sind wesenhaft immer nur aktuell und kommen nur dem Subjekt zu, das sie hat; 4. Die rein geistigen Gefühle, die Heilsge­fühle, bezogen auf den Kern der geistigen Person als unteilbarem Ganzen. Die seelischen und die geistigen Gefühle sind nicht da, um - wie die Vitalgefühle - die Förderung und Hemmung desjenigen Lebens anzu­zeigen, das wir Menschen mit den höheren Tieren im wesentlichen teilen, sondern sie sind da, um die Vervollkommnung und Selbstwertminderung unserer geistig-seelischen Person uns kund zu tun, deren sittliche Bestim­mung und je individuelle Grundrichtung von unserm animalischen Leben in weitem Maße unabhängig ist.

Wir sehen also die Stellung, die das Mitgefühl und die Liebe innerhalb des emotionalen Lebens einnehmen. Sie gehören in keiner Weise zum Vitalbereich, sondern zu der "neuen Schicht", die Scheler über dem biologischen Bereich annimmt, die aus personalen Einheitsformen besteht, die - im Unterschiede zu Ich, Organismus usw. - durch gesetzmäßige Liebe untereinander verbunden sind. Nachdem wir sie nun lokalisiert haben, können wir leichter den Unterschied zwischen Mitgefühl und Liebe aufzeigen.

Als erstes wendet sich Scheler gegen die philosophischen Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts, die das Wesen der Liebe aus den Erschei-

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nungen der Sympathie und des Mitgefühls verstehen wollten 42. Wohl erkennt Scheler ihre Gleichartigkeit an, da sie Sympathie ja auch ein gewisses Transzendieren des eigenen Selbst ist, aber in sich selbst ist sie nicht "auf einen Wert" gerichtet 43. "Das Mitgefühl ist im Gegensatz zu Liebe und Haß, in denen stets Werte und Unwerte intendiert sind, und die als spontane emotionale Akte den reaktiven des Mitgefühls entgegenzusetzen sind, andererseits aber die Richtung und Zentralität des Mitgefühls erst fundieren, an sich wertblind und schon darum zum sogenannten Fundament der Moral ungeeignet" 44. Nur die Liebe, die in dem Anderen seine positiven Werte intendiert, und nicht die Sym­pathie, kann das Prinzip des moralischen Lebens sein.

E. Mounier sieht den Unterschied zwischen Liebe und Sympathie in der Tatsache, daß zwar die Sympathie, nie aber die Liebe identifi­ziere 45. Dies entspricht unserer Ansicht nach keinesfalls der Schelerschen Lehre, da für letzteren gerade die gefühlsmäßige Nichtidentifizierung des Mitfühlenden mit dem fremden fühlenden Ich die phänomenale Voraussetzung echten Mitgefühls 46 ist, und dies im Gegensatz zu Fällen von Gefühlsillusionen und -halluzination, wie auch von Gefühlsanstek­kung, die das Gegenteil ist von "verständnisvollem Mitgefühl, wo sich erst auf das intentionale Fühlen eben der fremden Trauer usw., auf das fühlende ,Verstehen' dieses Gefühles des anderen das eigene Trauern, Sichfreuen usw. aufbaut" 47.

Für Scheler ist das Mitgefühl eine letzte ursprüngliche Funktion des Geistes, die in keiner Weise genetisch empirisch aus anderen Vorgängen wie Reproduktion, Nachahmung, Illusion, Halluzination im Leben des

4. Vgl. Vom Umsturz der Werte, S. 98. Das Mitgefühl seinerseits wurde abgeleitet aus dem Phänomen der psychischen Ansteckung und zurückgeführt auf die in den tierischen Gesellschaften schon angelegten Triebe eines gattungsfördemden Handeins.

48 Allzu wörtlich dürfen wir diese Worte nicht nehmen, da die Sympathie uns den Anderen doch näher bringt, indem sie fordert, daß wir dem Anderen Aufmerksamkeit widmen; somit besteht doch eine gewisse Wertbezogenheit. Was Scheler sagen will, ist, daß das Mitgefühl nicht wesenhaft ("in sich selbst") einen Wert intendiert.

44 Ethik, in Frühe Schriften, S. 399-400. 45 Vgl. MOUNIER Emmanuel, Le personnalisme (Que sais-je? 395), Paris, 1965,

S. 41. Er schwächt (einige Zeilen weiter) seine eigene Aussage ab, wenn er sagt, in der Sympathie suchten wir ein "Echo von uns selbst" in einem Anderen.

46 Weit weniger ist die Liebe einer monistisch-metaphysischen Deutung fähig als das Mitgefühl, weil sie "so viel persönlicher, freier, selbständiger, spontaner und weit ausgeprägter ,intentional' gerichtet ist als das Mitgefühl - weil sie es ist, die überhaupt erst an das absolut intime Selbst als ewige Grenze anstößt und es gleichsam erst in ihrer Bewegung ,entdeckt' ". (Sympathie, S. 82)

47 Vom Umsturz der Werte, S. 253.

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Einzelnen erst entstanden ist. Dies bedeutet nicht nur, Sympathie sei jedem einzelnen Menschen "angeboren", sondern auch: sie gehört zur Konstitution aller fühlenden Wesen überhaupt 48. Außerdem aber ist das Mitgefühl auch angeboren und in keiner Weise erst im Einzelleben erworben; d.h. es ist angeboren die mehr oder minder große Anlage, sich dieser Funktionen zu bedienen, sie faktisch auszuüben. "Mehr oder minder große" Anlage deshalb, da es keinen Zweifel duldet, daß wir die erheblichen Differenzen in der Betätigung des Mitgefühls bei ver­schiedenen Rassen, Völkern und Individuen durchaus nicht auf die Verschiedenheit von deren Erlebnissen zurückführen können.

Die Irrigkeit der Annahme, man könne die Liebe auf das Mitgefühl zurückführen, ja daß der Wesenszusammenhang genau umgekehrt ist, daß also jedes Mitfühlen überhaupt in einem Lieben fundiert ist und ohne alle Liebe aufhört, erweist Scheler in der Analyse eines Vorgangs im menschlichen Zusammenleben: er nimmt den Fall, wo wir zwar mit jemandem mitfühlen, wo wir aber nicht denselben Gegenstand lieben, mit dem wir mitfühlen, und er stellt fest, daß das Einzige, was Mitleid überhaupt erträglich macht, die Liebe ist, die es verrät. In dem erwähnten Fall fühlt sich der Bemitleidete in seinem Stolz beleidigt 49; er schämt sich und fühlt sich erniedrigt, denn er bemerkt, daß die Liebe gar nicht auf ihn in concreto, auf sein individuelles Leid gerichtet ist, sondern auf irgendein Allgemeines (z.B. die Menschheit, seine Familie, sein Volk, seine Zugehörigkeit zu einer Klasse), für das der Bemitleidete nur ein "Fall" ist oder ein "Teilglied". Die Scham wird also erregt durch die Verschiebung eines im intimen Dunkel der Individualität liegenden Wertes in die Sphäre irgendeiner Form der "Allgemeinheit". - Aber selbst in diesem Falle sehen wir, daß doch die Liebe - wenn auch nur mittelbar (durch die Zugehörigkeit zu einem Ganzen) - das Mitfühlen fundiert. Dies besagt nicht, daß wir denselben Gegenstand auch schon lieben müßten, mit dem wir mitfühlen, da wir ja oft mit einem Menschen Mitleid haben, ohne ihn zu lieben. "Die fundierende Liebe ergeht dann, sei es zu einem Ganzen, dessen Teil und Glied er ist (Familie, Volk, Menschengattung), oder zu einem allgemeinen Gegenstand, für den er uns ein Beispiel ist (z.B. Volksgenosse, Familienglied, Glied der Mensch-

48 Vgl. Sympathie, S. 137. 49 "Denn daß ich den Leidenden leidend sah, dessen schämte ich mich um seiner

Scham willen; und als ich ihm half, da verging ich mich hart an seinem Stolze" (NIETZ­

seHE Friedrich, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883-1885) (Niezsche-Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari VI/I), Berlin, 1968, S. 110)

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heit, ja ,ein' Lebewesen)" 50. Es handelt s.ich hier also nur um ein Fundie­rungsgesetz der Akte als Wesenheiten genommen, wo der Gegenstand, auf den im Phänomen die Liebe ergeht, intentional nicht derselbe zu sein braucht wie der Gegenstand des Mitfülllens. Aber jeder Akt echten Mitgefühls ist notwendigerweise in einen ihn umspannenden Akt der Liebe eingebettet: wir fühlen nur in dem Maße und nur in der Tiefe mit, als wir lieben.

Die Widerlegung der empirisch-genetischen Theorie hat gezeigt, daß das reine Mitgefühl zum Wesen des menschlichen Geistes gehört. Eben damit ist es als "reines" Mitgefühl- im Gegensatz zum empirischen­auch als apriorischer Akt mit der apriorischer Materie"Fremdwert überhaupt" erwiesen. "Wie der ,Leergang', die Unerfülltheit der aprio­rischen intentionalen Funktion des ,reinen' Mitgefühls auch für den Fall, daß der Mensch nie die ,zufällige' Erfahrung eines anderen Men­schen gemacht hätte, beiträgt, uns die intuitive Überzeugung zu ver­schaffen, daß wir zu einer ,Gemeinschaft überhaupt' gehören" 51. Alle zufällige Erfahrung, die wir an anderen Menschen und ihren Gemüts­zuständen machen, bringen das Mitgefühl weder hervor, noch bestimmen sie seine Reichweite, sie dienen bloß zu seiner Entfaltung und geben ihm zufällige Gegenstände seiner Anwendung und Betätigung.

Mit diesen Sätzen befinden wir uns schon im Mittelpunkt des meta­physischen Sinnes des reinen Mitgefühls, der für Scheler in seiner meta­physisch-kognitiven Funktion liegt: durch das Mitgefühl wird die natür­liche Illusion überwunden, der "Andere" sei nur derjenige, der auf meine eigene Person und ihre Interessensphäre bezogen ist; im Mitge­fühl erkennen wir, daß es einen "Fremdwert überhaupt" gibt, der unab­hängig von aller Bezüglichkeit auf das eigene Ich besteht. Das heißt in andern Worten : Die metaphysische Erkenntnisfunktion des Mitgefühls liegt in der Überwindung des Solipsismus. "Und die natürliche ,Illusion', die durch Mitgefühl überwunden wird, ist in bezug auf das Realitäts­bewußtsein eben die zwiefache Differenz des ,natürlichen' Eigenrealitäts­bewußtseins und des Fremdrealitätsbewußtseins. Was überwunden wird, ist gerade die ontische egozentrische bloße ,Bezüglichkeit' des ,Anderen' auf das eigene Ich als eines scheinbar absolut Realen, der gerade - so lange sie besteht - das Bewußtsein von dieser Bezüglichkeit fehlt: Wir halten diesen faktisch nur auf unser Sein und seine Interessensphäre bezogenen Nebenmenschen in der egozentrischen und solipsistischen

10 Sympathie, S. 147. 51 Ebenda, S. 72, Fußnote.

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Einstellung gerade für die letzte und absolute Realität des Anderen -und eben hierin besteht die ,metaphysische Täuschung' " 52.

Scheler kennt zwei Ausprägungen des Mitgefühls: das unmittelbare Mitfühlen eines und desselben Leides mit jemandem (z.B. Eltern an der Leiche des geliebten Kindes - es ist ein Leid, das sie "miteinander" fühlen) und das Mitgefühl an etwas (ein dritter hat Mitgefühl "mit" den Eltern, indem er ihr Leiden als gegenständlich in der Wahrnehmung erfaßt - den Sachverhalt, "daß sie leiden" -, ohne im mindesten dieses Leiden "mit-zuleiden"; aber er hat und erlebt nun selbst Leid "an" diesem Sachverhalt.) Die Erkenntnisfunktion dieser beiden Arten liegt also darin, uns das (zuvor schon als Sphäre gegebene) "fremde Ich überhaupt" im Einzelfalle zum Bewußtsein gleicher Realität zu bringen -gleich mit der Realität unseres eigenen Ich. Im Gegensatz zum echten Mitgefühl gibt das Nachfühlen diese gleiche Realität noch nicht, da es nur die Qualität des fremden Zustandes, nicht aber seine Realität wieder­gibt. "Denn Mitgefühl ist wesensgesetzlich verbunden mit der Real­haltung des Subjekts, mit dem man mitfühlt" 53. Diese gleiche Realitäts­haltung (und darauf erst beruhende Urteilssetzung) ist aber die Voraus­setzung zur Bewegung der spontanen Menschenliebe, d.h. der "Liebe eines Wesens" bloß, weil es "Mensch" ist - "Menschenangesicht" trägt - der spezifische Wert des Menschen nur als Menschen ist im Mitgefühl noch nicht gegeben.

Als Voraussetzung jeder Art von Mitgefühl kann man, unserer Ansicht nach, zweierlei herausschlälen: einmal irgendeine Form des Wissens um die Tatsache fremder Erlebnisse im Verstehen und Nach­fühlen, zweitens das Erleben der Existenz fremder seelischer Wesen überhaupt. Zu dem aufgefaßten und verstandenen Erlebnis eines anderen treten die Mitgefühlserlebnisse hinzu; sie sind daher nicht mit ihrer ersten Voraussetzung zu verwechseln.

Im Unterschiede zum Mitgefühl ist die Liebe kein reaktives, wert­blindes "Fühlen" 54, sondern spontaner, wertbezogener Akt, sie ist Bewegung auf das Höhersein eines Wertes. Die Liebe ist primär auf Werte und auf Gegenstände (durch die Werte, die sie tragen, hindurch) orientiert, wobei es prinzipiell gleichgültig ist, ob Ich oder ein Anderer

52 Sympathie, S. 70. 53 Ebenda, S. 107.

54 In seiner apriorischen Hierarchie der Werte teilt Scheler den Aktwerten vor den Funktionswerten die höhere Wertstufe zu: "So sind die Aktwerte - an sich -höher als die Funktionswerte, und beide höher als die bloßen ,Antwortreaktionen', die spontanen Verhaltungsweisen aber höher als die reaktiven". (Formalismus, S. 118).

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die betreffenden Werte hat. Und wenn die Liebe als geistiger wertbe­zogener Akt - im Unterschiede zur vitalen Liebe und zur seelichen Liebe des Ichindividuums - sich auf die Person richtet, so wird sie damit zum Träger des höchsten sittlichen Wertes.

4. Liebe und Trieb

Ohne hier eine Gesamtdarstellung der Schelerschen Lehre vom Verhältnis von Liebe und Trieb wiedergeben zu können (hierüber könnte eine gesonderte Abhandlung geschrieben werden), müssen wir doch auf das Grundverhältnis der Triebregungen zur Liebesbewegung hinweisen, da nur so das nächste Teilkapitel ("Liebe und Erkenntnis") zu wahrer Verständlichkeit geführt werden kann. - Dieses Verhältnis wird von Scheler im Zusammenhang mit der Kritik der naturalistischen Theorie untersucht: "Es ist natürlich die prinzipiellste Frage, die es hinsichtlich des Liebesaktes gibt, ob derselbe nur eine Verfeinerung, Sublimierung, Verschiebung ursprünglich sinnlicher Triebimpulse darstellt, darunter auch des vitalen Mitgefühls, und schließlich seines stärksten Ausdruckes im Triebe zum anderen Geschlechte - oder ob er ein ursprünglich geistiger Aktus ist, der in seiner Gesetzmäßigkeit von der leiblich-sinn­lichen Konstitution unabhängig ist" 55. Für unsern Philosophen ist das prinzipielle Verhältnis der Liebe zum Trieb natürlich nicht das von der naturalistischen Theorie angenommene: Liebe sei selbst ein Trieb oder ein genetisches Produkt aus Trieben und Triebverbindungen. Die Triebre­gungen sind nur bestimmend für die Auslese und Lebhaftigkeit, nach und mit der uns das jeweilige Intentionsobjekt der Liebe faktisch zugeht: ,,1. Da und nur da realisiert sich in einer gegebenen biopsychischen Organisation ein Liebesakt, wo auch eine Triebregung für den gleichen Wertbereich vorhanden ist, auf den die Bewegung der Liebe abzielt. 2. Aus dem gegebenen objektiv bestehenden Reich von Wertqualitäten werden für ein reales Wesen nur diejenigen Werte herausgeschnitten als ,mögliche Werte' für es, deren real dingliche Träger auch ein Trieb­system irgendwie affizieren. Insofern ist das Triebsystem wohl für den jeweiligen Sondergehalt der Werte im Sinne seiner Auswahl und Differen­zierung, nicht aber seinem phänomenologischen Gehalte nach bestim­mend" 56. So kann z.B. die sinnliche und vitale Sympathie mit ihrer gesetzmäßigen Abstufung des Grades nach Ähnlichkeit der Wesen usw.

bS Vom Umsturz der Werte, S. 74, Fußnote. 56 Sympathie, S. 186.

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nie als Quelle der Liebe, sondern nur als eine sie beschränkende und verteilende Kraft angesehen werden, durch die sie in den Dienst der Lebenszwecke gestellt wird. Die Liebe wird also zu einem gestauten geistigen Strom, der vom Trieb nicht nur ausgelöst wird, sondern von ihm auch den Wirkbereich zugewiesen bekommt. "Ausgelöst" nicht im Sinne einer kausalen Hervorrufung, sondern eine Daseinsrelativität beschreibend: real empirische Lebewesen einer bestimmten Beschaffenheit vermögen nur zu lieben, was gleichzeitig relativ auf ihr besonderes Triebsystem ansprechend und für es wichtig ist.

In der "klassischen" Periode Schelers bleibt dieses Verhältnis noch im Unklaren, da er einerseits die Liebe als letztbestimmendes Prinzip annimmt, hier aber sagt, daß letziich unser Triebsystem bestimmend ist für das, was wir lieben, und folglich damit auch für unser Wertfühlen, Erkennen und Wollen. Wohl schränkt er ein: "Das Triebsystem und seine ,Dringlichkeitsgliederung' ist auch für die Ordnung dieser Auswahl <sc. der Werte> noch verantwortlich, aber in keinem Sinne für den Liebesakt selbst, noch für den WertgehaIt, desgleichen für das Höhersein oder Njedrigersein des Wertes ... , nicht aber für den Liebesakt und dessen Inhalte (Wertqualitäten) und die Höhe des Wertes und seine Stelle in der Rangordnung der Werte ist das Triebsystem bestimmend." 07

Schon in der zweiten und in den folgenden Auflagen der "Sympathie" ist die Bedeutung des Triebes gegenüber der ersten deutlicher hervorge­hoben worden; sie wird sich im Laufe der Schelerschen Entwicklung immer mehr steigern, bis schließlich in der Spätperiode die Vitalsphäre ihre Unabhängigkeit und selbst die Priorität vor aller geistigen Tätigkeit - "Priorität des gesamten Trieb- und Affektlebens vor allen ,bewußten' Vorstellungsbildern" SB - erlangt hat. In dieser Auffassung ist es das Triebsystem, "das eben die Einheit ausmacht und die Vermittlung bildet zwischen jeder echten Lebensbewegung und den Inhalten des Bewußtseins" 09.

Für das Verhältnis von Liebe und Trieb bleibt jedoch immer ausschlag­gebend, daß für Scheler weder der geistige Liebesakt noch die echten Liebesarten (auf die wir später zurückkommen werden) ein genetisches Produkt von Triebimpulsen sind. Die Triebe haben eine nur auswählende Bedeutung für die zufälligen realen Objekte, welche zum faktischen Gegenstand der Liebe oder der Liebesarten werden. Zudem ist die

67 Ebenda. 68 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 73. 69 Ebenda, S. 76.

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Auslösung des Liebesaktes an unser leibliches Triebleben gebunden. -In diesem Zusammenhang setzt sich unser Philosoph mit der Freudschen Libido-Lehre auseinander, wobei betont werden muß, daß er sich der Tatsache vollkommen bewußt ist, daß er hiermit nicht mehr im Rah­men der phänomenologischen Einstellung verbleibt, da von der realen Beschaffenheit der Aktträger nicht abgesehen werden darf. Für ihn sind sowohl die Freudsche Lehre wie auch die anderen "naturalistischen" Theorien blind dafür, daß im Laufe der Entwicklung des Lebens völlig neue Akte und Qualitäten auftreten, die niemals als eine gradmäßige Fortbildung der unteren Schichten angesehen werden dürfen. Liebe läßt sich niemals auf einen bloßen Trieb zurückführen. In seinen Augen ist der Freudsche Versuch, die verschiedenen Qualitäten der Liebe aus einer einzigen Qualität, der "Libido", abzuleiten, einfach mißlungen. Und somit verwirft er auch die Lehre vom Ursprung aller Energie aus der Libido sowie die Freudsche Sublimierungstheorie. In seiner "klassischen" Schaffenszeit kommt noch sowohl den Trieben wie auch den anderen Schichten unserer Existenz, von' der sinnlichen Empfindung bis zu den höchsten geistigen Akten, ein selbständiges Maß von Energie zu, das durchaus nicht aus der Triebenenergie der Libido entnommen ist. Um 1921 spricht er von einer aktiven Sublimie­rung, Vergeistigung und Veredelung der Triebenenergie zur geistigen Liebe 60, und wie er dieses Problem in seinem Spätwerk zu lösen versucht, wird das IV. Kapitel dieser Arbeit darlegen.

Am besten läßt sich diese Lehre vielleicht am Beispiel des Verhält­nisses des Geschlechtstriebes zur Geschlechtsliebe veranschaulichen. Auch hier kommt es als Erstes darauf an, zu unterscheiden zwischen der Libido und dem Geschlechtstrieb (die nicht identisch sind) einerseits, der Geschlechtsliebe andererseits. Für Scheler ist die Geschlechtsliebe eine besondere Artqualität und Richtung der Bewegung der Liebe selbst, ein unableitbarer, elementarer Akt unseres Geistes: d.h. sie ist nie bloß ein "verfeinerter Geschlechtstrieb" oder, wie Freud meint, eine Form der Libido. Wie alle Liebe ist sie wertschöpferische Bewegung. Im Unterschiede zum Geschlechtstrieb, der als solcher wahllos auf das andere Geschlecht gerichtet ist, nimmt die Geschlechtsliebe schon aus sich heraus eine Auswahl vor, die prinzipiell in die Richtung der höheren, edleren Lebensqualitäten erfolgt. In diesem Sinne ist sie auch nie ein rein geistiger Akt, sie ist gerichtet auf die Vervollkommnung des Men­schen als Vitalwesen. Sie ist die zentralste Funktion der vitalen Liebe

10 Vgl. Schriften, S. 304.

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überhaupt und gleichzeitig die Grundart und das Fundament aller anderen Arten der vitalen Liebe. Hier geht Scheler mit Freud prinzipiell darüber ein, daß innerhalb unseres vitalen Triebsystems und des ihm entsprechenden Systems von Liebesregungen der Geschlechtstrieb und die Geschlechtsliebe der primäre und fundierende Faktor ist. Dies heißt aber nicht, daß er wie Freud die Geschlechtsliebe als eine Art "sublimierte Libido" ansieht, daß er wie dieser die Geschlechtsliebe als einen durch Libido-Verdrängung erst entstandenen Oberbau zum Geschlechtstrieb verstanden haben will. Alle Liebe - also auch die Geschlechtsliebe -gehört eben für Scheler zu dieser vollkommen - vom Vitalen her gesehen - neuen Schicht, aller vitalen Ordnung überlegenen Sphäre von Akten, die als ursprünglich und unableitbar anzusehen sind 61.

5. Liebe und Erkenntnis. - Die Liebe als nicht-intellektuelle Grundpotenz

Das Verhältnis von Trieb und Liebe wird noch verworrener, die Präzisierung ihres metaphysischen Gehalts noch schwieriger, wenn wir ihre Rolle in der Schelerschen Erkenntnislehre betrachten. Als Einleitung und Grundlage zugleich führen wir zunächst einen längeren Auszug an, der einem Aufsatz der "klassischen Periode" 62 entnommen ist: " ... das Interessenehmen ,an etwas', die Liebe ,zu etwas' sind die primärsten und alle anderen Akte fundierenden Akte, in denen unser Geist überhaupt einen ,möglichen' Gegenstand erfaßt. Sie sind zugleich Grundlage für die sich auf denselben Gegenstand richtenden Urteile, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen, Bedeutungsintentionen. Dreierlei also ist hier zu unterscheiden: Einmal dies, daß es ohne (will­kürliches oder triebhaftes) Interessenehmen ,an etwas' (irgendeines positiven Grades über null hinaus) überhaupt keine ,Empfindung', ,Vorstellung' usw. dieses Etwas geben kann. Sodann, daß schon die Auswahl dessen, was uns aus der objektiv wahrnehmbaren Gegenstands­sphäre zu jeweilig faktischer Wahrnehmung kommt, desgleichen zur Erinnerung, zu dem ,woran' wir denken, vom Interesse, dieses Interesse selbst aber von der Liebe (oder dem Hasse) zu diesen Gegenständen geleitet ist; daß also kurz gesagt : die Richtungen unseres Vorstellens,

61 Eine ausführliche Darstellung der Schelerschen Lehre bezüglich Liebe und Trieb, Geschlechtsliebe und -trieb bringt RUTISHAUSER Bruno, Max Schelers Phänomenologie des Fühlens. Eine kritische Untersuchung seiner Analyse von Scham und Schamgefühl, Bern-München, 1969.

es Liebe und Erkenntnis, der zwischen 1916 und 1918 entstanden ist. (vgI. Nachwort der Herausgeberin, Schriften, S. 402)

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Wahrnehmens den Richtungen unserer interessenehmenden Akte und unserer Liebe und unseres Hasses folgen. Endlich dies, daß jede Steige­rung der Anschauungs- und Bedeutungsfülle, in der uns ein Gegenstand vor dem Bewußtsein steht, eine abhängige Folge des sich steigernden Interesses an ihm und letzlich der Liebe zu ihm ist. Natürlich besagen diese Sätze nicht bloß das Selbstverständliche, daß wir gemeinhin das gerne vorstellen, an das denken, uns dessen erinnern, was wir lieben. Gerade wenn dies ihr ausschließlicher Sinn wäre, so wären damit Inter­essenehmen und Lieben als Faktoren bestimmt, die unser Weltbild verzerren, einseitig machen, uns selbst aber mehr oder weniger ,blind'. Ganz abgesehen davon, daß die Sätze ja auch (ausdrücklich) für die einfachste sinnliche Wahrnehmung, ja die Empfindung gelten sollen, d.h. die Urquelle, an der unser Weltbewußtsein sich nährt, sagen sie vielmehr, daß Inhalt, Struktur, Zusammenhang der Elemente unseres Weltbildes schon im Prozesse des Werdens jedes möglichen Weltbildes durch den Aufbau, die Richtungen und das Gefüge der Akte des Liebens und Interessenehmens bestimmt sind. Gerade umgekehrt ist also alle Erweiterung und Vertiefung unseres Weltbildes an eine vorangängige Erweiterung und Vertiefung unserer Interesse- und Liebessphäre ge­knüpft" 63.

In Anlehnung an die Lehre von der schöpferischen Kraft der Liebe (die wir im 2. Abschnitt behandelt haben) verkündet Scheler nun die Priorität der Liebe vor der Erkenntnis, und es ist bezeichnend für seine diesbezügliche Einstellung, daß er den oben erwähnten Aufsatz mit einem Ausspruch des jungen Goethe beginnt: "Man lernt nichts kennen als was man liebt, und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muß die Liebe, ja Leidenschaft sein" 64. Die Liebe und die Erkenntnis werden in eine tiefe und inner­liche Beziehung gebracht, und unser Autor läßt keine Zweifel darüber aufkommen, wie er diese Beziehung verstanden haben will, " ... daß im Verlaufe und Prozesse der Liebe erst die Gegenstände auftauchen, die sich den Sinnen darstellen und die die Vernunft nachher beurteilt" 65.

Scheler beruft sich aber nicht nur auf Goethe und Pascal 66, er schreibt es dem Hl. Augustinus zu, als erster die Lehre von der schöpferischen

88 Schriften, S. 96. 64 Ebenda, S. 77. 65 Ebenda. 66 Auch glaubt er in dieser Frage mit der Lehre Fichtes übereinzustimmen: in

der Annahme einer nicht-intellektuellen Potenz, die an den idealen Wert der Person heranruhrt.

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Kraft der Liebe und der Priorität der Liebe vor der Erkenntnis thema­tisch ausgearbeitet zu haben. Die indischen und griechischen Philosophen hatten eine schroff intellektualistische Liebesidee. So ist z.B. bei Plato (vgl. Symposion) die Liebe Seinsbemächtigung durch die Erkenntnis, ein Streben von unvollkommener zu vollkommener Erkenntnis. Die Liebe wird bei ihm ganz intellektuell als Bewegung einer ärmeren zu einer reicheren Erkenntnis verstanden. Sie ist abhängig von die Erkennt­nis, oder um es anders auszudrücken : Erkenntnis fundiert Liebe. 67

Mit dem Erscheinen des Christentums tritt eine grundlegende Änder­ung in das Verhältnis von Erkenntnis und Liebe ein. Scheler spricht von einer "Bewegungsumkehr der Liebe" (wir werden noch darauf zurückkommen). Und obwohl für Scheler der Satz von der Priorität der Liebe vor der Erkenntnis zum Wesen des christlich-religiösen Bewußt­seins gehört und aller christlichen Ethik zugrundeliegt, ist er außer in der augustinischen Tradition philosophisch kaum ausgewertet worden. Dies mag wohl daran liegen, daß im allgemeinen die christliche Lehre als "Philosophie" zu sehr von der griechischen Philosophie und den griechischen Denkstrukturen abhängig war.

"Diese <sc. die Bewegungsumkehr der Liebe> sehen wir nicht nur daran, daß, während die griechischen Götter die Menschen nicht lieben (,wären wir Götter, würden wir nicht lieben', sagt Plato) - der christ­liche Gott Liebe ist und er durch seine Liebe die Menschen erlöst, sondern auch durch eine radikale Umstellung von Liebe und Erkenntnis. Scheler, der nur bei Augustinus und in der augustinischen Tradition ernsthafte Ansätze findet, das christliche Grunderlebnis der Liebe in die richtige Beziehung zur Erkenntnis zu setzen, betont, daß der Ursprung aller intellektuellen Akte wesenhaft an Akte des Interessenehmens und der Liebe geknüpft sind. Das Interesse für und die Liebe zu etwas sind die fundierenden Akte, in denen wir überhaupt einen Gegenstand, ein Vorstellungs- oder Gedankengebilde erfassen. Diese Akte sind die Grundlage für die sich auf denselben Gegenstand richtenden Urteile, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Was uns zu faktischer Wahrneh­mung oder zur Erinnerung kommt, wird von unserem Interesse und unserer Liebe geleitet. Tiefe Erkenntnis setzt also Liebe voraus" 68.

87 Vgl. Vom Umsturz der Werte, S. 70-74. 88 FÜRSTNER H., Schelers Philosophie der Liebe, in Studia Philosophica 17 (1957),

S. 33. Die Liebe muß hier als das Fundierende, "Tiefere" des Interessenehmens ang;­sehen werden. (Vgl. die phänomenologisch bestimmten "Tiefenschichten" des emotio­nalen Lebens in Formalismus S. 331-345)

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Als einer der grundlegendsten Gedanken der augustinischen Philo­sophie sieht Scheler die Lehre von der Schöpfung "aus Liebe" 69 : "Durch nichts kann die schöpferische Kraft der Liebe - jene wahrhaft ,schöp­ferische Kraft', die nicht wie bei Plato nur ,Erhaltungstendenz' , ,Repro­duktionstendenz' ist - so scharf hervorgehoben werden wie durch diese Lehre, daß auch der schöpferische Willensakt Gottes in einer vorhergehenden Liebe fundiert sei" 70. Hier tauche zum erstenmal der Gedanke· von der schöpferischen Natur der Liebe in voIIer Reinheit auf. Faktisch sei das, was man bei Augustinus Willensprimat nenne -und die Wahl des schlechten Ausdrucks "volo" im "volo ergo sum" habe diese Fehlinterpretation begünstigt -, Liebesprimat : "Primat des Liebesaktes sowohl vor der Erkenntnis als auch vor dem Streben und WoIIen" 71. Die interessenehmenden Akte als die niedrigeren Regun­gen der "Liebe" gehen notwendigerweise sowohl aUen wahrnehmenden, vorstellenden, erinnernden, also den sogenannten Denk-akten, wie auch - dies durch die ersteren vermittelt - aIIen Strebens- und W oIIensakten voraus.

Auf psychologischem und erkenntnistheoretischem Gebiet heißt das: Der Ursprung aller inteIIektueIlen Akte und der ihnen zugehörigen Bild­und Bedeutungsinhalte, vor der einfachsten Sinneswahrnehmung bis zum kompliziertesten Gedankengebilde, ist nicht nur an die ·von den äußeren Gegenständen ausgehenden Sinnesreize, sondern auch an Akte des Interessenehmens, in letzter Linie an Akte von Liebe und Haß, wesenhaft gebunden.

Über die erkenntnistheoretische Bedeutung hinaus gewinnt diese Lehre bei Augustinus auch eine metaphysisch-ontische Bedeutung. "Diese letztere Bedeutung <die metaphysisch-ontische> aber erhält sie bei Augustin durch eine schwer sichtbare, unendlich tiefsinnige Verflechtung mit seiner Schöpfungs- und Offenbarungslehre. Das Er­scheinen des Bildes oder der Bedeutung im intelIektueUen Akt, z.B. schon der einfachen Wahrnehmung, desgleichen die Füllesteigerung in der Gegebenheit des Gegenstandes bei zunehmender Liebe und Interesse, ist ihm nicht bloß eine Tätigkeit des erkennenden Subjekts, das in den fertigen Gegenstand eindringt, sondern gleichzeitig eine Antwortreaktion

6e Dem entspricht, daß die Liebe bei Augustinus den letzten Wesenskem des Wesens der Gottheit ausmacht, während bei Thomas von Aquin - in den Augen Schelers - der aristotelische Weisengott dem christlichen Erlösungsgott noch voraus­geht.

70 Schriften, S. 92. 71 Ebenda, S. 94.

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des Gegenstandes selbst: ein ,Sichgeben' , ein ,Sicherschließen' und ,Aufschließen' des Gegenstandes, d.h. ein wahrhaftiges Sichoffenbaren des Gegenstandes. Das ist ein ,Fragen' gleichsam der ,Liebe', auf das die Welt ,antwortet', indem sie sich ,erschließt' und darin selbst erst zu ihrem vollen Dasein und Wert kommt" 72.

An diesem Satz ist erstens klar ersichtlich, daß Scheler nicht nur von der Liebe des Menschen spricht, sondern daß diese Liebe nur eine der Arten, ja eine Teilfunktion einer universalen, in allem und an allem wirk­samen Kraft ist. Die Wesensbestimmung, daß "Liebe die Tendenz oder je nachdem der Actus sei, der jedes Ding in die Richtung der ihm eigen­tümlichen Wertvollkommenheit zu führen suche" 73, treibt unseren Philosophen zu der Annahme eines allgemeinen "Ordo amoris" : Nicht nur beim Menschen besteht die Priorität der Liebe, auch die Welt, die Dinge künden diese Priorität, indem sie sich uns offenbaren: "Mit einem gleichsam ganz primären, der Wahrnehmungseinheit noch vor­anschreitenden Trompetenton eines Wertsignals, das da kündet ,hier was los' - einem Signal, das von den Dingen, nicht von uns im Erlebnis ausgeht - pflegen sich die wirklichen Dinge an der Schwelle unserer Umwelt anzumelden" 74.

Während demnach in der klassischen Periode die Welt sich uns kundtut durch die Tätigkeit der universalen Liebe, wird in Schelers Spätperiode derselbe Gedanke in einer völlig neuen Formulierung und im Rahmen einer veränderten Einstellung auftauchen: Dieses Sich-in-Liebe-An­bieten der Welt, verbunden mit der Idee eines allgemeinen "ordo amoris", wird nun zu einem Sich-Aufdrängen der Welt. Wir begegneten dieser Auffassung bereits im I. Kapitel bei der Beschreibung der Realitätser­fassung, wo wir sagten, daß für Scheler "Realsein" das" Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität, die in Wollen, Aufmerken jeder Art ein und dieselbe ist" 75. Die Welt drängt sich uns auf, und dies nach folgendem Schema: "... daß eben das in uns, was die Widerstandser­fahrung primär macht, nämlich die nach aller Seiten in Aufmerksam­keits- und Bewegungsimpulsen ausgreifende Tätigkeit unseres psycho­physischen Vital- und Triebzentrums, vor dem erlebten Widerstande ohne Ich- und ,Bewußtseins'bezogenheit ist - daß also nicht ein Trieb­bewußtsein zum erlebten Widerstande führt, sondern umgekehrt der

72 Schriften, S. 96-97. 73 Nachlaß I, S. 355. 74 Ebenda, S. 349. 75 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 363.

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erlebte Widerstand den Aktus der Reflexio, durch den der Triebimpuls bewußtseinsfähig und bewußtseinsmotivierend wird, erst seinerseits hervorruft. Bewußt-werden oder ,zum Ich in Bezug Kommen' ist in allen Stufen und Graden, in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der Welt" 76. Das Wirklichkeitserlebnis wird also nicht durch die Wahrnehmung, das Denken, die Erinnerung oder irgendeinen möglichen perzeptiven Akt vermittelt, sondern durch den erlebten Widerstand der schon erschlossenen Weltsphäre auf unser triebhaftes Leben, auf unsern zentralen Lebensdrang. "Das ursprüng­liche Wirklichkeitserlebnis als Erlebnis des Widerstandes der Welt geht also allem Be-wußtsein, geht aller Vor-stellung, aller Wahr-nehmung vorher. Auch die aufdringlichste sinnliche Wahrnehmung ist niemals nur bedingt durch den Reiz und den normalen Vorgang im Nervensys­tem : eine triebhafte Zuwendung, sei es Verlangen oder Abscheu, muß gleichfalls vorhanden sein, wenn es auch nur zur einfachsten Empfindung kommen soll. Da also ein Impuls unseres Lebensdranges die unum­gängliche Mitbedingung ist für alle möglichen Empfindungen und Wahrnehmungen, können die Widerstände, welche die den Körperbildern der Umwelt zugrundeliegenden Kraftzentren und -felder - die ,Sin­nesbilder' selbst sind ja gänzlich unwirksam - auf unsern Lebensdrang ausüben, bereits an einer Stelle des zeitlichen Prozesses einer werdenden möglichen Wahrnehmung erlebt werden, wo es zu einer bewußten ,Bild'­wahrnehmung noch nicht gekommen ist. Das Realitätserlebnis ist also all unserer ,Vorstellung' der Welt nicht nach-, sondern vorgegeben" 77.

An diesem Beispiel läßt sich unserer Ansicht nach die Entwicklung, die das Schelersche Denken auszeichnet, leicht herausstreichen : Nicht mehr die Liebe mit ihrer höchsten Daseinsform, der Gottesliebe, sondern der unpersönliche Drang und das triebhafte Sein - als Antipode zum Geistprinzip - sind in seiner Spätperiode die Dynamismen und Motoren des Seins und seiner Erfassung.

Bevor wir zur "phänomenologischen" Begründung der Priorität des Liebe vor der Erkenntnis übergehen, wollen wir kurz das bisher Gesagte mit Schelers eigenen Worten zusammenfassen : "Darum war uns Liebe immer auch zugleich der Urakt, durch den ein Seiendes - ohne aufzuhören, dieses begrenzte Seiende zu sein - sich selbst verläßt, um an einem anderen Seienden als ens intentionale so teilzuhaben und teil­zunehmen, daß beide doch nicht irgend wie reale Teile voneinander

76 Die Wissens/armen und die Gesellschaft, S. 370. 77 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 54.

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werden. Was wir ,erkennen' nennen - diese Seinsrelation -, das setzt also immer diesen Urakt voraus: ein sich und seine Zustände, seine eige­nen ,Bewußtseinsinhalte' Verlassen, ein sie Transzendieren, um mit der Welt in einen Erlebniskontakt der Möglichkeit nach zu kommen. Und was wir ,real', wirklich nennen, das setzt zunächst einen Actus des rea­lisierenden W ollens irgendeines Subjekts voraus, dieser Wollensakt aber ein ihm zuvorkommendes, ihm Richtung und Gehalt gebendes Lieben. Also ist Liebe immer die Werkerin zur Erkenntnis und zum Wollen - ja die Mutter des Geistes und der Vernunft selbst" 78.

Diese fundamentale Priorität gilt aber nicht nur für jeden einzelnen erkennenden Akt, sondern auch für allen historischen Fortschritt der Erkenntnis. Immer mußte der enthusiastische Liebhaber dem Kenner notwendigerweise vorausgehen. D.h.: alle Gegenstände, welche die Erkenntnis in ihrem Fortschreiten ergreift, mußten zuerst geliebt oder gehaßt werden, ehe sie intellektuell erkannt, analysiert und beurteilt werden. So ging Z.B. die romantische Zuneigung zum Mittelalter seiner historischen strengen Erforschung vorher; der sichtbare Himmel war zuerst für Giordano Bruno Gegenstand eines neuen Enthusiasmus, ehe er durch die exakte Astronomie wirklich erforscht wurde.

Versucht man, diese Lehre von der Priorität der Liebe vor der Erkennt­nis in Zusammenhang mit der gesamten Schelerschen Wertethik zu bringen, läßt sich für diese Lehre eine - wenn auch nicht reine, da mit metaphysischen Ansichten vermischte - phänomenologische Begrün­dung aufzeigen : Der Behauptung, wir müßten den Dingen erst Interesse und in letzter Linie Liebe entgegenbringen, bevor wir sie erkennen und uns über sie ein Urteil bilden können, entspricht die Lehre, daß uns an den Dingen nicht zuerst ihr Sosein, sondern ihr Wertsein gegeben ist: "... daß in der Ordnung möglicher Gegebenheit der objektiven Sphäre überhaupt die dieser Ordnung angehörigen Wertqualitäten und Wert­einheiten allem vorhergegeben sind, was der wertfreien Schicht des Seins angehört : sodaß nichts ganz und gar wertfrei Seiendes zum Gegenstand einer Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung, in zweiter Linie des Denkens und Urteils, ursprünglich werden kann, dessen Wertqualität oder dessen Wertrelation zu einem anderen (Gleichheit, Verschiedenheit usw.) uns nicht zuvor irgendwie gegeben gewesen wäre (wobei das

78 Nachlaß I, S. 356. Schon in seiner Habilitationsschrift legt Scheler allem geistigen Schaffen eine geschichtlich sich durchsetzende apriorische Kraft nicht-intellektueller Art in der Einheitsform der Person zugrunde. Die Kraft wird jetzt "Liebe" genannt.

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,zuvor' nicht notwendig Zeitfolge und Dauer, sondern nur die Ordnung der Folge der Gegebenheit resp. der Dauer in sich schließt)" 79.

Das Fundierungsgesetz lautet so, daß bei allem Erinnern, Wahr­nehmen, Erwarten, aller Phantasie, allem reinen Bedeutungserfassen, d.h. in allen Sphären der vorstellenden Akte die Wertqualitäten der Gegenstände auf einer Stufe schon vorgegeben sind, wo uns das Bild und Ideenmäßige der Gegenstände noch nicht gegeben ist, - Werter­fassung also die sonstige Gegenstandserfassung fundiert. Auf die Person bezogen heißt dies, daß "obzwar das Dasein der Person in der ontischen Ordnung notwendig ihrem Wert vorhergeht, mit ihrem So-sein (als Individuum) in dieser Ordnung aber gleichursprünglich ist, in der Ord­nung für uns ... es in der Tat die Wertgegebenheit der Person ist, die zwar nicht ihrer Da-seinsgegebenheit ... , wohl aber ihrer So-seinsgegebenheit in der Ordnung vorhergeht" 80. Was hier gesagt wird, ist also keineswegs eine an sich bestehende Priorität der Werte gegenüber dem Sein, sondern nur das Primat der Wertgegebenheit vor der Seinsgegebenheit oder, genauer gesagt, vor der Soseinsgegebenheit. "Die einsichtige Wertgege­benheit ist ferner von subjektiver Apriorität gegenüber aller Seinsgege­benheit. Der Wert selbst aber ist gegenüber dem subsistenten Sein von nur attributiver Bedeutung. Und wir dürfen darum auch sofort hinzuset­zen, daß die spezifischen ,emotionalen' Aktarten unseres Geistes, durch die uns Werte zuerst zur Gegebenheit kommen und die auch die Stoff­quellen für alle sekundären Wert-Beurteilungen sowie für alle Normen und Sollseinsätze ausmachen, das gemeinsame Bindeglied ausmachen sowohl für all unser praktisches Verhalten, wie für all unser theoretisches Erkennen und Denken. Da aber Liebe und Haß die ursprünglichsten und alle übrige Aktarten (Interessenehmen, Fühlen von etwas, Vorziehen usw.) umspannenden und fundierenden Aktweisen innerhalb der Gruppe dieser emotionalen Akte sind, so bilden sie auch die gemeinsamen Wurzeln unseres praktischen und unseres theoretischen Verhaltens, sind sie Grundakte, in denen allein unser theoretisches und praktisches Leben seine letzte Einheit findet und bewahrt "81.

Zu unterscheiden ist diese Lehre von allen Lehren eines Primates des Verstandes wie eines Primates des Willens in unserm Geiste. Weder die Eigennatur der erkennenden und begehrenden Akte noch die ihnen zukommende je besondere Gesetzmäßigkeit soll hier in Frage gezogen

79 Vom Ewigen im Menschen, S. 80. 80 Sympathie, S. 224. 81 Vom Ewigen im Menschen, S. 82-83.

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werden, sie sollen auch nicht als aus Liebes- und Haßakten zusammen­gesetzt oder irgendwie hergeleitet aufgefaßt werden. Was gekennzeichnet werden soll, ist eine Ordnung der Fundierung im Ursprung der Akte aus dem Ganzen der Persönlichkeit: ein Primat von Liebe und Haß sowohl gegenüber allen Arten des "Vorstellens" und "Urteilens" als auch gegen­über allem Wollen. "Das in beiden Akten, der Liebe und dem Hasse, identische ,Interessenehmen an' - das auch die noch wertblinden Akte der Aufmerksamkeit in letzter Linie leitet und regiert - erwies sich uns als Fundamentalbedingung des Stattfindens jeglichen Erkenntnisaktes, sei es der Bild-, sei es der Denksphäre, und nur insofern das Interesse­nehmen selbst ursprünglich ein solches mehr der Liebe ist als des Hasses, durften wir auch von einem Primat der Liebe gegenüber der Erkenntnis sprechen. Während sich die begehrenden und die verabscheuenden sowie die eigentlichen Willensakte hierbei je als fundiert durch Akte des Erkennens (des Vorstellens und Urteilens) erwiesen, waren diese uns ihrerseits doch wieder durch Akte des Interessenehmens, und damit der Liebe und des Hasses, und zwar noch unabhängig von aller sie dif­ferenzierenden Erkenntnis, in der ihnen zukommenden Wert-Richtung bedingt" 82.

Abschließend müssen wir noch darauf hinweisen, daß Liebe sich ja nicht nur intentional auf Werte bezieht, sondern daß sie weiterhin selbst Träger von Werten, von sog. Aktwerten ist. Und auch aus dieser Sicht kann man sie mit der Erkenntnis vergleichen. So wirft Scheler Brentano vor, daß er darauf versichtet, zu entscheiden, ob - wie Aristoteles und die Griechen meinen - ein "Akt der Erkenntnis" höherwertig sei als ein "Akt edler Liebe" oder ob es umgekehrt sei. Für Scheler muß sich diese Frage aus der materialen Rangordnung der Werte entscheiden, während Brentano diese materialen Ordnungsfragen der historischen Relativität überlassen will. Scheler übernimmt in dieser Frage den christ­lichen Standpunkt: ein Akt edler Liebe ist höherwertig als ein Akt reiner Erkenntnis, die caritativen Tugenden höherwertig als die dianoe­tischen.

Zu erwähnen bleibt noch, daß diese Lehre auch für die Gotteserkennt­nis Anwendung findet: Da Liebe wesenhaft der Erkenntnis vorausgeht, und da sie uns als der Kern und die Seele gleichsam des ganzen Akt­gefüges in die Richtung des absoluten Seins führt, also hinaus über die nur auf unser Sein relativ daseienden Gegenstände, geht sie auch der Gotteserkenntnis voraus. Die Personliebe als die Bewegung auf den

82 Nachlaß I, S. 370.

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idealen Kern der Person steht in der Nähe der Liebe zum Göttlichen. Als apriorische Liebe, wodurch sie auf ihre Verankerung "in Gott" hinweist (am are cum Deo als Mitvollzug der göttlichen Akte) liegt sie in der Richtung der Liebe Gottes. Und ein Fortschritt in der Gotteser­kenntnis ist nur dann möglich, wenn der Inhalt der neuen Erkenntnis von einer Person in vorhergehender schöpferischer Liebe, die zu neuen Einsichten und zur Erweiterung des Wertbereiches führt, geliebt worden ist.

6. Die Liebesarten

Was wir bisher über die Akte von Liebe und Haß gesagt haben, war nur ihre Beschreibung als jene letzten identischen Aktwesenheiten, die in allen Differenzen, die sie aufweisen, dieselben sind. Allein Scheler bleibt nicht bei dieser allgemeinen Charakterisierung von Wesenheiten, er dringt weiter vor und trifft phänomenologische Differenzierungen, die ihn zur Annahme von ursprünglich verschiedenen Wesensarten der Liebe führen. Hiermit wendet er sich gegen alle Lehren, welche die Meinung vertreten, alle Arten der Liebe und des Hasses seien nichts als Umbildungen einer einzigen, ursprünglich den Menschen allein ebeherrschenden Liebeskraft. Welcher Ausprägung dieser Liebesmonis­mus auch sei: "ob man etwa, in einer Art Liebesmetaphysik, diese eine Liebeskraft als Gottesliebe ansehe und nur je bestimmt geartete Trieb­einschränkungen dieser Liebe in den Arten der Liebe zu endlichen Gegenständen sehe, oder ob man umgekehrt als diese eine Kraft die Libido bezeichne, die sich durch allerhand Stauungen und Hemmungen zu höheren und geistigeren Formen der Liebe ,sublimiere' und verkläre"B3, immer wird dabei die ursprüngliche Verschiedenheit der Liebesarten geleugnet. Auch wenn sich im Menschen und seiner Entwicklung diese Arten erst nacheinander schärfer voneinander unterscheiden, wohl auch erst zu bestimmten Zeiten aktuell werden (auf Grund gewisser Auslö­sungen), so gehen sie doch niemals auseinander hervor.

So kritisiert er auch die naturalistische Theorie, weil sie den Akt der Liebe überhaupt als einen Komplex oder ein Entwicklungsprodukt einfacherer geistiger Elemente darstellt. Hierbei übersehe sie die Ur­sprünglichkeit der höheren Liebesarten : der heiligen Liebe, der geistigen Liebe und der "beseelten Individualliebe". Nicht, daß sie letztere Arten schlecht erklärte, sie übersieht sie einfach, ignoriert schlechthin, daß

S3 Nachlaß I, S. 374.

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es eine über all unsere faktische Lebensorganisation und das Wesen alles Lebens erhabene Schicht von Akten und Werten gibt 84. Letztere Feststellung ist für Scheler das Resultat der phänomenologischen Beo­bachtung, für die das "Leben" selbst eine Wesenheit und kein an den empirisch existierenden Organismen bloß abstrahierter Begriff ist; so stellt auch nicht bloß der Akt der Liebe, sondern auch z.B. die vitale Liebe und ihr Wertbereich - edel und gemein - eine echte Wesenheit dar. Diese Begriffe haben phänomenologische Fundamente, die von der Beobachtung der irdischen Organismen und der Induktion aus diesen Beobachtungen ganz unabhängig sind. So enthält die vitale Liebe nichts als eine Bewegung in der Richtung der Werterhöhung vom Gemeinen zum Edlen. - Wie nun diese Bewegung sich für die besonderen Arten von faktischen Organismen betätigt, auf welche Weise sie sich kausal verwirklicht, dies sind Dinge, die jenseits der Phänomenologie liegen; d.h. die phänomenologische Reduktion als das prinzipielle Absehen von der realen Beschaffenheit der Träger der Akte und der Setzungsform ihrer Inhalte wird aufgehoben.

Die Differenzierung der Liebesakte wird von Scheler in drei Richtungen gemacht: er unterscheidet die Formen, die Arten und die Modi von Liebe und Haß.

Die drei Daseinsformen von Liebe und Haß entsprechen der Grund­einteilung aller Akte in vitale oder Leibakte, in rein psychische oder Ichakte und in geistige oder Personakte : die geistige Liebe der Person, die seelische Liebe des Ichindividuums und die vitale oder Leidenschafts­liebe. - Diesen emotionalen Aktformen entsprechen wesenhaft als noematische Korrelate bestimmte Arten von Werten: den vitalen Akten die Werte des "Edlen" und "Gemeinen", den seelischen Akten die Werte der Erkenntnis und des Schönen (die Kulturwerte), den geistigen Akten die Werte des Heiligen; entsprechen also die drei höheren Stufen der apriorischen materialen Wertrangordnung, während es für die unterste Stufe - für die Werte des Angenehmen und Unangenehmen - keine Liebe und keinen Haß gibt. Letztere können nur gefühlt werden, ihnen kann man Interesse entgegenbringen, aber "lieben" kann man sie nie. Dies liegt auch daran, daß sie keiner Werterhöhung in dem Sinne fähig sind, wie sie mit dem Wesen der Liebe notwendig verbunden ist. Einen Menschen nur "sinnlich" lieben, hieße ihn in den bloßen Dienst des eigenen sinnlichen Empfindens stellen, und diese Herabwürdigung der geistigen Person und des Leibes ist mit der Liebe unverträglich (Dieses

84 Vgl. Sympathie, S. 180.

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Verhalten besteht natürlich auch gegenüber der eigenen Person.). Sinnlichkeit der Liebe - soll eine Widersprüchlichkeit der beiden Begriffe vermieden werden - darf nur als Begleiterscheinung von anderen Gefühlsintentionen aufgefaßt werden.

Die höchste Form der Liebe ist also diejenige, welche Gegenständen oder Personen zugewandt ist, die den Wert "heilig" an sich tragen 80;

die seelische Liebe ist Liebe des Ich zu irgendwelchen Kulturwerten; die vitale Liebe ist Liebe zum Edlen.

Eine Reihe von Tatsachen weist auf die tiefe Geschiedenheit dieser drei Formen der Liebe, z.B. die Tatsache, "daß dieselbe Person auf diesen drei Stufen ihrer Existenz und ihrer Werte in diesen drei Formen der Liebe und des Hasses gleichzeitig Gegenstand des Hasses und der Liebe sein kann (wobei die ,sinnliche Neigung' außerdem noch eine besondere Richtung nehmen kann)" 86. So können wir für einen Men­schen eine tiefe Liebesleidenschaft empfinden, ohne daß uns seine see­lische und seine geistige Existenz Liebe einflößte; ja, es ist sogar mög­lich, daß wir sein seelisches Wesen hassen. Und umgekehrt vermögen wir einen Menschen tief zu lieben, dessen vitale Erscheinung uns aufs Äußerste zurückstößt.

Auf die wesenhafte Trennbarkeit dieser Liebesfunktionen wird auch schon von der Sprache her hingewiesen: die Anwendung des Wortes "Liebe" weist auf diese drei Grundformen hin. Einmal die Liebe in jenem höchsten Sinne, wie ihn die edelsten und heiligsten Erscheinungen der Geschichte - so z.B. Christus und Buddha - veranschaulichen ("Liebe Gott über Alles und Deinen Nächsten wie Dich selbst"). In zweiter Linie sprechen wir von Freundesliebe, ehelicher Liebe, Eltern- und Ge­schwisterliebe. Und endlich das Wort "Liebe" ohne Zusatz als Bezeich­nung der Liebesleidenschaft zwischen Mann und Frau.

Ebensowenig, wie sich diese verschiedenen Liebesqualitäten auf den bloßen Trieb zurückführen lassen - wie es die naturalistische Theorie wollte -, lassen sie sich aus einer einzigen Qualität wie z.B. der Freud­schen "libido" ableiten. "Auch die libido ist eine ursprüngliche Strebens­tatsache, bestimmt in ihrem Objekte durch eine Regung der vitalen Liebe, die von Hause aus von dieser Strebenstatsache verschieden ist.

85 Die Wertmodalität des Heiligen erscheint nur an Gegenständen, die in der Inten­tion als "absolute Gegenstände" gegeben sind. Der Akt der Liebe, in dem wir diesen Wert ursprünglich erfassen, geht wesensmäßig auf Personen, d.h. auf etwas von per­sonaler Seinsjorm, gleichgültig, was das für ein Inhalt ist und weIcher Person begriff vorhanden ist.

86 Sympathie, S. 171.

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Und sie ist es auch dann, wenn sie noch nicht zum bildmäßig bestimmten Geschlechtstrieb (die vitale Liebe aber zur Geschlechtsliebe) fortent­wickelt ist, und die Intention auf das andere Geschlecht nur in der Form einer noch freien Wertrichtung in sich trägt. In diesem Sinne also ist der Geschlechtstrieb durchaus angeboren" 87.

Wohl muß an dieser Stelle wiederum die Bedeutung unterstrichen wer­den, die Scheler der Geschlechtsliebe beimißt. Sie ist keine Verbindung des Geschlechtstriebes mit rein seelischer Sympathie, sie ist die zentralste Funktion der vitalen Liebe überhaupt. Im Unterschiede zum Geschlechts­trieb, der wahllos auf das andere Geschlecht gerichtet ist, nimmt die Geschlechtsliebe aus sich heraus eine Auswahl vor, die prinzipiell in der Richtung der "edlen" Lebensqualitäten erfolgt. In der vitalen Sphäre spielt sie die fundierende Rolle : "Denn innerhalb unseres vitalen Trieb­systems und des ihm entsprechenden Systems von Liebesregungen ist der Geschlechtstrieb und die Geschlechtsliebe der primäre und - wie Freud prinzipiell richtig sieht - fundierende Faktor so, daß alle anderen Arten der vitalen Liebe und des vitalen Trieblebens in dem Maße ihre volle Lebendigkeit verlieren und einer gewissen Verdorrung und Rück­bildung verfallen, wie es jener zentralste Trieb des Lebens tut. Auch die Liebe zum ,Leben' schlechthin, das Geöffnetsein der Seele gegen seine mannigfaltigen Erscheinungen im vitalen Nachfühlen und Mitfühlen; auch die Liebe zur Natur im unreflektierten Sinne kann sich ohne ein gewisses Maß der Regsamkeit dieses zentralsten Triebes nicht ausbilden. Jede Entwicklungsstörung in dieser Richtung hemmt irgendwie die Hingabe an alle vitalen Werte mit und stumpft zugleich alle Arten des Lebensgefühls ab. Insofern ist die Geschlechtsliebe nicht bloß eine Art der vitalbedingten Liebe, sondern sie ist gleichzeitig Grundart und Funda­ment aller anderen Arten der vitalen Liebe und gleichsam deren zentralste Funktion" 88.

Neben diesen drei Daseinsformen der Liebe unterscheidet Scheler auch noch die Arten der Liebe. So sind in seinen Augen die Mutterliebe, die kindliche Liebe, die Heimatliebe, Vaterlandsliebe, Liebe im präg­nanten Sinne der "Geschlechtsliebe" nicht bloß darum verschieden, weil sie sich auf verschiedene Objektkreise richten, sondern schon als Gemütsbewegungen selbst sind sie untereinander verschieden. Die Unterschiede zwischen diesen Liebesarten sind für uns als besondere Qualitäten der Gemütsbewegung selbst fühlbar, ohne daß wir auf ihre

87 Sympathie, S. 200. ss Ebenda, S. 203.

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wechselnden Objekte und ihre gemeinsamen Merkmale hinzusehen brauchen, die Gegenstände dieser Gemütsbewegung werden. Sie weisen schon in ihrem Keime verschieden gesonderte Qualitäten auf. Daß sie echte Qualitäten der Akte selbst sind, zeigt sich schon an der Tatsache, daß sie in Regungen gegenwärtig sein können, ohne daß ihr Gegenstand bildhaft gegeben ist. Wir können die Regung der Heimatliebe erleben, ohne daß irgendeine "Vorstellung" der Heimat wach würde, ja sogar ohne überhaupt eine Heimat zu besitzen. Eine Frau würde auch dann die Regung der Mutterliebe verspüren, wenn sie nie ein Kind gesehen hätte.

Eine weitere grundirrige Voraussetzung der naturalistischen Theorie muß in diesem Zusammenhang noch herausgestrichen werden: der Wert der Liebe steigere sich mit zunehmender Größe des Objektkreises. In ihren Augen ist die Familienliebe apriori "minderwertiger" als die Vaterlandsliebe, diese der allgemeinen Menschenliebe unterlegen. Freundschaft und Ehe sind nur falsche Fixierungen und gleichsam Ver­gaffungen in das individuelle Ich des Anderen. Der Wert der Liebe zur individuellen Seele wird verkannt, weil die verschiedenen Arten der Liebe nicht als echt anerkannt werden. Für diese Theorie gibt es nur eine Liebes­art, die sich bei quantitativer Steigerung des Menschenkreises, der ihr Objekt ist, vergrößert. In dieser Sicht kann nun natürlich alle Liebe zur Heimat, Volk, Nation, Kulturkreis ex definitione nur als eine Art wider­rechtliche Entziehung eines Liebesquantums erscheinen, das man der "Menschheit" als solcher, als dem größten Kreise schuldet. Sie verkennt die Wesensbezogenheit der Liebe auf Werte, genau so wie sie das phäno­menologische Gesetz ignoriert, daß die Liebe durch Werte hindurch auf die jeweiligen Gegenstände gerichtet ist, und daß sie eine Bewegung zum "Höhersein des Wertes" darstellt. Indem sie sich von der Individua­lität und ihren Werten immer mehr abwendet, verliert diese Liebe wesens­gesetzlich an Wert, da dem je größeren Kreis je niedere Werte anhaften. Die höherwertige Liebe ist gleichzusetzen mit der Liebe zum Träger höherer Werte, wie groß oder klein auch der Kreis der Träger dieser Werte immer sei. Die höherwertige Liebe, auch die innigere und tiefer in das zentrale Wesen ihres Gegenstandes eindringende Liebe ist faktisch stets die auf die höheren Werte (also z.B. nicht Wohlfahrt, Nutzen, sondern dem Edlen und geistigen Werten der Kultur; nicht Sachwerten, sondern Personwerten zugewandte) aufgebaute Liebe 89.

89 Vgl. Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, S. 86-87.

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Von den Arten der Liebe scheidet Scheler schließlich die bloßen Modi der Liebe 90. Sie sind Verbindungen von Liebesakten besonders mit sozialen Verhaltungsweisen und Mitgefühlserlebnissen. Zu ihnen zählen unter anderem Güte, Zuneigung, Dankbarkeit, Wohlwollen, Zärtlichkeit - die allgemein-menschlichen Modi -, wie auch Liebens­würdigkeit, Pietät, Höflichkeit, die erst auf einer gewissen Stufe der histo­rischen Bildung vorkommen.

7. Die christliche Liebe

In den vorhergehenden Teilkapiteln wurde versucht, die "phänomeno­logische" Seite der Schelerschen Liebeslehre aufzuzeichnen. Die Dar­stellung dieser Lehre bleibt aber solange unvollständig, wie wir nicht auch die andere Seite betrachten: wie sieht der christliche Denker Scheler die Liebe? Und wir können hier mit Recht von "christlicher Liebe" sprechen, da sich hier auf wundersame Weise Phänomenologie und religi­öse Überzeugung vermischen. Es besteht keine Kluft, keine Trennung zwischen seiner christlichen Weltanschauung und seinem philosophischen Denken. Und gerade in der Lehre von der Liebe sehen wir, wie diese religiöse Überzeugung zum wahren Bestandteil seiner Philosophie wird, auch wenn er hier zeitweilig das Gebiet der Phänomenologie verläßt und das Gesagte nicht immer in den Rahmen des vorher Gesagten paßt. Aber uns liegt ja nicht soviel daran, seine verschiedenen Aussagen in ein straffes System zu zwingen, sondern die ganze Vielseitigkeit des Schelerschen Denkens herauszustreichen. Und dies verpflichtet uns, auch die christlichen Gesichtspunkte der Liebeslehre wiederzugeben, wobei noch herausgestrichen werden muß, daß in Schelers Augen das christliche Liebesideal keineswegs nur für die Gemeinschaft der Gläubigen Geltung findet: er erhebt es zum echten Bestandteil seiner Philosophie und damit gleichzeitig zum Erstrebenswerten für alle Menschen.

Während für die Antike die Liebe ein zur sinnlichen Sphäre gehöriger Tatbestand und dem Rationalen untergeordnet war, findet mit der Erscheinung Christi die - schon hervorgehobene - "Bewegungsum­kehr der Liebe" statt: die Liebe wird der rationalen Sphäre ausdrücklich an Wert übergeordnet. Für den Griechen war die Liebe Bewegung des Niederen zum Höheren, des Schlechteren zum Besseren, des Nichtseien­den zum Seienden, des Menschen zum selbst nicht liebenden Gott -da die Liebe als eine Form des Begehrens, Bedürfens und Strebens

80 Vgl. Sympathie, S. 175.

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angesehen wird, kann sie Gott als dem vollkommensten Sein nicht eigen sein. "Wären wir Götter, würden wir nicht lieben", sagt Plato. Und auch der aristotelische Gott als erster Beweger "bewegt" die Welt nicht wie ein Wesen, das nach außen will und tätig ist, sondern so, "wie das Geliebte den Liebenden bewegt", als ewig ruhendes einheitgebendes Ziel aller mannigfaltigen Liebesregsamkeiten 91.

In der christlichen Konzeption hingegen soll sich nun die Liebe gerade darin erweisen, daß das Edle sich zum Unedlen herabneigt und hinabläßt, das Höhere zum Niederen, der Heilige zum Sünder, Gott zum Menschen. Und diese liebevolle Herablassung wird selbst in das Wesen des "Höhe­ren", also auch des "Höchsten", d.i. Gottes, aufgenommen. Gottes Wesen selbst wird Lieben und Dienen. An Stelle des "ersten Bewegers" der Welt tritt der Schöpfer, der sie "aus Liebe" schuf. Und entgegen der antiken Angst, dadurch zu verlieren und selbst unedel zu werden, herrscht jetzt die Überzeugung, daß der Mensch im Aktvollzug dieses Sichherabgleitenlassens, in diesem "Sichverlieren" das Höchste gewinnt, Gott gleich wird. Gott selbst ist ja zu den Menschen heruntergekommen, um den Tod des schlechten Knechts für die Menschen zu sterben. - Es gibt keine Idee eines "höchsten Gutes" mehr, die einen Inhalt hätte jenseits und unabhängig vom Akte 92 der Liebe selbst und ihrer Bewegung. Und dieser Akt gehört nicht mehr zur sinnlichen Sphäre, sondern ist ein unsinnlicher Akt des Geistes, der sich nicht - wie das Streben -in der Verwirklichung des Erstrebten verzehrt, sondern in seiner Aktion wächst. Keine rationalen Prinzipien mehr, kein Gesetz und keine Gerech­tigkeit 93 dürfen, unabhängig von der Liebe und vor ihr vorhergehend

91 Vgl. Vom Umsturz der Werte, S. 71-72. 92 Das "summum bonum" ist kein Sachwert mehr, sondern ein Aktwert, der

Wert der Liebe selbst als Liebe. 93 Gerechtigkeit ist keine neben oder gar über der Liebe stehende sittliche Grund­

idee, sondern nur die logische Ordnung in der Betätigung irgendeiner Art und Form von Liebe, resp. eines von Liebes-Gesinnung noch irgendwie umspannten inneren Verhaltens. Jede reine Gerechtigkeitsmoral hat nur negativen und begrenzenden, nicht positiven und schöpferischen Charakter. Sie muß notwendigerweise der Moral der Liebe untergeordnet werden. "Wie fein und subtil wir die Idee der ,Gerechtigkeit' auch analysieren, sie führt nie und nimmer hinaus über eine bloß logisch-formale Ordnung und Schematisierung von Willenszwecken : Es werde Gleichwertiges Gleich­wertigem unter gleichwertigen Umständen. Was aber zu wollen und zu tun sei und was nicht, davon sagt uns diese Idee nichts. Sie scheint uns nur dann etwas Derartiges zu sagen, wenn wir Verhaltungsweisen wie Achtung, Liebe, Wohlwollen in den Sub­jekten heimlich schon voraussetzen, um deren ,Gerechtigkeit' es sich handelt, be­stimmte inhaltlich wertvolle Eigenschaften aber in denen, auf die sie zielt". (Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, S. 82-83)

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und über ihr, ihre Aktion und deren Verteilung an die Wesen, je nach deren Werte, leiten.

Diese "Herablassung" zum Kleinen, Niedrigen und Schlechten darf nun nicht falsch verstanden werden. "Nicht weil es krank ist, arm, klein, häßlich usw., richtet sich Liebe und Opferwille auf es, um in diesen Erscheinungen passiv zu verweilen, sondern weil die positiven Lebenswerte selbst schon (und erst recht natürlich die geistig-persön­lichen Werte dieser Individualität) von diesen Eigenschaften gar nicht abhängig sind und weit tiefer als sie liegen, vermag (und ,soll' darum) die eigene Lebensfülle die natürliche Angst- und Fluchtreaktion vor diesen Erscheinungen überwinden, und die Liebe in hilfreicher Tat das Positive in dem Armen, Kranken usw. entwickeln" 94. Der spontane Liebes­und Opferdrang versenkt sich also nicht mit Befriedigung in die Er­scheinungen des Kranken und Häßlichen; der Liebende opfert und hilft dem kämpfenden Leben nicht wegen, sondern trotz dieser negativen Wertmomente; er hilft, um das in ihm noch Heile, das was es an positiven Werten noch in sich birgt, zur Entfaltung zu bringen. Die in aller Fremd­liebe liegende Abwendung vom eigenen Ich ist also in der Zuwendung zu einem erblickten positiven Wert fundiert, oder im Aufblitzen des positiven Wertes in der Liebe selbst, und nicht in der Unfähigkeit, sich mit dem eigenen Selbst zu befassen, in einer bloßen Abwendung von sich selbst. In letzterem Falle wird das Kleine und Häßliche als solches zum Gegenstand der Liebesintention, und nicht der hinter ihnen lie­gende positive Wert.

Die christliche Liebe beruft sich auf die Unabhängigkeit der höchsten und letzten Persönlichkeitswerte von den Gegensätzen arm-reich, schön­häßlich, und stellt das Heil und Sein der individuellen Seele in den Mittel­punkt. Sie ist primär immer nur gerichtet auf den geistigen Kern des Menschen, seine individuelle 95 Persönlichkeit, sein ideales geistiges Selbst und seine Mitgliedschaft im Gottesreich. Der christliche Liebes­begriff ist bestimmt als Aktus einer bestimmten Qualität zur geistigen idealen Person als solcher, und es ist dabei noch gleichgültig, ob dies die Person des Liebenden oder die des "anderen" ist. Die Richtung auf den Anderen ist für die Liebe nicht wesenscharakteristisch. Und so kann christliche Liebe denn als Fremdliebe und als Selbstliebe verstanden werden, die nicht in einem Fundierungsverhältnis zueinander stehen,

94 Vom Umsturz der Werte, S. 77. 95 Die christliche Bruderliebe ist also ursprünglich keineswegs ein soziales Prinzip,

sondern trägt streng individualistischen Ch!lrakter.

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DIE CHRISTLICHE LIEBE 111

sondern sie sind beide gleichursprunglich und gleichwertig, im letzten Grunde fundiert auf Gottesliebe, die immer zugleich ein Mitlieben aller endlichen Personen "mit" der Liebe Gottes als der Person der Personen ist. Es ist also die Gottesliebe, in der die individualistischen und universalistischen Grundwerte, die "Selbstheiligung" und die "Nächstenliebe", voll ihre letzte untrennbare organische Einheit finden. Und so entspricht es der christlichen Lehre, daß "die Nächstenliebe mit der rechten Gottesliebe ohne weiteres mitgesetzt ist, und daß gleichzeitig alles tiefere erkenntnismäßige Eindringen in die göttlichen Dinge durch Gottes- und Menschenliebe gleichmäßig fundiert ist. Es ist ja selbst­verständlich, daß da, wo die Liebe zum Wesen Gottes gehört und aller religiöse Heilsprozeß nicht in menschlich-spontaner Tätigkeit, sondern in der göttlichen Liebe seinen Ausgangspunkt hat, die ,Liebe zu Gott' immer gleichzeitig ein Mitlieben der Menschen, ja aller Kreaturen mit Gott - ein amare mundum in Deo - in sich einschließen muß" 96.

In der Kontinuität eines und desselben Aktus, in welchem sich die Seele in der Gottesliebe zu Gott erhebt, neigt sie sich auch zum Menschen. -Die Gottesliebe als Liebesart ist primär nicht Liebe zu einem schon ge­glaubten realen Gegenstand dieses Wesens, sondern Liebe zum Wesen eines solchen möglichen Gegenstandes, d.h. Liebe zum "Göttlichen" resp. zur "Gottheit". Nur da, wo sie durch Erfahrung des Gegenstandes eines solchen Wesens erfüllt wurde, kann sie hinterher als "Gegenliebe" und Antwortakt auf die zuvorkommende Liebe Gottes erlebt werden. Vor dieser möglichen Erfüllung ist sie im Unterschiede zu allen sonstigen echten Liebesarten, die die Idee von Sozietät schon apriori fundieren, als indifferent hinsichtlich des Unterschiedes "spontan oder reaktiv" auch rein phänomenologisch charakterisiert.

Es muß in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen werden, daß für Scheler das gesamte christliche Ethos nie ganz lösbar ist von der religiösen Welt- und Gottesanschauung des Christen, und daß die gutge­meinten Versuche, seinem Ganzen auch einen weltlichen Sinn zu geben, der ablösbar von seinem religiösen Sinn wäre, in ihm die Grundsätze einer allgemeinen "humanen" Moral oder einer "voraussetzungslosen" Moral wiederzufinden, in seinen Augen verfehlt sind. Und im Mittelpunkt der sittlichen Lebensrichtung, die wir die christliche nennen, steht das gewaltige Gebot: "Du sollst Gott lieben aus ganzem Herzem und mit ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie Dich selbst".

8e Schriften, S. 90.

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112 DIE LIEBE

Im Sinne einer imperativischen Ethik, die davon ausgeht, daß nur das sittlichen Wert hat, was gebietbar und verbietbar ist, könnte man diesen Satz mit den Worten Kants folgendermaßen deuten: "Denn es <sc. dieses Gebot> fordert doch als Gebot Achtung für ein Gesetz, was Liebe befiehlt, und überläßt es nicht der beliebigen Wahl, sich diese zum Prinzip zu machen" 97. Da aber auch Kant einsieht, daß man Liebe nicht befehlen kann, und da er andererseits der nun logisch sich ergebenden Schlußfolgerung entgehen will, Liebe habe keinen sittlichen Wert, versucht er diesen Satz im Sinne der bloß praktischen Liebe umzudeuten. Gott lieben heißt in dieser Bedeutung: seine Gebote gerne tun; den Nächsten lieben heißt: alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben. - Schelers Interpretation hingegen lautet: "Wohl drückt der Satz aus, daß wer sich so verhält (d.h. seinen Nächsten liebt wie sich selbst), den höchsten sittlichen Wert realisiert, und daß ein solches Verhalten ein ideal sein­sollendes ist. Sofern er sich aber an den subjektiven Willen selbst richtet, ist er nicht als gebietende Norm, sondern als Einladung zur Nachfolge gemeint" 98. (Wir werden durch das reine und unmittelbare Erblicken des puren Personwertes der Erscheinung Christi und des bloßen Seins seiner Person zur Nachfolge eingeladen) - Und wie die Person Christi -nicht aber eine "Idee", an der diese Person erst zu messen wäre - der erste religiöse Liebesgegenstand ist, so ist auch der Ausgangspunkt der Liebesemotion eine ontisch reale Person, die Person Gottes.

Auch wird das Verhältnis von Liebe und materialer Wertordnung jetzt in christliche Terminologie eingefaßt: Das wahre Vorzugsobjekt der christlichen Liebe als eines geistigen Aktes der Seele ist nicht die grös­sere Zahl der Menschen, sondern der höhere qualitative Wert und die höhere Wertfülle, der Gott als dem höchsten Gute näherliegende Wert. Und ohne diesen gemeinsamen Bezug aller Menschen auf Gott, ohne die tiefste, letzte und wirksamste Verknüpfung der geistigen Seelen untereinander, die Verknüpfung durch Gott und in Gott, kann keinerlei Stufenordnung der Güter mehr angenommen werden, auf die sich unsere Liebe in je verschiedenem Ausmaße und nach bestimmten Gesetzen des Vorziehens richten soll; d.h. wir würden einer allgemeinen NiveIlierung beiwohnen.

Ein weiteres Charakteristikum der christlichen Liebe: Liebe im christ­lichen Sinne hilft und hilft tatkräftig, aber sie besteht nicht im Helfen-

87 KANT Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft (Philosophische Bibliothek Band 38), Unveränderter Nachdruck der 9. Auflage von 1929, Hamburg, 1963, S. 97.

88 Formalismus, S. 229.

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Dm CHRISTLICHE LmBE 113

wollen, oder auch nur im Wohlwollen. Sie bleibt wie versunken in den positiven Wert; und Wohlwollen und Helfen sind nur ihre Folgen. Oder: Das Helfen ist zwar unmittelbarer und adäquater Ausdruck der Liebe, nicht aber ihr Zweck und Sinn. Dies im Gegensatz zur Liebe im Sinne des modernen Humanitarismus, dem die Liebe nur abgeleitet wertvoll erscheint, nämlich weil sie ein Mittel ist, die Wohlfahrt und das sinnliche Glück des Menschen oder menschlicher Gruppen zu vergrößern. Natür­lich sollen wir auch nach christlicher Anschauung die Wohlfahrt fördern, die soziale, ökonomische, hygienische usw., dies in letzter Linie aber nur, "um der Würde willen der geistigen Persönlichkeit des Menschen, in welche Würde die freieste und reinste Liebesbereitschaft gerade als ihre Krone und Kern eingeschlossen ist" 99. Wir sollen die Wohlfahrt des Menschen fördern, auf daß er reif werde zur Liebe als der Wurzel aller Tugenden. Und Wohlwollen und Wohltun selbst haben nur soviel sittlichen Wert, als Liebe in ihnen steckt. Liebe zielt wesenhaft also nicht auf das Wohl des Anderen, sondern auf den höchsten Wert seiner Person hin, und auf sein Wohl insofern, als dieser Wert seiner Person dadurch gefördert wird. Sie ist auf den "Menschen" gerichtet nur inso­weit, als er Person ist, d.h. als bestimmte geistige Akte durch ihn voll­zogen werden, als sich durch ihn also die Gesetzmäßigkeit des "Gottes­reiches" vollzieht 100.

Nicht auf die Größe der Wohlfahrt, sondern darauf, daß unter den Menschen ein Maximum von Liebe sei, kommt es hier an. Während für den modernen Humanitarismus die Menschenliebe nur als einer der kausalen Faktoren gilt, die das allgemeine Wohl zu vergrößern vermögen, wäre nach christlicher Anschauung die Welt die beste, in der möglichst viel Liebe ist.

Noch ein Unterschied scheint uns hervorhebenswert : Die Liebe im Sinne des Humanitarismus trifft die Menschen nur in ihrer Gleichzeitig­keit : dagegen visiert die christliche Liebe die Menschengruppen in ihrem zusammenhängenden historischen Dasein und auf dem Hintergrund einer überirdischen Ordnung, die auch die Seelen der Verstorbenen umfaßt. Und hier zeigt sich die tiefe und notwendige Verbundenheit der christlichen Liebe mit dem Solidaritätsprinzip, das hier als solidari­sches Heilsprinzip aufgefaßt wird : die Liebe in der Einheit und Gemein-

88 Vom Ewigen im Menschen, S. 366. 100 Personakte sind also nur möglich im "Gottesreich", das aus Personen und nur

aus Personen besteht; und das konstitutive Band im Gottesreich ist das Band der Liebe.

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114 DIE LIEBE

schaft einer Kirche Gottes ist ein gleichnotwendiger und gleichursprüng­licher Weg zu Gott und zum Heile, Im Sinn der Liebe als Liebe, nicht in subjektiven Absichten und Wünschen, liegt die Forderung nach Gegen­liebe. Wer liebt, realisiert nicht nur einen positiven Aktwert an sich selbst, sondern ceteris paribus auch einen solchen Aktwert an seinem Gegenüber. Auch Gegenliebe trüge ja als Liebe den positiven Aktwert der Liebe. Wer einen ideal gesollten, der Liebenswürdigkeit der Person entsprechenden Liebesakt unterläßt, trägt auch für den negativen Wert, der im Nichtsein des positiven Wertes der Gegenliebe liegt, die Mitver­antwortung - nicht also nur die Selbstverantwortung für die Unter­lassung seines Aktes. - Scheler bezeichnet sogar als den Kern des Glückes der Liebe "das vom eigenen Ich abgewendete Verlorensein in das Subjekt der an unserer Liebe erwachenden Gegenliebe" 101.

Wir werden auf diese wesensmäßige Gegenseitigkeit von Liebe und Gegenliebe zurückkommen müssen, wenn wir die Fundamente des Schelerschen Solidarismus untersuchen werden. Die Mitverantwortung findet ja ihre phänomenologische Begründung darin, daß diese Akte des Wesens von Liebe, Achtung, ... die Gegenliebe, Gegenachtung ... , als ideale Seinskorrelate fordern.

101 Schriften, S. 65.

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KAPITEL III

DIE PERSON

Der wesentliche Zusammenhang oder - um mit Scheler zu sprechen -das ontische Band zwischen Liebe und Person wurde uns schon im vorigen Kapitel mit voller Klarheit vor Augen geführt, als wir sahen, daß für Scheler die Liebe nur dann ein sittlich wertvoller Akt ist, wenn sie die Liebe der Person zur Person selbst ist. Der eigentliche Personwert kommt ausschließlich im Akte der Liebe zur phänomenologischen Gegebenheit; da er nie vergegenständlicht werden kann, und da das rationale Erkennen per Definition wertblind ist, bliebe uns der Wert der Person ohne die Liebe für immer verschlossen. - Liebe als Aktus geistiger Natur ist ihrem Wesen nach primär auf die geistige ideale Person gerichtet; sie ist also zunächst auf die Person und auf bestimmte Werte geistiger Aktbetätigung gerichtet und auf den "Menschen" nur soweit, als er Person ist und jene Akte durch ihn vollzogen werden.

Diese von Scheler zeitlebens beibehaltene - ungeachtet gewisser Verschiebungen in den Begriffsbestimmungen und selbst ungeachtet der Entwicklung seiner Metaphysik und seiner Religionsphilosophie -Unterscheidung zwischen "Mensch" und "Person" muß eingangs herausgestellt und erläutert werden, da sie von der eigentlichen Person­lehre ständig vorausgesetzt wird. - Schelers Auffassung zufolge kann der Begriff "Person" nicht überall da angewandt werden, wo wir Ichheit, Beseelung - die ja auch den Tieren in gewissem Maße zukommen -oder sogar auch Bewußtsein vom Bestand und Wert des eigenen Ich (Selbstbewußtsein, Selbstwertbewußtsein) gemeinhin annehmen. Ja, selbst dem "Menschen" als Menschen kann dieser Begriff nicht ohne weiteres zugeordnet werden. "Es ist vielmehr erst eine bestimmte Stufe menschlicher Existenz, auf die der Personbegriff Anwendung findet. Mögen wir auch, nachdem uns das phänomenologische Wesen von ,Person' einmal aufgegangen ist, den Begriff erweitern und Keime (gleich­sam) des Personseins schon auf unentwickelten Stufen menschlichen

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116 Dm PERSON

Seins annehmen (z.B. bei Kindern, Schwachsinnigen usw.), so ist doch der Ort gleichsam, wo uns das Wesen der Person zum erstenmal auf­blitzt, nur bei einer gewissen Art von Menschen, nicht beim Menschen überhaupt zu suchen - eine Art, die allerdings in ihrer geschichtlichen positiven Umgrenzung bedeutend wechselt" 1.

Kann das Personsein erst auf einer gewissen Stufe des Menschseins in Erscheinung treten, so bleibt doch für die menschliche Person das Menschsein notwendige Voraussetzung; es ist gleichsam der Nährboden, worauf Personsein entstehen und wachsen kann. Diese Bezogenheit zwingt uns, der Bestimmung der Schelerschen Personbegriffs eine kurze Beschreibung des Wesensbegriffes "Mensch" vorhergehen zu lassen.­Scheler unterscheidet hier zwischen einem ersten, natursystematischen Begriff des Menschen, der die Merkmale umfaßt, die das als Mensch bezeichnete Lebewesen morphologisch als eine Untergruppe der Wirbel­und Säugetiereart besitzt, und einem zweiten, dem Wesensbegriff des Menschen. In dieser Sicht bezeichnet "Mensch" einen Inbegriff von Dingen, den man dem Begriffe des "Tieres überhaupt" aufs schärfste entgegensetzt, ebensowohl den Säuge- und Wirbeltieren wie auch den undifferenzierten Einzellern. "Ein Begriff, der ihn <sc. den Menschen> nicht den nächsthöheren Wirbeltieren, den Menschenaffen, sondern der ganzen Natur überhaupt entgegensetzt als ein Wesen, das in seinem tiefsten Zentrum frei von ihren stoßenden Kräften auf alle Natur herab­zulächeln vermag" 2. Und diese Wesensbestimmung des Menschen identifiziert sich letztlich für Scheler mit der Bestimmung des Verhält­nisses von Mensch und Leben, von Mensch und der höchsten Manifes­tation des Lebens, der "Psyche".

Wenn wir hier auf diese Wesensbestimmung näher eingehen, so unter anderem deshalb, weil eines der Ziele dieser Arbeit darin besteht, eine gewisse Kontinuität der Schelerschen Lehre aufzuweisen. Dieser Problem­kreis scheint uns eine Verdeutlichung der von ScheIer selbst im Vorwort zur dritten Auflage des Formalismus im Dezember 1926 angeführten Erläuterung, wonach die im Formalismus niedergelegten Gedanken durch die Umbildung der metaphysischen Grundansicht des Verfassers 3

nicht nur nicht mitbetroffen wurden, sondern daß im Gegenteil sie

1 Formalismus, S. 470. 2 Philosophische Weltanschauung, S. 27. 8 Auf die Folgen dieser Umbildung für die Personlehre werden wir noch zurück­

kommen (siehe u.a. : Die Person als Gottsucher).

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DIE PERSON 117

ihrerseits einige der Gründe und geistigen Motive darstellen, die diese Umbildung erst herbeigeführt haben 4.

Der Versuch, den Wesensbegriff des Menschen zu bestimmen, führt Scheler zu einer ersten Feststellung: Diese Wesensbestimmung bleibt Sache der Unmöglichkeit, solange wir dieses Problem vom Standpunkt der Biologie oder der Psychologie her zu lösen versuchen. Sofern wir das Problem biologisch ansehen, besteht keine strenge Wesensgrenze zwischen Mensch und Tier. Der Naturalismus schließt hieraus, daß der Mensch eben nur ein höheres Tier sei, und daß auch sein Geist und seine Entwicklung ein Entwicklungsprodukt der tierischen Entwick­lung sei. Scheler sieht den Irrtum dieser Auffassung gerade darin, daß sie überhaupt einen biologischen Einheitsbegriff "Mensch" annimmt und voraussetzt, anstatt das Hauptergebnis seiner Lehre in der biologi­schen Underfinierbarkeit des Menschen zu sehen, und er schließt daraus: "Da es keinen biologischen Wesensbegriff Mensch gibt, so liegt die einzige Wesensgrenze und die einzige in Frage kommende Wertgrenze zwischen den irdischen Wesen, die Leben an sich zeigen, überhaupt nicht zwischen Mensch und Tier, die vielmehr systematisch und genetisch einen kontinuierlichen Übergang darstellen, sondern sie liegt zwischen Person und Organismus, zwischen Geistwesen und Lebewesen" 5.

Ebensowenig führt uns die psychologische Betrachtungsweise zur Aufdeckung eines Wesensunterschiedes zwischen Mensch und Tier. Läßt sie auch dem Tiere Intelligenz und Wahlfähigkeit zukommen, so steht doch nach Schelers Auffassung das Wesen des Menschen, seine "Sonderstellung" hoch über allem, was man InteIIigenz und Wahl­fähigkeit nennen könnte, selbst wenn man sich diese quantitativ bis ins Unendliche gesteigert vorstellte. "Aber auch das wäre verfehlt, wenn man sich das Neue, das den Menschen zum Menschen macht, nur dächte als eine zu den psychischen Stufen : Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl noch hinzukommende neue Wesenstufe psychischer und der Vita/sphäre angehöriger Funktionen und Fähigkeiten, die zu erkennen also in der Kompetenz der Psychologie und Biologie lägen" 6.

Nach der Ablehnung dieser beiden "Holzwege" geht Scheler nun zur positiven phänomenologischen Bestimmung des Wesensbegriffes "Mensch" über: Das, was den Menschen allein zum "Menschen"

4 Vgl. Formalismus, S. 17. Der letzte Satzteil ist bei Scheler in Kursivschrift. & Ebenda, S. 294. 6 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 37.

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118 Dm PERSON

macht, ist also nicht eine neue Stufe des Lebens - erst recht nicht nur eine Stufe der einen Manifestation dieses Lebens, der Psyche, sondern es ist ein allem undjedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip. Dieses neue Prinzip, eine echte neue Wesens­tatsache, steht außerhalb alles dessen, was wir Leben nennen können, und es kann auch nicht auf die "natürliche Lebensevolution" zurückge­führt werden. - Diese 1927 niedergeschriebenen Gedanken scheinen der panentheistischen Metaphysik des späten Schelers eigen zu sein; wir möchten jedoch an Hand von Ausschnitten aus Werken, die zwischen 1913 und 1915 verfaßt worden sind, aufzeigen, daß dieselben Gedanken im Ansatz schon viel früher die Schelersche Gedankenwelt mitbestimmt haben. So lesen wir im Formalismus: "Das eben ist der eigentliche Wesens begriff des ,Menschen' : Er ist ein Ding, das sich selbst und sein Leben und alles Leben transzendiert. Sein Wesenskern - abgesehen von aller besonderen Organisation - ist eben jene Bewegung, jener geistige Akt des Sichtranszendierens" 7. Und ein wenig später in Zur Idee des Menschen: "Der Irrtum der bisherigen Lehren vom Menschen besteht darin, daß man zwischen ,Leben' und ,Gott' noch eine feste Station ein­schieben wollte, etwas als Wesen Definierbares : den ,Menschen'. Aber diese Station existiert nicht und gerade die Undefinierbarkeit gehört zum Wesen des Menschen. Er ist nur ein ,Zwischen', eine ,Grenze', ein ,Übergang', ein ,Gotterscheinen' im Strome des Lebens und ein ewiges ,Hinaus' des Lebens über sich selbst" 8. Im Hinblick auf das Leben ist der Mensch nur insofern das "höchste" der Wesen, als er Träger von Akten ist, die von seiner biologischen Organisation unabhängig sind, und sofern er Werte, die diesen Akten entsprechen, sieht und realisiert. Nur unter der Voraussetzung eines von biologischen Werten unabhän­gigen und ihnen übergeordneten Wertes ist also der Mensch auch das werthöchste Wesen.

Die phänomenologische Bestimmung des menschlichen Wesens kann demnach in zwei Begriffen zusammengefaßt werden: der Mensch ist Transzendenz und Tendenz. Transzendenz und Erhabenheit über die Vitalsphäre, über alle biologischen Werte und den gesamten psychischen Bereich. Bei der Charakterisierung des Menschen als Tendenz stimmen die Auffassungen der beiden oben zitierten Perioden natürlich nicht mehr so genau überein. In der Zeit vor 1920 steht das Gerichtetsein auf Gott im Mittelpunkt. In dieser Sicht ist der Mensch die Bewegung,

7 Formalismus, S. 293. 8 Vom Umsturz der Werte, S. 196.

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DIE PERSON 119

der Übergang zum Göttlichen. Der Mensch ist hier "ein Ding, das an­fängt, über sich hinaus zu gehen und Gott zu suchen" 9. Er ist das leibliche Wesen, das Gott intendiert; als Tendenz transzendiert er alle möglichen Lebenswerte und ist auf das Göttliche gerichtet; er ist der Gottsucher. -Allem Anschein zum Trotz behält diese Aussage auch für den späten Scheler Geltung. Er bestätigt uns ihre Unabhängigkeit von allen positiven Vorstellungen, Ideen und Begriffen von "Gott" : "Nicht die Idee Gottes im Sinne einer existierenden positiv bestimmten Realität freilich ist es, die mithin vorausgesetzt ist, wenn wir das Wesen des Menschen erschauen wollen, es ist vielmehr nur die Qualität des Göttlichen oder die Qualität des Heiligen, in einer unendlichen Seinsfülle gegeben" 10. - Der Mensch ist also wesentlich der Gottsucher, wobei es keine Rolle spielt, wie er sich diesen Gott als Wesenheit positiv vorstellt. Der Satz gilt ebensowohl in Bezug auf den in seiner Geistigkeit allmächtigen persönlichen Gott der Christen, wie auf den Gott des Aristoteles oder den des Mohammed, und, so dürfen wir mit vollem Recht hinzufügen, für den sich im Men­schen selbst unmittelbar erfassenden und verwirklichenden Weltgrund des späten Scheler.

Lag bei der Wesensbestimmung des Menschen vor 1920 der Akzent auf der Gottbegier, die "alles Sein und allen Geist allgewaltig zur Reveille trommelt" 11, verlagert sich das Hauptmerkmal des Menschseins in der Spätperiode auf den "Geist" und die ihm entsprechenden geistigen Werte. An dieser Stelle - später werden wir ausführlicher darauf zurück­kommen - sei "Geist" nur kurz definiert als der Begriff, der "wohl den Begriff ,Vernunft' mitumfaßt, aber neben dem ,Ideendenken' auch eine bestimmte Art der ,Anschauung', die von Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse volitiver und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mitumfaßt" 12. Die Mittel­punktverschiebung in der Wesensbestimmung des Menschen, d.h. das In-den-Vordergrund-Schieben der Geist-Inkarnation vor dem Gott­sucher, ist deutlich aus dem folgenden, 1926 oder 1927 geschriebenen Auszug zu ersehen: "Der Mensch ist das über alles Leben und seine Werte, ja über die gesamte Natur in sich selbst erhobene und erhabene Wesen - das Wesen, in dem sich das Psychische vom Dienst an das

9 Vom Umsturz der Werte, S. 198. 10 Formalismus, S. 296. 11 Vom Umsturz der Werte, S. 190. 12 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 38.

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120 Dm PERSON

Leben zum ,Geiste' hinaufgeläutert und befreit hat, zu einem Geiste, in dessen Dienst nun das ,Leben' im objektiven wie subjektiv-psychischen Sinne tritt" 13.

Daß es sich hier wirklich nur um eine Akzentverschiebung handelt, läßt sich unserer Ansicht nach aus folgendem, dem Formalismus entliehe­nen Text ersehen: "Das Neue, das im Menschen oder an einer bestimm­ten Stelle seiner Entfaltung hervorbricht, besteht gerade in einem -biologisch gemessen - Oberjluß an geistiger Betätigung, sodaß es ist, als würde in ihm und seiner Geschichte eine Spalte geöffnet, in der eine allem Leben überlegene Ordnung von Akten und Inhalten (Werten) zur Erscheinung kommt" 14.

Nachdem die das Gesamtschaffen Schelers durchziehende Wesens­bestimmung des Menschen ihn uns als das sich selbst und alles Leben transzendierende geistige und Gott intendierende Wesen hat erscheinen lassen, stellt sich nun die Frage: Was aber ist in diesem Zusammenhang die Person? oder: Auf welcher Stufe dieses Menschseins taucht das Personsein auf? Die Schelersche Antwort auf die zweite Frage ist zur Genüge aus der Literatur bekannt, sodaß wir uns darauf beschränken können, die Bedingungen aufzuzählen, ohne näher auf sie einzugehen. Die darauf folgende Auseinandersetzung mit dem Personbegriff setzt die Kenntnis dieser Bedingungen voraus, Bedingungen, die ein Mensch erfüllen muß, um auf die Bezeichnung "Person" Anspruch erheben zu können 15.

Der Personbegriff findet Anwendung nur bei dem Menschen, der erstens phänomenal vollsinnig ist. Im Gegensatz zu den positiven Wissen­schaften bezeichnet die Phänomenologie den Menschen als vollsinnig, der die Lebensäußerungen eines anderen Menschen unmittelbar zu "verstehen" sucht, anstatt sie kausal "erklären" zu wollen. "Verstehen" heißt, daß wir aus einem in der Anschauung mitgegebenen geistigen Zentrum des Andern heraus seine Akte - Rede, Äußerungen oder Handlungen - gegenüber uns und der Umwelt ohne weiteres als inten­tional auf etwas gerichtet erleben und nachvollziehen, und all dem ohne weiteres die Einheit irgendeines "Sinnes" zuschreiben; und nicht, psychi­sche Vorgänge im anderen in Kausalbeziehung zu bringen zu anderen psychischen Vorgängen als deren Ursachen, und wovon die Lebensäuße-

18 Philosophische Weltanschauung, S. 31. 14 Formalismus, S. 293. 15 Vgl. Ebenda, S.470-481. Diese Bedingungen werden hier kritiklos angeführt,

obwohl uns klar ist, daß z.B. die "Herrschaft über den Leib" der psychoanalytischen Forschung keineswegs gerecht wird.

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DIE PERSON 121

rungen nur die Wirkungen wären. Diese eben beschriebene psycholo­gische Objektivierung käme einer Entpersonalisierung gleich. Die Person ist als Vollzieher durch die Einheit eines Sinnes verbundener intentionaler Akte gegeben.

Die zweite Bedingung des Personseins ist die phänomenale "Mündig­keit", deren Wesen das echte "Verstehenkönnen" ist; d.h. das Grund­phänomen der Mündigkeit besteht im Erlebenkönnen einer unmittelbar im Erleben jedes Erlebnisses selbst schon gegebenen (also nicht erst auf dessen Inhalt gegründeten) Verschiedenheitseinsicht eines eigenen und fremden Aktes, Wollens, Denkens, Fühlens; und dies ohne Einblick darauf, ob sich das Akterlebnis durch einen fremden oder durch den eigenen Leib nach außen kundtat.

Wesenhafte Vollsinnigkeit und Mündigkeit allein ergeben noch nicht die Person. Dieser Begriff ist auch nur solchen Menschen vorbehalten, in denen die Herrschaft über ihren Leib unmittelbar in Erscheinung tritt, und die sich selbst unmittelbar als die Herren ihres Leibes fühlen, wissen und erleben. Es handelt sich hier um das unmittelbare Bewußtsein der Willensmächtigkeit; d.h. Person ist nur da gegeben, wo ein Tun­können durch den Leib hindurch als phänomenaler Tatbestand vorliegt.

In diesen drei Grundbedingungen des Personseins wurzelt ebensowohl die Autonomie wie auch die Verantwortlichkeit der Person. Im Rahmen der Wertphilosophie Schelers ist es folgerichtig, daß die Autonomie der Person hauptsächlich in Bezug auf Werte besteht; die Person muß selbst einsehen, was gut und böse ist, und sie muß das als gut Erkannte auch persönlich wollen. Da dieser Problemkreis ausführlich und zutref­fend von P. Cantius behandelt worden ist, kann er von uns übergangen werden 16. Autonomie und Verantwortlichkeit der Person begründen ihrerseits die sittliche Relevanz ihrer Handlungen.

Nachdem uns dieser erste Wesenszusammenhang von Liebe und Person die Unterscheidung zwischen Person und Mensch vor Augen geführt hat, muß noch auf einen weiteren Zusammenhang beider Wesen­heiten hingewiesen werden, der uns eine präzisere Situierung der "Stel­lung" der Person in Schelers Anthropologie ermöglichen wird. Dieser Zusammenhang bezieht sich auf die im vorigen Kapitel hervorgehobenen Daseinsformen der Liebe und deren Subjekte. Wie bereits erwähnt, entsprechen die vitale oder Leidenschaftsliebe, die seelische Liebe des Ichindividuums und die geistige Liebe der Person der Grundeinteilung aller Akte in vitale oder Leibakte, in rein psychische oder Ichakte und

16 CANTIUS P., Max Scheler's ethiek als personalisme, in Bijdragen 7 (1946), S. 36-58.

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122 DIE PERSON

in geistige oder Personakte. Obzwar diese Akte schon in sich als Akte wesensverschieden sind und verschieden erlebt werden, sind sie doch gleichzeitig an ihre Träger, an ihre "Subjekte" wesenhaft gebunden 17.

Der vitalen oder Leidenschaftsliebe entspricht als Träger der Leib, als der von der Seele beseelte Körper. Der seelischen Individualliebe, oder der Liebe zur individuellen Seele entspricht das Ich, insofern es als Zentrum der Lebenssphäre Subjekt der seelischen Liebe des Ichindi­viduums ist; der geistigen und heiligen Liebe endlich der Geist, oder in seiner konkreten Daseinsform: die Person, insofern sie als Zentrum aller übertierischen Akte Subjekt der geistigen Liebe der Person ist.

In Bezug auf den Problemkreis der Liebe zeigte der Vesuch der natura­listischen Theorien, die heilige und die seelische Liebe aus der vitalen Sphäre und Liebe herzuleiten, ihr Blindsein für die Tatsache, daß im Laufe der Entwicklung des Lebens und der Menschheit völlig neue Akte und Qualitäten auftreten, und daß diese Qualitäten wesentlich sprunghaft erscheinen und nicht als gradmäßige Fortbildungen der unteren Sphären. Die Phänomenologie zeigt, daß eine allem Leben, dem Wesen allen Lebens, eine sogar dem Wesen aller seelischen Ordnung überlegene Schicht von Akten und Werten in die Erscheinung tritt. -In dem selben Maße handelt es sich auch bei "Leib", "Ich" und "Person" um echte unableitbare Wesenheiten, und es hat keinen Sinn, "Person" oder "Ich" durch die Vital sphäre erklären oder aus ihr ableiten zu ver­suchen.

So ist erstens der Leib durchaus keine empirische Abstraktion an den irdischen Organismen, sondern er ist selbst eine von deren Dasein unabhängige Wesenheit und eine Form des Daseins, und wenn auch eine weitere Wesenseinsicht besagt, daß zu einer (menschlichen) Person ein Leib gehört 18, so gehört der Leib doch keineswegs zur Personsphäre : wie wir hieran anschließend sehen werden, stimmt für Scheler die Person­sphäre mit der Aktsphäre überein; er setzt ihre Identität, und da der Leib der Aktsphäre nicht angehörig ist, steht er auch außerhalb der Personsphäre. Er gehört zur Gegenstandssphäre eines jeglichen "Bewußt­seins von etwas". Seine phänomenologische Gegebenheitsart und -fundierung ist eine von der des "Ich" - und a fortiori von der der Person

17 Vgl. Sympathie, S. 170. 18 Vgl. Nachlaß I, S. 49. In diesen Zusammenhang will der Katholik Scheler auch

die Lehre von der "Auferstehung des Fleisches" gestellt sehen. Wenn - und dies ist eine pure Glaubensfrage - unsere geistige Person den Tod überdauert, dann ist ihr auch ein "Leib" gewiß (und nicht ein "Körper", aber auf diesen Unterschied kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. Formalismus, S. 397-412).

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DIE PERSON 123

- wesensverschiedene; er stellt eine letzte elementare Grundklasse von Phänomenen dar: Er ist uns - unabhängig und vor allen gesonderten sogenannten "Organempfindungen" und vor allen besonderen äußeren Wahrnehmungen seiner - als ein völlig einheitlicher phänomenaler Tatbestand, und als Subjekt eines So- und Anders"befindens" gegeben, er ist der Träger des Lebensgefühls. Er fundiert, oder seine unmittelbare Totalwahrnehmung fundiert sowohl die Gegebenheit Leibseele wie die Gegebenheit Leibkörper. "Und eben dieses fundierende Grundphänomen ist ,Leib' im strengsten Wortsinne" 19. Der Tatbestand Leib ist die zugrun­deliegende Form, in der alle Organempfindungen zur Verknüpfung kommen: d.h. bei jeder Organempfindung ist das Ganze des Leibes immer als ihr Hintergrund mitgegeben, und in ihr ist stets der Leib als Ganzes mit-intendiert.

Für das Ich und seine Gegebenheitsweise gelten dieselben Sätze wie für den Leib. Auch die Ichheit ist eine echte Wesenheit, und keineswegs von den individuellen Ichen empirisch abstrahiert. Genau wie der Leib ist auch das Ich selbst nur Gegenstand unter Gegenständen : es ist nie Bedingung des Gegenstandes, sondern stets noch "Gegenstand" von Akten, und zwar für die Akte der "inneren Wahrnehmung", und steht als Ichheit mit dem Wesen der spezifischen Aktform der inneren Wahrnehmung in Wesenszusammenhang. Der Gegenstandssphäre ange­hörig, während Person überbewußtes Sein im Vollzug ihrer Akte ist, steht das Ich ebenfalls außerhalb der Personsphäre. Auch ist seine Gege­benheitsweise eine von der des Leibes und der Person phänomenologisch wesentlich verschiedene: Zu seiner Gegebenheit gehört wesensmäßig eine ganz besondere Richtung und Form des "Bewußtseins von etwas" oder des intentionalen Aktes, und zwar die Richtung und Form der "inneren Wahrnehmung". "Und ganz analog <der Leibgegebenheit> ist in innerer Wahrnehmung immer ein Ich überhaupt gegeben, und zwar die Totalität eines Ich, auf deren Hintergrund sich dann dies und jenes abhebt. Auch deren Existenz ist unmittelbar evident .... Der Akt der inneren Wahrnehmung geht dem Rechte und Können nach auf jedes Erlebnis des Ich; er umspannt alle Stufen des Bewußtseins und alle zeit­lich wie immer getrennten Lebensmomente" 20. - Das individuelle Ich ist keineswegs eine Summe von Erlebnissen, ein wie immer gearteter Zusammenhang oder Inbegriff von Dispositionen für solche, ein zu ihnen bloß konstruierter Gegenstand; für das Ich gelten vielmehr

19 Formalismus, S. 399. 20 Vom Umsturz der Werte, S. 242.

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wesensgesetzlich folgende Sätze: - Jedes Ich ist wesensnotwendig individuelles Ich. - Jedem Seienden, das ein Ich ist, steht ein mögliches Du gegenüber. - Jedem Seienden, das ein Ich ist, steht wesensnotwendig gegenüber eine von seinem Sein unabhängig seiende und auch so gegebene Außenwelt. - Jedem Ich entspricht ein seelisches Ich mit einem Abfluß von Erlebnismomenten als Korrelat, von Erlebnismomenten, die erst, nachdem sie als Ganzheiten gegeben, sekundär nach vielen Richtungen teilbar sind 21.

Während bei Kant das Ich die Bedingung der Einheit und Identität des Gegenstandes ist, ist es bei Scheler selbst noch Gegenstand. Das Ich - gegeben in der Akt-form der inneren Wahrnehmung und der ihr wesensgesetzlich entsprechenden Form der Mannigfaltigkeit - figuriert im Vollzug eines Aktes innerer Wahrnehmung selbst nur als Form des Wahrnehmens und ist also noch eine bestimmte Materie der Wahrneh­mung und nicht nur die bloße Idee eines logischen Subjekts. Das indivi­duelle Erlebnisich tönt auf eine ihm eigene Weise jedes Erlebnis, eben durch die individuelle Art des Erlebens; und es ist darum in jedem adä­quat gegebenen Erlebnis mitgegeben, Jedes Erlebnis ist nur dann voll und adäquat gegeben, wenn in ihm das erlebende Individuum mitge­geben ist. Alle mehr oder weniger zufälligen faktischen Erlebnisse sind durch die individuelle Art des Erlebens gegründet: " ... so ist jedes individuelle Ich auch für einen Aktus von der Form der inneren Warhnehmung eine jeweilig neue und neue Anschauungsgegebenheit, die weder mit irgendeinem besonderen Erlebnisinhalt, noch mit deren Summe oder irgendwelchen Relationen und Ordnungen solcher Inhalte zusammenfällt" 22. Die Ichheit ihrerseits als das Wesen aller individuellen Iche stellt sich als seiend dar nur und allein in irgendeinem individuellen Ich - sie wird nicht an den individuellen lehen empirisch abstrahiert, sondern an ihnen in eidetischer Abstraktion gefunden. Das Ich ist die Einheit einer Mannigfaltigkeit im puren Ineinander 23. Die psychischen Tatsachen haben eine besondere Form von Mannigfaltigkeit, eben jene des "Ineinander im Ich". Dieses Ineinander kann wachsen oder abneh­men an Fülle der Mannigfaltigkeit, aber so, daß die Phänomene "Wach­sen" oder "Abnehmen" ein unzeitliches Werden darstellen. Alles als gegenwärtig Erlebte ist wesensnotwendig gegeben auf dem Hintergrunde jener Totalgegebenheit, in der wiederum das Ganze des individuellen Ich - zeitlich ungeteilt - intendiert ist. Und alle sogenannte Ichiden-

21 Vgl. Vom Ewigen im Menschen, S. 308. 22 Formalismus, S. 377. 23 Vgl. Ebenda, S. 414 ff.

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DIE PERSON 125

tität ist die individuelle Art des Erlebens aller Erlebnisgehalte und ihrer Sinnbeziehungen.

Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, ausführlich auf das Verhältnis von Leib und Ich, Ich und Person, Leib und Person einzu­gehen, da es genügend Stoff für eine neue Arbeit bieten könnte. Das Verhältnis von Leib und Person ist übrigens von B. Lorscheid 24 einge­hend und ausführlich behandelt worden. Wir werden es nur in dem Maße in Betracht ziehen, wie der Leib im Individuierungsprozeß der Person von Interesse ist. Wir sahen schon früher, daß Person da und nur da gegeben ist, wo ein Tunkönnen "durch" den Leib hindurch als phänomenaler Tatbestand vorliegt. Der Wesenszusammenhang von Ich und Leib wird von Scheler hauptsächlich im Formalismus 25 untersucht, und auf den wesentlichsten Unterschied zwischen Ich und Person ist schon hingewiesen worden: die Person ist das konkrete Subjekt aller Akte vom Wesen der inneren Anschauung, in denen das Ich gegenständ­lich wird, und deshalb kann eben die Person selbst nie Gegenstand sein.

Auch von der Wertseite her sehen wir deutlich die Unterscheidung Person - Ich - Leib. Ohne uns hier auf eine ins Detail gehende Unter­suchung einzulassen, können wir doch die wesensmäßig abnehmende Tendenz feststellen: die Werte werden um so niedriger, je mehr sie sich von der Personsphäre zur sinnlichen Zustandssphäre hin bewegen. -­Auf der Gegenstandsseite gilt für Scheler folgende wesenhafte Zuord­nung : dem Leib entspricht als wesenhaftes Gegenglied eine "Umwelt", dem Ich eine "Außenwelt" und der Person eine "Welt".

Die hier angeführten Unterscheidungen sollten uns dazu dienen, die Person - das Bild sei uns hier gestattet - "einzukreisen". Wir müssen jedoch sogleich feststellen, daß sie es uns nicht erlaubt haben, bis zur Person selbst vorzustoßen. Sie waren zwar von großer Wichtigkeit für die Situierung des Personproblems, haben uns aber in der Erkenntnis der Person auch nicht um einen Schnitt weitergebracht; denn von keinem der hier gefundenen Grundtatsachen und Begriffe (Mensch, Ich ... ) läßt sich der Begriff der Person gewinnen oder ableiten. - Nachdem nun aufgezeigt worden ist, was Person nicht ist, wodurch sie sich von den andern Wesenstatsachen unterscheidet und wie sie sich von ihnen abgrenzen läßt, können wir zum eigentlichen Kernproblem dieses Kapitels, zur Person selbst, übergehen.

24 LORSCHEID Bemard, Das Leibphänomen. Eine systematische Darbietung der Schelerschen Wesensschau des Leiblichen in Gegenüberstellung zu leibontologischen Auffassungen der Gegenwartsphilosophie, Bonn, 1962 (Trier, Phil. Habil.)

25 Vgl. Formalismus, S. 413-420.

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Der Ausgangspunkt bei Scheler ist eine ganz alltägliche Feststellung: es ist dasselbe Etwas oder X, das liebt, haßt, urteilt, erkennt, handelt usw. Ist dieses X nun ein leerer Begriff, ein leerer Ausgangspunkt von Akten, oder ist es eine reale, wirksame Einheit, die in der Fülle der kämp­fenden Tendenzen des geistigen Lebens sich durchzuarbeiten strebt? Die Antwort auf diese Frage identifiziert sich für Scheler mit der Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Person. Und so läßt sich die funda­mentale Fragestellung im Personproblem mit folgendem Zitat kurz zusammenfassen: "Welcher einheitliche Vollzieher ,gehört' zum Wesen eines Aktvollzugs von so wesenhaft verschiedenen Aktarten, -formen, -richtungen überhaupt?" 26 oder: "Welcher Vollzieher ,gehört' wesen­haft zum Vollzuge von Akten so verschiedenen Wesens überhaupt?" 27_

Die Frage ist also die nach der Möglichkeit einer zusammenhängenden geistigen Welt in der Form einer personalen. Und mit dieser Frage befin­den wir uns in der Grundproblemstellung des Philosophen Scheler über­haupt. Sie tritt zum ersten Male in seiner Habilitationsschrift von 1900 zutage, und sein ganzes Werk kann als Weg auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage bezeichnet werden. Bei der folgenden ersten Fragestellung muß darauf hingewiesen werden, daß hier noch keine Unterscheidung zwischen "Ich" und "Person" gemacht wird. Scheler spricht hier vom "Ich", meint aber die "Person", deren Begriff er erst in späteren Werken ausgearbeitet hat: "Jedes erkennende Ich ist zugleich ein sittlich handelndes, zugleich ein Ich, das sein Verhältnis zum Ganzen des Universums, dessen letztem Ursprung und Zweck zu bestimmen hat. Ob sich in diesen vielfältigen Aufgaben mit ihrem zunächst so hetero­genen Charakter dennoch eine wirksame, alle Vielheit der Tätigkeit umspannende, inhaltsvolle Einheit behaupte, ist die grundlegende Frage. Ob die wissenschaftlich erkennende, die in den Lebenskämpfen zu sitt­licher Entscheidung berufene, die ihr Verhältnis zur Gottheit suchende Persönlichkeit eine inhaltsvolle Identität mit sich selbst behaupten kann, ... ist zu fragen" 28.

1. Die Wesensdefinition der Person

Die Einleitung zu diesem Kapitel hat uns deutlich aufgezeigt, in wel­chem Rahmen sich für Scheler das Personproblem stellt: Welches

26 Formalismus, S. 380. 27 Ebenda. 28 Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörte­

rung zur philosophischen Methodik (PhiI. Habil.), in Frühe Schrijien, S. 302.

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ist das Wesen dieses und desselben X, das weiß, will, fühlt, liebt und haßt? Oder mit andern Worten: Welches ist das Wesen der Person, dieses Akte verschiedenartigen Wesens vollziehenden X? Zwei Lösungs­möglichkeiten, die sich theoretisch anbieten, werden von Scheler direkt zurückgewiesen. Die erste bestände darin, in der Person nur ein Kollek­tivum ihrer einzelnen Akte zu sehen, was notwendigerweise zur Folge hätte, daß von einem einheitlichen Träger oder Vollzieher der Akte ganz abgesehen wird. Diese Auffassung wird von Scheler im Rahmen seiner Abhandlung über Tod und Fortleben verworfen, wo er u.a. sagt: Wäre die Person nur eine Verwebung ihrer einzelnen Akte in der Zeit, so müßte mit dem Fortfall ihrer Akte auch sie selbst aufhören zu beste­hen. "Ist sie dagegen kein solches Kollektivum, sondern etwas, zu dessen Wesen es zwar gehört, nur in Akten zu sein und zu existieren, etwas aber, das sich in seinen einzelnen Akten und deren Summe wesenhaft nie erschöpfen kann - sodaß ihr wesenhaft eine unendliche Reihe von Akten zugehört -, so kann auch der Fortfall eines bestimmten Aktes oder einer beliebigen Mehrheit solcher Akte nur ein Fortfall für unsere Erkenntnis der Person sein, braucht aber nicht ein Aufhören ihrer selbst zu bedeuten. Ist mir auch nur ein einziger Akt erkennbar, so ist damit die Existenz einer Person, die diesen Akt vollzieht, festge­stellt" 29. - Eine erste Aussage in der Erforschung des Wesens der Person wäre hiermit gemacht: die Person ist mehr als die Summe ihrer einzelnen Akte.

Dem Personbegriff der transzendentallogischen Philosophie wirft Scheler vor, daß er nicht imstande ist, die reale, wirkliche Person zu erreichen. Für sie ist die Einheit der Person, die Einheit des Bewußt­seins, lediglich der Begriff jener zusammenfassenden, synthetisierenden, mit sich selbst identischen Tätigkeit, der logisch gesetzt werden muß, wenn Wissenschaft überhaupt, und insbesondere Erfahrungswissenschaft sein soll. Die Bedeutung der Person erschöpft sich darin, die logische Voraussetzung aller gegenständlichen Erkenntnis zu sein. "Real ist das Ich <hier mit "Person" gleichzusetzen, da es sich um einen Auszug aus einem Frühwerk handelt; vgl. supra> ebenso wie jene Begriffe von Raum und Zeit lediglich als Begriff einer Methode im Bewußtsein des Erkenntnistheoretikers" 30. - In diesem Sinne lehnt Scheler auch Kants "Vernunftperson" ab, die im Grunde gar nichts anderes sei als das jeweilige logische Subjekt einer vernünftigen, d.h. einer - unab-

29 Nachlaß I, S. 58. 30 Die transzendentale und die psychologische Methode, in Frühe Schriften, S. 236.

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hängig von aller Kausalität - idealen Sinn- und Sach-Gesetzlichkeit folgenden Aktbetätigung. Personsein erschöpft sich darin, Ausgangs­punkt eines gesetzmäßigen Vernunftwillens oder einer Vernunfttätigkeit als praktischer zu sein. - Logische (im Sinne von Nur-Logische) Sub­jekte, die Vernunftakte vollziehen, oder logische Subjekte eines Wollens sind aber noch keine "Personen". So ist auch Selbstbewußtsein noch nicht Person; um auf diesen Begriff Anspruch erheben zu können, müssen im "Bewußtsein von" alle möglichen zur Selbsterfassung füh­renden Bewußtseinsarten - die wissende, willentliche, fühlende, liebende und hassende - vereinigt sein. Denn Person ist eben gerade die Einheit, die für Akte aller möglichen Verschiedenheiten im Wesen besteht, sofern diese Akte als vollzogen gedacht werden.

Person kann also niemals weder auf das X eines bloßen Ausgangs­punktes von Akten, auf irgendeine Art des bloßen Zusammenhangs oder der Verwebung von Akten, noch nach transzendentallogischer Weise auf einen leeren Begriff zurückgeführt werden. Person ist nicht ein leerer Ausgangspunkt von Akten, sondern sie ist das konkrete Sein, die reale, wirksame Einheit, ohne die Akte immer nur abstrakte Wesenheiten bleiben. Erst durch ihre Zugehörigkeit zu dem Wesen dieser oder jener individuellen Person konkretisieren sich die Akte zu konkreten Wesenheiten.

Diese negativen Bestimmungen führen uns zur Wesens definition der Person. Hieran anschließend werden wir die fundamentalsten Aussagen Schelers zu diesem Thema wiedergeben; sie sollen uns ein genaues Verständnis des Schelerschen Person begriffes ermöglichen, was nicht ausschließt, daß wir auf die wichtigsten von ihnen in den nachfolgenden Teilkapiteln zurückkommen werden müssen.

Scheler definiert das Wesen der Person wie folgt: "Person ist die konkrete, selbst wesenhafte Seinseinheit von Akten verschiedenartigen Wesens, die an sich (nicht also 7TPOS ~",as) allen wesenhaften Aktdiffe­renzen (insbesondere auch der Differenz äußerer und innerer Wahrneh­mung, äußeren und inneren Wollens, äußeren und inneren Fühlens und Liebens, Hassens usw.) vorhergeht. Das Sein der Person ,fundiert' alle wesenhaft verschiedenen Akte" 31. Und er fügt gleich hinzu, daß diese Wesensdefinition weitere Erklärungen verlangt, und daß es vor allem darauf ankommt, das hier "Fundierung" genannte Verhältnis richtig zu bestimmen.

31 Formalismus, S. 382-383.

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WESENSDEFINITION 129

Die Person ist demnach die konkrete Form, in der Akte allein existieren können. Die Einheit der Person ist weder die eines Dinges oder einer Substanz "hinter" ihren Akten noch die eines bloßen Kollektivums irgendwelcher Art, sondern sie ist eine "konkrete Einheit" sui generis, die in jedem ihrer Akte ganz lebt und ist und zu der wesensgesetzlich eine unendliche Reihe von Akten gehört 32. Die Person ist das konkrete Zentrum unserer sich in den Zeitablauf hinein erstreckenden geistigen, liebenden, fühlenden Akte. Dies bedeutet nun nicht, daß unser persön­liches Dasein einer Art Strom gleichkäme, der in derselben objektiven Zeit, in der sich die Naturereignisse abspielen, gleich diesem Strome, wenn auch mit verschiedenem Inhalt, dahinrausche. Kein Teil dieses Stromes, der "nachher" ist, könnte dann auf einen Teil, der "vorher" ist, sich zurückbeugen oder an ihm irgendeine Änderung bewirken. Im Gegensatz zu diesem Abfluß der Veränderungen und Bewegungen der toten Natur - deren "Zeit" ein einförmiges Kontinuum einer Dimen­sion von einer bestimmten Richtung ist, ohne die Dreiteilung von Gegen­wart, Vergangenheit, Zukunft - sind mir im Erlebnis eines jeden meiner unteilbaren zeitlichen Lebensmomente Struktur und Idee des Ganzen meines Lebens und meiner Person mitgegenwärtig. Jedes einzelne dieser Lebensrnomente, das einem unteilbaren Punkt der objektiven Zeit entspricht, hat in sich seine drei Erstreckungen der erlebten Gegenwart, der erlebten Vergangenheit und Zukunft, deren Gegebenheit sich in Wahrnehmung, unmittelbarer Erinnerung und unmittelbarer Erwartung konstituiert.

Die Wesensdefinition der Person verlangt einige Ergänzungen: Es gehört erstens zum Wesen der Person, daß sie nur existiert und lebt im Vollzug intentionaler Akte. Sie ist nur als die konkrete Einheit der von ihr vollzogenen Akte und nur im Vollzug dieser. Sie existiert einzig im Vollzug oder in der Aktregung ihrer Akte. Ihr Sein als das nur im -faktischen oder möglichen - Vollzug von Akten seiende Zentrum eines Menschen ist ein immer neues Sichselbsthervorbringen. "Die Person aber ist überbewußtes ,Sein' im Vollzug ihrer Akte" 33.

Der Feststellung, die Person existiere ausschließlich im Vollzug ihrer Akte, folgt eine zweite: da ein Akt nie Gegenstand sein kann - es gibt zwar neben dem naiven Aktvollzug noch ein Wissen um diesen Akt in der Reflexion, so enthält diese Reflexion (sei es im Moment des Aktvoll­zuges, sei es in reflexiver unmittelbarer Erinnerung) jedoch nichts von

32 Vgl. Nachlaß I, S. 63-64. ss Ebenda, S. 151.

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Vergegenständlichung - kann uns auch die Person wesenhaft nie als Gegenstand gegeben sein. Akt, Aktzentrum und Person sind gegen­standsunfähige Seiende. - Eine strenge Unterscheidung muß hier getroffen werden zwischen Akt und Funktion. Blicke ich in innerer Wahrnehmung auf mich und das, was als zu mir gehörig gegeben ist, so vollziehe ich einen Akt innerer Wahrnehmung, genau so wie ich auch in äußerer Wahrnehmung einen Akt der Beobachtung z.ll. der Sonne durch ein Fernrohr vollziehe. In diesem Sinne des Wortes "Akt" kann Akt nie zum Gegenstand erhoben werden. Das Sein des Aktes besteht in seinem Vollzug, und er ist darin absolut - nicht relativ -vom Begriff des Gegenstandes verschieden. Dieser Vollzug kann schlicht erfolgen und mit "Reflexion". Die "Reflexion" ist indes keine Vergegen­ständlichung, sie ist allein ein Mitschweben des völlig unqualifizierten "Bewußtseins von" mit dem sich vollziehenden Akt - nur möglich da, wo die Person nicht ganz im Aktvollzug aufgeht. Die Phänomenologie beschäftigt sich ausschließlich mit dem "Akt" in diesem Sinne, dessen Gehaltswesen "Intentionalität", "Bewußtsein von" ist und dessen Seins­wesen "Vollzug" ist. Zu bemerken ist noch, daß in diesem Akt nichts von phänomenaler Zeitdauer ist: Akt ist in diesem Sinne etwas, was jede phänomenale Zeitdauer schneidet und nie sich in ihr erstreckt oder dauert. - Diesem Akt, dessen "Sein" nur im Vollzuge ist, steht gegenüber die "Funktion", die nicht vollzogen wird, sondern "sich voll­zieht", abläuft, wie Sehen, Hören, Bemerken, Beachten. Diese Funktio­nen können in einem Akt innerer Wahrnehmung vergegenständlicht werden, nie aber kann es der Akt selbst 34.

Daher kann auch das, was an einem Menschen Person ist, uns niemals als Gegenstand gegeben sein. Als die konkrete Einheit aller nur mög­lichen Akte steht sie der ganzen Sphäre möglicher "Gegenstände", und erst recht der dinghaften Sphäre gegenüber. "Ist aber schon ein Akt niemals Gegenstand, so ist erst recht niemals Gegenstand die in Ihrem Aktvollzug lebende Person. Die einzige und ausschließliche Art ihrer Gegebenheit ist vielmehr allein ihr Aktvollzug selbst (auch noch der Aktvollzug ihrer Reflexion auf ihre Akte) - ihr Aktvollzug, in dem lebend sie gleichzeitig sich erlebt. Oder, wo es sich um andere Personen handelt, Mit- oder Nachvollzug und Vorvollzug ihrer Akte. Auch in solchem Mit- resp. Nachvollzug und Vorvollzug der Akte einer anderen Person steckt nichts von Vergegenständlichung" 35. Interessant zu

34 Vgl. Vom Umsturz der Werte, S. 233-235. 35 Formalismus, S. 386. Während das Ich und seine Funktionen noch innerlich

wahrgenommen werden können, so gilt dies keinesfalls für die Person und ihre Akte.

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WESENSDEFINITION 131

bemerken ist hier, daß diese Auffassung den Umschwung der Scheler­schen Philosophie unangetastet überstanden hat. So schreibt er kurz von seinem Tode: "Der Geist ist das einzige Sein, das selbst gegen­standsunfähig ist - er ist reine, pure Aktualität, hat sein Sein nur im freien Vollzug seiner Akte. Das Zentrum des Geistes, die ,Person', ist also weder gegenständliches, noch dingliches Sein, sondern nur ein stetig selbst sich vollziehendes (wesenhaft bestimmtes) Ordnungsgefüge von Akten. Die Person it nur in ihren Akten und durch sie" 36. - Während das Tier noch zu sehr in seiner seinen organischen Zuständen entsprechen­den Lebenswirklichkeit und Umwelt verflochten ist, und sie so nicht zum Gegenstand machen kann, ist der Mensch dieser eigenartigen Distan­zierung fähig: er kann die "Umwelt" zur "Welt" vergegenständlichen, er kann die "Widerstandszentren" zu Gegenständen machen. Sofern er Person ist, vermag der Mensch die Welt in ihrer räumlichen und zeit­lichen Fülle, und sich selbst als Lebewesen (Leib und Psyche, seine eigene psychologische und psychische Beschaffenheit) zum Gegenstand zu erheben. Die Grenze der Gegenstandsfähigkeit fällt eben mit dem Sein der Person selbst zusammen. So ist der Mensch als Geistwesen das sich selbst als Lebewesen und der Welt überlegene Wesen.

Da nun die Person die unmittelbar miterlebte Einheit des Erlebens ist, und nicht irgendein gedachtes Ding hinter und außer dem unmittelbar Erlebten, darf sie auch niemals als ein Ding oder eine Substanz gedacht werden. "Sie ist weder eine reale Substanz im Sinne der vorkritischen Dogmatiker, noch eine bloße Summe von Empfindungen, ein relativ

Die Voraussetzung hierbei ist nach Ansicht Nicolai Hartmanns, daß innere Wahr­nehmung im psychologischen Sinne die einzige Art des Wissens um etwas ist, die hier in Frage kommt. Und eben diese Voraussetzung wird von ihm bestritten: Gäbe es keine Möglichkeit der Einstellung auf Akte und Personen als Gegenstände, so wäre Ethik seIbst ein Ding der Unmöglichkeit. Denn der Mensch als Person ist der Gegen­stand der Ethik. Und seine aktiv transzendenten Akte-Gesinnung, Wille, Handlung­sind eben dasjenige, was dem Werturteil unterliegt, d.h. was Gegenstand des Wertur­teils ist. Hier ist gerade das zum Gegenstand gemacht, dem Scheler die Gegenständ­lichkeit abspricht. - Die wertende Einstellung auf Handlungen und handelnde Personen ist überhaupt die primäre, unendlich natürlicher und allgemeiner als die psychologische Reflexion, und diese primäre Einstellung ist durchaus gegenständlich, auch wenn die Akte, die hier den Gegenstand bilden, selbst wiederum intentionale Akte sind, also ihrerseits Gegenstände haben, auf die sie gerichtet sind. Es gibt eben Akte sui generis, die sich auf Akte intentional richten. Vgl. HARTMANN Nicolai, Ethik, 3. Aufl., BerIin, 1949, S. 229-230.

36 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 48.

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konstantes Vorstellungsbündel im Sinne der Empiristen" 37. Der Mensch ist zwar das einzige Wesen, das die vollausgeprägte Ding- und Substanz­kategorie hat, er darf sie aber auf sich selbst als Person nicht anwenden. Person ist die selbst noch aktuelle, konkrete Einheit aller Akte, und keine Substanz darf ihr angehaftet werden 38. "Person ist kontinuierliche Aktualität" 39. - Scheler lehnt also hier die Anwendung des Substanz­begriffes auf die Person kategorisch ab; andere Aussagen lassen jedoch dieselbe Eindeutigkeit vermissen, und dies hat zu diversen Kontroversen Anlaß gegeben. Unserer Ansicht nach liegt auch hier die Schuld am Präzisionsmangel der philosophischen Sprache Schelers. Wir werden seine Stellung zu diesem Problem im nächsten Teilkapitel ausführlich analysieren, bringen hier aber zunächst die wesentlichen Aussagen, die zu diesen Kontroversen geführt haben. - Abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen, von denen wir eine nachher anführen werden, befinden sich alle Anwendungen des Substanzbegriffes auf die Person in seinem Buch über die Phänomenologie der Sympathiegejühle. Hier bezeichnet er die Personen als "selbständige Dasein", wobei er "Substanzen" in Klammern erklärend hinzufügt 40. Er spricht von den geistigen "Person substanzen" oder "Akt-substanzen" 41. Weiter: "Person ist die unerkannte und im ,Wissen' nie gebbare individuell erlebte Einheitssubstanz aller Akte, die ein Wesen vollzieht" 42. Und schließlich definiert er die Person noch­mals als "Aktsubstanz" 43, was er mit folgenden Worten erläutert: "Person ist nur zeit- und raumfreie Aufbauordnung von Akten, deren seiende konkrete Ganzheit jeden Einzelakt mitbestimmt, deren Ganz­heitsvariation ferner jeden Einzelakt mitvariiert" 44. - Besonders zeigt der Begriff "Aktsubstanz" schon mit aller Deutlichkeit, daß Schelers Stellung irgendwo zwischen Aktualismus und Substantialismus liegt. Das folgende Teilkapitel soll hierüber mehr Klarheit bringen.

87 Die transzendentale und die psychologische Alethode, in Frühe Schriften, S. 236 38 Vgl. Nachlaß I, S. 46. 89 Formalismus, S. 103. Dieser Begriff besagt allerdings nicht, Scheler sei Anhänger

der sogenannten "aktualistischen" Persönlichkeitstheorie, die das Sein der Person aus ihrem Tun (ex operari sequitur esse) zu verstehen versucht. Diese Aktualitätstheorie hat nur insoweit recht, als sie jene Personauffassung ablehnt, die behauptet, Person sei ein Ding oder eine Substanz, die ihre Akte im Sinne einer substantialen Kausalität vollziehe.

40 Sympathie, S. 76. 41 Ebenda, S. 131. 42 Ebenda, S. 168. 48 Ebenda, S. 219. 44 Ebenda.

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Um 1922 taucht ein neuer Begriff auf im Zusammenhang mit der Person: der Begriff der "Sammlung". "Auch des Menschen geistige ,Person' ist kein substantielles Ding und kein Sein von der Form des Gegenstandes. Der Mensch kann sich zu seiner Person nur aktiv sam­meln" 45. Wir können uns zum Sein unserer Person (wie auch zum Sein fremder Personen) nur sammeln, uns zu ihm hin konzentrieren - nie aber es objektivieren, vergegenständlichen. Diesen Gedanken entwickelt Scheler zum ersten Male 1922 in der Vorrede zur zweiten Auflage von Vom Ewigen im Menschen. Hier wird das Personsein als durch konzen­trierte Sammlung zu erreichendes Stadium beschrieben, "wo in den disponierenden Akten äußerster Sammlung der geistigen Person als solcher zu sich selbst die Person ihr konkretes Aktzentrum als frei, selbständig, als wesens- und daseinsunabhängig vom seelischen Vital­zentrum nicht etwa bloß ,urteilt', sondern unmittelbar selber hat und erlebt" 46. So gewinnt die Person im Fortgang der Sammlung ihre eigene "Substanz" 47. (Die Ausnahme, von der wir eben sprachen).

Lag beim "klassischen" Scheler der Akzent noch hauptsächlich auf der ausgesprochen negativen Bestimmung der Person als gegenstands­unfähigem Sein, verlagert er sich beim späten, der "Anthropologie" zuge­kehrten Scheler nach der positiven Bestimmung der Person als Weltof­fenheit : "Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße ,weltoffen' verhalten kann" 48. Weltoffenheit als Charakteristikum des geistigen Zentrums der Person steht der tierischen Umweltgebundenheit gegenüber. Die Person kann ihre Umwelt zum Gegenstande erheben und so zu "Welt" machen. Im Gegensatz zum Tiere kann der Mensch den Umwelt­bann abschütteln und kann sein Geist sich durch das Sosein von Sachen selbst bestimmen lassen ("Sachlichkeit"). Während beim Tiere jede Handlung von seiner physiologisch-psychischen Zuständlichkeit ausgeht, geht die geistige Person in jedem ihrer Akte, in Wahrnehmen, Erinnern, Erwarten, Wollen, Können, Fühlen, über das hinaus, was ihr als Grenze des ihr gleichzeitig immer im Erleben mitgegebenen Leibes und seiner Zustände gegeben ist: die Person ist wesens unabhängig vom Dasein eines organischen Lebens. Geist hat nur das Wesen, das sich vom puren Sosein eines zum Gegenstand erhobenen Anschauungs- oder Vors tel­lungskomplexes bestimmen (motivieren) läßt - unabhängig von aller

45 Philosophische Weltanschauung, S. 14. 46 Vom Ewigen im Menschen, S. 23. 47 Ebenda. 48 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 40.

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physiologisch-psychischen Zuständlichkeitdes menschlichen Organismus. - Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit durch den Geist.

Die Person ist und erlebt sich also nur als aktvollziehendes Wesen, und ist in keinem Sinne "hinter diesen" oder "über diesen" oder etwas, das wie ein ruhender Punkt "über" dem Vollzug und Ablauf ihrer Akte stünde. Diese der räumlich-zeitlichen Sphäre entlehnten Bilder gelten selbstverständlich nicht für das Verhältnis von Person und Akt, haben aber immer wieder zur Substantialisierung der Person geführt. Person und Akt verhalten sich nicht zueinander wie Substanz zu Tätigkeit, oder zu Eigenschaft und Vermögen. Die Person ist je ganz in jedem ihrer Akte und vollzieht ihr Sein in jedem Akte mit. So ist es möglich, daß die Person selbst in einem Akt, ja in irgend einem Maße in jedem ihrer Akte, sich wandelt und wandeln kann (nicht etwa "sich verändert" oder ein bestehendes Vermögen nur ausübt), ohne darum aufzuhören, dieselbe Person zu sein. "Vielmehr steckt in jedem voll konkreten Akt die ganze Person und, variiert' in und durch jeden Akt auch die ganze Person -ohne daß ihr Sein doch in irgend einem ihrer Akte aufginge, oder sich wie ein Ding in der Zeit ,veränderte' "49. Es ist die Person selbst, die, in jedem ihrer Akte lebend, auch jeden voll mit ihrer Eigenart durch­dringt. Und in der qualitativen Richtung dieser "Variation" als dem puren "Anderswerden" liegt die Identität der individuellen Person. (Diesen Zusammenhang werden wir jedoch erst später erläutern; vgl. "Ordo amoris"). - Und so läßt sich schließlich der Persönlichkeitsakt definieren als ein Akt, in dem die Persönlichkeit allein existiert und "sich vollzieht".

2. Die Person als Aktsubstanz

Die soeben wiedergegebenen Auszüge aus verschiedenen Werken Schelers zeigen uns, mit welcher Schwierigkeit unser Philosoph abzu­rechnen hat: die Erklärung der Person ohne die Annahme einer Sub­stanz. Neben der Ablehnung der Substantialität der Person will Scheler aber genausowenig in das andere Extrem, den Aktualismus, verfallen. Dieser wurde zu Schelers Zeit hauptsächlich von Wilhelm Wundt (1832-1920) vertreten: auch er lehnt die Annahme einer hinter dem Seelenleben stehenden besonderen dinglichen Seelensubstanz ab, vertritt als Lösung deshalb die sogenannten Aktualitätsauffassung des Seelen­lebens, nach der sich dasselbe in den jeweils im Augenblick vorhandenen

49 Formalismus, S. 384.

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psychischen Prozessen erschöpft. Letztere besitzen sämtlich den Charakter von Vorgängen, nicht beharrenden Wesenheiten, und ergeben erst in ihrem Zusammenhang die Person. - Hier geht die Person also völlig in ihren Akten auf, sie ist nur die Summe ihrer Akte und ihrer Erlebnisse. Demgegenüber hat Scheler immer an dem "unbegründbaren Plus" festgehalten, welches - mit ihren Akten - die Person ausmacht. Und deshalb wird auch die folgende kritische Betrachtung unserer Ansicht nach Schelers Problemstellung nur in geringem Maße gerecht: "Wenn ihm <Scheler> auch vollkommen beizupflichten ist, daß die Person nur im Vollzug ihrer Akte sich tatsächlich selbst gegeben ist, und daß die Intentionalität der geistigen und sittlichen Akte auf den gegenständ­lichen Bestand des Seins und der Werte zurückverweist, so ist doch seine Bestimmung der Person als eine a-substantiale Einheit entschieden abzu­lehnen. Gerade ihre Deutung vom intentionalen Akt her zeigt, daß die Akte eines sich selbst gleichbleibenden und in sich selbst stehenden Wesens bedürfen, dessen Seinsvollzug und Seinsentfaltung sie sind" 00. -

Demgegenüber können zahlreiche Zitate beweisen, daß für Scheler die Person nicht einfach eine a-substantiale Einheit ist. In verschiedenen Werken könnte man sogar das Gegenteil vermuten: er spricht hier nämlich u.a. von der "realen substantiellen Verschiedenheit der konkreten Aktzentren, die wir ,Personen' nennen" 51, von der "persönlichen Sub­stantialität" des individuellen Geistes, und definiert die Person als "indi­viduell-substantielles geistiges Sein" 52. - Wir stehen also scheinbar vor einem offensichtlichen Widerspruch : einerseits lehnt er die Anwen­dung des Substanz begriffes auf die Person ab, andererseits charakterisiert er die Person als substantielles Sein.

Entstanden ist dieser Widerspruch -wie schon angedeutet-aus dem Versuch, die Person ohne die Hinzuziehung des Substanzbegriffes zu erklären, und in ihr doch gleichzeitig mehr als nur die Summe ihrer Akte zu sehen. Wie kann nun dieser Widerspruch überwunden werden? - Während Malik glaubt, im Begriff der "dynamischen Substanz" die Lösung dieses Problems gefunden zu haben, kann Schelers Lösungs­versuch am besten durch einen Vergleich verschiedener Ausgaben der Sympathie dargelegt werden.

50 MALIK Joser, Wesen und Bedeutung der Liebe im Personalismus Max Schelers, in Philosophisches Jahrbuch 71 (1963-1964), S. 129.

51 Sympathie, S. 75. 52 Prophetischer oder marxistischer Sozialismus? in Schriften, S. 262.

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In der ersten Auflage von 1913 lautete die Persondefinition noch wie folgt: "Person ist die unerkannte individuell erlebte Einheit aller Akte, die ein Wesen vollzieht, also kein ,Gegenstand' geschweige gar ein Ding" 53. In der erweiterten Auflage von 1923 wird diese Stelle durch eine neue Definition ersetzt: "Person ist die unerkannte und im ,Wissen' nie gebbare individuell erlebte Einheitssubstanz aller Akte, die ein Wesen vollzieht; also kein ,Gegenstand', geschweige gar ein ,Ding'" 54. -

War in der ersten Charakterisierung der Person der Substanzbegriff gänzlich verbannt, sieht Scheler sich jedoch in der Folge gezwungen -wie er das Beharrende, das Bleibende in der Person zu erklären sucht -, manchmal auf den Substanzbegriff zurückzugreifen. Wohl zeigen die beiden für Schelers Auffassung zutreffendsten Charakterisierungen der Person als "Akt-substanz" und "Einheitssubstanz" deutlich, daß er die traditionellen Substanzauffassungen entschieden ablehnt. Bleiben in den Begriffszuordnungen auch gewisse Widersprüche bestehen, bestim­mend ist eben nur diese bewußte Ablehnung aller herkömmlichen Sub­stanzauffassungen der Person (so wie Scheler sie verstanden hat).

Aus dem bisher Gesagten läßt sich schon zur Genüge ersehen, daß gewisse Unklarheiten im Schelerschen Personbegriff bestehen bleiben werden. Schwer zu entscheiden scheint uns, ob diese Unklarheiten aus­schließlich der Ungenauigkeit der philosophischen Sprache Schelers zuzuschreiben sind, oder ob sie nicht eher mit der immensen Schwierig­keit des hier zu lösenden Problems eng verbunden sind. Sicher ist, daß Scheler einen Mittelweg suchte zwischen der scholastischen Substan­tialitätsauffassung der Person - operari sequitur esse - und der aktua­listischen Persönlichkeitsauffassung - ex operari sequitur esse. Während letztere behauptet, die Person bestehe nur in ihren Akten, spricht Scheler demgegenüber von einer gewissen Substantialität ("Aktsubstanz") der Person. Dies besagt jedoch nicht, daß die Person eine Substanz außer­halb ihrer Akte wäre; aber sie ist auch nicht identisch mit "ihren Akten in sich selbst". - Viele Kommentatoren werfen Scheler vor, er schwanke dauernd zwischen bei den Richtungen. Wir gehen in der Beurteilung dieser Frage mit M. Dupuy überein, der darauf hinweist, daß es von wenig Nutzen ist, sich an den Buchstaben festzuklammern, daß es viel­mehr darauf ankommt, den von ihnen anvisierten Sinn zu erfassen,

53 Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegejühle und von Liebe und Haß. Mit einem Anhang über den Grund zur Annahme der Existenz des fremden Ich, Halle, 1913, S. 68.

54 Sympathie, S. 168.

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und daß hier - sinngemäß also - keine Schwankung und noch weniger ein Widerspruch vorliegt 55.

Da sich die Person im Akt konstituiert, da sie Aktussein ist, kann sie nicht Substanz sein; Aktussein und Substanzsein sind unvereinbar: Substanz gehört zum Gegenstandsein und muß dem Aktussein nach­gesetzt werden. Dennoch ist die Person nicht nur Akt, sondern ein "etwas", das in jeden Akt eingeht, sich durchhält und zur Annahme zwingt, daß es etwas Beharrendes, etwas Bleibendes in der Person gibt, das sie als Aktzentrum ausmacht, das aber nicht als Träger von Akten angesehen werden darf. - Immer wieder hat Scheler auf dieses Behar­rende in der Person hingewiesen und es nachdrücklich herausgestrichen. So nachdrücklich zu gewissen Zeiten, daß es manchmal den Anschein hatte, als sei dies Beharrende eben doch Substanz. So z.B. in der Aussage, daß das Individuationsprinzip des Menschen in seiner Geistseele selber, d.h. im realen Substrat seines Personzentrums gelegen ist 56 : die Annah­me eines Personsubstrates bringt Scheler in die Nähe der scholastischen Substanzauffassung. An anderen Stellen fällt die Selbstverständlichkeit auf, mit der die Annahme einer Substanz abgelehnt wird. Schelers dyna­mische und deshalb eher aktualistische GrundeinsteIlung wehrt sich gegen die Annahme einer Substanz. Und doch ist die Person kein Akt­mosaik, sie hält sich selbst durch. Und da die sich durchhaltende Person nicht in eine Substanz verlegt werden darf, muß sie im Akt zu finden sein. Aber obwohl sie nur in den Akten sich vollzieht, und nicht "vor" oder "über" diesen angesetzt werden darf, ist sie doch mehr als diese. -Hier genau stoßen wir auf die grundlegende Frage: Was und welcher Natur ist das Beharrende in der Person? Wie bleibt die Person in ihren Akten dieselbe? "Die phänomenale Person bedeutet somit ein ,Sein' und Aktualität zugleich, sie repräsentiert eine Art von ,Substantialität' und doch ist nichts sinnlich ,Körperliches' an ihr vorhanden" 57.

Die Person wird definiert als überbewußtes "Sein" im Vollzug ihrer Akte. Und da die Person nur im Vollzug ihrer Akte ist und existiert, da sie ein immer neues Sichselbsthervorbringen ist, da sie die unmittelbar

55 VgI. Dupuy Maurice, La philosophie de Max Scheler. Son evolution et son unite. Tome 1. La critique de l'homme moderne et la philosophie theorique, Paris, 1959, S. 346.

56 VgI. Sympathie, S. 131. Dieser Satz wird aber noch im gleichen Werke mehr oder weniger aufgehoben, nämlich S. 239, wo er die Annahme eines realen Substrates der Erlebnisse unter die Kategorie "fragwürdiger metaphysischer Hypothesen" zu reihen scheint.

57 KRAENZLIN Gerhard, Max Schelers phänomenologische Systematik. Mit einer monographischen Bibliographie: Max Scheler, Leipzig, 1934, S. 32.

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138 DIE PERSON

miterlebte Einheit des Erlebens ist, darf dieses "Sein" der Person folglich nicht statisch aufgefaßt werden. Die Person ist und erlebt sich nur als aktvollziehendes Wesen, ohne etwas hinter oder über ihren Akten Stehen­des zu sein. - Diese und ähnliche Formulierungen sollen jegliche Arten substantieller und aktualistischer Personbegriffe zurückweisen. Die Person ist weder gegenständliches noch dinghaftes Sein, ihre Einheit ist weder die eines Dinges oder einer Substanz. Hier zeigt sich, daß für Scheler Substanz etwas Starres, Dinghaftes ist, und eben diese Starre und Dinghaftigkeit ist dem Wesen der Person wesentlich fremd. Und doch leugnet Scheler keineswegs ein Beharrendes im Wechsel, und dies Behar­rende ist die "Einheitssubstanz aller Akte", die "Aktsubstanz" , die zeit- und raumfreie Aufbauordnung von Akten, wobei die ganze Person in jedem voll konkreten Akt ist und in ihm variiert. Dennoch ist die Person kein bloß summenhafter Zusammenhang ihrer Akte, kein Aktmosaik. Gegen diese - aktualistische - Auffassung spricht, daß die Person dem Lebensabfluß gegenüber feststeht und Macht hat über abgelaufene Zeitinhalte. Ebensowenig ist Person leerer Ausgangspunkt von Akten, sie ist vielmehr das konkrete Sein, durch das die an sich abstrakten Aktwesenheiten erst konkret werden, sie ist die individuelle und unersetzliche Einheit, die ihre Akte "fundiert".

An dieser eher dynamischen Personauffassung ist zweifellos richtig, daß nicht zunächst die Person für sich existiert - ohne Akte - und dann Akte vollzieht. Die Person steht vielmehr immer im lebendigen Akt­vollzug. Insoweit zeigt sich auch Nicolai Hartmann mit Scheler ein­verstanden; ihre - oft gemeinsamen - Wege trennen sich hier jedoch. Für Hartmann weist der Aktvollzug auf die Existenz einer geistigen, sich selbst schaffenden und sich selbst beherrschenden Substanz. So kommt er notwendigerweise zur Annahme eines Vollziehers der Akte, der dem Vollzug selbst und dem Wandel entzogen ist 58. Aber auch er wird dem Schelerschen Standpunkt nur teilweise gerecht, bezeichnet er ihn doch als die Kennzeichnung der Person vom Nur-Dynamischen her. Wohl tritt hier die Schwierigkeit des Schelerschen Versuches wieder deutlich vor Augen: wie die Mitte wahren zwischen einem (starren) Substantialismus und einem (nur-dynamischen) Aktualismus? - Die Zurückweisung des "starren" Substantialismus gründet bei Scheler wahrscheinlich vor allem in der Auflehnung gegen einen zu eng gedachten

58 Vgl. HARTMANN Nicolai, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 2. Auflage, Berlin, 1949, u.a. S. 78, S. 90, S. 140.

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Substanzbegriff. Das 17. Jahrhundert hatte die relative Beharrlichkeit der Substanz zur absoluten Unveränderlichkeit gegenüber den Akziden­tien gesteigert. Und gegen eben diese Unveränderlichkeit wehrt sich Scheler : daher setzt er Substanz auch oft gleich mit Ding und Gegen­stand. Während er in der Spätperiode den Substanzbegriff ganz fallen läßt - die Person ist kein substantielles Ding und kein Sein von der Form eines Gegenstandes -, zeigt vor allem seine Religionsphilosophie eine gewisse Rückkehr zum alten Substanzbegriff : er unterscheidet mit Nachdruck zwischen den Akten und ihrem Zentrum, obwohl auch hier das Verhältnis von Zentrum und Akt nicht das von Substanz und Akzidentien ist. Die zentrale Schwierigkeit dürfte wohl in dem an Miß­verständnissen reich belasteten Substanzbegriff selbst liegen 59. -

Hauptsächlich lehnt er diesen Begriff deshalb ab, weil Substanz etwas in der Einheit Stehendes bezeichnet, das Sein der Person für ihn aber nur vollziehbares Sein ist. Als ständiges Quellen in der seinsmäßigen Einheit aller möglichen Akte steht sie jeder substantiellen Einheit gegen­über. "Substantialität bedeutet für Scheler ein kausal bestimmtes Darunterstehen (substare), nicht die formale Bestimmung eines In-sich­selbst-Stehens und Für-sich-selbst-Seins. Wo Scheler den Begriff der Substanz für die Einheit des Personseins gebraucht, löst sich dieser Begriff unter seiner Hand gleichsam in die Aktualität des Geistes auf und behält für sich keine prinzipielle Bedeutung mehr für die innere Ordnung der geistigen Personeinheit" 60.

Zusammenfassend läßt die Person sich bisher in einem Begriff um­schreiben als Aktussein. Dieser Begriff weist aus sich selbst darauf hin, daß die Person und Akt und Sein ist. Sie erschöpft sich nicht in der Sum­me ihrer Akte - wie im Aktualismus -, sie ist außerdem konkretes Sein, sie bleibt dieselbe in ihren Akten, ihr Zentrum ist etwas Beharrendes. Dieses Sein oder Zentrum steht seinerseits nicht außerhalb oder über den Akten oder den Vollzügen - wie im Substantialismus. Stellt sich nun an erster Stelle die Frage, auf welchem Grunde die ganze Personproble­matik bei Scheler beruht.

In der Schelerschen Philosophie, vor allem in seiner Spätphilosophie, ist der Geist scharf getrennt von allem, was Nicht-Geist ist. Nicht-

~9 Vg!. Hierzu: HARTMANN Wilfried, Das Wesen der Person. Substantialität­Aktualität. Zur Personlehre Max Schelers, in Salzburger Jahrbuch für Philosophie, X/XI (1966-1967), S. 151-168.

60 WEYMANN-WEYE Walter, Das Problem der Personeinheit in der ersten Periode der Philosophie Max Schelers (Phi!. und naturw. Diss. Münster), Emsdetten, 1940, S. 10-11.

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140 DIE PERSON

Geist ist in der Schelerschen Auffassungsweise identisch mit Gegenstand, in dem Sinne, daß er dem geistigen Sein gegen-übersteht. Dem aktualen Sein des Geistes steht das gegenständliche Sein gegenüber. Hier stehen wir an einem der wesentlichsten Schnittpunkte seiner Metaphysik: Das Sein ist ihm phänomenal gegeben in zwei absoluten, sich gegen­überstehenden Sphären - Geist und Gegenstand -, die korrelativ miteinander verknüpft sind. Sein qua Sein ist uns notwendig phänomenal gegeben immer als Geist hier und Gegenstand dort.

Der wesentliche Unterschied zwischen dem Sein des Geistes und allem anderen Sein (oder dem Sein des Gegenstandes) liegt in der Tat­sache, daß geistiges Sein nur "im Vollzuge" ist, Vollzuge nicht nur einer bestimmten Aktart, wie etwa nur der Erkenntnisakte, sondern in der Einheit aller möglichen Aktarten, insbesondere der Akte des Liebens und Hassens. Das Wesen des geistigen Aktes besteht aus Intentionalität und Sinnerfülltheit. Das Sein der Akte ist ein intentionales Hingerichtet­sein auf das Sein der Gegenstände und von diesem daseinsunabhängig. Das gegenständliche Sein wird vom geistigen Personzentrum intentional erfaßt im Sinne einer objektiven Teilnahme. Das Sein des Geistes hinge­gen entzieht sich jedoch einer solchen objektiven Teilnahme, es ist nur im Vollzuge zugänglich, und, sofern es sich um fremdgeistiges Sein handelt, im Mitvollzuge. Das erkenntnismäßige Verstehen von Akten ist nur möglich durch Vollzug oder Mitvollzug, nie durch Definition oder Vergegenständlichung. - Da Geist wesensmäßig reines Sein von Akten ist, ist seine Einheit eine intentionale: Akt bedeutet ja Intention, geistiges Hingerichtetsein auf einen Gegenstand, auf ein Sein. Die Einheit des Geistes ist also im intentionalen Akt selbst begründet, und nicht in einem Sein, das für die Einheit der Akte konstitutiv wäre : geistige Ein­heit ist demzufolge Akteinheit oder "Intentionskonstante". Der Geist kann sich überhaupt nur erleben im intentionalen Erfassen des Gegen­standes, und da die Person die unmittelbar miterlebte Einheit des Erle­bens ist, steht ihr - als Einheit des Erlebens - als notwendiges Korrelat die Einheit des Erlebten, die Einheit des Gegenständlichen gegenüber. In ihr erlebt die Person sich selbst. Die Person erlebt sich selbst als Ein­heit auf dem Umwege der Einheit des Gegenständlichen.

Wie haben wir zweitens Schelers Aussage zu verstehen, daß in jedem voll konkreten Akt die ganze Person total gegenwärtig ist, daß in und durch jeden ihrer Akte die ganze Person "variiert" - ohne daß ihr Sein doch in irgendeinem ihrer Akte aufginge, oder sich wie ein Ding in der Zeit "veränderte"; daß die seiende konkrete Ganzheit der Person jeden Einzelakt mitbestimmt, ihre Ganzheitsvariation ferner jeden

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Einzelakt mitvariiert? Hier stellt sich also die Frage nach der Identität und der Einzigartigkeit der Person. Scheler ist sich der Schwierigkeit dieses Problems bewußt und versucht, durch die Erforschung des Begriffes "Variation", aufzudecken, wie das Anderswerden der Person aufgefaßt werden soll 61. Als erstes stellt er fest, daß die Person lebt weder innerhalb der phänomenalen Zeit, die im Abfluß der innerlich wahrgenommenen seelischen Prozesse unmittelbar gegeben ist 62, noch in der objektiven Zeit der Physik, in der es weder Dauer, noch die phänomenalen Zeit­dimensionen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gibt (Die "objektive Zeit" ist die deformierte und dequalifizierte phänomenale Zeit, in der Dauer nur gleich ist den sukzessiven Seinsphasen eines Gegenstandes, in denen dieser sich nicht verändert.). Da die Person die psychophysische Wirklichkeit transzendiert, kann ihre Variation und kann ihre Identität keinesfalls als zum empirischen Bereich gehörig aufgefaßt werden. Im puren Anderswerden lebt die Person in die Zeit hinein, sie vollzieht anderswerdend ihre Akte in die Zeit hinein, aber dieses Anderswerden hat nichts gemeinsam mit einer dinglichen Ver­änderung, noch ist hier etwas von einem "Nacheinander" dieses Anders­werdens gegeben. Deshalb bedarf es hier auch keines dauernden Seins, das sich in diesem Nacheinander erhielte, um die Identität der individuel­len Person sicherzustellen. "Die Identität liegt hier allein in der qualita­tiven Richtung dieses puren Anderswerdens selbst" 63. Und es ist nicht die Zeit, die dieses pure Anderswerden erst ermöglicht. Die Person, in jedem ihrer Akte lebend - und sich und andere Personen nur im Erleben von Erlebnissen erfassend -, durchdringt auch jeden ihrer Akte voll mit ihrer Eigenart. Und so löst Scheler das Identitätsproblem folgender­maßen: Weil jede individuelle Person auf verschiedene Weise anders wird (die qualitative Richtung ihres puren Anderswerdens), ist jede Person identisch mit sich selber dank ihrer eigenen Fähigkeit, in einzig­artiger Weise anders zu werden.

Eine dritte Aussage wird vom Personwesen her bestimmt: da die Person einzig im Vollzug ihrer Akte existiert, da ihr Sein ein immer neues Sichselbsthervorbringen ist, fallen im Wesen der Persönlichkeit

61 Vgl. Formalismus, S. 384-385. VgI. auch EMAD Parvis, The great themes 0/ Seheler, in Philosophy today, XII (1968,) 1/4, S. 10.

68 In dieser phänomenalen Zeit lebt und "ändert" (nicht "variiert") sich das "Ich". VgI. Formalismus, S. 241 und S. 415. Der ganze Gehalt seiner Existenz ist das Anders­werden in seinen (psychischen) Erlebnissen und das Anderswerden auf seine in­dividuelle Art.

68 Formalismus, S. 385.

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Sein, Werk und Tun zusammen. "In ihr <der Person> ist mithin Sein, Leben und Werk eines und dasselbe" 64. - Diese Gedankengänge Schelers können ihren idealistischen Einfluß bzw. Ursprung nur schlecht ver­bergen. Auch in Fichtes Tatphilosophie ist das Ich - das hier allerdings als allgemeines und nicht als individuelles Ich aufzufassen ist - nichts Substantielles, es ist reine Tätigkeit, eine Tathandlung. Das Ich erschöpft sich im Tun, es ist zugleich das Handelnde (als urteilendes) und das Produkt der Handlung. Auch Schelers Personlehre fordert die Tat, von ihr muß ausgegangen werden. - Diese Affinitäten haben verschiedene Kommentatoren dazu verleitet, Schelers Personlehre als ausschließlich aus der idealistischen Denkweise entstanden zu interpretieren. In ihren Augen sind die Schelerschen Aussagen über die Person, die wesenhaft vom Zeitlichen, Dinglichen und Psychischen getrennt ist, nicht phäno­menologisch zu verstehen. Diese zeitlose Person, die in die Zeit hinein­lebt, erscheint ihnen als eine vergöttlichte, ewige Person, die in die Zeit, d.h. in das Endliche hineinlebt. Schelers Person steht für sie aus­schließlich im Mitvollzug mit der Liebe Gottes: Der ursprüngliche Akt ist Mitvollzug mit dem Aktussein Gottes im ontischen Sinne, sodaß der Akt als Modus der göttlichen Alltat verstanden werden muß. Die Person tendiert dahin, Teil des Wesens Gottes zu werden, der sich nur durch die Tat der Person konstituiert 65. - Das bisher in dieser Arbeit Gesagte dürfte unserer Meinung nach genügen, diese ausschließlich idealistische Interpretation entschieden zurückzuweisen, auch wenn wir keinesfalls abstreiten wollen, daß idealistische Einflüsse in der Genese der Schelerschen Personlehre eine gewisse Rolle gespielt haben.

Hinzugefügt werden muß noch - um die Einheit der Personlehre mit der Liebesauffassung Schelers nochmals zu unterstreichen -, daß in der Personeinheit als einer Einheit von Akten das Emotionale eine PrimatsteIlung einnimmt, so die Akte des Fühlens, des geistigen Wertfühlens, Liebe und Haß. Auf dieser Ebene herrscht wieder eine Vorzugsstellung : das Primat des Liebens und des Hassens, wobei letztendlich die Liebe die Ur-Rolle spielt, da Haß ja schließlich nur eine Reaktion auf das eine oder das andere "falsche" Lieben ist (Der Haß ist immer und überall Aufstand unseres Herzens und Gemütes gegen eine Verletzung des ordo amoris. Jeder Haßakt ist durch einen Liebesakt

14 Nachlaß I, S. 282. 65 VgI. HASKAMP Reinhold J., Spekulativer und phänomenologischer Personalismus.

Einflüsse J. G. Fichtes und Rudolf Euckens auf Max Schelers Philosophie der Person (Symposion. Philosophische Schriftenreihe 22), Freiburg-München, 1966, S.174-181.

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ORDO AMORIS 143

fundiert.). Wie wir gesehen haben, setzt echte Liebe immer die Dynamik nach höherem Wert voraus: diese Bewegung kommt nie zu ihrer vollen Entfaltung, wenn die Intentionalität auf das Nicht-Persönliche gerichtet bleibt. So zielt z.B. sinnliche Liebe nie auf die Person als solche, sie objektiviert die Person zum Mittel des Genusses. Echte Liebe als Akt des Geistes ist primär auf die Person qua Person gerichtet 66.

3. Die Aktsubstanz als ordo amoris

Nachdem wir in dieser Arbeit die Schelerschen Gedankengänge in Bezug auf das Personproblem bis zur Charakterisierung der Person als "Aktsubstanz" mitvollzogen haben, stellt sich uns nun die schwer­wiegende Frage: Ist Scheler bei dieser Charakterisierung stehenge­blieben ? Ist für Scheler dieser so umnebelte und von dunkeln Wolken des Mißverständnisses reich umgebene Begriff der "Aktsubstanz" das magische Zauberwort, das allen grundlegenden Fragen nach dem Sein der Person eine letztmögliche "wesensgerechte" Antwort bescheren soll? Diese Möglichkeit würde uns selbstverstandlieh zutiefst unbefrie­digt lassen, wäre dann ja das Personproblem nur verschoben worden: Die Frage nach dem Seinswesen der Person hätte sich dank dieser Ver­schiebung in die Frage nach dem Seinswesen der Aktsubstanz umge­wandelt. - Das vorhergehende Teilkapitel hat uns sicherlich einige wichtige und interessante Aspekte dieses Seinswesens vor Augen geführt, die letzte Grundfrage nach dem Wesen des Personseins ist jedoch unbe­antwortet geblieben. - Oder aber ist Scheler bei der Charakterisierung der Person als "Aktsubstanz" nicht stehengeblieben, hat er versucht, das Wesen dieser Aktsubstanz eingehender zu durchleuchten, um so ihr Wesen zu erhellen? Das nun Folgende soll uns in dieser für den Schelerforscher so wichtigen Frage einer Antwort näherbringen.

Auf der Wegsuche nach dieser Antwort werden wir dieselbe Methode anwenden, derer wir uns schon im vorigen Teilkapitel bedient haben : Zuerst werden wir die wesentlichsten Aussagen Schelers zu diesem Pro­blem anführen, und hieran anschließend werden wir uns bemühen, durch diese Aussagen hindurch den Schelerschen Lösungsversuch heraus­zuschälen und zu charakterisieren.

Eine erste Reihe von Ausführungen Schelers sind dem vorherge­henden Teilkapitel entnommen. Sie sollen einen Aspekt der Person-

8& NOTA Jan, De Rol van de Liefde in Max Schelers Ethica, in Bijdragen 27 (1966), S.246-247.

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144 DIE PERSON

charakterisierung als Aktsubstanz herausstreichen, auf den wir bisher keinen Nachdruck gelegt haben, der aber diesem Teilkapitel als Leit­motiv zugrundegelegt werden soll. "Das Zentrum des Geistes, die ,Person', ist also weder gegenständliches noch dingliches Sein, sondern nur ein stetig selbst sich vollziehendes (wesenhaft bestimmtes) Ordnungs­gefüge von Akten" 67. Diese Bestimmung der Person als eines wesenhaft bestimmten Ordnungsgefüges von Akten findet sich etwa nicht nur in Schelers Spätphilosophie, wie dieses Zitat aus Die Stellung des Menschen im Kosmos vermuten lassen könnte, wir finden denselben Gedanken auch zu verschiedenen Zeitpunkten seiner "klassischen" Schaffenspe­riode. "Person ist nur zeit- und raumfreie Aufbauordnung von Akten, deren seiende konkrete Ganzheit jeden Einzelakt mitbestimmt, deren Ganzheitsvariation ferner jeden Einzelakt mitvariiert" 68. - Des­gleichen an der Stelle, wo er sagt, daß uns im Erlebnis eines jeden unserer unteilbaren zeitlichen Lebensmomente (vgl. die Variierung der Person in der Zeit im vorigen Teilkapitel) "Struktur und Idee des Ganzen unseres Lebens und unserer Person mitgegenwärtig" 69 sind.

Diese Ausführungen unseres Philosophen drängen uns zu der Frage, was es denn eigentlich auf sich hat mit dieser Aufbauordnung, diesem Ordnungsgefüge von Akten. Um welche Art Ordnung oder Struktur handelt es sich hier, worauf ist sie begründet? - Unser Versuch einer Antwort auf diese Frage wird uns zu einer Lösung führen, die von Scheler selbst nie expressis verbis übernommen worden ist, wovon wir aber mit ruhigem Gewissen behaupten können, daß sie seiner Auffassung und seiner Philosophie voll und ganz entspricht. Ja, wir gehen sogar weiter, indem wir die Behauptung wagen, daß er selbst diese Lösung hätte angeben müssen. Zur Begründung dieser These möchten wir zuerst auf eine Tatsache hinweisen, die eigentlich jedem Scheler-Leser auffallen müßte: Einerseits definiert Scheler die Person als Aktsubstanz - das vorhergehende Teilkapitel hat sich ausgiebig hiermit befaßt -, anderer­seits, wie wir gerade sahen, charakterisiert er die Person als Aktstruktur, als Ordnungsgefüge von Akten. Wir wagen hieraus folgenden Schlußsatz zu ziehen : Aktsubstanz ist gleich mit Aktstruktur. Hieraus wiederum können wir den Schluß ziehen, daß für Scheler Substanz in Bezug auf die Person gleich ist mit einer Struktur. Es konkretisiert sich hier also die soeben gestellte Frage nach dem Wesen dieser Struktur. Die Antwort

67 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 48. 68 Sympathie, S. 219. 69 Vom Ewigen im Menschen, S. 33.

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ORDO AMORIS 145

auf diese Frage bringt uns folglich die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Person, selbst wenn, wie wir schon andeuteten, Scheler selbst diese Schlüsse nie ausdrücklich gezogen hat.

Daß es sich bei dieser Struktur, dieser Aufbauordnung von Akten, um die eigentliche "Substanz" - oder eben dieses Etwas, wofür er den Begriff "Substanz" zurückweißt - der Person handelt, und welcher Natur diese Struktur ist, zeigt uns klar und deutlich der folgende Auszug: "Wer den ordo amoris eines Menschen hat, hat den Menschen. Er hat für ihn als moralisches Subjekt das, was die Kristallformel für den KristaIl ist. Er durch-schaut den Menschen so weit, wie man einen Menschen durchschauen kann. Er sieht vor sich die hinter aller empiri­schen Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit stets einfach verlaufenden Grundlinien 70 seines Gemütes, welches mehr der Kern des Menschen als Geistwesen 70 zu heißen verdient als Erkennen und Wollen. Er besitzt in einem geistigen Schema 70 den Urquell 70 , der alles heimlich speist, was von diesem Menschen ausgeht; ja noch mehr: das Urbestimmende 70

dessen, was dauernd Miene macht, sich um ihn herumzustellen - im Raume seine moralische Umwelt, in der Zeit sein SchickSal, d.h. der Inbegriff des Möglichen zu werden, das ihm passieren und nur ihm passieren kann" 71. - Demzufolge ist der ordo amoris also für die Person als moralisches Subjekt das, was für den Kristall die Kristallformel ist, und nicht nur für die Person als moralisches Subjekt, auch für die Person als geistiges Wesen, für den Menschen als Person, ist der ordo amoris von primordialer Bedeutung, weitaus bedeutender als Erken­nen und Wollen: er ist der eigentliche Kern der Person. Dies bringt uns ganz natürlicherweise zu der folgenden These: die eigentliche Substanz der Person, das, was die Person als Person ausmacht - die nicht-sub­stantielle "Substanz" des vorigen Teilkapitels -, ist der ordo amoris. Mit anderen Worten: Die Substanz der "Aktsubstanz" oder der "Einheitssub­stanz" - Schelers Wesensdefinitionen der Person - ist ihr ordo amoris, ist die einmalige individuelle Struktur der Person. - Zur Erhärtung unserer These stellt sich uns nun als erstes die Aufgabe, den Begriff des "ordo amoris" und die durch ihn anvisierte und erschaute Realität einer eingehenden Klärung zu unterwerfen.

Da der Begriff des "ordo amoris" schon in sich doppelsinnig und doppeldeutig ist, muß hier zuerst entschieden werden, ob er in unserer neuen Anwendung diese beiden Bedeutungen beibehält, oder ob nur

70 Von uns in Kursiv-Schrift wiedergegeben. 71 Nachlaß I, S. 348.

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eine Bedeutung auf die Person als Aktsubstanz angewandt werden darf. Scheler unterscheidet zwischen einer normativen und einer deskriptiven Bedeutung des "ordo amoris", und aus den Erläuterungen zu diesen bei den Bedeutungen ist klar ersichtlich, daß für unsere Gleichsetzung von Aktsubstanz und ordo amoris eigentlich nur die faktische und des­kriptive Bedeutung in Frage kommt, denn im deskriptiven Sinne ist der Begriff des ordo amoris "das Mittel, hinter den anfänglich verwirren­den Tatsachen der moralisch-relevanten menschlichen Handlungen, Ausdruckserscheinungen, Wollungen, Sitten, Bräuche, Geisteswerke die einfachste Struktur der elementarsten Ziele des zielmäßig wirksamen Personkernes 72 aufzufinden - die sittliche Grundformel gleichsam, nach der dieses Subjekt moralisch existiert und lebt" 73. Der ordo amoris muß also gedacht werden als die Einheit eines durchgehenden Sinnes, der alle Akte und Handlungen einer Person durchdringt. Und so kommt es, daß wir - wollen wir diese Akte und Handlungen wirklich verstehen oder verstehend erkennen - sie erst reduzieren müssen auf die besondere Aufbauordnung ihrer Liebes- und Haßakte, ihrer Liebes- und Haßpoten­zen, reduzieren auf den sie beherrschenden, in allen Regungen zum Ausdruck kommenden und mit seinem Sinn durchdringenden ordo amoris. Der ordo amoris ist also letzIich eine an sich zeitlose Wert­wesenheit in der Form der Personalität.

Zudem ist der ordo amoris von Person zu Person verschieden, ja, er ist sogar das eigentliche Fundament der Individualität der Person (vgl. das folgende Teilkapitel). Bringen wir diese Aussage in Verbindung mit dem Problem des Fremdverstehens, so läßt sich leicht ersehen, daß wir eine andere Person erst dann wirklich verstehen können, wenn wir den ihr eigenen ordo amoris erfaßt haben, d.h. wenn wir die ihr eigene konstante Disposition von Anziehung-Liebe und Abneigung-Haß erschaut haben. Dies heißt mit anderen Worten, daß es für jede Person eine objektiv rechte Ordnung der Regungen (Zug und Gegenzug) ihrer Liebe und ihres Hasses gibt, und daß diese objektiv rechte Ordnung von Person zu Person verschieden ist. All mein Tun, mein Erkennen und Wollen hängt von dem je-meinigen ordo amoris ab.

Wie wir schon im Kapitel über die Liebe gesehen haben, ist für Scheler der Mensch, ehe er ein ens cogitans oder ein ens volens ist, ein ens amans. Die Liebe ist für ihn immer auch zugleich der Urakt, durch den ein Seiendes seine Zustände, seine Bewußtseinsinhalte transzendiert, d.h.

72 Von uns kursiviert. 73 Nachlaß I, S. 347-348.

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ORDO AMORIS 147

sich selbst verläßt, um an einem anderen Seienden als ens intentionale teilzunehmen und teilzuhaben. In allen Menschen schreitet als richtung­gebend die Werterfassung der Erkenntnis und dem Wollen voraus. Und diese in der Liebe fundierende Werterfassung ist ursprünglich nicht chaotisch, sondern geordnet und gegliedert: "Le creur a ses raisons" heißt in diesem Zusammenhang nichts anderes als daß der ordo amoris eines jeden Menschen eine geordnete Wiederspiegelung, ein gegliedertes Gegenbild der Welt der Werte UJid der Wertzusammenhänge ist. Er ist - in Bezug auf die Person - die subjektive Seite der Wertrangord­nung, der Mikrokosmos, der dem Makrokosmos der ewigen Ordnung zwischen den Werten entspricht 74, und der alles Erkennen und Wollen bestimmt. In dem puren Ziehen und Stoßen, Zug und Gegenzug aller Liebenswürdigkeiten und Liebensunwürdigkeiten ist der ordo amoris mit seinem je besonderen Relief gleichzusetzen mit der urtümlichen Struktur, den subjektiven Grundlinien, die bei allen Veränderungen der anderen Faktoren (Zustände, Zustandsgefühle, Urteilsinhalte) gleichmäßig erhalten bleiben, und diese Grundlinien bestimmen Form und Inhalt von Erkenntnis und Wollen. Als fundamentalster Kern des Ethos eines Subjekts beherrscht und lenkt der ordo amoris alles Erken­nen, Wollen und Handeln, bestimmt somit die mögliche WeIt jeder Person.

Wir können also bemerken, daß einerseits der ordo amoris bei allen Menschen der gleiche ist, und zwar im normativen Sinne - zur Norm wird der objektiv rechte ordo amoris, wenn er als erkannter auf das Wollen des Menschen bezogen und von einem Wollen ihm geboten wird -, daß andererseits jedes Individuum als Person, in seiner Person­qualität, seinen eigenen, es individualisierenden ordo amoris hat 75.

Außerdem: "Es ist klar, daß der ordo amoris des Menschen nicht nur einer emotionalen Resonanz rechter Liebesrichtung und damit rechter Vorzugsakte gleichkommt, welche beide in jedem Augenblick eine perso­nale Grundrichtung des Liebens und Hassens ausdrücken, sondern

74 Vgl. FRINGS Manfred S., Max Seheler. A concise introduction into the world of a great thinker, Pittsburgh-Louvain, 1965, S. 67-80.

75 "We should note, that the ordo amoris of man is the same in all human beings, because of the given ranks of values which we share, but that also every individual has his own specific microcosm of values due to each individual's own ,feeling them'. Metaphysically understood, man resides in ordo amoris as in a house, which he takes with hirnself wherever he goes. No matter where man might go, his environment world and his fate remain as the immediate reflection and manifestation of his ordo amoris." (EMAD Parvis, The great themes 01 Seheler, in Philosophy Today XII 1968), 1/4, p. 8.

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148 Dm PERSON

daß ebenso die rechte Weise des Erlebens der Zustandsgefühle bei jeweiligen Vorzugs- und Nachsetzungsakten für den ordo amoris kon­stituierend ist" 76.

Im normativen Sinne ist der ordo amoris ein streng objektives, vom Menschen unabhängiges Reich der geordneten Liebenswürdigkeiten aller Dinge, etwas, das wir nicht setzen, sondern nur erkennen können; im deskriptiven Sinne ist er die "individuelle Bestimmung" des geistigen Subjekts. Verletzt wird dieser ordo amoris dadurch, daß der Liebesakt eine falsche Richtung einschlägt, indem er z.B. einen wertrelativen Gegenstand als absoluten Gegenstand erschaut, oder indem er die niederen Werte den höheren vorzieht; d.h. mit anderen Worten, wenn der Mikrokosmos dem Makrokomsos nicht mehr entspricht.

Diese Ausführungen geben unserer Ansicht nach auch die Antwort auf die im vorigen Teilkapitel nur unzureichend beantwortete Frage nach der Identität der Person, welche folgendermaßen formuliert wurde: Welches ist das Etwas, das die Identität der Person im Wechsel der Aktvollzüge wahrt? Wir sagten an diesem Ort mit Scheler, daß die Personidentität allein in der qualitativen Richtung des puren Anders­werden selbst liegt. Im Anschluß an die soeben dargelegten Ausführungen können wir nun sagen : dieses Beharrende in der Person, das ihre Iden­tität ausmacht, ist eben ihr ordo amoris, den wir auch bezeichnen können mit dem Begriff "Intentionskonstante". Die "Substanz" der Aktsub­stanz, mit welchem Begriff Scheler die Person definiert, ist - dieses Teilkapitel war dieser These gewidmet - der "ordo amoris" dieser Person.

Für die Erkennbarkeit der Person hat sich jedoch nichts geändert, hier ist das Problem nur verschoben worden: So schwierig es war, das Wesen der Person zu erfassen, da es gegenstandsunfähig ist, mit genau soviel Schwierigkeiten ist es verbunden, den ordo amoris einer Person zu fassen. Da auch er der Sphäre des Personseins wesentlich zugehörig ist, ist er wie die Person nicht objektivierbar, man kann ihn nicht vergegenständlichen. Wie das Wesen der Person darf auch ihr ordo amoris - der ja das eigentliche Personwesen ist - nicht sub­stantiell aufgefaßt werden.

Hinzufügen möchten wir noch die interessante Gegebenheit, daß auch in dieser Frage Übereinstimmung herrscht zwischen dem späten

78 FRINGS Manfred S., Der Ordo amoris bei Max Scheler. Seine Beziehungen zur materialen Wertethik und zum Ressentimentbegriff, in Zeitschrift für philosophische Forschung XX, 1 (1966), S. 71-72.

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ORDO AMORIS 149

Scheler und dem Scheler der "klassischen" Schaffensperiode. Auch hier wird der Personkern als Ordnungsgefüge von Akten, als Aktstruk­tur charakterisiert, und zwar als für jede Person je einmalige. Der folgende Auszug soll uns hierzu als Beweis dienen. Die am Ende dieses Auszuges implizierten religionsphilosophischen Aspekte lassen wir außer Acht, weil sie generell in dieser Arbeit ausgeklammert worden sind : "Denn die Person ist ein monarchisch angeordnetes Gefüge von geistigen Akten, das eine je einmalige individuelle Selbstkonzentration des einen und seI ben unendlichen Geistes darstellt, in dem auch die Wesens struktur der objektiven Welt wurzelt" 77.

Der Ausführlichkeit halber müssen wir zum Schluß dieses Teil­kapitels noch zwei Bemerkungen anführen, die uns aber von sehr rela­tiver Bedeutung scheinen. Die erste bezieht sich auf die Schelersche Übertragung des Personcharakters auf sozial größere und höhere Ein­heiten wie Familie, Volk, Nation und Gesamtperson. In Übereinstimmung mit dieser Annahme schreibt unser Philosoph diesen Einheiten auch einen ordo amoris zu. Daß ein Ethos und damit auch ein ordo amaris im normativen Sinne diesen Einheiten zukommt, wollen wir nicht bestrei­ten, aber in demselben Maße, als wir in Familie, Volk, Nation, Gesamt­person keine Personen höherer Ordnung, sondern nur ein Analogon der Person sehen 78, sprechen wir ihnen einen ordo amoris im deskrip­tiven Sinne ab.

Die zweite Schlußbemerkung bezieht sich auf die Liebeslehre Schelers : Der ordo amoris ist nicht nur der Person eigen, nicht nur dem Person­individuum und den Personen höherer sozialer Ordnung, er findet sich auch vor auf der Gegenstandsseite : auch die Welt hat ihren ordo amoris. Diese Liebe der Welt, die er nur in seiner "klassischen" Philosophie als ordo amoris bezeichnet, entwickelt sich in seiner Spätphilosophie immer mehr zum Drang, in dem Sinne, daß die Welt sich uns aufdrängt. Die Dinge pflegen sich an der Schwelle unserer Umwelt anzumelden und so bei uns eine Reaktion auszulösen; die Welt zwingt sich uns auf, und sei es nur als Widerstand. Wir glauben, für dieses - phänome­nologisch sicher aufweisbare - Phänomen den Begriff "ordo amoris" auf das entschiedenste ablehnen zu müssen.

77 Philosophische Weltanschauung, S. 14. 78 VgJ. die Hartmannsehe Kritik der Gesamtperson in HARTMANN Nicolai, Ethik,

3. Aufl., Berlin, 1949, S. 241-246, und STEIN Edith, Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften, in Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, V (1922), S. 1-283.

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150 DIE PERSON

4. Die Individualität bzw. die Individualisierung der Person

In Zusammenhang mit der Liebeslehre unseres Philosophen führten wir an, daß die sittliche Liebe im prägnanten Sinne die Liebe zum Person­wert ist, d.h. zur Person als Wirklichkeit durch den Personwert hindurch. Zudem sahen wir, daß die "absolute" Liebe nicht diejenige ist, welche die Person liebend ins Auge faßt, weil sie diese und jene Eigenschaft hat, diese und jene Tätigkeit ausübt, diese und jene Tugend, Begabung, Talent hat - sie wäre in diesem Falle ja vom möglichen Wechsel dieser Eigenschaften und Tätigkeiten abhängig - sondern allein jene Liebe, die diese Eigenschaften, Tätigkeiten, Begabungen usw. mit in ihren Gegenstand miteinbezieht, weil sie dieser individuellen Person zugehören. Die Person als Individuum ist eben mehr als die bloße Summe dieser ihrer Tatsachen; hinzu kommt immer noch das "unbegründbare Plus". "Wo immer uns Individuen gegeben sind, da ist uns ein Letztes gegeben, das in keiner Weise aus Merkmalen, Eigenschaften, Tätigkeiten zusam­mengesetzt werden kann" 79.

Hieraus kann schon ein erster negativer Schluß in Bezug auf die Indivi­duierung der Person gezogen werden: ihre ihr eigene Individualität kann unmöglich durch ihre Eigenschaften oder ihre Tätigkeiten fundiert sein; sie auf keinen Fall können die Person individuieren, da sie wech­selnd oder abtretend gedacht werden können, ohne daß dabei die sie habende Person aufhört, diese Person zu sein. Was aber ist der oder sind die Faktoren, die die Person zu eben dieser Person machen? Mit anderen Worten: Worauf fundiert sich die Individualität der Person, wodurch ist eine Person eine individuelle Person?

Eine Möglichkeit wäre, daß die Person durch ihren Leib individuiert wird, d.h. eine raum-zeitliche Individuierung. Ebenso könnte es sein, daß es das, was ich denke, fühle, will usw.,d.h. der Inhalt des Bewußtseins, ist, was die Individualisierung der Person ergibt. - Diese beiden in der Philosophiegeschichte oft angewandten Individualisierungsmethoden werden von Scheler kategorisch verworfen. Seiner Ansicht nach gibt es eine ursprüngliche Individualisierung der Person qua Person selbst, die unabhängig von Leib und empirischem Erlebnisgehalt ist: zur Person gehört wesensmäßig die Individualität. Die Personen wären auch dann noch verschieden, wenn ihre Leiber und ihr gesamter Be­wußtseinsinhalt zu vollständiger Deckung und Identität gebracht werden

79 Sympathie, S. 168.

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DIE INDIVIDUALISIERUNG DER PERSON 151

könnten. Die Personen sind eben für Scheler die einzigen Fälle "selb­ständigen Daseins" ("Substanzen"), die ausschließlich in sich selbst individuiert sind. "Personen sind, auch wenn wir von ihren Leibern und deren Verschiedenheiten im Raumzeitsystem absehen, ferner abge­sehen von allem, was ihren möglichen Bewußtseinsinhalt (aller möglichen Bewußtseinssphären der Innen-, Außen-, Mitwelt) in sich verschieden macht, immer noch durch das Sosein ihrer selbst als konkrete Aktzentren verschieden" 80. Körper und auch Leiber können soseinsidentisch sein und doch realiter verschieden durch ihre verschiedene Lage im Raum­zeitsystem. Weil aber Personen als pure Aktzentren über Raum und Zeit erhaben sind, können sie nicht durch Raum und Zeit, nach Zahl und Menge (bei sonstiger Identität des Soseins) individuiert sein, sie müssen und können nur durch ihr pures Sosein selbst (ihr personales '"Wesen") verschieden sein. Personen sind real verschieden in letzter Instanz nur, weil sie soseinsverschieden, d.h. weil sie absolute Indi­viduen sind.

Würden wir die Individualisierung der Menschen durch ihren Leib­körper (samt deren wesensgesetzlichen Jetzthiers) aufheben, aufgehoben denken ebenso alle Soseinsverschiedenheiten aller noematischen Korre­late ihrer geistigen Ichzentren (samt deren "Formen" des bewußten Daseins, also alles, was sie denken, fühlen, wollen usw.), so blieben die individuellen Verschiedenheiten ihrer Personzentren - unbeschadet der Identität der Person-idee in allen - gleichwohl bestehen. "Gerade die Sphäre der geistigen Aktualität aber ist streng personal, substantiell und in sich selbst individuiert gegliedert, hinauf bis zu Gott als der Person der Personen. Demgemäß halten wir jede Lehre, die ,Personen', d.h. konkrete geistige Aktzentren als ,Modi', ,Funktionen' eines Allgeistes, eines absolut unbewußten Geistes (Von Hartmann), eines transzendenta­len absoluten Bewußtseins (Husserl), einer transzendentalen Vernunft (Fichte, Hegels ,Vernunftpantheismus') seit Averroes verstehen will, für den größten aller metaphysischen Irrtümer" 81. - In der Geschichte der Philosophie sehen wir bezeichnenderweise fast immer verbunden die Annahme, daß erst die Leiblichkeit die Person individualisiere, und das Nichtsehen der geistigen Individualität. Diesem Nichtsehen begegnen wir überall dort, wo eine Philosophie die Individualisierung der Person im Leibe und im empirischen Gehalt des Seelenlebens anlegt, also nicht in der geistigen Person selbst.

80 Sympathie, S. 76. 81 Ebenda, S. 86.

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152 Dm PERSON

Es ist demzufolge nicht die Daseinsverschiedenheit, welche die Person zu diesem oder jenem Personindividuum individuiert, sondern die pure Wesensverschiedenheit. Die Person ist nicht individualisiert durch ihren Leib, der vielmehr in letzter Linie selbst nur als der Person zugehörig, als ihr unmittelbarster Herrschbereich (vgl. die Voraussetzungen der Anwendung des Personbegriffs auf den Menschen in der Einleitung zu diesem Kapitel) aus allen möglichen Leibern ausgesondert werden kann; noch ist sie individuiert durch den Gehalt ihrer Akte und deren Inhalte und Gegenstände, oder durch den Erinnerungs- oder sonstigen zeitlichen "Zusammenhang" ihrer Erlebnisse. Im Gegenteil: Dieser gesamte Gehalt und Zusammenhang des Erlebnisstromes ist ja auch schon dadurch ein inhaltlich verschiedener, daß die in sich individuierten Personen, denen er zugehört, in ihrem Sosein verschieden sind. Also ist die Person "erhoben" und in ihrer Reinheit "erhaben" über ihren Leib und über ihr und jedes andere Leben, das nur irdische Daseinsbedin­gung und zugleich Materie ihrer Gestaltung ist. - Sind Personen nur durch ihr pures Sosein selbst individuiert, können wir hieraus schließen, daß der letzte Grund aller Daseinsverschiedenheit der Personen die pure Wesensverschiedenheit ist. "Sowohl das Ich wie der Leib findet in der erlebbaren Zugehörigkeit zur einheitlichen Person seine letzte Individualisierung" 82. So erlebe ich meinen Leib als den meinigen, als den mir zugehörigen, den fremden Leib erlebe ich als zu einem anderen gehörig. Mein Ich erlebe ich als meines, das fremde Ich als dies eines Anderen : es ist ja letztendlich ein und dieselbe konkrete einheitliche Person, der ich Beides, das Ich und den Leib zugehörig weiß.

Auch hier wiederum muß ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die bedeutungsreiche Evolution der religionsphilosophischen An­schauungen in Schelers Spätwerk dieser Auffassung über die Person nicht den geringsten Abbruch getan haben. Auch hier ist der Geist schon in sich selbst, seinem Sosein nach und nicht etwa seinem Dasein nach, individuiert. Nicht erst der Gehalt seiner zufälligen äußeren und inneren Erfahrung, nicht seine Verknüpfung mit einem Leibe und dessen Erb­werten machen ihn zu einem individuellen Geist : er ist in sich selbst und durch sich selbst individuiert. Gemäß seiner panentheistischen Religionsphilosophie - auf die wir in dieser Arbeit ja nicht speziell eingehen 83 - wird die Person im Menschen hier charakterisiert als

82 Sympathie, S. 237. 83 In der "klassischen" Schaffensperiode hat jedes echte Wesen eine Stelle im

Wesensreiche, dessen personales Subjekt der geistige personale Weltgrund selber ist. So stellt jede geistige Seele ihrem Was und Wesen nach eine ewige Idee Gottes

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DIE INDIVIDUALISIERUNG DER PERSON 153

"individuelle einmalige Selbstkonzentration des göttlichen Geistes". "Seinem Dasein nach ist das Geistige im Menschen nicht absolute Sub­stanz - wie die ältere substantialistische Seelenlehre meint -, sondern eine Selbstkonzentration des einen göttlichen Geistes, als eines der uns erkennbaren Attribute des Weltgrundes. Die Einheit der ,Person' ist nur die Einheit eines konkreten Aktzentrums, eine funktionelle, nach Fundierungsgesetzen der Akte geordnete Aufbaueinheit, deren Spitze (als oberster Stellenwert) verschiedene Akte besetzen können. Sie ist keine substantielle Einheit, so sie auf den Weltgrund bezogen wird -also auch kein ,Geschöpf'. Aber ihrem individuellen Wesen nach ist die Person individuiert nicht durch den Leib und seine Erbanlagen, auch nicht durch die Erfahrung, die sie durch die Vermittlung der psychi­schen Vitalfunktionen macht, sondern individuiert durch sich selbst und in sich selbst. Nur darum können Personen, die in keiner Weise durch Raum- und Zeitstellen individuiert oder besser singularisiert sind, gleichwohl eine Vielheit bilden. Das erste hatte schon Spinoza erkannt, ohne das letztere zu erkennen. Das zweite haben schon Duns Scotus und Suarez erkannt, ohne das erste zu erkennen" 84.

Bei allem geistigen Sein, d.h. bei allem überräumlichen und überzeit­lichen Realen, bildet also die Soseinsverschiedenheit den möglichen Grund zur Daseinsverschiedenheit und damit zur Vielheit überhaupt. Die Person als geistige Einheit ist folglich individuiert durch ihr ur­sprüngliches Sosein, ihr einzigartiges "Wesen" und nicht etwa durch irgendeine Natur eines soseinunbestimmten Einzelwesens (durch irgend­eine "singularitas"). Dies läßt sich phänomenologisch aufweisen Z.B. in der Fremderkenntnis, oder genauer gesagt, im Fremdverstehen : je tiefer wir in einen Menschen eindringen durch eine von echter Person­liebe geleitete verstehende Erkenntnis, desto mehr fallen die das individu­elle Personzentrum umgebenden "Hüllen", desto individueller und ein­zigartiger wird dieser Mensch. Diese zu durchdringenden "Hüllen" sind die raum-zeitlichen Gebundenheiten dieses Menschen wie zum Beispiel die allgemein menschliche Gebundenheit an gleichartige Triebe, Leidenschaften, Lebensbedürfnisse, das mehr oder weniger allgemeine soziale "Ich" des Menschen, oder die Idole der gemeinsamen und darum die individuellen Erlebnisseiten verwischenden Sprache. Der Mensch ist also umso mehr Individuum, je mehr er auf sein leibfreies Sein

dar: Sie ist ihrem Was und dem aus ihm folgenden Bestimmungsgehalt nach der Gehalt eben dieser göttlichen Idee selber.

84 Philosophische Weltanschauung, S. 126 (Anmerkung 19).

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154 DIE PERSON

reduziert wird. Der Mensch wird für den ihn verstehend Erkennenden desto individueller, je weiter der Erkennende ihn "enthüllt", je mehr er ihn von seinen raum-zeitlichen Gebundenheiten befreit. "Weit entfernt also, daß wir im Leibe, in den sozialen Beziehungen, die der Mensch eingeht ... , in der Leibbindung und -bedingung der Akte unseres geistigen Personseins, in der sukzessiven Form des psychischen Stroms principia individuationis für eine dem Sosein nach eine und dieselbe (also dann nur daseinsverschiedene) Artung der geistigen Person erblicken dür­fen" 85. Während diese Faktoren - Leib, soziale Beziehungen usw. -gerade eine relative Verallgemeinerung und Typeneinteilung der Men­schen ermöglichen, liegt das echte und allerletzte Individuationsprinzip im realen Substrat des Personzentrums, in seiner Geistseele. Die geis­tigen Personsubstanzen oder Aktsubstanzen sind also die einzigen "Substanzen", die ein echtes individuelles Wesen besitzen und deren Daseinsverschiedenheit aus ihrem in sich individuierten Sosein allererst erfolgt.

Mit dieser Äußerung sind wir an dem Punkt angelangt, wo wir uns das im vorigen Teilkapitel Gesagte in Erinnerung rufen müssen, um die These zu erhärten, daß das letztfundierende Individuationsprinzip der Person der ihr eigene und einzigartige ordo amoris ist. Ist die Person ein "individuell-substantielles geistiges Sein" 86, ist jede Person im Men­schen wesensindividuell, besteht zwischen den Personen eine reale "sub­stantielle" Verschiedenheit, so können wir daraus schließen, daß die Person eben durch diese "Substanz" individuiert ist. Verbinden wir diese Aussage mit der Schlußfolgerung des vorigen Teilkapitels : die eigentliche "Substanz" der Person ist ihr ordo amoris, kommen wir notwendigerweise zu dem hieraus folgenden Schluß, daß das eigentliche Fundament der Individualität der Person ihr ordo amoris ist: Das principium individuationis der Person ist ihr ordo amoris.

Aus diesem ordo amoris als dem individuellen Wesenszentrum der geistigen Person heraus hat auch jede geistige "Substanz" ihre indivi­duelle Bestimmung; das individuelle Wesenszentrum ist zugleich das Ideal der persönlichen individuellen Bestimmung, Ideal, gegenüber dem der Mensch freilich - willentlich oder schicksalsmäßig - mehr oder weniger zurückbleiben, das er mehr oder weniger erreichen kann. Diese individuelle Bestimmung ist die Stelle, die im Heilsplan der Weit diesem oder jenem Subjekt zukommt, die Aufgabe, die dieses oder jenes Subjekt

86 Sympathie, S. 131. 86 Schriften, S. 262.

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DIE INDIVIDUALISIERUNG DER PERSON 155

erfüllen "sollte", die es aber auch frei verfehlen kann. Die individuelle Bestimmung ist die an sich zeitlose Wertwesenheit in der Form der Personalität. Der ordo amoris jeder Person ist demzufolge gleichzeitig die ihr eigentümliche Idealitäts- und Vollkommenheitsrichtung, auf die sich die wahre Personliebe als Liebe zum individuellen Personzentrum zu richten hat. - Aus Gesagtem ist es offensichtlich, daß es sich hier weniger um den ordo amoris im deskriptiven, sondern eher um den ordo amoris im normativen Sinne handelt. In diesem letzteren Sinn ist der ordo amoris also auch individuell, und der faktische ordo amoris jeder Person wird an dem ihm eigenen und einzigartigen normativen ordo amoris gemessen werden müssen : auch letzterer wird von der Person nie gesetzt oder geschaffen, wir können ihn nur erkennen (und dies mehr oder weniger).

Aus der Gegebenheit, daß jede Person einen individuellen ordo amoris im Sinne der individuellen Bestimmung besitzt, folgt für den Wertethiker Scheler, daß jede Person ursprünglich auch schon als Wertträger verschieden ist. Es gibt "eine letzte unreduzierbare Verschie­denwertigkeit der Personen" 87. In dem Maße, als sie als reine Personen aufgefaßt werden, sind die Personen nicht nur ihrem Sein (Sosein und Dasein) nach, sondern auch in ihrem Wert verschieden und ungleich: ihr Wert ist ein individueller einmaliger Wert. Neben der allgemein­gültigen Normenreihe, die aus der Idee des Personwertes überhaupt entspringt, hat jede Person noch das Ideal der ihr individuellen Bestim­mung : demnach muß jede Person, unter sonst identischen organischen, psychischen und äußeren Umständen, sich ethisch verschieden und verschiedenwertig verhalten. Scheler spricht in diesem Sinne vom "individual-persönlichen Wertwesen" 88.

Erwähnenswert scheint uns noch die Tatsache, daß in der Geschichte der Philosophie vergleichbare Auffassungen anzutreffen sind. Wenn wir auch nicht von einer eindeutigen Übernahme dieser Theorien durch Scheler sprechen möchten, so ist doch eine gewisse Beeinflussung nicht auszuschließen. So finden wir bei Fichte in seiner mittleren Schaffens­periode auch eine wirkliche ethische konkrete Individualität, die in der von jedem empirischen Menschen in seiner Unwiederholbarkeit behaup­teten, ihm allein zukommenden spezifischen, ewigen sittlichen Bestim­mung als Person besteht. Auch bei Fichte resultiert die Individualität

87 Formalismus, S. 405. 88 Ebenda, S. 481. Wir werden später auf diesen Begriff noch zurückkommen

müssen.

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156 DIE PERSON

nicht aus dem Sinnlichen, Empirischen, sondern aus dem übersinnlichen Anteil: jede Person hat einen ausschließlich ihr zugehörigen Teil am übersinnlichen Sein. - Zudem kann man eine gewisse Verwandtschaft der Schelerschen Personlehre, die ihren Schwerpunkt in der Begründung der einzigartigen, geistigen Individualität der Persönlichkeit hat, mit der Monadenlehre von Leibniz feststellen. Wie die Monade einerseits ein für sich bestehendes und in sich gründendes Sein darstellt, das aber andererseits wiederum alle anderen Monaden und damit das ganze Universum in sich spiegelt, so erlebt sich auch die Person als Aktzentrum, das in ihren Akten sowohl den objektiven Seins- und Wertgehalt erfaßt, wie in der Liebe das individuelle Wertwesen jeder anderen Person sich zur phänomenologischen Gegebenheit bringen kann, und überdies sich mit jeder anderen Person in ursprünglicher Solidarität vereint weiß. "Aus diesem Grunde glauben wir auch mit einigem Recht von einem monadologischen Gefüge des Schelerschen Personbegriffes sprechen zu können" 89.

5. Person und Freiheit

Nicolai Hartmann bezeichnet es als den wohl größten Mangel des Schelerschen Personalismus, das Problem der Freiheit übergangen zu haben. Dieses harte Urteil ist in erster Linie darauf zurückzuführen, daß 1926, als Hartmann seine Ethik veröffentlichte, von Scheler fast nichts über dieses für allen Personalismus so fundamentale Problem dem Publikum vorlag. Scheler hatte zwar im Formalismus immer wieder darauf hingewiesen 90, daß er dem Freiheitsproblem im Rahmen der V orbereitung dieser Abhandlung seine Aufmerksamkeit gewidmet hatte, es ist aber zu seinen Lebzeiten nie zur Veröffentlichung der diesbezüg­lichen Unterlagen gekommen. Die im Nachlaß vorgefundenen Nieder­schriften zum Freiheitsproblemkreis aus der Zeit des Formalismus (ca. 1912 bis 1914) sind erstmals in der 2. Auflage der Schriften aus dem Nachlaß 1957 der philosophischen Öffentlichkeit zugänglich ge­macht worden 91. Die vorher bekannten - lapidaren und unzusammen­hängenden - Bemerkungen Schelers zum Freiheitsproblem ließen

89 LAGLER Ernst, Max Schelers Personalismus, in Blätter für deutsche Philosophie 2 (1928/1929), S. 341.

90 Vgl. Formalismus, S. 211, 245, 469, 477. 91 Zur Phänomenologie und Metaphysik der Freiheit, in Nachlaß I, S. 155-178.

Siehe auch die Anmerkungen von Maria Scheler, in Formalismus, S. 593 (Anmerkung zu Seite 211), und in Nachlaß I, S. 511-512.

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PERSON UND FREIHEIT 157

effektiv die Vermutung zu, daß er diesem Fragenkomplex nur eine drittrangige Bedeutung zumaß.

Die Kenntnis der im Nachlaß-Band veröffentlichten Niederschriften soll jedoch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, wir befanden uns heute in Gegenwart einer vollständigen und ausgewogenen Lehre von der Freiheit: die Schelersche Position in Bezug auf die Freiheit behält ihre Schwierigkeiten; das hier beginnende Teilkapitel soll sowohl auf die Errungenschaften als auf die Schwächen der Schelerschen Freiheits­lehre aufmerksam machen.

Zum ersten unterscheidet Scheler zwischen zwei "Freiheiten", deren jeweilige Bedeutungen nichts miteinander zu tun haben, die aber effektiv in einem Fundierungszusammenhang stehen. An erster Stelle nennt er die Wahlfreiheit: die Freiheit des Wollens und die Freiheit des Tuns: diese hauptsächlich im Nachlaß behandelte Freiheitssphäre steht im Wesenszusammenhang mit der Wertewelt und drückt sich aus­schließlich in reaktivem Verhalten aus. Die Frage, ob Scheler Willens­freiheit anerkannt hat, muß, wie wir später sehen werden, innerhalb dieser Sphäre bejaht werden. - Die zweite und wesentliche, die erstere fundierende Freiheit ist die Freiheit der Liebe. Hier befindet Scheler sich in Übereinstimmung mit Fichte und Eucken. Diese Freiheitssphäre ist nicht mehr unmittelbar von den Werten bestimmt, hier geht es nicht um reaktives Verhalten, sondern um die Spontaneität der Liebe (Alle Spontaneität ist also Freiheit, aber nicht jede Freiheit ist Spontaneität). Spontaneität wird hier vor allem negativ bestimmt als die Unabhängig­keit vom Vitalbereich. Die Freiheit der Liebe wurzelt somit in der Frei­heit der Person gegenüber der Gewalt des Trieblebens überhaupt, und ist eigentlich das Moment, das die spezifisch geistige Liebe am schärf­sten scheidet von aller Form von Bezauberung, Suggestion oder Hypnose. Liebe macht also nicht blind, wie der Volksmund behauptet, im Gegen­teil, sie befreit die Person von aller Triebgebundenheit, sie macht sehend und sie macht frei. Neben dem Individualität-geben und -nehmen ist dieses Freiheit-geben aller echten Liebe wesentlich 92.

Als Freiheit der Person gegenüber der Gewalt des Trieblebens über­haupt ist diese Freiheit des Aufschwungs und der Liebe ein spon­taner Akt, der wesensmäßig nicht von physiologischen oder psychi­schen Faktoren determiniert oder erklärt werden kann, der diesen Bereichen gegenüber eine immer größer werdende Unabhängigkeit erlangen kann. Somit ist für Scheler die Grundvoraussetzung aller

.8 Vgl. Sympathie, S. 81-82.

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158 DiE PERSON

geistigen Spontaneität (Freiheit) die aktive Loslösung vom Vitalbereich und vom psychischen Bereich. - Wir sehen hier deutlich den Zusammen­hang mit dem in der Einleitung zu diesem Kapitel erwähnten Wesens­begriff des Menschen, wonach der Mensch definiert wurde als Ding, das sich selbst und sein Leben und alles Leben transzendiert. Andernorts bezeichnet Scheler den Menschen als Träger einer Tendenz, welche alle möglichen Lebenswerte transzendiert 93. - Der spontane Akt der Freiheit läßt sich also weder aus dem Biologischen noch aus dem Psycho­logischen herleiten. Er besitzt einen negativen Aspekt : die Loslösung vom Vitalbereich, die Unabhängigkeit von den Lebenswerten, und einen positiven : die Freiheit des Sich-Transzendierens, den Aufschwung.

Ein Akt ist deshalb um so freier - und dies ist ein Wesenszusam­menhang - je mehr er von der Person "selbst" vollzogen ist, d.h. je mehr ihn die Person im Menschen bestimmt. 94 Der Akt ist in dem Maße unfrei, als er nicht von der Person selbst, sondern von Beziehun­gen ihrer zu Situationen, Einzelerlebnissen und Begehrungen bestimmt ist, d.h. je größer der Einfluß des biologischen und psychologischen Be­reiches ist. Mit anderen Worten: der Mensch ist um so freier, je mehr er die ihm wesensbegriffsmäBig zugeordnete Tendenz "erfüllt", alle möglichen Lebenswerte zu transzendieren. Oder auch noch -im Hinblick auf die Schelerschen Gemeinschaftsformen : je mehr der Mensch Masse ist 95; d.h. je mehr er sich von ihm fremden Fakto­ren determinieren läßt, um so unfreier ist er. Dies hat zur Folge­hält Scheler denjenigen entgegen, die die Freiheit mit Willkürfreiheit verwechseln -, daß die so charakterisierte Freiheit Dauerhaftigkeit und Berechenbarkeit bedeutet: Da der freie Akt notwendigerweise von der Person "selbst", der Person im Menschen bestimmt ist, durch­wirkt er auch die ganze Person: er wird berechenbar, da ich darauf vertrauen kann, daß die Person sich nicht von zufälligen Situationen oder Einzelerlebnissen umstimmen läßt (Das auf einem freien Akt

93 Vgl. Formalismus, S. 296. 94 Vgl. Nachlaß I, S. 160. 95 Präziser: je mehr der Mensch als Masse und nicht als einzelner handelt und

je mehr Geschichte bereits abgelaufen ist. Letzteres steht im Zusammenhang mit dem diesbezüglichen Pessimismus Schelers : die Geschichte bewegt sich in seinen Augen überaII von der Gemeinschaft in die GeseIIschaft, d.h. in der Richtung einer sich nach unten nivellierenden Menschenmasse (vgl. Vom Ewigen im Menschen, S. 238): in diesem Prozeß werden die Freiheitsspielräume des menschlichen Geistes, die Ge­schichte in ihrem Gang zu bestimmen, immer kleiner; die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit bleibt jedoch auch dann noch bestehen (Vgl. Schriften, S. 267).

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PERSON UND FREIHEIT 159

fundierte Tun darf nicht verwechselt werden mit der Gewohnheit, die eine Art zwangsmäßigen HandeIns ist). Es stimmt daher nicht, daß die Annahme der Freiheit als dem tatsächlichen Bestehen von Alter­nativen im Menschen, seinem rechtmäßigen Berufensein zur Entschei­dung über Wirklichkeit und Unwirklichkeit von Inhalten, gleichbedeu­tend sei mit einer Zerstörung aller Sicherheit und Vertraubarkeit, und daß sie das Chaos heraufführe (Dies von den Deterministen entworfene Bild ist ein Produkt der Angst vor der Freiheit).

Die Freiheit der Person ist demnach wesentlich verknüpft mit dem Oberschuß des Geistes über das Leben, mit dem Sichlösen der geistigen Person aus der Umklammerung durch die Lebenstriebe und Lebens­bedürfnisse : Freisein der geistigen Person im Menschen vorn Ichzentrum, des Ichzentrums vorn Leib- und Lebenszentrum, des Lebenszentrums von der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Antriebe, dies ist der Habitus inneren Freiseins, während der Habitus des inneren Unfreiseins charak­terisiert ist durch die funktionale Wirkabhängigkeit der Zentren selbst voneinander. Der Habitus inneren Freiseins "hat also weder etwas mit Freiheit irgendeines der genannten Zentren zum Vollzug bestimmter Akte (z.B. der Person zum Vollzug von Denk- und Willensakten) etwas zu tun, noch steht es in irgendeinern möglichen Gegensatz zu der jedem Zentrum immanenten Gesetzlichkeit der zu ihm gehörigen Aktwesen -wie jede Art von Willkür in solchem Gegensatze steht. Jede Art von Aktvollzugs-Freiheit ist Folge, nicht Bedingung, des Freiseins der Zentren voneinander, und zwar des höheren Zentrums von dem je niederen, d.h. in der Richtung Person -+ sinnlicher Antrieb; und jedes Zentrum vollzieht seine Akte (resp. Funktionen, Impulse) nach eigenen ihm zukommenden Akt- (und den entsprechenden Sach-)Wesensgesetzen des Aktvollzugs (resp. von Funktionsausübungs-, Impulsgesetzen) -wenn und sofern der Vollzug nicht durch gleichfalls gesetzmäßige Vorgänge, die vorn je niederen Zentrum abhängig sind, gekreuzt oder gestört wird". 96 Als Aktzentrum ist die Person gegenüber dem gesamten Wesensgefüge der psychischen, biopsychischen und sonstigen Kausalität ihrem Wesen nach frei (wie sehr sie dabei auch den Wesensgesetzen ihrer Akte und ihrem je individuellen Wesen, d.h. ihrem ordo amoris, wieder notwendig folge). "Aber diese Wesensfreiheit ,der' Person sagt über das faktische Freisein und Unfreisein ,einer' Person und das Maß dieser noch gar nichts. Sie ist das Fundament für jene heiden Richtungen des möglichen Habitus der Person. Auch das Unfreisein einer Person

96 Nachlaß I, S. 237.

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160 DIE PERSON

ist noch in ihrer Wesensfreiheit als Person überhaupt gegründet und durch sie als Person verschuldet - niemals also bloß Folge des Trieb­zwanges" 97.

Die Freiheit der Liebe, die als Wesensfreiheit der Person überhaupt ihr Wesen als Seinsform mitkonstituiert, ist, wie schon angedeutet, fundierend für jede andere Art des Freiseins - sei es des Tuns, des Wollens oder des Tunkönnens - oder Unfreiseins. Diese Wesensfreiheit kann folglich nie positiver oder negativer Wertträger sein, dies kann nur das in ihr fundierte Freisein oder Unfreisein einer Person sein. Aber dieser positive und negative Wert von Frei- und Unfreisein hat seinerseits mit den Werten "gut" und "böse" noch nichts zu tun: selbst eine trieb­unbefangene Person als eine Person im Habitus des Freiseins kann noch böse sein. - Hier stehen wir am Übergang von der Wesensfreiheit, der Freiheit der Liebe als Spontaneität, zu der von ihr fundierten Freiheit der Wertverwirklichung. Während die Freiheit der Spontaneität die Wendepunkte im Leben herbeiführt, stellt die Freiheit der Wertver­wirklichung eigentlich die Freiheit des täglichen Lebens dar. - Doch bevor wir zu dieser zweiten Freiheitsbedeutung übergehen, möchten wir noch einmal ausdrücklich auf die Grundstellung der Betrachtungsweise hinweisen : Eine theoretische Grundeinstellung, die die Freiheit nur von außen als "Gegenstand" betrachtet, wird die Bedeutung "frei" nie erfas­sen können, wird das Sosein der Freiheit nie erreichen können. Allein die phänomenologische Betrachtungsweise kann uns das Wesen der Freiheit von "innen" her zeigen: wir schauen auf den Ursprung, das innere Werden und Sichgestalten der Tatsachen, auf das Werden jedes dieser Vorgänge, aus der inneren Werkstatt des wirkenden Lebens heraus; wir müssen uns in den Wollenden, den Handelnden versetzen, der gerade vor einer großen Entscheidung steht: es muß also ein Ver­stehen inmitten unseres WiIIenslebens selbst sein.

Im Bereich der Freiheit der Wertverwirklichung spielt die Liebe nicht nur in dem soeben angedeuteten Sinne die fundierende Rolle, sondern auch noch in einern weiteren Sinne, der eng mit der Bedeutung des ordo amoris verbunden ist: wie das Kapitel über die Liebe gezeigt hat, ist für Scheler die Liebe schöpferisch, und zwar nicht in dem Sinn, daß sie den Wert oder das Höhersein des Wertes schafft; der Akt der Liebe ist schöpferisch in der phänomenalen Ordnung: neue und höhere Werte erscheinen im personalen Akt der spontanen Liebe. Dem Akt der Liebe kommt zwar nicht für die an sich bestehenden Werte überhaupt, aber

87 Nachlaß I. S. 240.

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doch für den Kreis und Inbegriff der jeweilig durch eine Person fühlbaren und vorziehbaren Werte eine schöpferische Leistung zu. Somit legt der schöpferische Akt der Liebe den Horizont der Werte fest, in dem eine bestimmte Person mit dem ihr eigenen ordo amoris Werte erkennen kann; mit anderen Worten: der Liebesakt bestimmt die Wahlsphäre der Person. Und insofern in jedem Akt der Liebe die ganze Person ein­geht, ist es die Person selbst, die sich den Horizont der ihr möglichen Werte frei festlegt im Rahmen der ihr überhaupt zugänglichen Werte. -Da die dem Fühlen zugänglichen Werte nur in einem schöpferischen Akt der Liebe zum Aufblitzen kommen können, stehen sich in einem Wesenszusammenhang gegenüber der Akt der spontanen Liebe und der nur reaktive Akt des Fühlens.

Die Freiheit der Wertverwirklichung ist daher keine spontane, da die im Fühlen sich zeigenden Werte gegebene Werte sind, die auf sie gerichteten Akte Erkenntnisakte sind und deshalb reaktiv im Gegensatz zu den spontanen Akten der Liebe. Hier tauchen die schwerwiegendsten Schwierigkeiten der Schelerschen Freiheitslehre auf: einerseits fordert er Freiheit und denkt sie geradezu als weltkonstitutiv, andererseits tritt sie im Rahmen seiner materialen Wertethik und gegenüber der "logique du creur" zurück, da hier das Wollen selbst zum Epiphänomen des Fühlens wird. D.h. einem Wert gegenüber, der mit höchster Gefühls­evidenz als der vorzuziehende begriffen wird, kann sich das Wollen nicht widersetzen. Bei restloser Erkenntnis des Guten kann der Wille nicht mehr das Böse wählen oder unabhängig von allen Werten und deren Höhersein seine Entscheidung treffen. Der Akt des W ollens vermag sich nicht für eines aus mehreren ihm vorschwebenden Projekten zu entscheiden, "ohne" daß die im Fühlen gegebenen Werte der Projekte 98

eine eindeutig determinierende Rolle spielen" 99. - In diesem Sinne ist Scheler Sokratiker. Der Grad der Freiheit steht in direktem Verhältnis zum Grade der Erkenntnis; der Mensch ist um so freier, je größer seine Erkenntnis. Dies gilt insbesondere für die Wahlfreiheit: sie ist um so größer, je größer die Zahl der uns bekannten Möglichkeiten, zwischen denen wir wählen können. Aber andererseits kann, wenn wir Schelers Lehre von der reaktiven Wahlfreiheit, die einer Wertnötigung gleichgesetzt werden kann, aufs Wort nehmen, die Freiheit des Wäh-

98 Ein Projekt ist für Scheler die Gegebenheitsart der dem wollend Eingestellten im Wollen, in seinem Vollzug als zu realisierend gegebenen Werte und Inhalte. Das "Projektsein" ist demnach verschieden vom "Gegenstandsein" , dem als Akt immer ein "Vorstellen" entspricht, und es ist scharf von Zweck und Motiv zu scheiden.

99 Nachlaß 1, S. 176.

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lens sich nur beziehen entweder auf die inadäquat erfaßten Werte oder auf die Wahl zwischen Werten, unter denen keine durch die objektive Wertrangordnung eindeutig bestimmte Vor- oder Nachziehensordnung besteht.

Das Problem der Willensfreiheit bezeichnet Scheler in seiner Kri­tischen Obersicht der Ethik der Gegenwart 100 von 1914 als das dunkelste Problem der Ethik. Auf jeden Fall abzulehnen scheinen ihm der mecha­nisch-physikalische Determinismus, der die Willensakte und Handlungen schon durch den Inbegriff der Gesetze der äußeren Natur und diejewei­ligen Kollokationen ihrer Elemente als eindeutig bestimmt ansieht, ebenso wie jede Lehre, die eine selbständige psychische Kausalität leugnet und die seelischen Erlebnisse als bloße Epiphänomene zu Nerven- und Gehirn­prozessen ansieht. Auch der psychologische Determinismus wird dem Freiheitsproblem nicht gerecht. Jede Lehre, die die Freiheit der Person auf bloße Charakterkausalität zurückführen will, die die Handlung der Person als eindeutige Folge der Summe ihrer Anlagen und äußeren Lebenssituationen ansieht, bleibt tief unter dem wahren Sinn des Frei­heitsproblems. Bei genau denselben Anlagen der Seele und des Körpers und bei denselben Situationen kann sowohl die Person als auch ihre Handlung noch frei variierend gedacht werden, und außerden bedürfen diese Anlagen und dieser Charakter selbst wieder eines kausalen -biologischen und historischen - Verständnisses und sind ebenso kausal notwendig wie das Produkt aus Charakter und Situation. "Hätten wir also in diesem Sinne Kenntnis von den angeborenen oder erworbenen Dispositionen eines Menschen (auch in ideal vollkommener Weise) genommen, und kennten wir (gleich ideal) auch alle Wirkungen der Außen­welt auf ihn genau, so wird sein Handeln immer noch verschieden sein, je nachdem die Person verschieden ist, der dieser Charakter und diese Anlagen zugehören. Das Problem der Freiheit - liegt daher erheblich tiefer, als es dieser Lösung entspricht" 101.

Weder der Determinismus noch der Indeterminismus 102 sind Schelers Ansicht nach in der Lage, die Verantwortung und die Zurechnung zu begründen, solange sie den Entscheidungsakt im selben Maße entleeren, als er frei sein soll. Es gibt für ihn auch keine Freiheit, welche die gleich~ zeitige Voraussetzung der Zurechnung sein soll, die jeder zu jeder Zeit

100 Ethik, in Frühe Schriften, besonders S. 405-407. 101 Formalismus, S. 476-477. 102 Freiheit ist auch von Indeterminiertheit scharf zu scheiden : während letztere

eine negative Idee ist, die die nicht notwendige Bestimmtheit einer Tatsache durch andere besagt, ist Freiheit eine positive Idee. die im Erlebnis des Könnens wurzelt.

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hätte und die er nie verlieren könnte - eine derartige Freiheit wäre Konvention (Der Begriff der rechtlichen Zurechnungsfähigkeit seiner­seits ist vom Streit um die Willensfreiheit unabhängig). - Um die Pro­blematik der Willensfreiheit einer ihr entsprechenden Lösung zuzu­führen, bedarf es nach Scheler einer scharfen Sonderung der herkömm­lichen Äquivokationen; einer weiter als bisher üblich eindringenden Phänomenologie des Könnens- und Freiheitsbewußtseins und einer genauen Sonderung der für die materialen Seinsregionen (anorganische, organische und psychische Natur) gültigen Kausal- und Gesetzesprin­zipien, wobei das nach dem Muster der Mechanik gebildete, meist nUschlich als allgültig und einheitlich vorausgesetzte sog. "Kausal­prinzip" nur eine beiläufige Stellung erhalten, das wahrhaft allgültige Kausal- und Gesetzesprinzip aber einer so weitgehenden Formalisierung verfallen würde, daß vom herkömmlichen Determinismus nur mehr wenig überbliebe. Für Scheler ist frei der Akt, der, obzwar einer eigenen Gesetzmäßigkeit des Rechten folgend, durch die Gesetze der Motivation nicht determiniert ist.

Nicht die Wirklichkeit des Ganzen unseres Lebens, wohl aber sein Sinn und sein Wert sind zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens in unserer freien Machtsphäre. Und dies gilt nicht nur für die Zukunft, auch die Erlebnisse unserer Vergangenheit sind ihrem Wert- und Sinngehalt nach keine unabänderlichen Tatsachen, sie bleiben - ohne daß die in ihnen beschlossene Komponente von bloßer Naturwirklichkeit ebenso frei zu verändern wäre wie jene der Zukunft - wirkungskräftig im Zusam­menhang mit einer immer möglichen neuartigen Einreihung als Teilsinn in den Gesamt-sinn unseres Lebens. Sinn und Wert sind der Macht der Person, ihrer Freiheit untergeordnet 103. - Milieustruktur und Schicksal sind dem Menschen mehr oder weniger aufgezwungen, er kann sich jedoch ihnen gegenüber personfrei verhalten. Als Masse steht er unter ihrem Bann, als Erkennender aber kann er über ihnen stehen. Die Freiheit steht also im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Person sowohl gegenüber der eigenen Leib- und Triebgebundenheit wie auch gegenüber der Umweltstruktur.

Freiheit als die Richtung auf Unabhängigkeit der Determination eines Aktes oder Vorganges durch die Raum- und Zeitstelle des zu determinierenden Inhalts kann somit auch bezeichnet werden als das

103 In diesem Wirkungsspielraum spielt die Reue als Befreiungsfaktor eine wesent­liche Rolle; siehe Reue und Wiedergeburt, in Vom Ewigen im Menschen, S. 27-99.

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Selbstwirksamsein der Person 104, und zwar der ganzen Person: in jedem ihrer Akte und Erlebnisse ändert sich die Person als Ganzes. Und es ist das Bewußtsein dieses Sich-wandeln-Könnens (im Sinne einer Umkehr oder einer geistigen Wiedergeburt), dieser in jedem Akt möglichen Variierung der ganzen Person, welches den Wurzelpunkt unseres Frei­heitsbewußtseins bildet, nicht also das Bewußtsein des Auch-anders­handeln-Könnens, das jeden Entschlußakt begleitet, auch nicht das Bewußtsein des Wählenkönnens, das jeden Vorsetzungsakt eines Vorsat­zes (aus einer faktischen oder als möglich gegebenen Projektvielheit) zu einem Willensentschlußgehalt begleitet.

Scheler vertritt also keineswegs eine absolute Freiheit. Beim Menschen wird dem Wollenkönnen durch das ihm wesenszugehörige Wollenmüssen eine Beschränkung auferlegt. Eine weitere Einschränkung bildet die mehr oder weniger große Breite der Wahlsphäre : während das Wählen können überhaupt schon eine Stufe der Freiheit darstellt, bedeutet eine breitere Wahlsphäre überhaupt immer ein Mehr an Freiheit als eine engere Wahls­phäre.

An dieser Stelle muß auch auf den religionsphilosophischen Kontext hingewiesen werden, in dem Schelers Freiheitslehre sich bewegt: Gegen­über Gott besitzt der Mensch keine spontane Freiheit: die Freiheit der Person ist hier diejenige, die - nach erreichtem Freisein gegenüber der Welt - in dem Akte des Sichöffnens und des Sicherschließens in der durch die Gottesliebe gegebenen Richtung auf Gott 'beschlossen ist. Dieses Sichöffnen und Sicherschließen zur Rezeption der Selbstmittei­lung Gottes sind Akte, die mit Wollensakten nicht das geringste zu tun haben. "Das Freisein der Person vom Zwange aller Sachfaktoren ist vielmehr der Habitus der Person, der den Actus des Sichöffnens der Person in der Richtung auf mögliche göttliche Selbstmitteilung notwendig setzt und den Eintritt der Gnade notwendig macht ... - so ein alliebendes Wesen als Wesen eines möglich-realen Gottes vorausgesetzt ist" 105. -

Im Verhältnis zur Gnade bewegt sich alle menschliche Freiheit zwischen den zwei folgenden Punkten: zwischen dem Anfangspunkt des Ergriffen­werdens durch die Gnade Gottes und dem Endpunkt einer abschließenden heiligmachenden Gnade. Beginn und Ziel des Heilsprozesses liegt also nicht beim Menschen, sondern bei Gott 106. "Diese Aussagen, die vor

104 Die Spontaneität wird hier im Vollzug des Aktes selbst erlebt als eines von mir und durch mich vollzogenen.

105 Nachlaß I, S. 236. 106 Vgl. Schriften, S. 89.

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allem der Behauptung widerstreiten, daß die Liebe zum Göttlichen die Person konstituiere, können nur schwach verdecken, daß das Sichöff­nen der Person nicht Bedingung der Mitteilung durch Gott ist, sondern daß diese sich aufschwingende Freiheit mit der Gnade und der Person­konstituierung identisch ist" 107.

Auch in Schelers Spätperiode ist das Freiheitsproblem mit dem -diesmal veränderten - religionsphilosophischen Hintergrund verknüpft. Die wesentlichste Sichtänderung hängt jedoch mit der neuen These von der "Ohnmacht des Geistes" zusammen. Trotzdem bleibt auch hier der Mensch wesens mäßig das Wesen, das sich selbst und sein Leben und alles Leben transzendiert: "Der Mensch ist das Wesen, in dem die Universalevolution, in welcher die Gottheit ihr Wesen verwirklicht und ihr zeitloses Wesen enthüllt, ein Reich von Seiendem und von Wert­vollem entdeckt, das hinausreicht über alles mögliche Milieu des Lebens und über allem nur vital Wichtigen und Unwichtigen steht und thront. Darum ist auch das, was wir im Unterschiede von Trieb und Instinkt den sogenannten ,freien Willen' des Menschen nennen, nicht eine positive Kraft des Schaffens und der Hervorbringung, sondern des Hemmens und Enthemmens von Triebimpulsen. Der Akt des Willens, bezogen auf die Handlung, ist primär immer ein ,non fiat', nicht ein ,fiat' " 108. -

Auch hier gibt es also ein Wollen und Handeln freier Personzentren und eine Selbstbestimmung des Soseins der Handlung - der Tat, des Aktes und nicht der Realfaktoren - durch die (absolute) Individualität der Person und ihres Daseins durch den Aktus des Willensfiat oder dessen Unterlassung. Freiheit ist eine regsame persönliche Spontaneität des geistigen Zentrums im Menschen; zum Wesen geistiger Akte gehört frei spontanes Selbstvollzogenwerden.

Da dem Geist als solchem ursprünglich von Hause aus keine Spur von Kraft oder Wirksamkeit zukommt, hat er in Bezug auf die Real­faktoren (z.B. politische Machtverhältnisse internationaler Art, ökono­mische Produktionsverhältnisse) keine positive Realisationsmacht, nur negative, lenkende, d.h. hemmende oder enthemmende, kausale Bedeu­tung, also eine prinzipiell nur negative Realisationsbedeutung und keiner­lei soseinsbestimmende Determinationsbedeutung. Der menschliche Geist und Wille vermag hier nur das hemmen und enthemmen, was auf Grund streng autonomer, realer, bewußtseinsmäßig sinnblinder

107 HASKAMP Reinhold J., Spekulativer und phänomenologischer Personalismus. Einflüsse J. G. Fichtes und Rudolf Euckens auf Max Schelers Philosophie der Person (Symposion. Philosophische Schriftenreihe 22), Freiburg-München, 1966, S. 28-29.

108 Philosophische Weltanschauung, S. 30-31.

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Entwicklungskausalität ins Dasein treten will. Die Wirklichkeit der Realsoziologie geht nach Dasein, Sosein und Wert ihren streng notwendi­gen, ihren Schicksalsgang. In anderen Worten: der "Unterbau", die Infrastruktur hat ihre Eigenkausalität, und die freie Willenskausalität der geistigen Personen ist durch diese Eigenkausalität stets suspen­dierbar 109.

Sofern also das geistige, übertriebhafte Wollen auf Handlung bezogen wird, ist es ursprünglich negativer, hemmender und enthemmender Natur. "Unter Freiheit des Wollens verstehen wir nur den Akt, der dem Dasein resp. der Realisierung des Projektums entspricht, nicht dem Inhalt, d.h. dem Sosein des Projektums, das streng notwendig motiviert ist - durch Erfahrung, Erbanlage der Vitalpsyche und das überzeitliche individuale Wesen der Person. Als das mit freiem Wollen begabte Wesen könnte man daher den Menschen den ,Neinsager', den ,Asketen des Lebens' nennen. Geist ist eben überall kein schöpferisches, nur ein grenzsetzendes, die zufällige Wirklichkeit im Rahmen des Wesensmögli­chen erhaltendes Prinzip" 110.

Den Vorwurf Hartmanns, mit dem wir dieses Teilkapitel begonnen haben, glauben wir zurückgewiesen zu haben. Wir möchten zum Schluß den Hartmannschen Lösungsweg zum Person-Freiheit-Problem kurz skizzieren, da er unserer Meinung nach den phänomenologischen Gegebenheiten besser entspricht. Für ihn steht die Freiheit schon am Anfang, d.h. sie muß schon in den Personbegriff, in die Wesensdefinition der Person, miteinbezogen werden : er setzt die Freiheit schon als Vorbe­dingung der "Personalität" der Person, während Scheler hierfür nur die Vollsinnigkeit, die Mündigkeit und die "Herrschaft über dem Leib" bzw. die Willensmächtigkeit anführte. Ein Personwert hat erst dann eigentlich sittlichen Wert, wenn er frei ist. Freiheit ist also für die Person wesenskonstitutiv. Erst die Freiheit macht das Subjekt zur Person. -Den schlagendsten Beweis für die Willensfreiheit, der "echten indivi­duellen Freiheit der Person", sieht Hartmann im Phänomen der Verant­wortung. "Die Freiheit, die sich im Aufsichnehmen und Tragen der Verantwortung dokumentiert, ist auch nicht ein hinter dem Bewußtsein stehendes Prinzip, keine Freiheit vor dem Bewußtsein, kein metaphysi­scher Hintergrund. Sie ist im strengsten Sinne Freiheit des individuellen sittlichen Bewußtseins" 111. - Der Aktvollziehende weiß sich innerlich

109 Vgl. Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 21-23. 110 Philosophische Weltanschauung, Anmerkungen, S. 124. 111 HARTMANN Nicolai, Ethik, 3. Auflage, Berlin, 1949, S. 727.

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betroffen von allem, was durch seine Initiative geschieht, ja selbst nur hätte geschehen können. Sofern er voll bewußt handelt, bezieht er schon vor aller Handlung jede mögliche Folge auf sich als Urheber zurück. Diese Rückbeziehung ist eine apriorische, sie besteht auch dort, wo das menschliche Vorsehungsvermögen nicht ausreicht, die Folgen zu über­sehen. Die Person in ihrer Initiative nimmt gerade dies im unzureichenden Vorblick liegende Wagnis auf sich.

Mit dieser Freiheitslehre entgeht Hartmann vor allem der sehr proble­matischen Auffassung Schelers, wonach bei restloser Werterkenntnis die Person sich diesen Werten gegenüber nicht mehr spontan, sondern nur reaktiv verhalten kann. "Das eine Moment der Person liegt darin, daß die Werte das Subjekt nicht nötigen, sondern, auch wenn sie erschaut sind, ihm bloß die Anforderung stellen, tatsächlich aber Spiel­raum lassen. Dieses nun, daß es in seiner Macht steht, den Wert aufzu­greifen, die eigenen Akte in seinen Dienst zu stellen oder nicht, gibt dem Subjekt eine Art Gleichstellung mit den großen metaphysischen Mächten des Seins ... ; es ist hierdurch ein selbständiger Faktor, eine eigene Instanz des Daseins neben ihnen. Das ist es, was man die sittliche Freiheit ge­nannt hat. Das personale Wesen ist ein ,freies' Wesen. Es enthält ein eigenes Prinzip, eine Autonomie seiner selbst - neben der Autonomie der Natur in ihm und der Autonomie der Werte in ihm" 112.

6. Das anschauende und das wertende Verhältnis des personalen Geistes zur Welt. Person und Wahrheit - Person und Wert

Als wesenhaftes Gegenglied und Korrelat steht der Person auf der Gegenstandsseite eine Welt gegenüber. Der Person als Wesen korrespon­diert eine Welt, und in ihren Akten ist die Person stets weltbezogen. Während Ichheit und das Wesen des Ich durchaus noch zur Welt gehören, ist die Person nie Teil der Welt, sie ist immer wesentlich Bezugszentrum der Welt. Außerdem steht die Person im Fühlen in innerem Zusammen­hang zum Reich der Werte. Wie wir schon sahen, sind beide Korrela­tionen, sowohl das Verhältnis der Person zur Welt im Wissen wie auch das Verhältnis der Person zur Wertewelt in der Liebe fundiert. Die Person gelangt zur Entfaltung nicht in der Hinwendung auf ihr eigenes Sein, ihren Wert, ihre Güte, sondern in der liebegeleiteten Hinwendung zur Welt, in der liebenden Entdeckung höherer Werte und in der eigent­lich sittlichen Liebe, der Liebe zur Person selbst. Letztere ist schon aus-

112 HARTMANN Nicolai, Ethik, 3. Auflage, BerIin, 1949, S. 186.

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führlich behandelt worden, wenden wir uns nun den beiden ersteren zu. Mit anderen Worten: Welches ist das Verhältnis von Person und Wahrheit, welches jenes von Person und Wert?

Einerseits ist Wahrheit für Scheler "Übereinstimmung mit Tatsachen". Wahrheit ist eine Idee, die sich erfüllt, wenn ein satzartig formierter Bedeutungsgehalt eines Urteils mit dem Bestand eines Sachverhalts übereinstimmt und diese Übereinstimmung selbst evident gegeben ist. Zum Wesen der Wahrheit gehört, daß sie mit Tatsachen übereinstimmt; und ein Satz ist wahr, wenn und weil er apriori einsichtig ist. Wahrheit ist folglich Übereinstimmung mit Tatsachen, die selbst apriori sind, und die Sätze sind apriori wahr, weil die Tatsachen, in denen sie Erfüllung finden, apriori gegeben sind. Somit ist die Einsicht in die Wahrheit stets ein plötzliches Aufblitzen, das keine Grade hat und stets den Cha­rakter des Empjangens, nicht des Leistens, Machens, Gestaltens be­sitzt 113.

Andererseits muß Wahrheit immer im Zusammenhang mit der Person betrachtet werden. Wir nannten schon als das Sachkorrelat der Person überhaupt die Welt. Wie jeder Akt zu einer Person gehört, so gehört auch jeder Gegenstand wesensgesetzlich zu einer Welt. Jede Welt ist zwar einerseits in ihrem wesenhaften Aufbau apriori gebunden an die Wesens­zusammenhänge und Strukturzusammenhänge, die zwischen den Sach­wesenheiten bestehen; andererseits aber ist jede Welt - als Mikrokos­mos - gleichzeitig eine konkrete Welt als die Welt einer Person. Also entspricht jeder individuellen Person auch eine individuelle Welt. Alle Gegenstände werden erst voll konkret als Teile einer Welt der Person. Nur die Person selbst ist nie Teil, sondern stets das Korrelat einer Welt: der Welt, in der sie sich erlebt. "Nehme ich von einer beliebigen Person nur einen ihrer konkreten Akte, so enthält dieser Aktus nicht nur alle möglichen Aktwesen in sich, sondern sein gegenständliches Korrelat enthält auch alle wesenhaften Weltfaktoren in sich, z.B. Ichheit, indivi­duelles Ich, alle wesenhaften Konstituentien des Psychischen, desgleichen Außenweltlichkeit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Leibphänomen, Dinglich­keit, Wirken usw. Und dies nach einem apriorisch gesetzmäßigen Aufbau, der ohne Anschauung des besonderen Falles für alle möglichen Personen und alle möglichen Akte jeder Person gilt, und nicht nur für die wirkliche Welt, sondern für alle möglichen Welten. Außerdem aber enthält es auch noch ein letztes Eigenartiges, in Wesensbegriffe, die auf allgemeine Wesenheiten gehen, nie Faßbares, einen originalen

113 Vgl. Formalismus, S. 68, S. 198.

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Wesenszug, der nur und nur der ,Welt' dieser Person und keiner anderen eignet" 114. - Verschiedenen Personen entsprechen auf der Gegenstands­seite verschiedene Welten; die Welt ist ein absolut seiendes, überall konkretes, individuelles Sein. Reduzieren wir alles, was einer konkreten Person überhaupt "gegeben" ist, auf die phänomenalen Wesenheiten, die ihr rein selbst gegeben sind, so haben wir hier eine daseins-absolute Welt, und wir befinden uns im Reiche der Sache an sich. Die Welt ist nie einer beliebigen Mehrheit von individuellen Personen gegeben und dabei selbst gegeben. Der sogenannte "transzendentale" Wahrheits-, Existenz- und Gegenstandsbegriff, der den Gegenstand in eine not­wendige und allgemeingültige Vorstellungsverbindung verflüchtigt, ist für Scheler eine subjektivistische Verfälschung. Die metaphysische Wahrheit, oder "die" Wahrheit selbst, muß also für jede Person einen anderen Gehalt haben - in den Grenzen des apriorischen Welt­gefüges -, und zwar deshalb, weil der Gehalt des Weltseins selbst für jede Person ein verschiedener, ein individueller ist. Die Wahrheit über die Welt und die absolute Wahrheit ist also in einem gewissen Sine eine persönliche Wahrheit, genau wie das absolut Gute ein persönlich Gutes ist, wie wir hieran anschließend sehen werden. Dieser Tatbestand gründet nicht in einer vermeintlichen Relativität oder Subjektivität der Wahrheits­idee, sondern in dem soeben aufgezeigten Wesenszusammenhang von Person und Welt: ist Person und Welt absolutes Sein und sind beide in Wesensbeziehung aufeinander, so kann ja absolute Wahrheit nur per­sönlich sein, und sie ist Falschheit oder daseins relative Wahrheit (Wahr­heit über daseinsrelative Gegenstände), sofern sie unpersönlich und sofern sie allgemeingültig und nicht personalgültig ist. Wahrheit im strengsten Sinne ist also immer personale Wahrheit.

Die philosophische Erkenntnis als Erkenntnis reiner und absoluter Tatsachen besitzt die persönliche Form, die allen reinen Geisteswerten eigen ist. Philosophische Wahrheit ist demnach ihrem Wesen nach rein sachliche und absolute Wahrheit und deshalb in ihrem Inhalt und in Bezug auf den Gegenstand, auf den sich die Erkenntnis bezieht, "persönlich", und nicht allgemeingültig; sie besteht nur für die Person und gilt auch nur für sie. Wissenschaftliche Wahrheit hingegen ist zwar auch nicht individuell subjektiv, aber sie ist "allgemeingültig subjektiv" : D.h., die Wahrheit, die Wissenschaft gibt, ist wie jede Wahrheit absolute Wahrheit; ihre Erkenntnisgegenstände aber, über die jene Wahrheit ergeht, sind in ihrem Dasein vital-relative Gegenstände. Die philosophi-

114 Formalismus, S. 392-393.

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sehe Wahrheit muß also verstanden werden als "absolut wahre Erkennt­nis ,für' eine Person" 115. Dies heißt nicht, daß es kein absolutes Wahrsein über irgendeinen bestimmten Gegenstand gibt, wie es der Skeptizismus und der Relativismus vorgeben. Dieser Ausdruck besagt vielmehr: "Nicht das absolute Wahrsein der Erkenntnis ist nur ,für eine Person', sondern es ist wesensnotwendig, daß, sofern absolute Erkenntnis und absolut wahre Erkenntnis gegeben sein soll und der Anspruch des Erkenntnisstrebens bis zu dieser letzten Stufe gesteigert wird, der Inhalt und der Gegenstand dieser absoluten Wahrheit nur für eine ,Person' da ist und sein kann. Soweit ein Mensch also noch nicht bis zu dem Wahrheitsideal für seine Person, und damit bis zur ,Welt seiner Person', vorgedrungen ist, hat er es noch mit relativen Wahrheiten oder besser mit Wahrheiten für relative Gegenstände zu tun - relativ nämlich auf die Gattung, der der psychophysische Träger der Person angehört" 116.

Letzterer kann auch bezeichnet werden als "Subjekt" im Sinne einer generellen Natur des Verstandes, dessen Formen die Philosophie noch zur Anschauung bringt. - Es ist die Welt, deren Totalität in der philo­sophischen Erkenntnis im Sinne eines Mikrokosmos gegeben ist, die individuell ist, nicht ihre Erkenntnis.

Dies schließt demzufolge ein, daß sich Etwas z.B. nur einem Einzigen in einem einzigen Akt zur Selbstgegebenheit bringen kann, d.h. daß ein bestimmter Gegenstand nur Einem so gegeben sein kann. Wahrsein von etwas für ein Individuum ist also wesenhaft individualgültige und doch streng objektive und absolute Wahrheit und Einsicht 117. Wahr­heit darf auf keinen Fall - wie es die Subjektivisten versuchen - in "allgemeingültige" Aussage verflüchtigt werden. - Auch der Phänome­nologe hat sich um diese Fragen allgemeingültiger Wahrheit und um das trotz der individualen Gültigkeit möglich bleibende Verstehen individu­algültiger Wahrheit zu kümmern: Ist nämlich das von einer Person Er­schaute ein echtes Wesen, so muß es auch von jeder anderen Person erschaubar sein, da es im Gehalt aller möglichen Erfahrung auch wesens­notwendig enthalten ist. Sieht eine zweite Person nicht, was die erste ihr aufzuzeigen versucht, kann dies die verschiedensten Gründe haben : viel­leicht hat die erste Person nur vermeint, etwas er-schaut zu haben, was sie in Wirklichkeit nur an sich beobachtet hat: sie unterliegt in diesem Falle einer phänomenologischen Täuschung. Auch die andere Person kann

115 Nachlaß I, S. 302. 116 Ebenda.

117 VgI. Ebenda, S. 393.

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sich phänomenologisch täuschen. In der Phänomenologie, wie sie Scheler verstanden haben will, gibt es eben kein "allgemeines Kriterium" außer der evidenten Einsicht. Diese evidente Einsicht kann von nur einer ein­zigen Person vollzogen worden sein und doch allgemeingültig Wahres aufzeigen. Wenn es auch möglich ist, daß bestimmte Wesenszusammen­hänge nur einer einzigen Person zur evidenten Einsicht gegeben sind, so hat dieses "individuell persönlich" jedoch nichts mit einem subjek­tivistischen Wahrheitsbegriff zu tun; ja, genau das Gegenteil ist der Fall : Allgemeingültig kann immer nur das relativ Wahre und Gute sein, das absolut Wahre und Gute kann aber nur die nicht allgemeingültige personhaft-individuelle Wahrheit und Gutheit sein, d.h. Gutheit und Wahrheit, die sich innerhalb der Grenzen des nur Allgemeingültigen über das bloß Allgemeingültige als geistiger Überbau erhebt.

Nach Schelers Auffassung ist es das Ressentiment, daß Gegenstandsein, Objektivität, die absolute Sachübereinstimmung ("Wahrheit" im strengen Sinne) bzw. Wertübereinstimmung unserer Willensziele ("Gutes" im strengen Sinne) durch Allgemeingültigkeit, mit Anerkennbarkeit durch alle Menschen ersetzen will und so jede individuell-persönliche Erkennt­nis zur subjektiven Einbildung degradiert.

Absolute Wahrheit ist immer und notwendigerweise persönliche Wahrheit, d.h. mit anderen Worten: sie ist relativ auf das Sein der Per­son. Mit subjektiver Wahrheit oder Allgemeingültigkeit von Sätzen hat dieses Relativsein auf das Sein der Person jedoch nichts zu tun. Auch Heidegger - und dies wird unserer Ansicht nach zu Recht von Frings unterstrichen 118 - kennt eine Relativität der Wahrheit: "Alle Wahrheit ist gemäß deren wesenhafter daseinsmäßiger Seins-art relativ auf das Sein des Daseins". 119 Auch er sagt, daß die rechtverstandene Wahrheit nicht im geringsten angetastet wird durch die Tatsache, daß sie ontisch nur im "Subjekt" möglich ist und mit dessen Sein steht und fällt. Nicolai Hartmann hingegen glaubt, daß die menschliche Orientierung in ufer­losen Relativismus versänke, wenn es über der relativ "persönlichen Wahrheit" keine absolute mehr gäbe. Fur ihn gibt es über dieser "persön­lichen Wahrheit" die eine absolute Wahrheit, die für die Einzelperson freilich Idee bleibt, die dennoch aber ihrer Einheit und ihrer Orientierung in der Welt die feste Grundlage bietet 120.

118 Vgl. FRINGS Manfred S., Person und Dasein. Zur Frage der Ontologie des Wertsein (Phaenomenologica Bd. 32), Den Haag, 1969, S. 102-103.

119 HEISDEGGER Martin, Sein und Zeit, 10. Aufl., Tübingen, 1963, S. 227. 120 Vgl. HARTMANN Nicolai, Ethik, 3. Aufl., Berlin, 1949, S. 239.

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Allzuleicht übersehen wird bei der Erläuterung der "Persönlichkeit" der Wahrheit, daß bei Scheler auch hier das Solidaritätsprinzip eine fundamentale Rolle spielt: je vollkommener und absoluter die Gegen­stände der Erkenntnis, desto mehr ist eine möglichst intensive und exten­sive Form des Miteinandererkennens der erkennenden Subjekte Bedin­gung möglicher adäquater Erkenntnis überhaupt. Die ganze Wahrheit über einen Gegenstand ist eben nur erfaßbar durch die Kooperation aller für diese Erkenntnis unersetzlichen und unvertretbaren Person­individuen, letztlich also nur durch die ganze Menschheit 121. Nur die Fülle aller Zeitalter und die Fülle aller Nationen und Völker, in erster Linie aber nur die Fülle aller geistig-individuellen Personen können in solidarischer Kooperation und Ergänzung zur adäquaten Erkenntnis des Gegenstandes (des Wahren und des Guten) führen 122.

Das Person-Wert-Verhältnis weist viele Parallelen zum Person­Wahrheit-Verhältnis auf. Auch hier ist es durchaus möglich, daß be­stimmte sittliche Wertqualitäten sich dem fühlenden Blick nur eines einzigen Individuums auftun, daß ein Individuum allein die volle Evidenz hinsichtlich eines nur auf es hinweisenden und nur durch es zu erfüllenden Wertinhaltes hat. Und auch hier hat die evidente Erfassung einer solchen Wertqualität mit der sogenannten Allgemeingültigkeit oder der notwen­digen Erfaßbarkeit durch alle Anderen nichts zu tun. Und wie wir von einer - richtig zu verstehenden - Subjektivität der Wahrheit gesprochen haben, spricht Scheler auch von einer gewissen "Subjektivität" der Werte. Es ist hier nicht der Ort, die gesamte materiale Wertethik Schelers zusammenfassend wiederzugeben, nur soviel sei hier gesagt: in ihrem Sein sind die Werte für Scheler unabhängig von ihren Trägern, somit auch von der Person. In diesem Sinne - im Sinne des Seins also -darf auf keinen Fall von einer Subjektivität oder Relativität der Werte gesprochen werden. Ebensowenig gibt es eine Relativität der Werte auf den Menschen oder das Leben. Ausschließlich im phänomenologischen

Sinne darf von einer Subjektivität der Werte gesprochen werden: Da zwischen dem Wesen des Gegenstandes und dem Wesen des inten­tionalen Erlebnisses ein Wesenszusammenhang besteht, der an jedem

111 Vgl. Vom Ewigen im Menschen, S. 336-337. 123 Dies gilt z.B. auch für die verschiedenen Philosophiesysteme, die notwendig

verschieden sind: ihre Verschiedenheit gründet nicht im Denken selbst, sondern im jeweils verschiedenen anschauenden und wertenden Verhältnis jedes Philosophen als personalen Geistes zur Welt. Auch die Philosophie kann ihren Gegenstand adäquat erfassen nur, wenn die nebeneinander hergehenden Ströme sich in größtmöglicher Kooperation ergänzen.

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beliebigen Fall eines solchen Erlebnisses erfaßt werden kann, können wir sagen: Zu allen Werten gehört wesensnotwendig eine besondere Art des "Bewußtseins von", durch das sie gegeben sind, und zwar das "Fühlen". Werte müssen ihrem Wesen nach in einem fühlenden Bewußt­sein erscheinbar sein. Nicht ihr Sein, sondern ihre Fühlbarkeit ist subjek­tiv im Hinblick auf die Person. Das subjektive Element der Wertgegeben­heit liegt nicht in den Werten selbst, sondern in der mehr oder weniger fortgeschrittenen Besitznahme unserer geistigen Person, oder mit anderen Worten: in der mehr oder weniger fortgeschrittenen Loslösung von unserer Leib- und Triebgebundenheit (Hier stehen wir am Ver­bindungspunkt der Person-Wert-Lehre und der Person-Freiheit-Lehre Schelers).

Wir sahen schon, daß jeder Mensch in demselben Maße, als er reine Person ist, ein individuelles und darum von jedem anderen unterschiede­nes einmaliges Sein ist. Dies gilt auch in Bezug auf die Werte: Nicht nur in ihrem Sein, sondern auch in ihrem Wert sind alle letzten Träger sitt­licher Werte verschieden und ungleich. Allein schon die Annahme einer ursprünglichen Individualisierung der Person qua Person selbst (also unabhängig von Leib und empirischem Erlebnisgehalt) beinhaltet die Idee material verschiedenwertiger Personen. Ein Mensch ist daher um so sittlich wertvoller, als er Person geworden ist. In demselben Maße, als er reine Person ist, ist er ein individuelles und darum auch von jedem anderen unterschiedenes einmaliges Sein und analog sein Wert ein indivi­dueller einmaliger Wert. Jede Person, unter sonst gleichen organischen, psychischen und äußeren Umständen, ist ethisch verschieden und ver­schiedenwertig. Und auch hier steigert sich die Individualisierung mit der Reinheit der Geistigkeit, oder, negativ ausgedrückt, mit der fort­schreitenden Loslösung von aller Leib- und Triebgebundenheit. Alle Personen sind demnach sittlich um so verschiedenwertiger, je mehr sie Person sind. Und dieses Sich-Aufschwingen zur Person ist wiederum in Liebe fundiert. Wie schon wiederholt gesagt, ist die sittliche Liebe im prägnanten Sinne die Liebe zum Personwert, d.h. die Liebe zur Person als Wirklichkeit durch den Personwert hindurch. Personwerte sind alle diejenigen Werte, die der Person selbst unmittelbar zukommen. Zu den Personwerten gehören die Werte der Person "selbst" und die Tugend­werte. Ihrem Wesen nach sind sie höhere Werte als die Aktwerte und die Sachwerte. Es gibt aber einen noch höheren Wert als den Personwert, und zwar die Wertperson 123, die Scheler als den höchsten Wert bezeich-

128 Bezüglich dieser Fragestellung macht Frings Heidegger den wertethisch bestimmt

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174 DIE PERSON

net 124, und auch hier spielt die Liebe eine wesentliche Rolle. Die Liebe ist nicht etwa der Akt, der sich nach vor seinem Vollzug schon vorhan­denen Werten zu richten hätte, sie geht allem Wählen und Vorziehen voraus; sie ist der Akt, durch den jedes Ding zur Realisierung des ihm immanenten höchstmöglichen und vollkommensten Wertwesens geführt wird. Im Akt der Liebe erscheinen wesensnotwendig mögliche Werte an etwas - in der Richtung des "Höher" -, die ohne diesen Akt (für Vorziehen und Fühlen) nicht erscheinen könnten. In Bezug auf die sitt­liche Liebe im wahrsten Sinne, auf die Liebe der Person zur Person selbst, heißt dies: "In dem höchstwertigen (,geistigen') Actus aber der Liebe von Person zur Person selbst erscheint das ideale Wertwesen der betreffen­den Person: darum auch das, was jede Person (idealiter) realiter sein und darum werden soll" 125. - Da es in dieser Arbeit unmöglich ist, die gesamte Schelersche Wertlehre ausführlich zu behandeln, möchten wir uns auf letzteren Punkt beschränken, da er in engem Zusammenhang mit dem von uns behandelten Thema steht.

Jedes geistige Subjekt hat für Scheler seinen ihm eigenen besonderen Wertgehalt. Auf der Gegenstandsseite umgrenzt und bestimmt die Wertwesenswelt das für die betreffende Person erkennbare Sein. Aber diese Wertewesenswelt ist nichts von Anfang an schon Vorhandenes, der Wertgehalt nichts ein für allemal Erreichtes: die Person muß sich zeit­lebens zu ihrem idealen individuellen Wertwesen hin entwickeln, sie muß versuchen, ihr persönliches Wertwesen zu erreichen 126; und dieser Weg zum individual-persönlichen Wertwesen ist für Scheler notwendig der Weg der Liebe. Wir definierten bereits die individuelle Bestimmung

gerechtfertigten Vorwurf, daß er zwar das Person-sein in Schelers Philosophie treffend charakterisiert, daß er aber mit dem Sein der Person als Wertperson, mit ihrem Wert­sein keine Rechnung getragen hat (FRINGS Manfred S., Person und Dasein, Zur Frage der Ontologie des Wertseins (Phaenomenologica Bd. 32), Den Haag, 1969, S. 3).

124 In diesem Zusammenhang weist Scheler darauf hin, daß Gott nie der höchste Wert sein könnte, wäre er nicht Person.

125 Nachlaß I, S. 234. m "For each man there exists, says Scheler, a specific ideal value-person which

he is called upon to achieve. He is to achieve this by his response to those values which have a special ordering toward hirn, for the values do not exist ,in general' and are not presented to all men in the same way. This does not mean that each man makes his own values, in the subjectivistic sense of ethical relativism. Rather it means for Scheler that in the whole realm of objective values possible of realization by someone, a special ,set' or complexus of values is presented to each Person as the way in which he must achieve the actualization of his specific Person wert". (Owens Th. J., Schelers "emotive" ethics, in Philosophy today, XII (1968),. 1/4, S. 20)

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jedes Menschen als die "an sich zeitlose Wertwesenheit in der Form der Personalität", und wir legten den Nachdruck auf die Tatsache, daß diese Wertwesenheit nichts Subjektives ist, sondern etwas Objektives, das nicht gebildet oder gesetzt, sondern nur erkannt werden kann. Die individuelle Bestimmung, d.h. das zu erreichende individual-persönliche Wertwesen, ist also letztlich Sache der Einsicht in Werte - im Gegensatz zum Schicksal, das ein wertblinder Tatbestand ist. Diese Einsicht ist wesensmäßig von der Liebe getragen : Wie schon im Kapitel über die Liebe aufgezeigt, schaut die Liebe ja wesentlich immer etwas weiter als nur auf das, was sie schon hat und besitzt. Die Bewegung der Liebe ent­faltet - im höchsten Fall der Personliebe - die Person in der ihr eigen­tümlichen Idealitäts- und Vollkommenheitsrichtung.

Es gilt nun zu erklären, was Scheler eigentlich unter diesem Ausdruck "individual-persönliches Wertwesen" versteht. Wesen und Wesenheit haben mit "Allgemeinheit" nichts zu tun; es gibt Wesenheiten, die nur an einem Individuum gegeben sind: eben deshalb darf hier von einem individuellen Wertwesen einer Person gesprochen werden. Alles Erleben eines "Sollen", jedes Verpflichtungserlebnis ist für Scheler gegründet auf die Erfahrung des je-meinigen individualen Wertwesens. Anderer­seits wird Sollen erst sittliches und echtes Sollen, wenn es sich auf die Einsicht in objektive Werte, hier auf die Einsicht in das sittlich Gute gründet. Für jedes Personindividuum besteht die Möglichkeit der evi­denten Einsicht in ein Gutes, in dessen objektivem Wesen und Wertge­halt der Hinweis auf seine individuelle Person liegt, und dessen zu­gehöriges Sollen daher als ein "Ruf" an diese Person und an sie allein ergeht, und hierbei ist es gleichgültig, ob derselbe Ruf auch an andere ergeht oder nicht. Das Bewußtsein des individuellen Sollen gründet demnach im Erblicken des Wesenswertes meiner Person, meines einzigartigen individuellen Wertgehaltes, d.h. mit anderen Worten: dieses Bewußtsein gründet in der evidenten Erkenntnis eines An-sich­Guten, und zwar des "An-sieh-Guten für mich".

"In diesem ,An-sieh-Guten für mich' steckt durchaus kein logischer Widerspruch. Denn nicht etwa ,für' mich (im Sinne meines Erlebens darum) ist es an sich gut. Darin läge allerdings ein evidenter Widerspruch. Sondern es ist gut gerade im Sinne des ,unabhängig von meinem Wissen', denn das schließt ,an sich gut' ein; aber es ist gleichwohl das an-sieh-Gute für ,mich' in dem Sinne, daß in dem besonderen materialen Gehalte

dieses An-sieh-Guten (deskriptiv gesagt) ein erlebter Hinweis liegt auf mich, ein erlebter Fingerzeig, der von diesem Gehalte ausgeht und auf ,mich' deutet; was gleichsam sagt und flüstert: ,für dich'. Und dieser

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Gehalt weist mir damit eine einzigartige Stelle im sittlichen Kosmos an und gebietet mir sekundär auch Handlungen, Taten, Werke, die, stelle ich sie vor, alle rufen: ,Ich bin für dich' und ,Du bist für mich' " 127.

Außer dem allgemeingültigen objektiven Guten gibt es für jede Person im besonderen ein individual-gültiges, aber nicht minder objektives und prinzipiell einsichtiges Gute. Neben dem allgemeingültig An-sich­Guten besteht auch noch ein individualgültig An-sieh-Gutes. Und Scheler geht sogar noch weiter: das allgemeingültig An-sieh-Gute, die für Personen allgemeingültigen Werte stellen in Bezug auf das individual­gültige An-sieh-Gute nur ein Minimum dar, das die Person auf jeden Fall anerkennen und realisieren muß, will sie ihr individual-persön­liches Wertwesen erreichen. Will sie dieses persönliche Wertwesen aber wirklich "erfüllen", muß sie sich über dieses allgemeingültig Gute erheben und das über diesem stehende individualgültig Gute realisieren. Hier steht Scheler im krassen Gegensatz zu Kant, für den die Person erst dann einen positiv sittlichen Wert gewinnt, wenn sie allgemeingültige Werte realisiert resp. einem allgemeingültigen Sittengesetz gehorcht.

Es wird ausdrücklich betont, daß die allgemeingültigen Werte keines­falls vernachlässigt werden dürfen. Sie sind der notwendige Boden, auf dem das Personindividuum sich stützen muß, um sich zu seinem individual-persönlichen Wertwesen erheben zu können. - Diese Lehre findet eine interessante Anwendung im Problem der Gewissensfreiheit: Letztere kann nie ausgespielt werden gegen eine streng objektive und verbindliche Erkenntnis allgemeingültiger und materialer Moralsätze. Erst da, wo die allgemeingültigen Normen eine für das Personindividuum nicht mehr ausreichende Antwort geben können, wo eben ein Plus an sittlicher Einsicht notwendig ist, hat das persönliche Gewissen seinen Wirkungsspielraum. Es fängt also erst da an zu wirken, wo die allge­meingültigen Normen und Sittengesetze aufhören zu wirken.

Bezeichnenderweise spielt auch hier - wie schon angedeutet - das Prinzip von der sittlichen Solidarität aller Personen eine wesentliche Rolle: Die Unterscheidung zwischen allgemeingültig Gutem und indi­vidualgültig Gutem ist keineswegs ein Argument gegen die Objektivität der Werte. Im Gegenteil: "Erst die Zusammenschau und die Durchdrin­gung der allgemeingültigen sittlichen Werte mit den individual gültigen <gibt> die volle Evidenz für das Gute an sich" 128. Das wahrhaft Gute an sich kann also nur zur evidenten Einsicht gebracht werden, wenn

127 Formalismus, S. 482. 128 Ebenda, S. 484.

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dem allgemeingültig Guten-an-sich die Fülle und Mannigfaltigkeit aller individualgültig Guten-an-sich hinzugefügt werden. Nur die Zusammen­schau der zeitlich allgemeingültigen Werte mit den historischen, kon­kret-persönlichen Situationswerten vermag die volle Evidenz hinsicht­lich des An-sieh-Guten zu geben.

7. Die Personerkenntnis im liebegeleiteten Verstehen und im Mitvollzug 129

Wie kann uns nun dieses individual-persönliche Wertwesen einer Person - meiner eigenen oder einer anderen - zur Gegebenheit kom­men? Weder die innere noch die äußere Anschauung vermögen uns Schelers Ansicht nach dieses individuelle Wertwesen zu vermitteln; es ist notwendigerweise nur das durch die Liebe zur Person vermittelte Verstehen, das in Liebe fundierte Verstehen einer Person, durch welches das ideale Wertwesen dieser Person zur Enthüllung kommen kann. Aus dem Gemenge der empirischen Einzelteile heraus, aus der Mannig­faltigkeit der empirischen Handlungen, gegebenenfalls aber auch nur an einer Handlung, einer Ausdrucksgeste vermag die verstehende Liebe den zentralen Springquell der Person, die Linien ihres Wertwesens, ihren ordo amoris also, herauszuschauen und zu enthüllen. Durch Induktion kann dieses Wertwesen niemals erreicht werden: selbst eine ideal vollkommene induktive Erkenntnis aller faktischen Erlebnisse und Handlungen, aller ererbten und erworbenen Anlagen einer Person vermag uns ihr individual-persönliches Wertwesen nicht zu vermitteln. Im Gegenteil: erst durch das liebegeleitete Verstehen ihres Person­kernes werden diese konkreten Erlebnisse, Handlungen und Anlagen überhaupt verständlich. - Und dies gilt sowohl für die Selbsterkenntnis wie für die Erkenntnis der fremden Personen: Echte Selbstliebe ist demnach der Aktus, in dem die Person zum vollen Verstehen ihrer selbst und damit zum Anschauen und Fühlen ihrer ihr eigenen und einzigartigen persönlichen Bestimmung gelangt; echte Fremdliebe der Akt, durch den sich uns die Handlungseinheit aus dem Zentrum der fremden Person heraus, ihre individuelle Bestimmung, ihr ordo amoris enthüllt 130. - Verstehen ist also gleichursprünglich Fremdverstehen

129 Eine vergleichende Studie zwischen Husserl und Scheler zu diesem Problemkreis wäre sicher von großem Interesse, und zwar nicht nur an Hand der Cartesianischen Meditationen, sondern vor allem der vor kurzem erschienenen Bände: HUSSERL Edmund, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Heraus­gegeben von Iso KERN (Husserliana Bd. XIII-XV), Den Haag, 1973.

130 Für die sittliche Beurteilung hat dies zur Folge, daß unsere Handlungen und

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als auch Selbsterkenntnis. Dies heißt selbstverständlich nicht, daß Fremdverstehen nur als eine Abart des Selbstverstehens anzusehen sei: hierin liegt eine vollkommen evidente Fälschung des Phänomens "Liebe". Der tiefste Sinn der Liebe ist eben nicht, den Anderen so zu nehmen, als ob er mit der eigenen Person identisch wäre, als ob Fremdliebe nur ein zufälliger psychogenetisch erklärbarer Unterfall des Wesens Selbst­liebe sei - wie es in der idiopathischen Einsfühlung der Fall ist: "Zur Liebe gehört gerade jenes verstehende ,Eingehen' auf die andere, von dem eingehenden ,Ich' soseinsverschiedene Individualität als auf eine andere und verschiedene, und eine trotzdem emotionale restlos warme Bejahung ,ihrer' Realität und ,ihres' Soseins" 131. Von Einsfühlung und von Einssein kann bei der echten Personliebe also keine Rede sein, wahre Intentionalität - ihr Hingerichtetsein auf die andere Person als eine von ihr wesentlich verschiedene Individualität - ist ein ihr funda­mental zugehöriger Wesenszug.

Wir haben schon ausführlich darauf hingewiesen, daß die geistige Person qua Person überhaupt nicht objizierbares Sein ist. Sowohl die fremde wie die eigene Person sind als Personen nicht gegenstandsfähig. Da Wissen immer und wesentlich Teilhabe am Sosein des zu erkennenden Gegenstandes ist, d.h. da Wissen Seinsteilnahme an einem gegenstands­fähigen Sein ist, muß in der Personerkenntnis - da hier das Korrelat gegenstandsunfähig ist - etwas Anderes an die Stelle des Wissens treten. "Person ist die unerkannte und im ,Wissen' nie gebbare individuell erlebte Einheitssubstanz aller Akte, die ein Wesen vollzieht" 132. Nur dadurch können wir "wissenden" Anteil an der Person gewinnen, daß wir ihre freien Akte nach- und mitvollziehen durch das nur durch die Haltung der geistigen Liebe mögliche Verstehen 133. Die Person und ihre Noesis (ihr Geist) ist ihrem Sosein und ihren Aktkorrelaten nach nur verstehbar. Die Person ist genau wie der Akt dem Dasein nach nur durch Mit-vollzug (Mit-denken, Mit-wollen, Mit-fühlen usw.) einer Seins-teilnahme fähiges Sein. Sie kann mir nur gegeben sein, wenn ich ihre Akte "mitvollziehe", erkenntnismäßig im Verstehen und Nach-

die Handlungen fremder Personen nie an allgemeingültigen Normen, sondern nur an diesem uns im liebevollen Verstehen gegebenen konkreten Wertidealbild meiner oder der fremden Person gemessen werden dürfen. Nicht an Sittengesetzen allge­meiner Art, sondern nur an den idealen Intentionen der Person selbst sich die empiri­schen Handlungen ethisch zu messen.

131 Sympathie, S. 81. 132 Ebenda, S. 168.

133 VgI. Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 48.

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leben, sittlich in der Gefolgschaft. Hier müßte nun die ganze Vorbild­und Führer-Lehre Schelers erläutert werden: wir lieben, was das Vorbild liebt, sehen dabei aber hin auf das, was uns in diesem Mitlieben an objektiven Werten gegeben ist. Da in dieser Arbeit nicht auf alle Aspekte der Schelerschen Ethik ausführlich eingegangen werden kann, beschrän­ken wir uns an dieser Stelle auf den erkenntnismäßigen Aspekt der Inter­subjektivität.

Dieser erkenntnismäßige Aspekt umfaßt also zwei Facetten : ihrem Sosein nach ist die Person ausschließlich im Verstehen zugänglich, ihrem Dasein nach nur im Mitvollzug. So bezeichnet Scheler das Ver­hältnis des intentionalen Miteinandererlebens derselben Gegenstände, Werte usw. und das Verhältnis des Verstehens als das "natürliche Grund­verhältnis zwischen geistigen Subjekten" 134. Nur so kann die Person im Anderen erkannt werden, d.h. nur so kann ich an ihr Teilnahme finden. Verstehen und Mitvollzug haben nichts zu tun mit Schluß, mit Einlegung eigener Gefühlszustände in den fremden Körpergestus, mit unwillkür­licher Nachahmung des Gestus oder mit psychischer Ansteckung. Im Verstehen nehme ich in ihren "leiblichen" Ausdruckserscheinungen und ihrer besonderen Artung den Gehalt des Erlebens dieser Person und dieses Erleben selbst wahrhaft wahr. Ihr Körper ist für mich in dieser Wahrnehmung derjenige Teil der universellen Körper, an dem sich mir die Ausdruckserscheinungen auf die unmittelbarste Weise abspielen, in und durch die hindurch das Erleben dieser Person mir zur Gegeben­heit kommt. Die persönliche Existenz der Person - der Person qua Person - ist mir also nicht gegeben vermittels des erlebenden Hindurch­schreitens durch die Setzung ihres Körpers. "Daß die Existenz fremder Personen und das ,Verstehen' ihres Erlebens nicht irgendwie aus ihrem körperlichen Dasein und des Körpers Beschaffenheit ,erschlossen' wird oder durch ,Einsfühlung' zur Kenntnis kommt, sondern so unmittelbar gegeben ist wie das Dasein einer Körperwelt selbst" 135. - Wohl kann die Person, d.h. ihre noetischen Akte und deren Aktsinn einem Anderen im rein geistigen Sinnverstehen nur zur Gegebenheit kommen, wenn die dem eigenen Vitalich gleiche Realhaltung des anderen Vitalich, resp. seines Substrates, d.h. der Vitalseele der Gattung Mensch als der ontisch die noetischen Akte in ihrem Stattfinden real bedingende Unter­bau der geistigen Person, durch Mitgefühl bereits vollzogen ist und die auf es aufgebaute spontane Menschenliebe in immer weitere Schichten

134 Vom Ewigen im Menschen, S. 153. 135 Nachlaß I, S. 64.

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vordringt - bis zu dem Punkte gleichsam, wo das Personsein im Men­schen beginnt 136.

Der Fremdpersonerkenntnis muß also keineswegs ein Wissen um den Körper der fremden Person vorausgehen: Zeichen und Spuren ihrer geistigen Tätigkeit oder die fühlbare Einheit eines willentlichen Wirkens ergeben schon die Annahme der Existenz des Anderen. Die grundlegende Einstellung für alles Verstehen fremder Menschen besteht darin, daß uns alle physischen Phänomene, die uns i~ der objektivieren­den und gegenständlichen Naturbetrachtung als Symbole für feste Dinge und schließlich für materielle Körper und Bewegungen solcher gegeben sind, in der Personerkenntnis als Ausdruckssymbole dieser Person entspringender geistiger Aktintentionen gegeben sind. So sind die Erhebung der Hand, ein Augenausdruck für uns das Ausdrucks/eId für die Intentionen dieses Menschen, sie sind Ausdruckssymbole der Individualität des Anderen. Verstehen heißt also, das uns am Anderen in der Anschauung seiner Intentionen Gegebene von innen her zur Einheit bringen. Das Verstehen ist eine Haltung, die aus dem Sinnzusam­menhang der gegebenen Handlungen, Äußerungen unmittelbar die Ganzheiten von Erlebnissen erfaßt, deren Teile sie sind. Es erfolgt nach der Idee und Methode einer "Person", die ihrem Wesen nach als dieselbe und in allen Äußerungen tätig ist, wie immer diese zeitlich und räumlich liegen, durch welche Naturmechanismen physischer und körperlich­leiblicher Art sie sich auch vollziehen mögen.

Für das Verstehen ist wesentlich, daß wir aus einem in der Anschauung mitgegebenen geistigen Zentrum des Anderen heraus seine Akte gegen­über uns und der Umwelt ohne weiteres als intentional auf etwas gerichtet erleben und nachvollziehen, d.h. seine ausgesprochenen Sätze, resp. die ihnen entsprechenden Urteile "nachurteilen", seine Gefühle "nach­fühlen", seine Willensakte "nachleben" - und all dem ohne weiteres die Einheit irgendeines Sinnes unterlegen. Dieser Sinn kann als Gesamt­sinn oder als Sinnzusammenhang bezeichnet werden, der in allem Ver­stehen der intuitive, fortwährend gegebene Hintergrund der einzelnen Verständnisakte ist. Verstehen steht also am entgegengesetzten Pol von "Erklären", Sinnzusammenhang ist total verschieden von Kausal­zusammenhang. Dem Verständnis der einzelnen Handlungen der fremden Person geht das Verstehen der Handlungseinheit aus dem Zentrum ihrer Person heraus notwendig vorher. Die Fremdpersonerkenntnis vollzieht sich also nicht durch Induktionen ihrer einzelnen zeitlichen Zustände

136 Vgl. Sympathie, S. 109.

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oder durch Synthetisierung der einzelnen Bestandteile dieser Stufe, die fremde Person ist uns der Intention nach immer zuerst ein konkretes Ganzes. Dieses konkrete Ganze ist originär Dasein und Wertsein, und erst hierauf baut sich ihr Sosein auf. Obzwar das Dasein der Person in der ontischen Ordnung notwendig ihrem Wert vorhergeht, mit ihrem Sosein (als Individuum) in dieser Ordnung aber gleichursprünglich ist, geht in der Ordnung für uns (7TpOS ~""iis, in Bezug auf die Fremdpersoner­kenntnis also) die Wertgegebenheit der Person zwar nicht ihrer Daseins­gegebenheit, wohl aber ihrer Soseinsgegebenheit vorher. Die Soseins­setzung ist zunächst nur hypothetischer Natur: diese Hypothese über den Wesenscharakter der Person muß sich an der Beobachtung ihrer zeitlichen Zustände ihrem Inhalt nach "bewähren". Und dieser Inhalt wird mit der fortschreitenden Erkenntnis immer individueller, immer unsagbarer ("individuum est ineffabile"); das identische wesenhafte Sosein der Person enthüllt sich also für uns im Laufe inrer zeitlichen Zustände, Handlungen und Äußerungen.

Verstehen ist demzufolge "ebensowohl als Akt-, wie als objektives Sinnverstehen die von allem Wahrnehmen verschiedene und keineswegs auf Wahrnehmen fundierte Grundart der Teilnahme eines Seins vom Wesen des Geistes am Sosein eines anderen Geistes - so wie Selbstiden­tifizierung und Mitvollzug die Grundart der Teilnahme an seinem Dasein ist" 137. Verstehen ist also in Schelers Augen eine mindestens ebenso ursprüngliche originäre Quelle von Tatsachen und Anschauungsgegeben­heiten wie "Wahrnehmen" (also auch "innerliches" Wahrnehmen) -das seinerseits in der Ursprungsordnung der Akte Voraussetzung ist für alle innere und Selbst-Beobachtung. Das Verstehen nimmt innerhalb der Welt der Erkenntnis eine privilegierte Stelle ein, sodaß - wären wir des Verstehens unfähig - uns unsere eigene Person und die Fremdperson wesentlich und notwendig verschlossen blieben. - Zwischen Wissen und Verstehen muß demnach eine wesentliche Unterscheidung gemacht werden, eben die von Vergegenständlichung und von Teilnahme an gegenstandsunfähigem Seienden. Während Wissen nur auf Beharrendes, Stehendes oder zum Stehen Gebrachtes (wie die psychologischen Gege­benheiten) zielt, steht auf der "Gegenstandsseite", auf der noematischen Seite des liebegeleiteten Verstehens, das reine Aktussein der Person, das in sich selbst nie zum Stehen gebracht werden kann. Ihrem Dasein nach kann die Aktsubstanz als Akteinheit nur durch Mit- bzw. Nachvollzug

137 Sympathie, S. 220.

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"erkannt" werden; in Bezug auf das Sosein der Person zielt die Erkennt­nis auf das Beharrende in der Person, auf die "Substanz" der Aktsub­stanz, auf ihren ordo amoris. Wäre die Person ausschließlich Aktussein, könnte man an ihrem Sosein nie wissenden Anteil, auch nicht im Ver­stehen, haben. Das Verstehen geht also einerseits aus von den noch gegenstandsfähigen Tatsachen, Handlungen und Äußerungen der frem­den Person, bezieht sich aber wesentlich auf das nicht-gegenstands­fähige Sein der Person - auf die Person qua Person, letztlich auf ihren ordo amoris, der eben das Beharrende in der Person ausmacht. Ordo amoris kann hier, wie schon in einem vorherigen Teilkapitel ausgeführt wurde, mit Grund-Intention, mit Intentionskonstante gleichgesetzt werden, die all den konkreten Handlungen und Äußerungen als Aus­gangspunkt zugrundeliegt.

An der fremden und an der eigenen Person kann mir dementsprechend noch gegenständlich gegeben sein der Körper, die Leibeinheit und das Ich mit der zu ihm zugehörigen (vitalen) Seele. Auch alle Werte, die an Körper, Leib und Seele haften, können mir noch gegenständlich gegeben sein, selbst im Liebesakt zu diesen Wertträgern. Niemals aber können mir die reinen Personwerte, und a fortiori die Wertperson, in der Art eines Gegenstandes gegeben sein. Die eigentliche Wertperson kann uns nur im Mitvollzug ihres eigenen Liebesaktes zur Gegebenheit kommen. Das, was an einem Menschen Person ist, ist eben gegenstandsunfähiges, nichtobjizierbares Sein, und dies, obgleich Liebe als persönlichstes Verhalten ein dennoch durchaus objektives Verhalten ist. Wie alle ande­ren echten Personakte kann auch das liebegeleitete Verstehen die Person nie vergegenständlichen.

Es wurde schon kurz angedeutet, daß, je tiefer wir durch die von Per­sonliebe geleitete und getragene verstehende Erkenntnis in einen Men­schen eindringen, dieser Mensch für uns immer unverwechselbarer, individueller, einzigartiger, unvertretbarer und unersetzbarer wird. Sind nun diesem liebe geleiteten Verstehen eigentlich keine Grenzen gesetzt? Mit anderen Worten: können wir dank dieser verstehenden Liebe die Person voll und ganz "enthüllen", kann uns der letzte indivi­duelle Personkern in voller Klarheit zur Gegebenheit kommen? Oder sind auch diesem Verstehen Grenzen gesetzt, die nicht überschritten wer­den können, die der vollkommenen Personenthüllung einen Riegel vorschieben?

Eine erste Grenze bezüglich der Personerkenntnis betrifft ausschließ­lich das Fremdverstehen und ist variabel von Person zu Person. Wenn Scheler sagt, daß Person und Geist ein Seiendes darstellen, das seinem

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Wesen nach allem "spontanen Erkennen transintelligibel" 138 ist, heißt das, daß die Fremdpersonerkenntnis - in scharfem Gegensatz zur Erkenntnis des toten Seins und alles Vitalen - dem freien Entschluß dieser Fremdperson unterworfen ist, ihrem freien Ermessen, sich kund­zutun oder nicht, sich vernehmbar zu machen und sich erkennen zu geben oder nicht. Nur die Person als geistiges Wesen kann schweigen. Und dieses Schweigen ist ein aktives Verhalten, durch das die Person ihr Sosein allem spontanen Erkennen in beliebigem Maße selbst verbergen kann. Jede mögliche Personerkenntnis eines A gegenüber einem B im Verstehen setzt nicht nur das Verstehenwollen und Verstehenkönnen von seiten des A, sondern ebensowohl das spontane Sicherschließen oder doch Sichverstehenlassen von seiten des B voraus. Eine Person kann sich sowohl verschließen als erschließen. Sie kann "schweigen". - Eine Person wird erkannt nur, indem sie sich erkennen läßt, indem sie sich kundgibt. Es liegt in ihrem freien Ermessen, sich mir erkennen zu geben oder nicht.

Es gilt hier freilich eine Restriktion zu machen: Schweigen kann die Person nur in Bezug auf den Gehalt des "Gegenstandes" Person, auf ihr Sosein also. Ihr Dasein kann sie niemals freiwillig verbergen, und dies aus dem wesentlichen Grund, daß wir nicht nur geistige Person sind, sondern auch eine Person, deren Akte, ja deren stetiger Selbst­vollzug ihres Daseins sich in Akten tätigt, die an Organe und Lebens­vorgänge eines Leibes wesentlich gebunden sind. Deshalb vermögen wir unser bloßes Dasein als Person nicht zu verschweigen. Schweigen vermag der Mensch nur über das, was er als Person denkt, liebt, urteilt; nicht vermag er sein personales Dasein selbst zu verbergen.

Bei der zweiten Grenze der Personerkenntnis handelt es sich um eine absolute Grenze, die sowohl die Fremdpersonerkenntnis wie auch das Selbstverstehen betrifft. Scheler unterscheidet innerhalb jeder Person eine Intimsphäre und eine Sozialsphäre. Als intime Person definiert er dasjenige, was jeder Person in der Wesensform möglichen Selbster­lebens als Erlebens ihres eigentümlichen Selbstseins zur Gegebenheit kommt, während die soziale Person das Subjekt ist aller Formen des Selbsterlebens, die im Hinblick auf das bloße Trägersein irgendeiner Gliedpersonschaft überhaupt erfolgen. Die Unterscheidung zwischen einer Intimsphäre und einer Sozialsphäre in der Person ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß nur die ungeteilte konkrete Person als Träger der eigentlich sittlichen Akte angesehen werden darf. Beides sind nur

138 Sympathie. S. 220.

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Seiten und Ansichten der ungeteilten Ganzheit der Person. Die intime Person ist die Person, wie sie sich und sich selbst ausschließlich erlebt, die soziale Person dieselbe Person, sofern sie sich als Subjekt irgend­welcher sozialer Akte erlebt. Man kann also sagen, daß die intime Person als Person nur der geistige Kern in der intimen Seite der Schichtungs­einheit des sinnlich-vitalen-geistigen Wesens ist, das der Mensch darstellt.

Innerhalb der Intimsphäre der Person können wir eine weitere Unter­scheidung vollziehen zwischen relativ intimen Seinssphären und der absolut intimen Seinssphäre jedes Einzelnen als Person, und diese absolut intime Person ist Schelers Ansicht nach aller möglichen Fremderkenntnis und Fremdwertung, ja selbst allem möglichen Selbstverstehen ewig transzendent: hier liegt eine absolute Grenze, die wesensmäßig nicht überschritten werden kann. Die letzten Tiefen der Person, die absolute Intimsphäre der eigenen wie der fremden Person können uns nicht gege­ben sein, weder in Erkenntnisakten noch im liebegeleiteten Verstehen. Es gehört für Scheler zu den phänomenologischen evidenten Gegeben­heiten, daß jede endliche Person eine absolut intime Sphäre hat, daß der Inhalt dieser Sphäre allem möglichen Erkennen ewig transzendent ist, und es ist ebenso evident, daß als ursprünglicher Träger der sitt­lichen Werte "gut" und "böse" nur die einheitliche ganze konkrete Person in Frage kommt 139. - Diese Gegebenheiten haben für die sitt­liche Beurteilung anderer Personen eine bedeutsame Folge: da wir den Anderen wesentlich nie vollkommen und ganz erschauen oder verstehen können, da wir wissen, daß wir die fremde Person niemals adäquat, in ihrem tiefsten und eigentümlichen Wesen erfassen können, darf das Richten über sittlichen Fremdwert und -unwert nie endgültig sein: Zurückhaltung bei der Beurteilung des Anderen muß als Pflicht gelten.

Der Fortschreitungsprozeß der Personerkenntnis kann also wie folgt beschrieben werden: je tiefer wir in einen Menschen eindringen, desto mehr fallen die verschiedenartigen "Hüllen", die da sind und heißen: das stets mehr oder weniger allgemeine soziale "Ich" des Menschen, die allgemeine Gebundenheit an gleichartige Triebe, Lebensbedürfnisse, Leidenschaften; die Idole der Sprache, die uns die individuellen Nuancen der Erlebnisse verbergen, indem sie dieselben Worte und Zeichen für sie anwenden lassen. Dasselbe gilt für die durch echte Selbstliebe - die bei Scheler denselben Status genießt wie die echte Fremdliebe, von Egois­mus selbstverständlich wesensverschieden ist - geleitete Selbsterkennt­nis. Das heißt, ein Mensch ist umso mehr Individuum, je mehr er intime

139 Vgl. Formalismus, S. 557.

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PERSONERKENNTNIS 185

Person ist, je mehr er zugleich schweigendes Erleben ist; je mehr er ferner auf sein leibfreies Sein reduziert wird 140. - In diesem liebegeleiteten fortschreitenden Eindringen in die Person stößt der Erkennende auf eine Grenze, die Scheler auch als die Tatsache der unaufhebbaren "Doppeltranszendenz" der Person bezeichnet: einerseits die Transzen­denz der Wesensindividualität der anderen Person, ihre qualitative Verschiedenheit als Individualität, andererseits die Transzendenz der absolut intimen Person des Anderen, von der wir apriori auch bei maxi­maler "Nähe" des Anderen ebensowohl wissen, daß sie wesensnotwendig da ist, als daß sie allem möglichen Miterleben absolut verschlossen bleibt. - Und dieses Grenzbewußtsein der absolut intimen Person, diese Gewißheit bezüglich der Unerkennbarkeit der intimen Person, geht uns erst auf und geht uns ausschließlich auf in der tiefsten und voll­kommensten Liebe. In ihrer Bewegung entdeckt die Liebe überhaupt erst das absolut intime Selbst des Anderen und der eigenen Person als ewige Grenze. Erkenntnismäßig spielt die Liebe hier eine doppelte Rolle: die spontane Liebe im Falle ihrer reinsten Geistigkeit, d.h. bei größtmöglichem Abbau aller Leib- und Triebgebundenheit, vermag einerseits aus sich heraus die Verständnisgrenze bis zur absolut intimen Person vorzuschieben, vermag diese Grenze in die Richtung der absolut intimen Personsphäre hinaufzuschieben. Andererseits entdeckt sie in ihrer Bewegung, eben in dieser immer weiter vordringenden Annäherung an das absolut intime Selbst, letzteres überhaupt erst als Grenze; erst in der Bewegung der Liebe kommt uns die letzte Unerkennbarkeit der Person zur Gegebenheit. "So ist das absolute Individuum wie die absolut intime Person im Menschen im Sinne des Verstehens wesensmäßig transintelligibel (nicht also nur ,arational' und ,ineffabile'). Nur das evidente Wissen um den Bestand des absoluten Individuums X und der Sphäre der absolut intimen Person Y besteht noch im Erlebnis selbst, ohne daß dieses X und Y je mit letztem Verständnisgehalt ausgefüllt werden kann" 141.

Das intime Sein der Person liegt für Scheler, wie diese Ausführungen gezeigt haben, jenseits der Grenzen möglicher Erkenntnis. Das eigent­liche Sein der Person als Aktsubstanz ist unmittelbar weder verstehbar noch erkennbar. Der echten Selbsterkenntnis sowie dem echten Fremd­personverstehen ist mit der Intimsphäre eine absolute Grenze gesetzt. Hier wäre nun der Ort, sich die Frage zu stellen, wo denn überhaupt genau

140 Vgl. Sympathie, S. 130. 141 Ebenda, S. 77-78.

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diese Grenze liegt, bis wo ich im liebegeleiteten Verstehen diese Grenze hinaufschieben kann. Diese Fragestellung betreffend wird Scheler mit Recht der Vorwurf gemacht, keine genauen Angaben gemacht zu haben darüber, wo die Grenzen der TransinteIIigibiIität, der absoluten Uner­kennbarkeit der Person zu situieren sind. Er führt nicht näher aus, inwieweit ich den Gehalt der Person noch verstehen kann und was genau mir notwendig verschlossen bleibt 142. Man könnte zwar in Schelers Sicht antworten, daß - von der Definition der Person als "Aktsubstanz" ausgehend - das, was an einern Menschen "Substanz" ist, noch erkenn­bar und verstehbar ist, während das Aktuale uns notwendig transintelli­gibel bleibt. Mit dieser Aussage bleibt das Problem aber in seinem vollen Umfang bestehen.

8. Die Person als Gottsucher

Bisher war der Mensch vor allem unter dem Gesichtspunkt seines Wesens begriffes dargestellt worden: als Ding, das sich selbst und sein Leben und alles Leben tranzendiert. Dieser Gesichtspunkt genügte, um das Verhältnis von Person zu Wahrheit, zu Freiheit usw. zu erläutern. Wir blieben der Schelerschen Personlehre aber ungerecht, wenn wir es bei diesem Gesichtspunkt belassen würden. Denn eine andere Definition des Menschen lautet: "Ein Ding, das anfängt, über sich hinauszugehen und Gott zu suchen - das ist ja eben dann ,Mensch' " 143. In Schelers Augen muß der Mensch also verstanden werden einerseits als Träger einer Tendenz, welche alle möglichen Lebenswerte transzendiert, ander­erseits aber vorn terminus ad quem dieser Tendenz, von ihrer Richtung her, und zwar von ihrer Richtung auf das "Göttliche" : der Mensch ist der Gottsucher; erst in der Richtung auf Gott, in der Entscheidung für Gott als Träger des Wertes des Heiligen wird das Subjekt zum Men­schen.

Für Scheler darf der Mensch notwendig nur verstanden werden als Zwischenglied zwischen der Lebenssphäre und der Sphäre des Gött­lichen: einerseits als "Person", d.h. als Durchbruchspunkt einer allem sonstigen Natur-Dasein überlegenen Sinn-, Wert- und Wirkform, andererseits als Tendenz auf das Göttliche. Um den Wesensunterschied

142 VgI. u.a. WEYMANN WEYHE Walter, Das Problem der Personeinheit in der ersten Periode der Philosophie Max Schelers, Ernsdetten, 1940 (Münster, Phi!. und naturw. Diss.), S. 33-34.

143 Vom Umsturz der Werte, S. 189.

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DIE PERSON ALS GOTTSUCHER 187

vom homo faber zum homo selbst überwinden zu können, muß der Mensch Gottsucher werden, muß die Gottbegier alles Sein und allen Geist allgewaltig zur Reveille trommeln, muß also der Mensch müde sein, bloß Mensch zu sein.

Und Scheler stellt sogar die Behauptung auf, daß es in denselben disponierenden Akten äußerster Sammlung der geistigen Person als solcher zu sich selbst ist, wo die Person einerseits ihr konkretes Akt­zentrum als frei, als selbständig, als wesens- und daseinsunabhängig vom seelischen Vitalzentrum unmittelbar selber hat und erlebt, wo ande­rerseits der unmittelbare Erfahrungskontakt mit der Gottheit als Person stattfindet. Es sind also dieselben Akte, durch welche die Person sich selbst und alles Leben transzendiert, und die das unteilbare und unzerreiß­bare Einheitserlebnis mit der Gottheit darstellen 144. - In der Gottesliebe erhebt sich im Menschen die Person "immer reiner aus den trüben Vermengungen mit dem ihre Einheit in eine zeitliche Vorgangsreihe zersetzenden sinnlich-triebhaften Bewußtsein und aus allen Abhängig­keiten der Natur- und Gesellschaftsgebundenheit, die sie in den Gang der Gesetzmäßigkeiten bloßer Sachen hineinreißen wollen, heraus - und festigt sich und ,heiligt' sich. Die Person gewinnt sich, indem sie sich in Gott verliert" 145.

Wird der Mensch von Scheler als Tendenz, als Richtung auf das Göttliche definiert, so heißt "Göttlich" hier jedoch nicht die Idee Gottes im Sinne einer existierenden positiv bestimmten Realität (z.B. die christ­liche Gottesidee, die antike, die buddhistische Gottesidee), die vorausge­setzt werden müßte, um das Wesen des Menschen erschauen zu wollen, es handelt sich hier vielmehr nur um die Qualität des Göttlichen oder die Qualität des Heiligen, in einer unendlichen Seinsfülle gegeben. Diese Idee selbst ist abermals keine empirische Abstraktion an den verschie­denen positiven vorgestellten Götterdingen, die in der verschiedenen positiven Religionen Gegenstand einer Verehrung und eines Kultus wurden, sondern sie ist die letzte und zwar die oberste Wertqualität in der Schelerschen Rangordnung der Werte, die ursprünglich leitend ist auch für die Ausbildung aller positiven Vorstellungen, Ideen und Be­griffe, die der Mensch von Gott haben kann. Es muß mit Nachdruck hervorgehoben werden, daß es sich bei dem hier Vermeinten nur um das als Göttlich Intendierte und nicht um dessen positiven Gehalt handelt. Nachdruck besonders deshalb, weil in der Entwicklung der Schelerschen

144 Vgl. Vom Ewigen im Menschen, S. 23. 145 Schriften, S. 90.

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Philosophie eben dieser positive Gehalt eine Wandlung durchgemacht hat. Und da diese Wandlung sich auf den positiven Gehalt beschränkt, kann auch in Schelers Spätphilosophie der Mensch weiterhin als Gott­sucher definiert werden, ohne daß ihm der Vorwurf der Widersprüch­lichkeit gemacht werden könnte: Gottsucher heißt eben nur die Intention auf die Qualität des Göttlichen. - Beifügend muß noch gesagt werden, daß diese Wertqualität, soll sie die oberste sein, nur in Verbindung mit einer Person gesehen werden darf : das Göttliche ist wesenhaft an eine Person gebunden.

Auf die Frage, welcher Art das Sein der Person ist, wenn über dem Vitalbereich ein von ihm verschiedenes personales Reich angenommen wird, gibt Scheler demzufolge die Antwort, daß die Person ihr Sein in der Teilnahme an Gott gewint. Diese Teilnahme muß so verstanden werden, daß ein echter Teil des Wesens Gottes die endliche Person konstituiert; es besteht somit für Scheler partielle Identität des menschlichen und des unendlich reicheren göttlichen Wesens. Die personale Welt wird als eine eigene Stufe des Seins angenommen, die zwischen der Seins weise von Welt und der Seinsweise Gottes besteht, die der letzteren aber wegen ihrer partiellen Identität sehr viel näher steht. Hierbei darf das Sein der Person nicht als realidentisch mit dem Sein Gottes gedacht werden; in diesem Falle wären wir mitten in einer pantheistischen Philosophie. Die partielle Übereinstimmung besteht zwischen dem Wesen des Akt­zentrums und dem Wesen Gottes. Da im Hinblick auf die Person Wesen und Akt fundamental zusammengehören, ist nicht nur das Wesen des Menschen, sondern auch das Aktzentrum, d.h. die Person, mit Gott vereinigt.

Die partielle Identität muß verstanden werden auf dem Modus der Teilnahme des Aktzentrums, welches die Person im Menschen ausmacht, am Wesen Gottes. Dabei behält die geistige Person zum mindesten stets die "intentionale Daseinsdistanz" zu Gott; es handelt sich bei der partiel­len Übereinstimmung also nur um eine inadäquate Soseinseinigung, um eine "unio mystica": "Mit unserer ,unio mystica' des Wesens der geistigen Person im Menschen und ,desselben' Wesens in Gott als der Idee dieser Geistseele ist gleichwohl keinerlei Pantheismus gesetzt und gelehrt. Denn nicht eine unio mystica im Sinne einer Realverschmel­zung oder einer nachträglichen Erkenntnis, die endliche Person sei reali­ter nur ein Modus resp. eine Funktion des göttlichen Geistes, ist ja damit ausgesagt, sondern nur eine mögliche Identitätserfassung des So-seins der Geistseele und ihrer Idee in Gott. Auch ist damit nicht ausgesagt eine Wesensidentität des Menschen mit Gott, sondern nur eine Wesens-

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Dm PERSON ALS GOTTSUCHER 189

identität der Geistseele mit dem Wesen Gottes, sofern und soweit (unter unendlich vielen Ideen Gottes) das Wesen dieser geschaffenen Welt in seinem Ideenreich vorgebildet ist. Von diesem Wesen ist aller­dings auch das Wesen jeder endlichen Geistesperson ein echter Teil" 146.

Diese Teilnahme des Wesens der geistigen Person am göttlichen Wesen darf ihrerseits nur verstanden werden mit Bezug auf den Akt der Liebe: So ist Gottesliebe in ihrer obersten Ausprägung nicht die Liebe "zu Gott", sondern der Mitvollzug seiner Liebe zur Welt - amare mundum in Deo - und zu sich selbst - amare Deum in Deo. Teilnahme am Wesen Gottes ist der Person nur möglich durch Mitlieben mit der Liebe Gottes. Gottesliebe als Liebe zu Gott als dem höchsten Gute ist wesensnotwendig Mit- und Nachvollzug des unendlichen Liebesaktes Gottes zu sich selbst und zu seinen Geschöpfen; das geistige Personzen­trum muß "in Gott" lieben, d.h. sich aktiv hineinstellen in den Kern der göttlichen Allperson und alle Dinge und Menschen mit der Liebe Gottes mitlieben. Die Liebe zu Gott ist immer zugleich ein Mitlieben der Menschen mit Gott; und einzig auf diese Art vollzieht sich in Schelers Augen die partielle Identität des Wesens der geistigen Person mit dem Wesen Gottes.

Wie schon angedeutet, mußte der Umschwung seiner religionsphilo­sophischen Ansichten keinen Einfluß haben auf die Auffassung des Menschen als "Tendenz auf das Göttliche", da es sich nur um einen Wandel des positiven Gehaltes des "Göttlichen" und nicht um die Qualität des Göttlichen selbst handelt. Wohl ändert sich mit den reli­gionsphilosophischen Ansichten die Auffassung der "partiellen Iden­tität"; Scheler spricht in seiner Spätphilosophie von einer ,,funktionellen" Identität. Gott als der oberste Urgrund aller Dinge wird in seiner panen­theistischen Schaffensperiode aufgefaßt einerseits als zielgerichtete Kraft, Trieb, Drang, die aller toten und lebendigen Natur und auch dem Menschen als Natur- und Lebewesen zugrunde liegen, andererseits als Geist, Vernunft, alliebendes, allschauendes und alldenkendes Licht­eine Dualität, auf die wir noch zurückkommen werden. Der Mensch seinerseits kann ebenso aufgefaßt werden als Vitalwesen oder als Geist­wesen. Als geistige Person ist er ein nicht-substantielles Ding, nicht-gegen­standsfähiges Sein; als Person, zu der er sich sammeln muß, ist er ein monarchisch angeordnetes Gefüge von geistigen Akten, das je eine ein­malige individuelle Selbstkonzentration des einen und seI ben unendlichen Geistes darstellt, in dem auch die Wesensstruktur der objektiven Welt

141 Sympathie, S. 135-136.

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wurzelt. Seinem Dasein nach ist das Geistige im Menschen eine Selbst­konzentration des einen göttlichen Geistes, als eines der uns erkennbaren Attribute des Weltgrundes. "Der Mensch ist also nicht Nachbildner einer an sich bestehenden oder schon vor der Schöpfung in Gott fertig vorhandenen ,Ideenwelt' oder ,Vorsehung', sondern er ist Mitbildner, Mitstifter und Mitvollzieher einer im Weltprozeß und mit ihm selbst werdenden ideellen Werdefolge. Der Mensch ist der einzige Ort, in dem und durch den das Urseiende sich nicht nur selbst erfaßt und erkennt, sondern er ist auch das Seiende, in dessen freier Entscheidung Gott sein bloßes Wesen zu verwirklichen und zu heiligen vermag .... In seinem Menschsein, das ein Sein der Entscheidung ist, trägt der Mensch die höhere Würde eines Mitstreiters, ja Mitwirkers Gottes, der die Fahne der Gottheit, die Fahne der erst mit dem Weltprozeß sich verwirklichen­den ,Deitas', allen Dingen vorzutragen hat im Wettersturm der Welt" 147.

Gleichursprünglich mit der Verwurzelung seiner geistigen Person im göttlichen Geist wurzelt der Mensch aber auch als Trieb- und Lebewesen - im analogen Sinne - im gotthaften Drange der "Natur" in Gott. Diese Einheit der Verwurzelung aller Menschen, ja alles Lebendigen im gotthaften Drange ist für uns erfahrbar in den großen Bewegungen der Sympathie, der Liebe und allen Formen der kosmischen Einsfüh­lung. Scheler nennt dies den "dionysischen" Weg zu Gott, eine Teilnahme, die von der partiellen Identität durch das Mitlieben seiner "christlichen" Schaffenszeit doch sehr verschieden ist. Die menschliche Geschichte ist nun nicht mehr ein bloßes Schauspiel für einen ewig vollkommenen göttlichen Beobachter und Richter, sondern sie ist hineingeflochten und verwoben in das Werden der Gottheit selbst.

Als Vitalwesen ist der Mensch zweifellos eine Sackgasse der Natur, ihr Ende und ihre höchste Konzentrierung zugleich. Aber als mögliches Geistwesen - als mögliche Selbst-Manifestation des göttlichen Geistes­ist er ein Wesen, das in dem tätigen Mitvollzug der Geistesakte des Welt­grundes sich selbst zu deifizieren vermag; er ist eben doch noch etwas anderes als diese Sackgasse: Er ist zugleich der helle und herrliche Ausweg aus dieser Sackgasse, ist das Wesen, in dem das Urseiende sich selbst zu wissen und zu erfassen, zu verstehen und sich zu erlösen beginnt. Der Mensch ist also bei des zugleich : eine Sackgasse und - ein Aus­

weg 148! Das menschliche Dasein ist nun nicht mehr "Warten auf einen Erlöser von außen, nicht Empfang kapitalisierter Erlösungsgnaden durch

147 Philosophische Weltanschauung, S. 15. 148 VgI. Ebenda, S. 27.

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eine Kirche, die ihren Stifter dinglich vergottet, stets um den Preis echter persönlicher Akt-Gefolgschaft, sondern Selbstdeifizierung, und das heißt zugleich Mitverwirklichung der ewig nur ,wesenden' Idee der geis­tigen Gottheit im Substrate des Dranges, der als einundderselbe allen Lebensformen der Natur und dem Werden jeder Art zugrunde liegt" 149.

- Echte Humanisierung, d.h. immer neue und wachsende "Menschwer­dung" durch das In-Dienst-Stellen des Lebens für den Geist, ist jetzt immer zugleich auch Selbstdeifizierung und Mitverwirklichung der Idee der Gottheit. Das Grundverhältnis des Menschen zum Weltgrund liegt in Schelers Spätphilosophie eben darin, daß dieser Grund sich im Men­schen - der als solcher sowohl als Geist- wie als Lebewesen nur je ein Teilzentrum des Geistes und Dranges des "Durch-sich-Seienden" ist - sich im Menschen selbst unmittelbar erfaßt und verwirklicht 150.

Die Einheit der Person, so sie auf den Weltgrund bezogen wird, ist keine substantielle Einheit, sie ist nur die Einheit eines konkreten Aktzentrums, eine funktionelle, nach Fundierungsgesetzen der Akte geordnete Aufbaueinheit. Die absolute Realität ihrerseits, wenn sie überhaupt veränderbar ist, kann nur durch sich selbst veränderbar sein und nicht durch Wesen, die sie selbst erst ins Dasein gesetzt - die Person ist also nicht "Geschöpf" - und deren Sosein sie bestimmt hat, die also ausschließlich von ihr abhingen. Nur soweit die Persönlichkeit selbst eine Funktion des göttlichen Geistes ist, kann sich der göttliche Geist durch sie, d.h. sich selbst durch sie verändern. Es ist in letzter Linie derselbe Geist - als das eine Attribut des absolut Seienden -, der die Struktur der "möglichen Welt", der Wesenswelt in ihren Ideen und Urphänomenen (und in beider Deckung in ihren Wesenheiten und deren Strukturen), determiniert; der in je verschieden individuierten Aktzentren dem Menschen teilhaft wird, und der sich in dem Maße, als er seine Wesenseinsichten auch zu funktionalisieren vermag und die je verschiedenartigen subjektiven, durch die Geschichte des Geistes in uns und durch uns ausgeprägten Geistesstrukturen miteinander zu synthetisieren lernt, der Fülle des göttlichen Geistes langsam entgegen­wächst : mehr und mehr Teilhabe an seinen Akten gewinnend, in wesens­unendlicher, niemals abschließbarer Progression. - Auch hier ist also die Rede von Identität, es geht aber um eine wesentlich andere als in der Zeit vor 1922: "Und nur eine gegenseitige Identität, in der nicht nur der Mensch in Deo ,lernt', sondern auch Deus in homine und per

149 Philosophische Weltanschauung, S. 31. 160 Vgl. Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 91.

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hominem; und nicht eine inhaltlich, d.h. mehr als funktionelle und akthafte konstante Identität, sondern nur eine funktionell und in Bezug auf das allgemeinste Wesen des Geistes konstante - inhaltlich und struk­turell aber werdende Identität" 151.

151 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 360.

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KAPITEL IV

SCHELERS ETHISCHER PERSONALISMUS

1. Allgemeine Oberlegungen

a. Herausragende Aspekte des Sehelersehen Personalismus

Allgemeinverbreitet bezeichnet "Personalismus" diejenige philosophi­sche Richtung, welche die herausragende Würde der Person verteidigt, die philosophische Richtung, die als ihre höchste Kategorie die Person annimmt und unterstreicht. Schon der Untertitel seines Hauptwerkes­des Formalismus - : "Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus" zeigt deutlich an, daß Scheler sich bewußt dieser philo­sophischen Richtung anschließt, die besonders in Frankreich u.a. mit Renouvier, Nedoncelle, Mounier und Lacroix (die drei letzteren in mehr oder weniger großem Maße von Scheler beeinflußt) einen gewissen Erfolg verzeichnen konnte. Scheler selbst sieht seine Philosophie fundiert auf den Grundsatz, daß "alle Werte den Personwerten unterzuordnen sind" 1, daß Personwert höher ist als aller Sach-, Organisations-, Gemein­schaftswert, und bezeichnet als den wesentlichsten und wichtigsten Satz seines Hauptwerkes, daß der Endsinn und Endwert des ganzen Universums sich in letzter Linie nur bemessen läßt an dem puren Sein und dem möglichst vollkommenen Gutsein, an der reichsten Fülle und der vollständigsten Entfaltung, an der reinsten Schönheit und der inneren Harmonie der Personen. Während z.B. Mounier sich gezwungen sah, eine scharfe Unterscheidung zu treffen zwischen Person und Individuum, und diese Unterscheidung zu einem Gegensatz ausarten ließ, verteidigt Scheler die These, daß erst die reine Person ein Individuum ist, daß gerade sie erst einen individuellen und einzigartigen Wert darstellt, der dem Wert aller unpersönlichen Gemeinschaft überzuordnen ist.

1 Formalismus, Vorwort zur 2. Aufiage, S. 14.

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194 SCHELERS ETHISCHER PERSONALISMUS

Aber deshalb ist Scheler noch lange kein "Individualist", im Gegenteil: nur die sich mit dem Ganzen der Menschheit vereint fühlende Person ist die sittlich wertvolle, wenn auch alle Sorge für die Gemeinschaft in das lebendige Zentrum der individuellen Person hineinversetzt werden muß. Individuum und Gemeinschaft sind die beiden Fundamentalkate­gorien der Person : Individualität und Sozialität sind der Person gleich wesentlich - siehe das Teilkapitel über die intime und die soziale Person. - Es ist dies eine der unserer Ansicht nach wichtigsten Errungenschaften der Schelerschen Philosophie, daß seiner Auffassung zufolge jede Person gleichursprünglich individuelle und soziale Person ist. Jede individuelle Person muß als soziale und als intime Person ebenso ursprünglich angesehen werden : beides sind nur Seiten und Ansichten ihres unge­teilten Ganzen. Sie geht also weder ganz auf in ihren Gliedschaften, so reich und mannigfaltig diese auch sein mögen, noch kann sie zu ihrer vollen Entfaltung kommen, will sie sich diesen Gliedschaften verschlies­sen. Ihre Individualität ist ebensowohl soziale wie intime Individualität. Diese Unterscheidung von intimer und sozialer Person ist selbstverständ­lich nicht erkenntnistheoretischer Natur - als ob die soziale Person eines Jeden nur sei im Gehalte der Wahrnehmungen, Vorstellungen, Urteile, die sich andere Personen von ihm machen, sie ist ontischer Natur. "So ist doch keinen Augenblick zu vergessen, daß nur die ganze ungeteilte konkrete Person der Träger der eigentlich sittlichen Werte ist. Und zu ihr gehört die intime Person nicht weniger wesentlich als die Sozialper­son" 2. - Diese Unterscheidung - und gleichzeitige Aneinander­bindung - ontischer Natur macht es Scheler dann auch möglich, Mitverantwortlichkeit gleichursprünglich zu setzen mit der Selbstver­antwortlichkeit. Sie erlaubt es ihm, die unserer Meinung nach "goldene" Mitte zu finden zwischen allem einseitigen Individualismus und allem ebenso einseitigen Universalismus, die sie verbindende Antithetik zu überwinden. Wir besitzen zwar eine absolut intime Sphäre, die dem Anderen notwendig verschlossen bleibt, auf existentieller und ontolo­gischer Ebene bleibt unser absolut intimes Ich zwar unerreichbar, der klaren und deutlichen Erkenntnis transzendent, aber verwirklichen kann sich die Person erst wirklich durch die Tat, d.h. durch das Verlassen der puren Innerlichkeit, im aktiven Hinwenden zur Welt und zum Ande­ren. Im Anfang war zwar der Logos, die Vernunft, aber die Vernunft ist Fleisch geworden! Aus der Vernunft entsteht der schöpferische Akt,

2 Formalismus, S. 556.

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mit der Vernunft sind wir zur Tat geboren 3. Und die Tat führt uns über uns selbst hinaus, sie führt uns zur Welt und zum Du.

Und dies führt uns zu einer zweiten wichtigen Errungenschaft der Schelerschen Philosophie: der Ursprünglichkeit des Du in seinem Perso­nalismus. Sowie sich jede Person gleichursprünglich als intime und als soziale Person erlebt, erlebt sie sich analog gleichursprünglich in jedem ihrer Aktvollzüge als Einzelperson und als Glied einer umfassenden Persongemeinschaft irgendwelcher Art. Dies heißt, daß das Wesenswissen um die Existenz von Gemeinschaft schlechthin, daß die Du-Existenz überhaupt aller empirischen Erfahrung von zufälliger Existenz irgen­deines Gliedes dieser Gemeinschaft, irgendeines konkreten Du, not­wendig vorausgeht. Wir können mit Scheler sprechen von einem Wesens­zusammenhang der Gewißheit des Ich von sich selbst und vom Du 4.

Aufgezeigt wurde dies von ihm im besonderen am Gedankenexperiment des erkenntnistheoretischen Robinson. Ein solcher Robinson, der angenommenerweise nie ein Wesen seinesgleichen, nie Spuren und Zeichen solcher Wesen wahrgenommen hat, der nie die Existenz solcher Wesen erfahren hat, hat trotzdem ein Wissen um die Existenz von Gemeinschaft, weiß, daß er einer Gemeinschaft zugehörig ist. Die Anschauungsgrundlage dieser objektiv und subjektiv apriorischen Evidenz von Gemeinschaft, von Du-Existenz überhaupt, sieht Scheler in dem bestimmten und wohlumgrenzten Leer-Bewußtsein oder Nicht­daseinsbewußtsein für emotionale Akte, das dieser Robinson immer und wesensgesetzlich dann erleben würde, wenn er Geistes- und Gemüts­akte vollzieht, die nur mit sozialen Gegenakten zusammen eine objektive Sinneinheit bilden können. Hier ist ihm die Sphäre des Du gegeben, nur kennt er kein Exemplar dieser Sphäre.

Die Beweisführung stützt sich demnach vor allem auf phänomenolo­gische Gegebenheiten : Da bestimmte der in jeder Person festgestellten -geschauten - vorhandenen Akte die Intention auf mögliche Gemein­schaft wesenhaft beinhalten, muß das Korrelat dieser Akte notwendig existieren, oder genauer gesagt : zumindest der Sinn von Gemeinschaft und ihre mögliche Existenz überhaupt sind keine Annahme, die erst empirischer Beweisführung bedürfte, wir haben von ihr apriorische

3 Vgl. hierzu auch PLENGE Johann, Christentum und Sozialismus. über einen Vor­trag von Max Scheler, in PLENGE Johann, Zur Vertiefung des Sozialismus, Leipzig, 1919, S. 218-254 und besonders S. 253-254.

4 Diese These ist von Scheler ausführlich entwickelt worden im Anhang zur Sympathie: Vom fremden Ich, S. 209-258.

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Evidenz. 5 - Neben den Akten vom Wesen der singularisierenden Eigen­akte wie Selbstbewußtsein, Selbstliebe usw., in denen sich das Sein der Person als Einzelperson konstituiert, stellen wir Akte fest, die nur in einer möglichen Gemeinschaft Erfüllung finden können, wie die im vorigen Kapitel erwähnten Liebesarten, aber auch wie Befehlen, Gehor­chen, Versprechen, Mitfühlen. Diese Aktarten sind ihrem intentionalen Wesen nach, und nicht etwa erst auf Grund ihrer zufälligen Objekte oder Korrelate, soziale Akte; und nach Scheler konstituiert sich in dieser besonderen Wesens klasse der sozialen Akte die "Gesamtperson"; aber, da wir diesen Begriff nur schwerlich annehmen können, wie wir später zeigen werden, sagen wir : in diesen Akten konstituiert sich die Person als Glied einer umfassenderen Gemeinschaft irgendeiner Art. Auf der Anschauungsgrundlage des Erlebnisses vom Erfüllungsmangels der Akte von gewissen eine Person überhaupt mitkonstituierenden Aktarten erlebt jede Person ihr Gliedsein in einer Sozialeinheit, und dies ebenso ursprünglich, wie sie sich in den singularisierenden Eigenakten als Einzelperson erlebt.

Gegenüber allem "Individualismus", der versucht, das Individuum auf sich selbst zu beschränken und zu zentrieren, ist der hier aufgezeigte Wille, das Personindividuum aus diesem zu engen Zusammenhang herauszureißen und es in die "Offenheit" zu stellen, in die Weltoffenheit sowie in die Offenheit zum Du, allem Personalismus gemeinsam 6,

auch wenn die Grundlegung nicht immer wie bei Scheler eine wesens­gesetzliche, sondern eine mehr empirische ist. Letztere gehen meistens von der Tatsache aus, daß der Mensch in seiner frühesten Kindheit als erste Bewegung das Hingerichtetsein auf den Anderen kennt und daß angeblich erst später der bewußte Egozentrismus auftritt. Dieser Auffassung nach geht das Du, und in ihm das Wir, dem Ich voraus, oder ist ihm zumindest gleichzeitig 7.

Eine weitere und in unsern Augen die philosophisch ergiebigste Errun­genschaft der Philosophie Schelers liegt in der engen und wesentlichen Verbindung von Personlehre und Werttheorie : Der Wert als Gegenstand aller phänomenologischen Ethik wird mit der Person eng verkoppelt. Das Fundament des Schelerschen Personalismus liegt in "einer streng wissenschaftlichen und positiven Grundlegung der philosophischen

5 Vgl. auch Formalismus, S. 509. 6 So z.B. NEDONCELLE Maurice, La reciprocite des consciences, Paris, 1942, BUBER

Martin, Je et tu, Paris, 1938, LACROIX Jean, Personne et amour, 7. Aufi., Paris, 1969. 7 Vgl. u.a. MOUNIER Emmanuel, Le personnalisme (Collection Que sais-je? 395),

Paris, 1965, S. 38.

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Ethik bezüglich aller wesentlichen für sie in Frage kommenden Grund­probleme" 8, und dies immer mit Beschränkung auf die elementarsten Ansatzpunkte dieser Probleme, d.h. mit Beschränkung auf das Einfach­Einfachste, das - von allen dinglichen Elementen gereinigt - für alle Phänomenologie das Grundphänomen ist. Die Grenze bildet das, was in streng apriorischen Wesensideen und Wesenszusammenhängen aufweisbar ist. Und hier steht am Anfang ein für Scheler sich evident ausweisender Grundsatz: Wertphänomenologie und Phänomenologie des emotionalen Lebens ist ein völlig selbständiges, von der Logik unab­hängiges Gegenstands- und Forschungsgebiet. Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Lieben, Hassen, und das Wollen hat einen ursprünglichen apriorischen Gehalt, den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat. Der reinen Logik steht eine reine Wert­lehre zur Seite. Ja, Scheler geht sogar noch weiter: für ihn ist in letzter Linie der emotionale Apriorismus das letzte Fundament alles anderen Apriorismus, das Fundament sowohl des apriorischen Seinserkennens wie des apriorischen W ollens von Inhalten. Die Sphären der Theorie und Praxis finden ihre letzte phänomenologische Verknüpfung und Ein­heit in dem Apriorismus des Liebens und Hassens. - Wie in der Logik gibt es auch in der Ethik eine Wesensschau der Akte und ihrer Materien, ihrer Fundierung und ihrer Zusammenhänge. Hier wie dort gibt es Evi­denz und strengste Exaktheit der phänomenologischen Feststellung. Sittliche Erkenntnis ist Wert-Erschauung. Und echt philosophische Ethik beschränkt sich auf den apriorischen Gehalt des in der sittlichen Erkenntnis evident Gegebenen. Und sittliche Erkenntnis erfolgt in spezifischen Akten, die von allen Wahrnehmungs- und Denkakten wesentlich zu unterscheiden sind, und die den einzig möglichen Zugang zur Welt der Werte bilden. Ein auf Wahrnehmung und Denken be­schränkter Geist wäre somit wertblind,

Und die Verbindung dieser streng phänomenologisch aufgewiesenen Wertphilosophie mit dem Personalismus ergibt dann den sog. "Wert­personalismus", der sich dadurch charakterisiert, daß für ihn aller letzte Sinn und Wert von Gemeinschaft und Geschichte nur Bedingungen darstellen dafür, daß sich in und an ihnen wertvollste Personaleinheiten enthüllen und frei auswirken können. In dem bloßen Sein und Wirken der Personen findet alle Gemeinschaft und Geschichte ihr Ziel. Person ist, sofern es sich um konkreten Geist handelt, die wesensnotwendige und einzige Existenzform des Geistes. Sie ist und existiert ausschließlich

8 Formalismus, Vorwort zur ersten Auflage, S. 9.

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im Vollzug ihrer Akte, und auch nur so ist sie gegeben: als aktvoll­ziehendes und - da Akt niemals Gegenstand ist - gegenstandsun­fähiges Wesen, wobei wiederum, innerhalb der Vielseitigkeit und Wesens­verschiedenheit der Akte, eine Priorität der emotionalen Akte vor den Wahrnehmungs- und Denkakten nach Scheler festzustellen ist. Die Liebe bekleidet in seiner Philosophie also eine wahrhaft königliche Stellung, was auch der Grund war, warum diese Arbeit sich mit ihr und ihrem Verhältnis zu Person und Wert beschäftigt. Es sollte der Versuch aufgezeigt werden, streng phänomenologische Gegebenheiten einerseits mit philosophisch kaum begründeten Auffassungen und Überzeugungen andererseits zu verknüpfen. Die Aufgabe des Interpreten ist es, die Aus­sagen als das eine oder das andere auszuweisen und ihnen so ihre philo­sophische Stellung und ihren philosophischen Wert innerhalb des Werkes eines großen Denkers zuzuweisen. Schelers Wertphänomenologie scheint uns streng philosophische Gültigkeit zu besitzen, aber inwieweit kann man das auch von seinem Personalismus behaupten?

b. Personalismus - Philosophie oder Nicht-Philosophie?

Dies führt uns zu der umstrittenen Frage, ob und inwieweit ein Personalismus überhaupt den Anspruch erheben darf, eine echte Philo­sophie zu sein. Eine Möglichkeit wäre, ihn in die Alternative Philosophie oder Ideologie einzuordnen. Aber bevor dieser mögliche Versuch einer Lösung zugeführt werden kann, muß hier unbedingt an erster Stelle eine Begriffsklärung vorgenommen werden. Vor die Behauptung, Personalis­mus sei eine Ideologie oder es sei keine, gehört eine Klärung der Frage, was denn überhaupt unter Ideologie zu verstehen ist. Von der philoso­phiegeschichtlichen Definition, wonach Ideologie sich ausschließlich bezieht auf die sensualistische Philosophie eines Destutt de Tracy oder eines Cabanis, sowie der Definition der Ideologie als wirklichkeitsfremder Spekulation oder als Utopismus, kann hier abgesehen werden, da sie heute nur mehr in sehr beschränktem Maße verwendet werden. Marx seinerseits belegt mit dem Begriff Ideologie jede Weltanschauung, da alle Weltanschauung in seinen Augen nur Spiegelung der wirtschaftlichen Verhältnisse der je herrschenden Klasse sei. In Anlehnung hieran ist seit Mitte des 19. Jhdts. Ideologie der gebräuchliche Name zur Bezeich­nung solcher Überzeugungen des Menschen, die vom Realitätsprinzip nur vermeintlich, tatsächlich aber vom Zweck der Erfüllung subjektiver Interessen beherrscht wird. Unter Ideologie versteht man demnach die einer Gesellschaftsschicht oder einer wirtschaftlich-politischen

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Interessenlage zugeordneten Denkweisen und Wertvorstellungen, insbe­sondere dann, wenn sie zur Rechtfertigung oder zur Verhüllung der wirk­lichen Interessen dienen. Die Ideologie als System von Vorstellungen unterscheidet sich von Wissenschaft also vor allem dadurch, daß in ihr die praktisch-soziale Funktion die theoretische oder Erkenntnis­funktion dominiert. Auch von Weltanschauung ist sie zu scheiden, da Weltanschauung immer globale Sicht, Ideologie immer nur partielle Sicht ist. - Ideologie kann also definiert werden als mehr oder weniger zusammenhängendes System von Ideen, Meinungen oder Dogmen, das von einer sozialen Gruppe oder einer Partei als eine Forderung der Vernunft dahingestellt wird, dessen eigentlicher Sinn und Zweck aber darin liegt, ein Rechtfertigungsbedürfnis für Unternehmungen zu stellen, die in Wirklichkeit nur den der Gruppe eigenen Interessen dienen - ein intellektuelles Angebot gleichermaßen für eine affektive Nachfrage. Wohl ist sich der, der die Ideologie "fabriziert", nur selten der determinierenden sozialen und besonders der ökonomischen Bedürf­nisfaktoren voll bewußt, die sein Denken bestimmen.

Neuerdings wird als Ideologie bezeichnet jenes vorstellende Denken, das versucht, sich ein erklärendes und totalisierendes Weltbild aufzu­bauen, ein globales Interpretationssystem der politisch-historischen Welt. Sie hat historischen Charakter einerseits, weil sie der Ausdruck einer bestimmten Gruppe zu einer bestimmten Zeit und in einem be­stimmten Kulturkreis ist, ist antihistorisch andererseits, weil sie das von ihr verteidigte System für alle Zeit fixieren möchte. Sie ist also partiell und totalisierend zugleich.

Wir sind deshalb etwas ausführlicher auf die Klärung des Begriffes Ideologie eingegangen, weil wir glauben, hiermit gezeigt zu haben, daß dieser Begriff keine Anwendung finden kann auf die personalistische Philosophie und an erster Stelle auf den in dieser Arbeit dargelegten Schelerschen Personalismus - auch wenn in verschiedenen Werken Schelers wie z.B. in seinen Kriegsbüchern, die aber kaum philosophische Bedeutung haben, stark ideologische Züge zu vermerken sind. Wir sehen aber von einer eingehenderen Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung auch noch deshalb ab, weil der französische personalistische Philosoph J. Lacroix dieses Problem in ausgezeichneter Weise einer Lösung nähergeführt hat 9; dieser Denker vetritt die Ansicht, daß der

9 LACROIX lean, Le personnalisme comme anti-ideologie (Collection Sup), Paris, 1972.

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Personalismus außerhalb der Alternative "Philosophie oder Ideologie" zu situieren und als Anti-Ideologie aufzufassen ist.

c. Schelers Personalismus und das Husserlsche Ideal der Philosophie als strenger Wissenschaft

Da uns die Aufstellung der Alternative "Philosophie oder Ideologie" keinen positiv sinnvollen Aufschluß über den philosophischen Charakter des Personalismus geben konnte, scheint es uns angebracht, den Scheler­schen Personalismus mit einer anderen Idee der Philosophie zu konfron­tieren, und deshalb werden wir von einem Philosophiebegriff ausgehen, der zu Schelers Lebenszeit ausgearbeitet worden ist, und dem gegenüber er Stellung bezogen hat, und zwar der Philosophieauffassung, wie sie Husserl in seinem berühmten Logos-Artikel auseinandergelegt hat 10,

und von der Scheler sagt, daß die hier entwickelte "sachliche Idee von der Philosophie" 11 der seinen am nächsten steht. Die Phänomenologie, wie Husserl sie verstanden haben will, will sich als strenge Wissenschaft 12

von allen als "Weltanschauungsphilosophien" charakterisierten Theorien distanzieren. Echte Wissenschaft als etwas, das nicht gefunden oder gemacht, sondern als an sich seiendes nur gefunden werden kann, ist für ihn wesentlich überzeitlich, ihre Idee trägt den Stempel der Ewigkeit und ist durch keine Relation auf den Geist einer Zeit begrenzt, während für Husserl die Idee der Weltanschauung notwendig zeitgebunden ist. Mit Schelers Personalismus sind wir sicherlich ziemlich weit entfernt von dem, was in diesem Artikel als die neue Philosophie verkündet wird, und Husserl würde Scheler bestimmt einen "geschwächten philosophi­schen Wissenschaftstrieb" zuschreiben. Und genau so bestimmt trifft für den Schelerschen Personalismus die Kritik zu, die Husserl an die Philosophien der Vergangenheit richtet: "Die historischen Philosophien waren sicherlich Weltanschauungsphilosophien, insofern als der Weis-

10 HUSSERL Edmund, Philosophie als strenge Wissenschaft, in Logos Bd. I (1910-1911), S. 289-341. Erste deutsche Buchausgabe, herausgegeben von Wilhelm SZILASI, in Quellen der Philosophie. Herausgegeben von Rudolph BERLINOER, Frankfurt, 1965. Wir werden nach dieser Ausgabe zitieren.

11 Vom Ewigen im Menschen, S. 74. Ausschlaggebendes zu diesem Problemkreis wird erst die im Nachlaß vorhandene unveröffentlichte Schrift Die Welt und ihre Erkenntnis bringen können (Vgl. Anmerkungen zu Text und Fußnoten, in Vom Ewigen im Menschen, S. 464).

18 Scheler glaubt, daß Husserl hier den griechischen Begriff von Wissenschaft übernimmt, der dem Sinnumkreis der platonischen Episteme entspricht, und der die positiven Wissenschaften nicht in sich einschließt.

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heitstrieb ihre Schöpfer beherrschte; aber sie waren genau ebenso sehr wissenschaftliche Philosophien, insofern auch das Ziel strenger Wissen­schaft in ihnen lebendig war. Beide Ziele waren entweder noch gar nicht oder nicht scharf geschieden. Im praktischen Streben flossen sie zusam­men; sie lagen auch in endlichen Fernen, so hoch über sich der Strebende sie empfunden haben mochte" 13.

Die scharfe Trennung von Philosophie als strenger Wissenschaft und Philosophie als Weltanschauung, die ihrem Wesen nach unwissen­schaftlich ist, läßt nach Busserl keinen Kompromiß zu. Er hat eine verhältnismäßig negative Meinung über Weltanschauungsphilosophie, die er als Kind des historizistischen Skeptizismus abstempelt, und deren Aufgabe er darin sieht, den lebendigen und darum überzeugungs­kräftigsten Bildungsmotiven einer bestimmten Zeit nicht nur begriffliche Fassung zu geben, sondern ihnen auch logische Entfaltung und sonstige denkmäßige Verarbeitung zukommen zu lassen, und die so gewonnenen Ergebnisse im Wechselspiel mit neu zufließenden Anschauungen und Einsichten zu wissenschaftlicher Vereinheitlichung und konsequenter Vollendung zu bringen 14. - Es trifft sicher zu, daß das Wissenschafts­ideal auch der Philosophie vorzuschweben hat, daß eine Philosophie, die als Weltanschauungsphilosophie den Kontakt zur Wissenschaft gelöst hat und der Unpersönlichkeit der Wissenschaft den Babitus und die Verwirklichung des Person individuums vorzieht, rein wissenschaft­lichen Ansprüchen nicht gerecht werden kann; es bleibt jedoch die Frage, inwieweit der Begriff Wissenschaft, den Busserl für die Philosophie beansprucht, in ein und derselben Auslegung auch für die sog. exakten Wissenschaften zutrifft, inwieweit Voraussetzungslosigkeit, mit der er die Wissenschaft gleichzusetzen scheint, überhaupt für die Philosophie möglich ist. Selbst Busserl gab den Wert der Weltanschauungen zu, maß ihnen aber nur "persönlichen" Wert zu, indem er wohl ihre Ver­dienste in dem Streben der Menschheit nach vollkommener Tüchtigkeit und größtmöglicher Weisheit anerkannte.

Die Anwendung dieser Gedankengänge Busserls auf Sche1ers Philo­sophie scheint uns durchaus möglich: er betrieb einerseits Philosophie als Wissenschaft, bei ihm war sicherlich das Ziel strenger Wissenschaft lebendig. Dies gilt unserer Ansicht nach besonders für die ausgesprochen phänomenologischen Teile seines Werkes, wo er jedenfalls zu den Ent-

11 HUSSERL Edmund, Philosophie als strenge Wissenschaft, in Logos, Bd. I (1910-1911), S. 60-61.

14 Vgl. Ebenda, S. 58.

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deckern absoluter und zeitloser Werte gerechnet werden darf. Aber auch Weltanschauungsphilosophie gehörte zu seinen Forschungsgebieten; nicht immer beherrschte das Streben nach strenger Wissenschaftlichkeit sein philosophisches Schaffen, es lag ihm auch oft der Weisheitstrieb -in dem von Husserl im Logos-Artikel angenommenen Sinne - zugrunde. Und es trifft auch zu, daß bei ihm diese beiden Ziele kaum geschieden waren. Im Gegenteil: dort, wo Husserl keinen Komprorniß möglich sah, versucht Scheler Brücken zu bauen. Er glaubt, daß Husserl mit dem Begriff "Weltanschauungsphilosophie" die "wissenschaftlichen Philo­sophien" anvisiert, d.h. jene aus dem Geiste des Positivismus herausge­wachsenen Versuche, aus jeweiligen Ergebnissen der Wissenschaft eine abschließende Metaphysik oder sog. Weltanschauung zu machen, die Versuche also, die Philosophie in Wissenschaftslehre aufgehen zu lassen. Für ihn dagegen bedeutet Weltanschauungsphilosophie so viel wie Philosophie der für die Gattung Mensch konstant natürlichen und der je besonderen wechselnden Weltanschauungen. Es gibt demnach eine Philosophie einmal der "natürlichen Weltanschauung", sodann der möglichen materialen Weltanschauungen, welche die historische Grund­lage der diesbezüglichen geisteswissenschaftlichen Probleme einer positiven Weltanschauungslehre ist.

Philosophische Weltanschauung besteht für unseren Philosophen gerade darin, sich auf seine eigene Vernunft zu stellen, alle hergebrachten Meinungen versuchsweise zu bezweifeln und nichts anzuerkennen, was ihm nicht persönlich einsichtig und begründbar ist. Neben dem Leistungs­und Herrschaftswissen als dem Wissen der positiven Fachwissenschaften unterscheidet Scheler noch das Wesenswissen und das metaphysische Wissen. Das Wesenswissen ist das Wissen der philosophischen Wissen­schaft von den Seinsweisen und der Wesens struktur alles dessen, was ist, mit anderen Worten der "ersten Philosophie". In dieses gewaltige Feld eigenmethodischer philosophischer Forschung reiht Scheler die Phänomenologie ein, sowohl die E. Husserls als auch seine eigene. Die Hauptmerkmale dieser Erkenntnis- und Wissens art sieht Scheler im Versuch der größtmöglichen Ausschaltung alles begierlichen trieb­haften Verhaltens als Bedingung des Realitätseindruckes und für das Zustandekommen aller sinnlichen Wahrnehmung des zufälligen Jetzt­Hier-Soseins und für die Vorentwürfe von Raum und Zeit, im Absehen vom realen Dasein der Dinge und damit ihrer möglichen Widerständig­keit gegen unser Streben und Handeln, die Unabhängigkeit vom Quan­tum der Erfahrung und von Induktion - Wesenserkenntnis kann an einem einzigen exemplifizierenden Fall vollzogen werden. Wesenser-

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kenntnisse haben somit Geltung für das Seiende, wie es an sich selbst und in sich selbst ist, sie werden von der eigentlichen Vernunft vollzogen, d.h. durch Anwendung vorher vollzogener apriorischer Wesenserkennt­nisse auf die zufällige Tatsachenerfahrung. - Sie stehen aber letzten Endes auch im Dienste der Weisheit und eines sittlichen Ideals - und hiermit verläßt Scheler schon das reine Wesenswissen, um zur Metaphy­sik überzugehen. "Oberstes Ziel aller metaphysischen Weltanschauungs­formung durch Philosophie ist also: das absolut durch sicht selbst Seiende so zu denken und anzuschauen, daß es der in der ,ersten Philo­sophie' gefundenen Wesensstruktur der Welt und dem uns im Strebens­widerstand zugänglich werdenden realen Dasein der Welt und eines zufäl­ligen Soseins überhaupt entspricht und gemäß ist" 16.

Erst die Verknüpfung der Resultate dieser "ersten Philosophie", der Wesens ontologie der Welt und des Selbst, mit denen der wirklich­keitszugewandten positiven Wissenschaften, und die Verknüpfung heider mit den Resultaten der Wertlehre, Ästhetik, Ethik und Kultur­philosophie, führt in die Metaphysik, in die Metaphysik erster Ordnung zuerst, d.h. die Metaphysik der Grenzprobleme der positiven Wissen­schaften, und durch diese hindurch in die Metaphysik zweiter Ordnung, die Metaphysik des Absoluten. Und zwischen beiden steht die philoso­phische Antropologie. Das Sein der Welt und noch stärker das Sein des Absoluten ist zwar unabhängig vom zufälligen Dasein des Menschen und seinem empirischen Bewußtsein, es bestehen aber strenge Wesens­zusammenhänge zwischen gewissen Klassen geistiger Akte und bestimm­ter Seinsregionen, zu denen wir Zugang durch diese Aktklassen gewinnen. - Und diese Erkenntnis führt Scheler zu dem Schluß, daß die philoso­phische Anthropologie als Lehre vom einzigen uns zugänglichen Schnitt­punkt der Zugänge zur Welt und zum Absoluten das Kernstück aller Philosophie zu sein hat. Und ebenso liegt in dieser Erkenntnis fundiert der gesamte Schelersche Personalismus.

In Bezug auf die Alternative Philosophie oder Weltanschauung glauben wir nach Gesagtem schließen zu können, daß in diesem Punkte Scheler keineswegs mit Husserl, jedenfalls nicht mit dem von letzterem in seinem Logos-Artikel verteidigten Standpunkt übereingeht : Weltan­schauungsphilosophie oder besser: philosophische Weltanschauung ist ein notwendiger Bestand aller Philosophie, soweit sie den Anspruch erheben will, das ganze Sein und alle Seinsregionen durchforschen zu wollen. Wohl wird hier das Streben nach größtmöglicher Vorausset-

16 Philosophische Weltanschauung, S. 11.

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zungslosigkeit immer und notwendig unbefriedigter bleiben als in der reinen Wesenslehre. Dies rührt unserer Ansicht nach vor allem daher, daß Personalismus überhaupt die Bezeichnung wissenschaftlich nicht in ihrem vollen Sinngehalte erstens für sich nicht beanspruchen kann, es zweitens aber höchstwahrscheinlich nicht will. Er muß einem Gebiet zugerechnet werden, das man eventuell mit "setzender philosophischer Weltanschauung" bezeichnen könnte. Aber ist dies schon eine zureichen­de Begründung, ihn aus dem Bereich der wahren Philosophie zu ver­bannen? Dies scheint uns kaum haltbar.

Bezeichnend in dieser Hinsicht erscheint uns auch die Tatsache, daß Scheler seine Philosophie als "Intuitionismus" charakterisiert. Schon allein diese Bezeichnung weist unserer Ansicht nach darauf hin, daß er von keiner "streng wissenschaftlichen" Einstellung ausgeht; bei allen sog. "Intuitionisten" liegt die Versuchung nahe, die auf diese Weise gewonnenen Einsichten als eine Art "höheren" Wissens anzusehen. So ist es auch Schelers Ziel, die apriorischen Wesens- und Ideenstruk­turen, die als objektiver Logos die gesamte Weltwirklichkeit durch­flechten und - im Sinne der Gültigkeit - beherrschen, aufzudecken. Zudem liegt für ihn allem Philosophieren als Geisteshaltung d~r liebes­bestimmte Aktus der Teilnahme des Kernes einer endlichen Menschen­person am Wesenhaften aller möglichen Dinge zugrunde: hiermit scheint uns doch deutlich die konsequent-wissenschaftliche Haltung der Philosophie preisgegeben.

d. Systemlosigkeit?

Einem anderen häufig wiederkehrenden Vorwurf an alle personalis­tische Philosophie und insbesondere an die Adresse der Schelerschen Philosophie in ihrer Gesamtheit sei hier kurz begegnet. Es ist wahrhaft zu einem Gemeinplatz geworden, Schelers Mangel an System anzupran­gern. Drei Faktoren muß unserer Ansicht nach in diesem Zusammenhang Beachtung geschenkt werden. Es ist erstens völlig zutreffend, daß man der Schelerschen Philosophie oder genauer der Schelerschen Art, Philo­sophie zu betreiben, eine gewisse Zusammenhangslosigkeit und einen verhältnismäßig großen Mangel an Systemstrenge vorwerfen muß. Wie wir schon in der Einleitung darauf hingewiesen haben, steht dieser Mangel in engstem Zusammenhang mit dem Charakter und der Lebens­auffassung unseres Philosophen. Andererseits deuteten wir auch schon an, daß unserer persönlichsten Ansicht nach dieser Mangel in gewissem Maße durch ein Plus an Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit seiner Philo­sophie wettgemacht wird.

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Zweitens muß ausdrücklich betont werden, daß Scheler sich dieses Mangels durchaus bewußt war und immer wieder versucht hat, ihm nach Möglichkeit entgegenzuwirken. Als kleiner Beleg diene uns hier ein Auszug aus dem Vorwort zur ersten Auflage des Formalismus, geschrieben in 1916: "Dazu forderte der systematische Charakter, der nach Überzeugung des Verfassers der Philosophie in jeder, auch in ihrer phänomenologischen Fundierung zukommt, überall die Anschluß­punkte mit den in gesonderter zusammenhängender Darstellung noch nicht veröffentlichten erkenntnistheoretischen Anschauungen des Ver­fassers bereits in diesem Werke aufzuweisen. Es mag dort und da eine Auffassung der Phänomenologie auftauchen, nach der sie es nur mit je isolierten Phänomenen und Wesenheiten zu tun habe und der gemäß jeder ,Wille zum System ein Wille zur Lüge' sei. Dieser Bilderbuchphäno­menologie weiß sich der Verfasser völlig ferne. Denn ebensoweit als die erforschbaren Sachen der Welt selber einen systematischen Zusammen­hang bilden, wäre ja nicht der Wille zum System ein ,Wille zur Lüge', sondern es müßte im Gegenteil der Wille, solch in den Dingen selbst gelegenen Systemcharakter nicht zu beachten, als Folge eines grundlosen ,Willens zur Anarchie' angesehen werden" 17.

Aber noch ein dritter und wesentlicher Faktor spielt in diesem Zusam­menhang eine unserer Ansicht nach bedeutsame Rolle : Aller Personalis­mus hat als "Gegenstand" die Person. Ein Großteil des dritten Kapitels dieser Arbeit war der Beweisführung gewidmet, daß es sich bei der Person um ein gegenstandsunfähiges Sein handelt. Es ist dem Personalismus, im Gegensatz zu den meisten systematischen Wissenschaften, nicht möglich, von einer objektivierenden Definition ihres Gegenstandes auszugehen und auf dieser Basis ein System aufzubauen. Die Person ist zwar überall anwesend, nie aber vollkommen selbstgegeben und erschau­bar. Es ist uns unmöglich, die Person rein von außen, wie ein unbetei­ligter Beobachter, zu betrachten, da sie eine Realität ist, die wir kennen und zur gleichen Zeit von innen her verwirklichen und vollziehen. Und weil dem Personalismus die Annahme freier und schöpferischer Personen zugrundeliegt, wird hier ein Unvorhersehbarkeitsfaktor eingeführt, der allen Willen zu definitiver und allumfassender Systematisation zunichte macht. Dies heißt mit anderen Worten, daß schon der dem Personalismus eigentümliche "Gegenstand" aus sich selbst dem System­charakter dieser Philosophie entgegenwirkt. Und hierbei muß noch

17 Formalismus, S. 10.11.

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hinzugefügt werden, daß diese Auffassung von den meisten Personalisten geteilt wird 18.

e. Zu Schelers Personlehre

Doch wenden wir uns nochmals diesem Personbegriff zu : Wie schon das vorhergehende Kapitel aufzuweisen versucht hat, muß der Person­begriff Max Schelers von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden: einerseits findet er Anwedung nur auf eine bestimmte Stufe mensch­licher Existenz - phänomenale Vollsinnigkeit, Mündigkeit und Herr­schaft über den Leib wurden als Bedingungen angegeben, andererseits aber, und dies scheint uns noch fundamentaler, ist seine Personlehre fest in seinen anthropologischen Anschauungen verankert, wie er sie zuletzt in Die Stellung des Menschen im Kosmos kurz umrissen hat. Hier geht es nicht mehr um den Unterschied von Person und Mensch, sondern um den Abgrund, den Wesens- (im Gegensatz zu einem nur graduellen) Unterschied, der den Menschen vom Tier und von der Pflanze abgrenzt, der ihn allem Leben gegenüber ewig und notwendig transzendent macht. Es geht hier um das Prinzip, das den Menschen von allen anderen Lebenszentren, von allen "seelischen" Zentren scharf unterscheidet. Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis und prak­tische Intelligenz teilt der Mensch, sofern er in seiner Vitalsphäre betrach­tet wird, noch mit allen oder gewissen anderen Bereichen des organischen Lebens. Das Prinzip aber, das ihm seine spezifische Stellung im Kosmos verleiht, und das wesensmäßig nicht aus der Evolution des Lebens abge­leitet werden kann, ist der Geist, ein Wort, das zwar den Begriff "Ver­nunft" als Ideendenken mitumfaßt, das aber auch die Anschauung von Urphänomenen und Wesensgehalten, sowie eine bestimmte Klasse volitiver Akte und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue usw. sowie die freie Entscheidung mitumfaßt. So ist z.B. ein spezifisch geistiger Akt der Akt der Ideierung, der von allen Akten technischer, praktischer oder nur schlußfolgender Intelligenz völlig verschieden ist. Er besteht darin, unabhängig von der Größe und Zahl der Beobachtungen, unab­hängig von induktiven Schlußfolgerungen, wie sie die Intelligenz voll­zieht, die essentiellen Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt an je einem Beispiel der betreffenden Wesensregion mitzuerfassen. Auf diese Art gewonnenes Wissen oder gewonnene Einsichten gelten nicht

18 VgI. z.B. MOUNIER Emmanuel, Le personnalisme (Collection Que sais-je? 395), Paris, 1965, S. 9.

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nur für diese wirklich daseiende Welt, sie gelten auch für alle möglichen Welten, sie gelten "apriori". - Das Aktzentrum,das diese Akte vollzieht, das dieser Stufe des Geistes entspricht, in dem Geist innerhalb endlicher Seinssphären erscheint, ist für Scheler die Person. Ihr sie von allen ande­ren endlichen Lebewesen unterscheidendes Prinzip ist ihre Ablösbarkeit - in Bezug auf ihr Daseinszentrum - von der Abhängigkeit von allem Leben und allem Organischen, ihre existentielle Entbundenheit vom Organischen - sofern wir sie unter dem Gesichtspunkt der dem Geiste zukommenden Wissensfunktion betrachten. Die Person charakterisiert sich also durch ihre Trieb- und Umweltungebundenheit, d.h. mit anderen Worten, durch ihre Weltoffenheit (allein die Person hat Welt, kann sie zum Gegenstand erheben und vermag das Sosein dieser Gegenstände prinzipiell selbst zu erfassen) 19.

Das Verhältnis von Person und Geist gehört zu den Problemen, die bis heute noch nicht eindeutig von der Scheler-Forschung geklärt werden konnten: verschiedene, scheinbar widersprüchliche Aussagen lassen die Schelersche Auffassung nur unklar erkennen, sodaß wahr­scheinlich abgewartet werden muß, ob der bisher unveröffentlichte Nachlaß nicht einige Klarheit zu diesem Problem bringen kann. Einmal bezeichnet er die Person als die einzige und wesensnotwendige Existenz­form des Geistes, anderweitig spricht er vom Geist, der im Menschen nur in Erscheinung tritt. Ist nun die Person die wesensnotwendige oder die nur mögliche Existenzform des Geistes? Da Scheler z.B. dem Kinde und dem Schwachsinnigen das Personsein abspricht, müßte er ihnen eigentlich auch Geist absprechen, was wohl kaum annehmbar scheint (was er auch nie behauptet hat). Für diese konkrete Fragestellung wäre es wahrscheinlich einsichtiger, von verschiedenen Phasen innerhalb des Personseins zu sprechen. Aber das Gesamtproblem "Person und Geist" bleibt bestehen.

Die Person im Menschen als meta-psychophysisches Sein wird bei Scheler scharf geschieden von dem "Ich". Während das Ich als die Bedin­gung aller Gegenstände bei Kant nie vergegenständlicht werden kann, ist es bei Scheler immer noch den Gegenständen eines "Bewußtseins von" zuzurechnen. Nur die Person als das ausschließlich im Vollzug ihrer Akte existierende Sein ist - wie der Akt selbst - gegenstandsun-

19 Eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Schelerschen Lehre von den Stufen psychischer Existenz gibt SCHÜTZ Albred, Seheler's Theory o[ Intersubjectivity and the general Thesis o[ the Alter Ego, in Philosophy and Phenomenological Research 2 (1942), S. 323-325.

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fähig, und nur im geistigen Akt kann sie zum "Bewußtsein des geistigen Aktzentrums von sich selbst", zum "Selbstbewußtsein" gelangen.

Der Mensch ist demnach als Person Erscheinungsfeld des Geistes; hierbei darf aber nicht übersehen werden, daß er nicht nur dies ist; er ist außerdem als homo naturalis ein Tier. Als solches ist der Mensch nur eine kleine Ecke innerhalb der Klasse der höheren Wirbeltiere. Das als Mensch bezeichnete Lebewesen bleibt nicht nur dem Begriff des Tieres untergeordnet, sondern es macht auch eine verhältnismäßig sehr kleine Ecke des Tierreiches aus; ein kleiner Nebenweg, den das Leben in der Klasse der sog. höchsten Wirbel-Säugetiere, im Falle des Menschen der Primaten, genommen hat, und der charakterisiert ist durch aufrechten Gang, Umgestaltung der Wirbelsäule, Äquilibrierung des Schädels, die mächtige Gehirnentwicklung und die Organumge­staltungen, welche der aufrechte Gang mit sich gebracht hat wie die Greifhand mit opponierbaren Daumen und Zwischenkiefer. Der Mensch kann sich gar nicht aus der Tierwelt heraus entwickelt haben, da er eben Tier war, ist und bleibt 20. Die einzig richtige philosophische Schluß­folgerung der Entwicklungslehre besteht nach Schelers Ansicht darin, daß Mensch und Tier in der Sache ein strenges Kontinuum bilden, und daß eine auf bloße Natureigenschaften gegründete Scheidung von Mensch und Tier ein nur willkürlicher, von unserm Verstand gemachter Ein­schnitt ist; Es gibt keine natürliche Einheit des Menschen.

Der Mensch als Tier ist eben nur ein krankes Tier, eine Sackgasse der Natur, ein Tier, das sich verlaufen hat, ja ein entartetes Tier; Der menschliche Geist - seinem Dasein nach die Episode in der Episode der tierischen Entwicklung, hat von den Lebenswerten aus gesehen eine Krankheit, jene Krankheit, die dazu geführt hat, den Menschen vom biologischen Gesichtspunkt aus als das krankgewordene Tier schlechthin zu bezeichnen. Der Mensch ist die entwicklungsgeschichtlich "fixierteste Tierart", und auch die Wissenschaft spricht von der eminenten biolo­gischen Fixiertheit der menschlichen als der differenziertesten Lebens­organisation. - Aber der Mensch ist eben auch wieder mehr als nur ein krankes Tier.

Die Schwierigkeit liegt vor allem in der Tatsache, daß wohl kaum ein anderer Begriff wie eben der des Menschen doppeldeutig ausgelegt

10 Zu diesem Fragenkomplex beachte man besonders den Aufsatz Zur Idee des Menschen, in Vom Umsturz der Werte, S. 173-195, sowie Die Stellung des Menschen im Kosmos. Vgl. hierzu den Kommentar von HARTMANN Wilfried, Max Scheler's Theor)! 0/ Person, in Philosoph)! toda)!, Vol. 12, Nr. 4/4 (Winter 1968), S. 246-261.

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wird. Er gibt einerseits die Sondermerkmale an, die der Mensch morpho­logisch als eine Untergruppe der Wirbel- und Säugetierart besitzt. Er bezeichnet aber gleichzeitig auch einen Inbegriff von Dingen, den man dem Begriffe des "Tieres überhaupt" (und damit auch allen Wirbel­und Säugetieren) aufs schärfste entgegensetzt. Und dieser zweite Begriff erst weist dem Menschen seine Sonderstellung zu. Ein vollkommen neues Reich öffnet sich an bestimmten Punkten der lebendigen Welt und tritt hier in Erscheinung, eine neue Wesensklasse von Dingen, ein Reich von "Personen", das sich überhaupt nicht "entwickelt" hat, so wenig sich die Farben, die Zahlen, der Raum und die Zeit und andere echte Wesen­heiten "entwickelt" haben. Dieser zweite Begriff geht zusammen mit einer bestimmten Idee des Menschen, nach der der Mensch der Ort ist für das Auftreten und Insichttreten einer Ordnung der Dinge, die von aller Natur wesensverschieden sind, und die da heißen Geist, Kultur und Religion. Die Wesensverschiedenheit, das wesensmäßig Neue beginnt nicht beim homo naturalis - hier handelt es sich im Vergleich zum Tiere um einen nur graduellen Unterschied -, sondern es beginnt erst beim gottbezogenen historischen Menschen, in jenem Menschen, der seine Einheit erst durch das empfangt, was er sein und werden soll. Der Mensch empfängt seine Einheit nicht durch eine Gleichsetzung -unter Annahme von graduellen Unterschieden - mit den höheren Tieren: sondern erst als historisches Wesen, als Person, als Ort des Geistes.

Gilt es nun, dieses spezifisch Menschliche, dieses neue Reich, genauer zu bestimmen, müssen unserer Ansicht nach in der Schelerschen Per­spektive zwei Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden : Eine grund­sätzliche Bedingung ist, daß die geistige Person selbst, und damit auch ihre Akte, gegenüber der Vitalseele (und ihren Funktionen), der sie in aller natürlichen Erfahrung nur dient oder doch mehr oder weniger dient, selbständig tätig und ausschließlich aus sich heraus tätig sei - die Vital­seele und ihre automatisch zielgerichtete Funktion aber gleichzeitig "unter sich" (bildhaft ausgedrückt) und nur rein gegenständlich als ihren Herrschbereich anschaut und weiß. "Nur sofern wir Menschen überhaupt geistige Akte vollziehen können, die von der Gesamtheit unserer trieb­mäßigen Bedürfnisse, unserer besonderen menschlichen Artorganisation sowie unseren besonderen menschlichen praktischen Betätigungsweisen prinzipiell unabhängig sind und eigenen Gesetzen folgen und eigene selbständige Ziele in sich tragen, werden wir auch erwarten dürfen, daß es uns prinzipiell möglich ist, uns erkennend des Wesens der Dinge zu bemächtigen, und auch erwarten dürfen, auch als sittliche und künst­lerisch bildende Wesen teilzugewinnen an einer Welt, welche jenen

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kleinen Ausschnitt überragt und in sich wie eine Ecke einschließt, der unser tierisches Artmilieu ausmacht" 21. - Diese fundamentale Bedin­gung bezieht sich also vor allem auf unser Erkenntnisvermögen; nur die Ablösung von aller Leib- und Triebgebundenheit macht es dem Menschen, d.h. dem "Geiste" im Menschen möglich, das hic-et-nunc Dasein und Sosein, ja in letzter Linie Dasein und Wesen überhaupt zu trennen.

Sie bezieht sich aber auch auf einen anderen Gesichtspunkt; auch die sittliche Bestimmung und die je individuelle Grundrichtung der geis­tigen Person sind in großem Maße unabhängig von dem "Leben", das wir mit den höheren Tieren teilen. Genau wie die Wesens erkenntnis und die Ideierung gehört also die je individuelle sittliche Bestimmung in das Gebiet des "Geistes" im Menschen, und nicht nur im Menschen, da man ja in der Spätperiode Schelers auch von einer individuellen Bestimmung des obersten Grundes der Dinge, der werdenden göttlichen Person reden kann. - Wesens erkenntnis und individuelle Bestimmung sind Eigenschaften sowohl der menschlichen als auch der göttlichen Person, und nur so darf unserer Ansicht nach der Schelersche Satz verstanden werden, daß "wahrhaft ,menschlich' in dem aufrecht gehen­den Zweifüßer nur das in ihm Gottähnliche ist" 22. Und zusammen­fassend; "Es gibt im Menschen keine Regung und kein ,Gesetz', das flicht entweder auch in der unter ihm liegenden Natur vorkäme oder auch über ihm im Reiche Gottes, im ,Himmel'; und nur als ein ,Hinüber' von dem einen dieser Reiche zum anderen, als ,Brücke' und Bewegung zwischen ihnen hat er seine Existenz" 23.

Wenn wir zu Beginn dieses Kapitels schrieben, daß aller Personalismus sich dadurch charakterisiere, daß er die Königsstellung und das Königs­recht der personalen Daseinsform herausstreicht, so läßt sich dies auch noch unter einem anderen Gesichtspunkt aufzeigen. Als Beispiel diene uns hier die Kantische Philosophie, wo das moralische Gesetz der unbedingte Zweck ist, dem gegenüber alle anderen Zwecke zu Mitteln herabsinken. Da der im moralischen Gesetz vorgestellte Bestimmungs­grund der einzige Zweck ist, den der sittliche Wille als sittlicher verfolgen darf, so ist auch die Erfüllung dieses Zweckes der einzige "Erfolg" seiner Handlung, der sittliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen kann. Wenn du deinen Willen mit dem Gesetz in Einklang bringst, wenn du willst, wie du sollst, so macht dieser Wille deine Tat zur sittlichen;

21 Die Wissens/ormen und die Gesellscha/t, S. 451. 22 Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, 2. Aufl., Leipzig, 1915, S. 111. 13 Vom Umsturz der Werte, S. 195.

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jede andere Folge der Tat, jeder andere Erfolg ist sittlich belanglos. Nur der Sinn, in dem du handelst, die Gesinnung, das Innere macht den Wert der Handlung aus; nur das Gewissen kann über dich richten, kann entscheiden, ob du sittlich gehandelt hast oder nicht. Kant verlegt die Sittlichkeit ganz ins Bewußtsein. Zur sittlichen wird die Handlung nicht durch ihre reale Wirkung, nicht durch das "Gute", das sie erzielt, sondern durch ihre ideale Bestimmtheit. Allein die Form, nicht aber ihre Materie muß Bestimmungsgrund des sittlichen Willens sein. "Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll, so kann es sich dieselben nur als solche Prinzipien denken, die nicht der Materie, sondern bloß der Form nach den Bestim­mungsgrund des Willens enthalten" 24. - Ein zweites Beispiel sei uns die Scheler-Abhandlung von D.H. Kerler 25 : Für ihn ist Personalismus lediglich Einstellung auf die subjektiv-selbstischen Angelegenheiten und er setzt ihm entgegen seinen sog. Impersonalismus, der Verzicht bedeutet auf alles Selbstische und sich ausschließlich orientiert an der sittlichen Idee, die, damit Sittlichkeit in ihrem Vollwert nach verwirklicht sei, sie als autonom-schöpferische Tat dem sittlichen Subjekte abfordert. Das sittliche Subjekt lebt und handelt nur für das sittliche Ideal, das Gott und Welt und Natur übergeordnete geistig-sittliche Ideal. Sitt­lichkeit im strengen Sinne besteht demnach aus dem Dienst am Ideal, aus selbstloser Hingabe an die Lebenspflicht. - Gemeinsam an diesen zwei Beispielen ist die Auffassung, daß der höchste und letzte sittliche Sinn der Welt sei es die Realisierung eines obersten Gesetzes sei es die Hingabe an eine sittliche Idee ist, und daß beide die Ansicht vertreten, "gut" und sittlich wertvoll werde etwas erst dadurch, daß es einem zur Allgemeingültigkeit geltenden Gesetze oder einer allgemeingültigen sittlichen Idee entspreche, daß individualgültig "Gut" gleich ist mit primitivem Subjektivismus.

Mit seinen eigenen Ansichten glaubt sich Scheler am entgegengesetzten Ende dieser und ähnlicher Auffassungen, denn für ihn liegt der höchste Sinn aller sittlichen Akte nicht mehr in der Realisierung eines obersten Gesetzes oder der Herstellung einer bestimmt gearteten Ordnung, sondern in dem solidarischen Personreich bester Personen. Der höchste und endgültige sittliche Sinn der Welt ist in der Schelerschen Ethik "das

24 KAm ImmanueI, Kritik der praktischen Vernunft (Philosophische Bibliothek Bd. 38), Unv. Nachdruck der 9. Aufi., Hamburg, 1963, S. 31.

15 KERLER Dietrich Heinrich, Max Scheler und die im personalistische Lebensan· schauung, UIrn, 1917.

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mögliche Sein höchstwertiger und positivwertiger Personen" 26. Der sittliche Sinn auch aller sittlichen Ordnung bleibt die Verherrlichung der Person; der Wert der Werte ist der Wert der Person. Scheler begrün­det somit einen Wertpersonalismus, für den "aller letzte Sinn und Wert von Gemeinschaft und Geschichte gerade darin liegt, daß sie Bedingungen dafür darstellen, daß sich in und an ihnen wertvollste Personaleinheiten enthüllen und frei auswirken können. In dem bloßen Sein und Wirken der Personen findet für den Wertpersonalismus alle Gemeinschaft und Geschichte also ihr Ziel" 27. Demnach wird auch jede Norm gemessen daran, ob sie das sittliche Werden der Personen hemmt oder fördert. Und da keine Pflichtnorm existieren kann ohne eine Person, die sie setzt, so hängt ihr Wesen unbedingt von der ursprünglichen Wesens­güte der Person ab. Geachtet werden kann die Norm nur dann, wenn wir der normsetzenden Person Achtung und Liebe entgegenbringen. Das letzte ideale Sollen, das also als Forderung an uns ergeht, geht von dem erblickten Personwert einer Person aus - und deshalb wird es nicht mehr Norm genannt, ein Name, der nur allgemeingültigen und all­gemeinen idealen Sollenssätzen zukommt, die ein wertvolles Tun zum Gehalt haben -, sondern Vorbild oder Ideal. In der Idee des Vorbildes ist erhalten das individuale Wertwesen der Person, die als Vorbild fun­giert, und es ist nicht ausgelöscht wie im Wesen der Norm, die allgemein nach Inhalt und Gültigkeit ist. "Nichts gibt es auf Erden gleichzeitig, was so ursprünglich und unmittelbar und was so notwendig eine Person selbst gut werden läßt, wie die einsichtige und adäquate bloße Anschau­ung einer guten Person in ihrer Güte" 28. - Also auch hier bleibt Scheler durch und durch Personalist; jede andere sittliche Nötigung ist der Wir­kung der vorbildlichen Wertperson untergeordnet: ethische Wirksam­keit ist immer personaler Akt. "Nicht eine personlose ,Idee' (Hegei), nicht eine frei schwebende ,Gesetzesordnung der Vernunft' oder des vernünftigen Wollens (Kant und Fichte), nicht eine gesetzlich in der Form einer ,fatalite modifiable' abrollende Verstandes- und Wissenschaftsent­faltung (Comte), nicht eine Abfolge ökonomischer Produktionsver­hältnisse (Marx), nicht die dunklen, kaum übersehbaren Schicksale der Blutmischung bestimmen an letzter Stelle Sein und Sosein, Gestaltung und Entwicklung der menschlichen Gruppen, sondern die jeweils herr­schende Minorität von Vorbildern und Führern gibt überall wenigstens

26 Formalismus, S. 558. 27 Ebenda, S. 496. 28 Ebenda. S. 560.

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die Grundlage und Hauptrichtung" 29. (Wir werden später noch einmal kurz auf die Schelersche Vorbild- und Führer-Theorie zurückkommen.)

Schelers ethischer Personalismus ist gleichzeitig ein metaphysischer. Das "absolut Gute" kommt in dieser Philosophie dem "persönlich Guten" gleich. Allgemeingültig gut kann immer nur das relativ Gute sein, das absolut Gute aber kann nur die nicht allgemeingültige person­haft-individuelle Gutheit sein, d.h. Gutheit, die sich innerhalb der Grenzen des nur Allgemeingültigen über das bloß Allgemeingültige als geistiger Überbau erhebt. Während bei Kant die Person erst dadurch einen positiv sittlichen Wert gewinnt, daß sie allgemeingültige Werte realisiert resp. einem allgemeingültigen Sittengesetz gehorcht, stellen diese allgemein­gültigen Werte für Scheler nur ein Minimum dar, das jedenfalls nötig ist, will die Person ihre individuelle Bestimmung erfüllen. Das ethische Personindividuum erreicht das höchste moralisch Gute nur dann, wenn es - wohl unter Respektierung der allgemeingültigen Werte - über diese letzteren hinausgeht, und sich seinen ihm eigenen axiologischen Qualitäten widmet, zu deren Realisierung nur es allein bestimmt ist. Auf das Erschauen seines einzigartigen individuellen Wertwesens baut sich das Bewußtsein des individuellen Sollens auf, auf das Erschauen also des "An-sieh-Guten für mich". Das "Gute für mich" ist also weder ein Resultat meiner persönlichen Vorzüge noch meiner subjektiven Vorstellungen, es ist das Gute an sich, und damit durchaus objektiv. -Wir sehen hier die tiefe Verbundenheit zwischen Personalismus und Objektivismus: ein objektives Prinzip schreibt jeder Person ihre Berufung und die Aufgabe, ihr eigenes Heil zu verwirklichen, vor. "Für mich" heißt hier nur die gelebte Referenz zu meiner Person, die die ihr eigene Wertewelt verwirklichen muß, und diese individuelle Wertewelt ist das Gute-An-Sich für mich, also objektiv. - Dasselbe gilt ja auch für die Erkenntnis - das vorige Kapitel hat Beides ausführlich behandelt. Die philosophische Wahrheit ist ihrem Wesen nach rein sachliche und abso­lute Wahrheit, und darum in ihrem Inhalt und in Bezug auf den Gegen­stand, auf den die Erkenntnis geht, persönlich und nicht allgemeingültig, sondern bestehend nur für die Person und auch gültig nur für sie. "Nicht das absolute Wahrsein der Erkenntnis ist nur ,für eine Person', sondern es ist wesensnotwendig, daß, sofern absolute Erkenntnis und absolut wahre Erkenntnis gegeben sein soll und der Anspruch des Erkenntnisstre­bens bis zu dieser letzten Stufe gesteigert wird, der Inhalt und der Gegen­stand dieser absoluten Wahrheit nur für eine ,Person' da ist und da sein

29 Nachlaß I, S. 264.

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kann. Soweit ein Mensch also noch nicht bis zu dem Wahrheitsinhalt für seine Person, und damit bis zur ,Welt seiner Person', vorgedrungen ist, hat er es noch mit relativen Wahrheiten oder besser mit Wahrheiten für relative Gegenstände zu tun - relativ nämlich auf die Gattung, der der psychophysische Träger der Person angehört" 30. Und diese Lehre will sich als Gegenpol verstanden wissen zu allem Subjektivismus und allem Relativismus. Das An-Sich der Welt ist nach Schelers Auffassung so eingerichtet, daß Welt sich nur der Totalität einer Person (in je verschiedenen Ansichten je nach deren Individualität) aufschließt. Und da diese je nach Individualität verschiedenen Ansichten sich ergänzen und harmonisieren, kann die Totalität der Welt nur in einer Zusammenschau aller Personen adäquat erfaßt werden. Erst die Zusammenschau und die Durchdringung der allgemeingültigen sittlichen Werte und der allge­meingültigen Wahrheiten - deren positiver Wert keineswegs geleugnet wird - mit den individualgültigen ergeben die volle Evidenz für das Gute und Wahre an sich 31.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Schelerschen Personalismus, der bisher außer Acht gelassen wurde, muß hier noch behandelt werden: die Lehre von den Wesensarten der menschlichen Verbände und insbe­sondere die Lehre von der Gesamtperson. Scheler unterscheidet vier Wesensformen menschlicher Gruppierung überhaupt, die er nach zwei Prinzipien eingeteilt hat: nach der Art und dem Zustandekommen der seelisch-bewußten Verknüpfung und nach den Werte- und Güterarten, auf die der Verband und auf die seine Glieder miteinander hinschauen und die sie zu verwirklichen haben. Nach den wesensverschiedenen Arten des Miteinanderseins und Miteinanderlebens, in denen sich die verschiedenen Sozialeinheiten konstituieren, unterscheidet unser Philo­soph die Form der fluktuierenden Horde (Masse), die der dauernden Lebensgemeinschaft, die der Gesellschaft und die Form des personalisti­schen Solidaritätssystems selbständiger, selbst- und mitverantwortlicher Individuen, die person-solidarische Verknüpfungsform unvertretbarer Individuen in der Gesamtperson. Die geistige Gesamtperson ist eine eigentümliche Gesamtrealität, die sich auf die Lebensgemeinschaft und die Gesellschaft gleichmäßig aufbaut, die wie die Masse und die Lebens­gemeinschaft eine Eigenrealität besitzt, unabhängig von der Summe der Individuen, eine Realität gleichzeitig mit selbständigen Formen und Regeln der Entfaltung und des Niedergangs. Bei diesen geistigen, nicht

80 Nachlaß I, S. 302. 31 Vgl. Formalismus, S. 484.

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künstlichen, sondern realen Gesamtpersonen denkt er vor allem an den Staat (Willens- und Herrschaftsperson), die Nation, den Kulturkreis (z.B. den europäischen Kulturkreis als Kulturgesamtperson) und die Kirche (Gesamtheilsperson im weitesten Sinn), und die Güter, auf die sie bezogen sind, sind geistige Gesamtgüter wie die Heilsgüter, die Kulturgüter und die Willens- und Herrschaftsgüter. Die Gesamtperson ist ein konkretes geistiges Aktions- und Willenszentrum, ein konkreter personhafter, d.h. alle Daseinsgebiete umfassender Gesamtgeist und Gesamtwille, der von den Einzelgeistern verschieden ist und an dem diese in verschie­denem Maße, je nach ihrer Lage, Stellung, Berufsangehörigkeit, teil­haben. Die Glieder der Gesamtperson gehen nie vollständig in das höhere Ganze auf, sie bleiben vielmehr selbständige, selbstverantwort­liche Wesen - ihre individuelle Eigenwürde bleibt somit unangetastet-, die das Ganze bewußt und spontan in sich aufnehmen und sein Schicksal mitverantworten. Die Glieder der geistigen Gesamtperson sind also zugleich selbstverantwortlich und doch auch für das Ganze durch Soli­darität verbunden. Nach Scheler ist jedes Personindividuum "selb­ständiges und selbstverantwortliches Aktionszentrum und mitverantwort­liches Glied für die Taten und Werke der Gesamtpersonen, zu denen es gehört" 32.

Auf der Stufe dieser höchsten sozialen Einheit ist jede Person gleich­zeitig Einzelperson und Glied einer Gesamtperson. Das Sein der Person als Einzelperson konstituiert sich in der besonderen Wesensklasse der singularisierenden Eigenakte, das Sein der Gesamtperson in der beson­deren Wesensklasse der sozialen Akte. Auf der Gegenstandsseite ent­spricht der Einzelperson eine Einzelwelt, der Gesamtperson eine Gesamt­welt; Einzel- und Gesamtwelt sind also wesensnotwendige Seiten eines konkreten Ganzen von Person und Welt. Die Gesamtperson ist erlebte Realität und keineswegs eine irgendwie geartete Summe oder ein irgend­wie geartetes künstliches oder reales Kollektivum von Einzelpersonen : zu jeder Person gehört eine im Erleben gegebene Einzelperson und eine ebenso im Erleben gegebene Gesamtperson : jede Person ist sich selbst auch als Glied einer umfassenden Persongemeinschaft im Selbsterleben gegeben, und ethisch erscheint dieses Erleben ihrer notwendigen Glied­schaft in einer Sozialsphäre überhaupt in der Mitverantwortlichkeit für das Gesamtwirken dieser Sphäre.

Aber - und hier beginnen unserer Ansicht nach die Schwierigkeiten des Schelerschen Standpunktes - die Gesamtperson ist auch eine eigen-

32 Nachlaß I, S. 266.

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ständige Realität. Sie ist im vollen Sinne des Wortes selbst eine Person, und als solche besitzt sie alle Eigenschaften der endlichen Person : so ist auch sie z.B. ihrem Wesen nach Glied einer umfassenderen Gesamt­person und somit mitverantwortlich sowohl für ihre Glieder - die ihr zugehörigen Einzelpersonen - als für die umfassenden Gesamtpersonen, deren Glied sie ist. Wie jede endliche vollkommene Person hat auch sie eine Intimsphäre und eine Sozialsphäre. Auch ist die Gesamtperson, in dem Maße, als sie reine Person ist, ein individuelles, einzigartiges Sein, ihr Wert ist ein individueller, einmaliger Wert, und demgemäß gibt es auch für jede Gesamtperson außer allgemeingültigen objektiven Guten noch ein individualgültiges, objektives Gutes, außer dem allgemein­gültigen Wahren noch ein individualgültiges Wahres. Ja, sie hat sogar ein von dem "Bewußtsein von" der Einzelperson verschiedenes selb­ständiges "Bewußtsein von". - Die Gesamtperson und ihre Welt ist in keiner der ihr zugehörigen Gliedpersonen ganz, in jeder und von jeder erlebt, aber als ein sie an Dauer, Gehalt und Wirkungsspielraum Über­ragendes gegeben. Ihre Existenz und deren strenge Kontinuität als Gesamt­person ist nicht an die Existenz ihrer jeweiligen Glied-Einzelpersonindi­viduen gebunden. Gegenüber dieser Gesamtperson sind die Gliedperso­nen prinzipiell ersetzbar und vertretbar.

Die Gesamtperson ist ein geistiges Individuum ebenso wie die Einzel­person, und vor allem sie ist eine echte Person. Gingen wir noch überein mit Scheler in der Auffassung, daß der Wesens klasse der sozialen Akte innerhalb der Einzelperson eine ebenso bedeutsame, ja sogar gleichur­sprüngliche Stelle eingeräumt werden muß wie den Akten vom Wesen der singularisierenden Eigenakte - auch wenn uns hier schon der Begriff "Gesamtperson" unglücklich gewählt schien -, so können wir uns jedoch keinesfalls mit ihm einverstanden erklären, wenn er den sozial höheren Einheiten wie eben Staat, Nation, Kulturkreis und Kirche einen echten Personcharakter zumißt. Vielleicht sah er sich hierzu irgendwie gezwungen, um nicht von seinem personalistischen Prinzip abgehen zu müssen, daß nicht etwa die Gemeinschaftswerte, sondern die Person­werte die höchsten Werte sind. Gewiß war diese Personalitätsübertragung auf die höheren Einheiten nicht notwendig, um das seine Philosophie so auszeichnende "Solidaritätsprinzip" (womit sich das übernächste Teil­kapitel befassen wird) zu begründen.

Auch wir glauben, daß die Einzelperson nie gesehen werden darf außerhalb ihrer wesensmäßigen Gleichursprünglichkeit mit der sozialen oder intersubjektiven Verknüpfung, daß jene von Scheler als Gesamt­personen bezeichneten Einheiten in gewissem Sinne auch Aktvollzieher

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sind, daß ihnen die Wertträgerschaft ethischer Aktvollzüge in gewissem Maße zuzuschreiben ist; wir können aber nicht damit übereingehen, daß ihre Einheit eine rein personale ist. Alle hier angeführten Eigen­schaften genügen unserer Ansicht nach nicht, diesen Wesensformen menschlicher Verbände Personalität in vollem, ja bei Scheler gesteigertem Maße, zukommen zu lassen. Der primäre Träger sittlicher Werte bleibt in unseren Augen das Personindividuum, und alle höhere soziale Einheit kann diesen Anspruch nur geltend machen durch die Vermittlung der ihr zugehörigen Einzelpersonen. Die wirklichen Träger der gemein­samen Verantwortung - ethisch gesehen - bleiben eben letzten Endes doch die Einzelpersonen, wie sehr die ganze Last der Verantwortung sich auf letztere verteilen mag. - In dieser Hinsicht stimmen wir fast ganz überein mit der Kritik, die N. Hartmann in seinem Hauptwerke an den Sche1erschen Begriff der "Gesamtperson" richtet. "Das ist ein Gesichts­punkt, der den Menschen gegen die auf ihm erbauten Gesamtheiten herabsetzt und diese auf seine Kosten erhebt. Volk, Staat, Menschheit erscheint dann auch als Wertträger in höherem Sinn als der Mensch selbst, dessen Personalität sie in Wahrheit nur verblaßt wiederspiegeln"33. - Auch uns scheint die Übertragung des Personcharakters auf die sozial höheren Einheiten der Kritik kaum standzuhalten; die sozial höheren Einheiten sind keine reinen Personen, sie sind wohl ein Analogon der Person.

2. Der Dualismus in Schelers Philosophie der Person und seine Aus­weitung auf die metaphysische und religions philosophische Ebene

Nach diesen allgemeinen Überlegungen zu Schelers Personphilosophie soll nun auf zwei Besonderheiten dieses Personalismus eingegangen werden, zwei wesentliche Aspekte, die ihm als dem Schelerschen eigen­tümlich sind. Und hier steht an erster Stelle der vielerorts angeführte Dualismus, der allerdings keineswegs auf die anthropologische Ebene beschränkt ist, sondern über sie hinaus auch für seine Metaphysik und seine Religionsphilosophie in der Spätperiode charakteristisch ist. Es muß hier nämlich unserer Ansicht nach eine scharfe Unterscheidung gemacht werden zwischen dem Frühwerk und der "klassischen" Schaf­fensperiode einerseits, und den späten Schriften andererseits. Auch wenn Scheler selbst versucht (wie wir später aufzeigen werden), diese Unter­scheidung zu bagatellisieren und sie als seinem Denken immanente

33 VgI. HARTMANN Nicolai, Ethik, 2. Auft., Berlin, 1949, S. 249.

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Entwicklung darzustellen, glauben wir, diese Unterscheidung treffen zu müssen. Damit wollen wir allerdings nicht behaupten, daß dieser Dualismus vor 1922 nicht in gewissen Keimen schon vorhanden war, aber es handelt sich eben nur um Keime, Ansätze, die keineswegs ausgearbeitet worden waren. Und da unser Philosoph sich vor 1922 dieser dualistischen Tendenz selbst kaum bewußt war, werden wir den Begriff "Dualismus" nur als Charakterisierung seines Spätwerkes zulassen. Der Übergang von "Ansätzen zum Dualismus", oder besser gesagt, von der Annahme einer (unserer Ansicht nach bestehenden) Dualität zum Dualismus selbst ist eben ein Sprung, der von Scheler erst nach 1922 vollzogen worden ist. Deshalb kann unserer Ansicht nach in dieser Hinsicht auch nicht von einer einfachen Entwicklung der Schelerschen Gedanken die Rede sein; dafür ist der Übergang zu abrupt, zu sprunghaft. - Auch waren die Ansätze zum Dualismus in seinen Schriften vor diesem Datum rein anthropologischer Natur, und die Aus­weitung auf die metaphysische und die religionsphilosophische Ebene vollzog sich erst nach diesem Zeitpunkt. Demzufolge muß diese Ausle­gung, denn hier handelt es sich kaum um Interpretation, eine dreiglie­drige sein: 1. Die Ansätze zum anthropologischen Dualismus in der Zeit vor 1922; 2. Die Ausarbeitung dieses anthropologischen Dualismus in der Spätperiode; und 3. Die Ausweitung dieses Dualismus auf die metaphysische und die religionsphilosophische Ebene innerhalb der letzteren Zeitspanne.

Als Anfang diene uns ein Auszug aus einer Übersicht der gegenwärti­gen Anthropologie, der noch das Gegenteil zu behaupten scheint. In dieser Übersicht sagt E. Ströker, daß Scheler zu den Philosophen gehört, für weIche die Phänomenologie den Gegensatz von Leib und Seele, Körper und Bewußtsein aufhebt, welche von der erlebten und phäno­menal ungesonderten Einheit des Menschen ausgehen und einzig im sinnhaften Verhalten des Menschen zur Welt ihren Ausgangspunkt haben 34. - Wir stimmen mit dieser Aussage insofern überein, als auch wir glauben, daß Schelers Anthropologie als sinnverstehend im obigen Sinne gedeutet werden will, und daß er bemüht war, ja es ihm sogar gelungen ist, den Gegensatz von Leib und Seele und den von Körper und Bewußtsein zu überwinden. Er betont ausdrücklich, daß seiner Ansicht nach der herkömmliche Dualismus zwischen Geist und Körper, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit keiner phänomenologischen Prüfung

34 Vgl. STRÖKER Elisabeth, Zur gegenwärtigen Situation der Anthropologie, in Kam-Studien 51 (1959/60), S. 462.

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standhalten kann. Die Einteilung der menschlichen Natur in Vernunft als Formendes und Sinnlichkeit als Geformtes wird streng zurückgewiesen. Für ihn ist die dualistische Auffassung des Verhältnisses von Leib und Seele philosophisch einfach falsch. "Der Leib gehört wesensnotwendig, nicht nur zufällig, zur Seele des Menschen" 35. - Was jedoch unserer Ansicht nach vielfach übersehen wird, ist die Tatsache, daß sich bei Scheler ein anderer Gegensatz einschleicht, auf den vor seiner Spät­periode kaum Nachdruck gelegt wird, der aber trotzdem in Ansätzen schon vorhanden ist.

Der Gegensatz, von dem hier die Rede ist, ist derjenige von Geist und Leben, von Liebe - als geistigem Akt - und Trieb. Schon in seiner Habilitationsschrift 36 können hierzu die ersten Ansätze aufgespürt werden : in der Kritik der psychologischen Methode erklärt er den Geist aller Psychologie transzendent und verwirft die Anwendung des Begriffes des psychischen Seins oder Geschehens auf die Geistesakte. Schon hier finden wir also eine gewisse Trennung von geistigem und psychischem Sein innerhalb der menschlichen Person. Folgerichtig ist mithin das eigentliche Sein der Person - das geistige Sein - aller psychologischen Forschung transzendent. Schon hier scheint Scheler nicht genug den Nachdruck darauf zu legen, daß sich die Existenz unserer menschlichen Person nie im Geiste allein, sondern nur als Ganzes, d.h. auch als Psyche, erfüllen kann, und man darf diese Aussagen deshalb als erste Ansätze zu einem dualistischen Denken bezeichnen.

Die deutlichsten Keime jedoch des später sich in voller Schärfe darbietenden Dualismus finden sich in der sog. klassischen Schaffens­periode, und hier am ausgeprägtesten in Wesen und Formen der Sym­pathie. Ein erstes Mal haben wir schon im zweiten Kapitel unter "Liebe und Trieb" und "Liebe und Erkenntnis" auf diesen Gegensatz hinge­wiesen, als wir andeuteten, daß zu dieser Zeit das Verhältnis von Liebe und Trieb noch völlig unklar sei. Hier standen sich gegenüber die kraftvollen aber blinden Triebe und die sehende, entdeckende Liebe. Schon zu diesem Zeitpunkt ist für Scheler der Mensch als Geistwesen die Sackgasse der Natur: Seinem Dasein nach ist der Geist die Episode in der tierischen Entwicklung, die von den Lebenswerten aus gesehen eine Krankheit genannt werden muß; vom biologischen Standpunkt aus muß der Mensch als das krankgewordene Tier bezeichnet werden. Krankheit, die sich aber selbst überwinden kann: schon hier wird die

85 Schriften, S. 262. 36 Die transzendentale und die psychologische Methode, in Frühe Schriften.

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Vergeistigung des Lebens als die Zuwendung der Kraftfaktoren des Lebens an die an sich kräftelosen Akte des Geistes definh.:rt 37. Im Menschen herrscht ein lebendiger Kontakt zwischen dem Geist, d.h. dem Inbegriff aller übertierischen Akte wie Denken, Schauen, Wollen, Lieben, und deren Seinsform, der Person, mit den Lebenstrieben und den Lebensgefühlen, die vom Tierischen nur graduell verschieden sind. -Und auch schon in der klassischen Schaffenszeit gehört zur "Objektivi­tät" die ontische Losgelöstheit des Geistes von den biologischen Trieben, Bedürfnissen und Aufgaben des psychophysischen Organismus.

Und auch hier schon ist der Geist nicht nur "ohnmächtig" : er allein vermag Helle zu erzeugen, während die Triebe und die sinnlichen Regun­gen nur täuschende und verhüllende Kräfte sind. Der Geist ist dazu befähigt, sich über das niedrig Triebhafte, über die vitale Sphäre des Leibes zu erheben. Die Liebe als geistiger Akt ist eben nicht Dienerin des Lebens, sondern durch sie, durch ihre Regung und Bewegung, gewinnt das Leben erst seinen höchsten Sinn und Wert: die Liebe durch­bricht die Gesetzmäßigkeit des natürlichen Trieblebens und löscht sie aus; der Geist allein ist die sinngebende Instanz. - Und dies steht in engem Zusammenhang mit dem, was eingangs des dritten Kapitels aus­geführt worden ist: da bei Scheler der Mensch nicht schon durch die Zeugung Person ist, da das Personsein sich bei jedem erst herausschälen muß, es erst später ins Dasein tritt, entwickelt sich in dieser Philosophie eine dualistische Tendenz; und zwar nicht mehr der cartesianische Dualis­mus von Seele und Körper (als Ausdehnung), sondern von Person und Leben: erst durch die Tat (und hier muß wieder auf den Einfluß Fichtes hingewiesen werden) wird der Mensch zur Person. "Erst an der Pforte der Tat gliedern sich die Lebensinhalte und erhalten sie die Einheit der ideen- und seelendurchwirkten Person" 38. In dieser Auffassung der Tat scheint begründet der Schelersche Dualismus, die Wesensgrenze, die hier gezogen wird zwischen dem Menschen als Geistwesen und dem Menschen als Lebewesen: erst durch die Tat vermag sich der Mensch als Person zu konstituieren.

Waren so schon in Schelers Werk vor 1922 verschiedene Ansätze und Keime eines dualistischen, Denkens vorhanden, gewinnt der Dualis­mus nach diesem Zeitpunkt eine wesentlich andere Bedeutung : mußte er vorher wirklich noch aufgespürt werden, wird er jetzt zu einem der Hauptthemen, zu einem der Hauptpfeiler, auf den sich sein verändertes

37 Vgl. Vom Ewigen im Menschen, S. 234. 38 Schriften, S. 211.

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Menschen- und Weltbild stützt. Auch wenn unser Philosoph selbst auf die Kontinuität seiner Anschauungen in dieser Hinsicht hinweist : "Die Scheidung von ,Geist' und ,Leben' liegt schon meiner Erstlings­schrift ,Die transzendentale und die psychologische Methode' (1899), ferner meiner ,Ethik' zu Grunde" 39, glauben wir doch, daß es sich hier nur um den Versuch handelt, den Umbruch von 1922 - das Wort "Bruch" soll hier vermieden werden -, der ihm so oft zum Vorwurf gemacht wurde, zu minimisieren oder zu vertuschen, indem er ihn als normale Entwicklung früheren Gedankengänge auslegt. Konnte vor 1922 von "Ansätzen zu einem anthropologischen Dualismus" gesprochen werden, so handelt es sich jetzt nicht mehr um nur Ansätze : in seinen Spätwerken 40 ist dieser anthropologische Dualismus voll ausgebaut und erweitert sich zu einem metaphysichen Dualismus, und nur in Bezug auf das Spätwerk ist der Ausspruch Landmanns zu verstehen, daß mit Scheler die moderne Anthropologie in Gegenwendung gegen einen falschen Monismus dualistisch beginnt. "In Opposition gegen den krassen Naturalismus, in dem er <Scheler> noch aufgewachsen war und der alles Höhere kausalgenetisch aus Materie oder Keimplasma ableitete, griff er, um wenigstens wieder den Menschen in seiner Gesamt­heit und Besonderheit zu Gesicht zu bekommen, zurück auf Schopen­hauers Dualismus von ,Drang' und ,Geist' als ,konstitutives Nein zum Triebe'. Der Mensch ist für ihn der Asket, der sich außerhalb des unmit­telbaren Lebens und gegen es stellt, durch Wesensschau den Realitäts­druck der Welt aufhebt und den eigenen Trieb hemmt" 41.

Einerseits wird also der in Ansätzen schon vorhandene anthropolo­gische Dualismus so stark ausgebaut, daß Frings mit Recht behaupten kann, daß "der Begriff der Person ... sich in den beiden letzten Jahren immer mehr mit dem des Menschen als geistfähigen Vitalwesens zu vermischen" 42 scheint. Stand in seiner "klassich" personalistischen Zeit beim Menschen noch der Geist und vor allem die geistige Liebe im Vordergrund, so wird nun das Vitalwesen, das dynamisch Trieb-

39 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 84, Fußnote. 40 Von den bisher veröffentlichten Spätschriften sind in diesem Zusammenhang

zu beachten: Die Wissensformen und die Gesellschaft (Gesammelte Werke, Band 8), Idealismus-Realismus, in Philosophischer Anzeiger 2 (1927/28), S. 255-324, Die Stellung des Menschen im Kosmos, und Philosophische Weltanschauung.

41 LANDMANN Michael, Philosophische Anthropologie (Sammlung Göschen, Band 156-156a), 3. Aufl., Berlin, 1969, S. 95.

42 FRINGS Manfred S., Person und Dasein. Zur Frage der Ontologie des Wertseins (Phaenomenologica, Band 32), Den Haag, 1969, S. 91.

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hafte im Menschen besonders hervorgehoben. Die Scheidung von Geist und Leben, zwischen Geist und Trieb, wird zu einem wahren Dualismus ausgebaut, denn es handelt sich bei dieser Scheidungja nicht um diejenige zwischen Mensch und Tier, sondern um die zwischen Person und bloßen Menschen, der sich nicht wesenhaft, sondern nur graduell vom Tier unterscheidet. - Sucht man nach den Quellen dieses plötzlichen Um­schwungs, dieser nicht mehr nur als normale Entwicklung früheren Denkens dahinzustellenden Unterstreichung und Hervorhebung des Triebhaften, der dunklen Lebensmächte im Menschen, und ihre radikale Gegenübersetzung zu allem "Geist" (ebenso wie die Lehre von der Ohn­macht des Geistes), so darf unserer Ansicht nach - in der Einleitung wurde schon darauf hingewiesen - der Einfluß des sog. Stefan-George­Kreises keineswegs unterschätzt werden. Es ist in dieser Hinsicht be­zeichnend, daß Scheler vor allem in diesen Jahren wiederholtermaßen "Philosophen" wie Ludwig Klages oder Theodor Lessing anführt.

Zum "Problem der menschlichen Natur" sagt Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos, daß Descartes mit seiner Einteilung aller Substanzen in denkende oder ausgedehnte ein ganzes Heer von Irrtümern schwerster Art in das abendländische Denken eingeführt hat. Ihm sei es anzurechnen, daß die Grundkategorie des Lebens und seiner Urphä­nomene "hinausgeworfen" worden seien, daß sehr lange die Tatsache verborgen blieb, daß es ein und dasselbe Leben ist, das in seinem Inne­seio psychische, in seinem Sein für andere leibliche Formgestaltung besitzt. Ihm gegenüber behauptet Scheler - und glaubt dies durch die moderne Physiologie bewiesen -, daß "der physiologische und der psychische Lebensprozeß ... ontologisch streng identisch" 43 sind; sie sind eben nur phänomenal verschieden. "Physiologisch" und "psycholo­gisch" sind nur zwei Seiten der Betrachtung eines und desselben Lebens­vorgangs. Die Identifizierung des physischen Organismus mit einem Mechanismus verbarg Descartes in Schelers Augen die auf der psychi­schen Seite herrschende Selbständigkeit und Priorität des gesamten Trieb- und Affektlebens vor allen bewußten Vorstellungs bildern. Das Triebsystem im Menschen macht eben die "Einheit des Lebens" aus und bildet die Vermittlung zwischen jeder echten Lebensbewegung und den Inhalten des Bewußtseins. - Und hier tritt nun Schelers Dualismus deutlich zutage: Alle geistigen Akte, da und sofern sie ihre ganze Tätig­keitsenergie aus der lebendigen Triebsphäre beziehen und ohne irgend­welche Energie sich nicht für unsere Erfahrung manifestieren können,

43 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 74.

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besitzen stets ein physiologisches und ein psychisches Parallelglied. "Leben" und "Geist" sind zwei wesensverschiedene Prinzipien, die aber im Menschen aufeinander angewiesen sind: der Geist ideiert das Leben, aber den Geist in Tätigkeit zu versetzen - sei es die einfachste Aktre­gung oder die schöpferische Leistung eines geistig sinnbeinhaltenden Werkes -, ihn zu verwirklichen vermag nur das Leben.

Auf der einen Seite im Menschen steht also das Leben, das als psycho­physisches eins ist. Psychisches und Physiologisches sind nur zwei Seiten eines und desselben Lebensvorganges, denen zwei Betrachtungs­weisen desselben Vorganges entsprechen. Und dieses eine psychophy­sische Leben teilt der Mensch mit allen anderen Lebewesen, auch wenn beim Menschen eine höhere, eine gesteigerte Einheit festzustellen ist, auch wenn der Ablauf der psychischen Funktionen beim Menschen ein erheblich anderer ist als beim Tiere, auch wenn große physiologische Unterschiede bestehen - es sind dies aber keineswegs wesentliche Unterschiede; in dieser Hinsicht ist der Mensch immer nur graduell von den anderen Lebewesen verschieden.

Der Gegensatz im Menschen wird also nicht gebildet durch Leib und Seele oder Körper und Seele, er ist viel höherer und zugleich tiefer­greifender Ordnung : dem Leben steht gegenüber der Geist, und dies gilt ebensowohl für den Menschen wie für den Grund aller Dinge (auf Letzteres werden wir sogleich zurückkommen). Der alles vergegenständ­lichende und selbst nie gegenständlich werdende Geist als Vollzieher sowohl der psychischen wie der physiologischen Betrachtungsweise ist dem Gegensatz von Leib und Seele überlegen. Wohl ist der überräum­liche und überzeitliche Geist, sofern der geistige Akt Tätigkeit bean­sprucht, in diesem Maße abhängig von einem zeitlichen Lebensvorgang und gleichsam in ihm eingebettet. Geist und Leben sind eben aufeinander hingeordnet und es wäre grundirrig, sie in eine ursprüngliche Feindschaft setzen zu wollen.

Auf anthropologischer Ebene stehen demzufolge Geist und Leben als zwei ungleiche Partner ein und desselben menschlichen Daseins nebeneinander. "Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines Geistes sich zu seinem Leben, das heftig es durchschauert, prinzipiell asketisch -die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrängend, d.h. ihnen Nahrung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellungen versagend -verhalten kann" 44. Der Mensch ist der Asket des Lebens, der immer danach strebt, die Wirklichkeit, die ihn umgibt, das Jetzt-Hier-So-sein

44 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 55.

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und seine eigene jeweilige Selbstwirklichkeit zu transzendieren. Und diesen Akt des Transzendierens vollziehen kann eben nur der Geist. Nur durch ihn hat der Mensch Zugang zum Wirklichsein des Wirklichen. Als Geistwesen, d.h. als Person, ist der Mensch das sich selber als Lebe­wesen und der Welt überlegene Wesen: er allein vermag sich über sich als Lebewesen emporzuschwingen, und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt alles, auch sich selbst, zum Gegenstand seiner Erkenntnis zu machen.

Wie läßt sich aber nun das Grundverhältnis dieser beiden Pole im Menschen näher bestimmen? Scheler weist ebensowohl die griechisch­klassische Auffassung zurück, nach welcher der Geist nicht nur eigen­tümliche Wesenheit und Autonomie besitzt, sondern auch eigene Kraft und Tätigkeit, nach welcher die geistigen Seinsformen die kraftvollsten und mächtigsten sind, wie die "negative Theorie" vom Menschen, nach welcher der Geist oder zumindest alle kulturschaffenden Tätigkeiten des Menschen aus dem Nein zur Wirklichkeit erst entstehen. In letzterer Hinsicht verwirft er auch die Sublimierungstheorie Freuds, wonach der Geist erst aus Verdrängung und darauffolgender Sublimierung entsteht. Schelers Auffassung nach können beide Theorien einer näheren Prüfung nicht standhalten; er gibt ihnen aber in je einem Standpunkt recht: in seinen Augen hat der Geist zwar eigenes Wesen und Gesetzlichkeit, aber er hat keinerlei ursprüngliche Eigenenergie. Der Geist besteht nur in einer Gruppe von reinen Intentionen, er ist von Hause aus ohnmächtig, ursprünglich schlechthin ohne alle Kraft, Macht, Tätigkeit. Um irgend­einen auch noch so kleinen Grad von Kraft und Tätigkeit zu gewinnen, muß eben diese Askese, diese Triebverdrängung und gleichzeitige Subli­mierung hinzukommen: durch diesen negativen Akt des geistigen triebhemmenden W ollens erhält der Geist seine Energie - aus ihm "entspringen" jedoch tut er nicht. Das Nein zur Wirklichkeit, die Aus­schaltung der Wirklichkeit und Bild gebenden Triebzentren bedingt also nur gleichsam die Belieferung des Geistes mit Energie, bedingt seine Manifestationsfahigkeit, keineswegs aber sein Sein. Die wichtigste Funktion des Geistes ist somit die Unterdrückung und Verdrängung von Triebimpulsen, eine rein negative Tätigkeit, ein Hemmen und ein Enthemmen. Sublimierung heißt demnach bei Scheler Führerschaft eines an sich machtlosen Geistes über machtvolle Triebe, die er nur hemmen und enthemmen, nur durch Vorhalten von Bildern verlocken kann, sich für Zwecke des Geistes einspannen zu lassen.

Mit der "klassischen" Auffassung vom Menschen teilt Scheler demzu­folge die Ansicht, daß der Geist in seiner Essentia und seinen Gesetzen

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streng autonom ist, mit den negativen bzw. vitalistischen Auffassungen die Einsicht, daß das, was im Menschen im eigentlichsten Sinne schöp­ferisch mächtig und tätig ist, nicht das ist, was wir "Geist" (oder die höheren Bewußtseinsformen) nennen, sondern die dunklen unterbewuß­ten Triebmächte der Seele; der Irrtum dieser Lehren war es, die Tätigkeit und die Kraftgewinnung des Geistes, seiner Ideen und Werte, und sogar diese Ideen selbst nach ihrem inhaltlichen Sinnbestande, ferner die Gesetze des Geistes und sein inneres Wachstum aus diesen Triebmächten herleiten zu wollen. Nach Schelers Ansicht geben diese Theorien keine Antwort darauf, wer denn überhaupt diese Triebe verdrängt, wer denn dieses "Nein" spricht. Nach seiner Auffassung ist es eben der Geist, der bereits die Triebverdrängung einleitet, indem der idee- und wert­geleitete geistige Wille den idee- und wertwiderstreitenden Impulsen des Trieblebens die zu einer Triebhandlung notwendigen Vorstellungen versagt, der andererseits den lauernden Trieben idee- und wertange­messene Vorstellungen gleichsam wie Köder vor Augen stellt, um die Triebimpulse so zu koordinieren, daß sie das geistgesetzte Willensprojekt ausführen, in Wirklichkeit überführen 45. Und hierin besteht eben die Lenkung durch den Geist, die ein Hemmen (non fiat) oder ein Enthemmen (non non fiat) von Triebimpulsen durch den geistigen Willen ist, und die Leitung, die gleichsam die Vorhaltung der Idee und des Wertes selbst ist, die dann je erst durch die Triebbewegungen sich verwirklichen. -Der Geist vermag aber die Triebenergie nie zu erzeugen, aufzuheben, zu vergrößern oder zu verkleinern. Die Energiebelieferung versorgt eben jenes "Nein" zur Wirklichkeit; hieraus schöpft der Geist Macht, Tätigkeit und Fähigkeit zur Manifestation, hierdurch verlebendigt er sich: dies ist die Sublimierung des Lebens zum Geiste.

Der Kräfte- und Wirkstrom, der alles Dasein und zufälliges Sosein zu setzen vermag, läuft im Menschen und in der Welt von unten nach oben, d.h. die höheren Seins- und Wertkategorien sind von Hause aus die schwächeren. Der Geist, sofern er reiner Geist ist, ist ursprüng­lich ohnmächtig, aller Wirksamkeit und Macht von Hause aus unfähig. "Mächtig ist ursprünglich das Niedrige, ohnmächtig das Höchste". Wohl kann der Geist durch den Prozeß der Sublimierung Macht erwer­ben, können die Lebenstriebe in seine Gesetzlichkeit und in die Ideen­und Sinnstruktur, die er leitend ihnen vorhält, eingehen (oder nicht eingehen) und im Verlaufe dieses Eingehens und Durchdringens in Individuum und Geschichte dem Geiste Kraft ver-leihen - ursprünglich

45 Vgl. Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 62.

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und von Hause aus aber hat er keinerlei Energie. "Die höhere Seinsform ,determiniert' wohl sozusagen das Wesen und die Wesensregionen der Weltgestaltung - verwirklicht aber wird sie durch ein anderes Prinzip, das ebenso ursprünglich wie das geistige dem Urseienden eigen ist: durch das realitätschaffende und die zufälligen Bilder bestimmende Prinzip, das wir ,Drang' nennen" 46. - Aber mit dieser Aussage befinden wir uns schon im metaphysischen Dualismus, auf den wir gleich zurück­kommen werden.

Im Menschen kann der Geist und damit auch das geistige Wollen nur leiten und lenken, d.h. der Geist als solcher hält den Triebmächten Ideen vor, das geistige Wollen wendet den Triebimpulsen, die immer schon vorhanden sein müssen, solche Vorstellungen zu oder entzieht sie ihnen; Vorstellungen, welche die Verwirklichung dieser Ideen konkretisieren können. Das zentrale geistige Wollen hat demnach keine ursprüngliche determinierende Lenkdetermination auf die Triebe selbst, sondern auf die Abwandlung der Vorstellungen. Keine positive Macht, etwas hervor­zubringen, kommt ihm zu. Alles vermeintlich positive Wirken des geis­tigen Wollens ist stets und notwendig kein "reines" Wollen mehr, sondern immer mit Triebhaftem gemischtes Wollen 47. Als Ursache ist echtes Wollen eben stets nur "non fiat" oder "non non fiat", nur ein Hemmen oder Enthemmen von Triebimpulsen und korrelativen moto­rischen Nervenprozessen. So ist auch der freie Wille, im Unterschiede zu Trieb und Instinkt, keine positive Kraft des Schaffens und der Her­vorbringung, sondern nur negative Macht des Hemmens und Enthem­mens von Triebimpulsen. Auf die Handlung bezogen ist der Willensakt primär immer nur negativ mächtig. "Unter Freiheit des W ollens verstehen wir nur den Akt, der dem Dasein resp. der Realisierung des Projektums entspricht, nicht dem Inhalt d.h. dem Sosein des Projektums, das streng notwendig motiviert ist - durch Erfahrung, Erbanlage der Vitalpsyche und das überzeitliche individuale Wesen der Person. Als das mit freiem Wollen begabte Wesen könnte man daher den Menschen den ,Neinsager', den ,Asketen des Lebens' nennen" 48.

Durch das konstitutionelle Nein zum Triebe kann der Mensch seine Wahrnehmungswelt durch ein ideelles Gedankenreich überbauen, kann er seinem ihm einwohnenden Geiste die in den verdrängten Trieben

48 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 67. 47 Der Begriff "gemischtes Wollen" scheint auf eine gewisse Abschwächung des

Schelerschen Dualismus hinzuweisen: der dualistische Gegensatz scheint sich hier eher als eine Verknüpfung zweier eine Dualität darstellender Elemente auszuweisen.

48 Philosophische Weltanschauung, S. 124.

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schlummernde Energie steigend zuführen; mit anderen Worten: Der Mensch kann seine Triebenergie zu geistiger Tätigkeit "sublimieren", und dies durch Askese, d.h. durch Unterdrückung und Verdrängung der eigenen Triebimpulse, indem er ihnen die Nahrung durch Wahr­nehmungsbilder und Vorstellungen versagt. Man könnte zusammen­fassend sagen: "Der ohnmächtige Geiste bewältigt im Vollzug seiner selbst seine Ohnmacht gegenüber der Triebmacht durch Gewinnung einer wesentlich anderen Macht. (Jberlegen macht überlegen" 49. -

Und hier genau müßte unserer Ansicht nach die Kritik der Schelerschen Lehre von der Ohnmacht des Geistes ansetzen : da der Geist die niederen Seinskräfte doch irgendwie in seinen Dienst zu stellen vermag, da er die zwar autonom dastehenden Wirkkräfte der Realfaktoren doch leiten und lenken kann, muß ihm unserer Ansicht nach jedenfalls irgendwelche schöpferische, gestalterische freie Kraft zugesprochen werden. Dies erscheint uns besonders in der phänomenologischen Reduktion ersicht­lich. Der erste Kontakt mit der Wirklichkeit ist ein triebhaft-aktiver, in dem das Dasein unserm triebhaften Begehren Widerstand leistet; der Geist seinerseits ist frei von diesen stoßenden Kräften und vermag auf alle Natur "herabzulächeln" . Darum ist das, was Scheler "epoche" und "Einklammerung des Daseins" nennt, nur ein unzureichender Ausdruck für die fundamentale menschliche Möglichkeit, den gesamten Kräfte­bezug zur Wirklichkeit, diesen dynamischen Zug und Gegenzug von actio und reactio, im wahren Sinne "außer Kraft zu setzen", und dadurch eine geistige Welt von Wesenstatsachen zur Erscheinung zu bringen, die im Vergleich mit diesem Kraftbezug allerdings als kraftlos und macht­los erscheint. Man könnte hier von einer machtvollen Ohnmacht des Geistes sprechen~ von einer "hellsichtigen" Ohnmacht, die der "blinden" Gewalt der Triebe, ja der Kraft selbst als seinsprinzipiellen Dranges gegenübersteht.

Welches sind nun die Funktionen dieses als ursprünglich ohnmächtig beschriebenen Geistes? Scheler nennt drei essentielle Bestimmungen des Geistes 50, auf die sich alle spezifischen Leistungen des Menschen zurückführen lassen: 1. Die Bestimmbarkeit des Subjektes nur durch den Gehalt einer Sache, im Gegensatz zur Bestimmtheit durch Triebe, Bedürfnisse, Innenzustände des Organismus. 2. Begierdefreie Liebe zur Welt als Überschwang über alle Triebbezogenheit der Dinge hinaus. 3.

49 PAPE Ingetrud, Zur Metaphysik von Macht und Geist, in KritikundMetaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag, Berlin, 1966, S. 317.

50 Vgl. Philosophische Weltanschauung, S. 30.

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Die Fähigkeit, das Was sein (Wesen) von Daß-sein (Dasein) zu scheiden und an diesem" Wesen", das durch Aufhebung und Zerschneidung un­serer Begierdebezogenheit zur Welt und durch das Zurückweichen des an diese Bezogenheit geknüpften Daseinseindrucks gleichsam sich enthüllt, Einsichten zu vollziehen, die gelten und wahr bleiben für alle zufälligen Dinge und Fälle desselben Wesens ("Apriorieinsicht"). Dieser spezifisch geistige Akt ist der Akt der Ideierung : dank der phäno­menologischen Reduktion, d.h. durch die Aufhebung des Wirklichkeits­charakters der Dinge (so wird zumindest die Reduktion von Scheler in seinem Spätwerk definiert), unabhängig von der Größe und Zahl der Beobachtungen, die wir machen, und von induktiven Schlußfolgerungen, wie sie die Intelligenz anstellt, die essentiellen Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt an je einem Beispiel der betreffenden Wesens­region miterfassen. Auf diese Weise gewonnene Einsichten gelten nicht nur für diese wirklich daseiende Welt, sondern für alle möglichen Welten; sie gelten apriori. - Das Grundmerkmal des menschlichen Geistes ist demnach die Fähigkeit zur Trennung von Wesen und Dasein.

Das Wesen der Dinge, ihr Sosein zu erkennen ist demzufolge dem menschlichen Geiste gegeben. Das Dasein der Dinge hingegen bleibt ihm notwendig transzendent. Das Dasein der Dinge, ihr Wirklichsein, ist uns immer nur gegeben im Erlebnis des Widerstandes der schon erschlossenen Weltsphäre - und diesen Widerstand gibt es nur für unser triebhaftes Leben.

Scheler bleibt jedoch nicht stehen bei der anthropologischen Frage nach dem Verhältnis von Geist und Trieb, von Geist und Leben. Diese Frage führt ihn zu einer viel grundlegenderen : nach dem Verhältnis von Idee und Realität, von Wesen und Wirklichkeit, Essenz und Existenz, die einander in seinen Augen als machtlos-zeitloses Sosein und zeitliches, wirkkräftiges Dasein zugeordnet sind. Die Lösung dieser Frage steht in engem Zusammenhang mit dem Umschwung seiner religionsphilo­sophischen Ansichten, und es dürfte - in Unkenntnis des unveröffent­lichten Nachlasses - schwer sein auszumachen, welche dieser Ebenen im Schelerschen Denken den entscheidenden Umschwung eingeleitet hat: die anthropologische, die metaphysische oder die religionsphilo­sophische bzw. religiöse. - In der Spätperiode ist der Mensch, als Sackgasse, die er in der irdischen Lebensentfaltung darstellt, der Asket des Lebens, der aber zu mehr als zur bloßen Transzendierung des Lebens fähig ist: der die Person konstitutionierende Akt der Liebe ist gleich­zeitig identisch mit der Teilnahme am Aktzentrum Gottes. D.h. die Person steht in partieller Wesensidentität mit dem Wesen Gottes, der

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Kern der Person ist göttliches Sein. Dem göttlichen Sein der Person steht gegenüber der Mensch als Lebewesen. "Der Mensch ist das Wesen, in dem die Universalevolution, in welcher die Gottheit ihr Wesen verwirklicht und ihr zeitloses Werden enthüllt, ein Reich von Seiendem und von Wertvollem entdeckt, das hinausreicht über alles mögliche Milieu des Lebens und über allem nur vital Wichtigen und Unwichtigen steht und thront" 51.

Aber nicht nur als Geistwesen steht der Mensch in partieller Wesens­identität mit Gott als dem Grund aller Dinge, auch als Lebewesen steht er in diesem Verhältnis zur Gottheit. Als Geistwesen nimmt er an dem einen Attribut des obersten Seins teil - dem von Hause aus ohnmächti­gen Geiste, als Lebewesen am zweiten Grundattribut des obersten Seins - dem Drange. Auf dieser Ebene stehen sich also als zwei ungleiche Partner Geist und Drang gegenüber. Und das Grundverhältnis des Menschen zum Weltgrund liegt darin, daß dieser Grund sich im Men­schen - der als solcher sowohl als Geist- wie als Lebewesen nur je ein Teilzentrum des Geistes und Dranges des "Durch-sieh-Seienden" ist -, daß dieser Grund sich im Menschen selbst unmittelbar erfaßt und ver­wirklicht.

Das oberste Sein besteht demnach aus zwei Grundattributen : Einmal muß ihm zukommen ein ideenbildender unendlicher Geist, eine die Wesensstruktur der Welt und des Menschen selbst gemeinsam aus sich entlassende Vernunft 52. Und zweitens ein das irrationale Dasein und zufällige Sosein (die "Bilder") setzender, gleichfalls irrationaler Drang­eine dynamische phantasiereiche Mächtigkeit, in der die Kraftzentren und -felder der organischen Natur und das eine, an allen lebendigen Formen rhythmisch in Geburt und Tod von Individuen und Arten erscheinende Leben gleichmäßig verwurzelt sind. - Und erst eine

51 Philosophische Weltanschauung, S. 30. 52 Von Verstand natürlich scharf zu unterscheiden. Der Verstand oder Intellekt ist

die Fähigkeit eines Organismus, sich über den starren angeborenen Instinkt und das assoziative Gedächtnis hinaus neuen Situationen anzupassen - plötzlich und unab­hängig von der Zahl der vorher gemachten Probier-Versuche zur Lösung der Aufgabe. Verstandes schlüsse sind nur Erweiterungen unserer Erkenntnis des sinnlich Gegebenen. Der Verstand ist noch nichts spezifisch Menschliches, solange er im Dienste des Lebens­triebe (Nahrungs-, Geschlechts- und Machttriebe) und im Dienste der praktischen Reaktion auf die Umweltreize steht. Erst wenn der Intellekt in den Dienst der Vernunft tritt, d.h. in den Dienst der Anwendung vorher vollzogener apriorischer Wesens­erkenntnisse auf die zufälligen Tatsachen der Erfahrung, in den Dienst ferner oberster Einsichten in die Beziehungen der objektiven Wertordnung, d.h. in den Dienst der Weisheit und eines sittlichen Ideals, wird er etwas spezifisch Menschliches.

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steigende Durchdringung dieser beiden Tätigkeitsattribute des obersten Seins bildet dann den Sinn jener Geschichte in der Zeit, die wir " Welt" nennen. Diese Durchdringung muß gedacht werden als wachsende Vergeistigung des ursprünglich für Ideen und höchste Werte blinden schöpferischen Dranges und, nur von der anderen Seite gesehen, wach­sende Kraft- und Machtgewinnung des ursprünglich ohnmächtigen, nur Ideen entwerfenden unendlichen Geistes 53.

Und der Mensch kann nur zu seiner Bestimmung gelangen, wenn er sich als Glied dieser beiden Attribute des obersten Seins versteht und dieses Sein sich selbst einwohnend weiß. Erst im Menschen und seinem Selbst sind diese beiden - uns erkennbaren - Attribute des Ens a se lebendig aufeinander bezogen; der Mensch ist ihr Schnittpunkt, und in ihm wird der Logos, nach welchem die Welt gebildet ist, mit­vollziehbarer Akt, und dies, obzwar alle Dinge im Sinne einer kontinuier­lichen Kreation in jeder Sekunde aus dem Durch-sich-seienden-Sein hervorgehen aus der funktionellen Einheit des Zusammenspiels von Drang und Geist. Der Mensch ist eben der einzige uns zugängliche Ort der Gottwerdung, und er ist zudem auch ein wahrer Teilnehmer am Prozeß der Vergöttlichung der Gottheit, der den werdenden Gott als die steigende Durchdringung von Geist und Drang allererst miterzeugt.

Auch für die Gottheit gilt die These von der Ohnmacht des Geistes: auch das Sein, das nur durch-sieh-selbst ist und von dem alles Andere abhängt, kann, sofern ihm das Attribut des "Geistes" zugesprochen wird, als geistiges Sein keine ursprüngliche Macht oder Kraft besitzen. Es ist vielmehr das andere Attribut, die "natura naturans" im höchsten Sein, der allmächtige, mit unendlichen Bildern geladene Drang, der die Wirklichkeit und das durch Wesensgesetze und Ideen niemals ein­deutig bestimmte zufällige Sosein dieser Wirklichkeit zu verantworten hat. Bezeichnen wir das rein geistige Attribut des Seinsgrundes als "dei­tas", so kommt dieser "deitas" keinerlei schöpferische Macht zu. Um seine "deitas" zu verwirklichen, muß der Grund der Dinge den weItschaf­fenden Drang enthemmen. Im Drange der Geschichte muß das "Sein­durch-sich" im Menschen und durch den Menschen die ewige deitas verwirklichen. Das Werden der Welt ist nach Scheler nicht auf eine "Schöpfung aus Nichts" zurückzuführen, wie der Theismus glaubt, sondern auf das "Non non fiat", durch das der gotthafte Geist den daimonischen Drang enthemmte, um die nur "wesende" Idee des Gött­lichen zu realisieren. Um sich selbst zu realisieren, um die in ihm ange-

53 Vgl. Philosophische Weltanschauung, S. 12.

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legte Ideen- und Wertfülle zu verwirklichen, mußte Gott als Substantia die Welt und die Weltgeschichte in Kauf nehmen. Geist ist eben überall kein schöpferisches, nur ein grenzsetzendes, die zufällige Wirklichkeit im Rahmen des Wesensmöglichen erhaltendes Prinzip. - Aber die Geschichte der Selbstverwirklichung Gottes, der Selbstvergottung des Menschen, hat eine Richtung: Die Entwicklung zielt auf eine all­mähliche Umkehrung der ursprünglichen Verhältnisse, nach welchen die höheren Seinsformen die schwächeren, die niedrigeren die stärkeren sind. "Die gegenseitige Durchdringung des ursprünglich ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich dämonischen, d.h. gegenüber allen geistigen Ideen und Werten blinden Dranges: die werdende Ideierung und Vergeistigung der Drangsale, die hinter den Bildern der Dinge stehen, und die gleichzeitige Ermächtigung d.h. Verlebendigung des Geistes ist das Ziel und Ende endlichen Seins und Geschehens" 54. - Aus der Ohnmacht des Geistes wird demnach in Wahrheit also eine Vormacht: die Vormacht der Schau, der Theoria gegenüber der Praxis, gegenüber allem, was als Trieb und Drang blind ist in Bezug auf sich selbst.

Als Anwendungsbeispiel der These von der Ohnmacht des Geistes diene uns hier Geschichte und Gesellschaft, das von Scheler vor allem in seiner Abhandlung Probleme einer Soziologie des Wissens (in Die Wissensformen und die Gesellschaft) eingehend erläutert wird. Der Geist als solcher hat an sich ursprünglich und von Hause aus keine Spur von Kraft oder Wirksamkeit, die Dasein von z.B. Kulturinhalten ins Leben rufen könnte; er bestimmt nur und ausschließlich die Soseinsbeschaf­fenheit dieser Inhalte. Je reiner er Geist ist, desto machtloser im Sinne dynamischen Wirkens ist er in Geschichte und Gesellschaft. Wirksam und machtvoll sind in dieser Hinsicht allein die "Realfaktoren", d.h. die realen, triebhaft bedingten Lebensverhältnisse. Der Geist hat eben nur negative, lenkende d.h. hemmende oder enthemmende Bedeutung; gegenüber den Realfaktoren kommt ihm keinerlei soseinsbestimmte Determinationsbedeutung zu, ausschließlich negative Relationsbedeu­tung. "Der menschliche Geist - der singulär persönliche wie der kollek­tive - und Wille vermag hier nur eines: hemmen und enthemmen (loslassen) dasjenige, was auf Grund der streng autonomen, realen (be­wußtseinsmäßig) sinn blinden Entwicklungskausalität ins Dasein treten will" 5 •• - Die Realfaktoren gehen nach Dasein, Sosein und Wert ihren notwendigen, geistblinden Schicksalsgang. Ihnen gegenüber steht der

54 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 71. 55 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 22.

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Geist nur wie ein Katalysator im Prozeß der chemischen Verbindung. Nur Leitung als primäre Geistesfunktion - das Vorhalten einer wert­betonten Idee - und Lenkung als sekundäre Geistesfunktion - Hem­mung und Enthemmung der triebhaften Impulse, deren zugeordnete Bewegungen die Idee realisieren - einer festgeordneten Phasenabfolge eigengesetzlicher, automatisch eintretender, vom Willen des Menschen unabhängiger und geist-wert-blinder Geschehnisse und Zustände vermag der menschliche Geist und Wille gegenüber dem Gang der Realfaktoren zu leisten. Wenn Ideen auf keine Kräfte, Interessen, Leidenschaften, Triebe und deren in Institutionen verobjektivierte "Betriebe" stoßen (im Zug und Gegenzug), sind sie, wie hoch auch immer der ihnen eigene geistige Wert sei - realgeschichtlich völlig bedeutungslos. Das heißt jedoch nicht, daß die realgeschichtlichen Abfolgen den Sinn- und Wert­gehalt der geistigen Kultur in eindeutiger Weise bestimmten; auch sie enthemmen nur, beschränken oder hemmen die Art und das Maß der Auswirkung der geistigen Potenzen. - Dem Geist und den Idealfaktoren kommt in Bezug auf die Realfaktoren, auf einen an sich fatalen zeit­geordneten Prozeß nie positive, immer nur negative, d.h. leitende und lenkende Bedeutung zu.

Der Geist als das erste Attribut des absolut Seienden determiniert in letzter Linie die Strukturen der "möglichen Welt", der Wesenswelt in ihren Ideen und Urphänomenen (und in beider Deckung in ihren Wesenheiten und deren Strukturen). Dieser Geist wird in denje verschie­den individuierten Aktzentren - den Personen - dem Menschen zuteil, und in dem Maße, als er seine Wesenseinsichten auch zu funktionalisieren vermag und die je verschiedenartigen subjektiven, durch die Geschichte des Geistes in uns und durch uns ausgeprägten Geistesstrukturen miteinander zu synthetisieren lernt, wächst er der Fülle des göttlichen Geistes langsam entgegen: mehr und mehr gewinnt er Teilhabe an seinen Akten (Dies gilt auch für die Gottheit selbst, da es sich hier ja um eine gegenseitige Identität handelt: Gott im Menschen und der Mensch in Gott). - Da aber der Geist nur negativ, hemmend oder enthemmend wirken kann, macht er und seine Ideen, Urphänomene und Werte, uns weder das Dasein, noch das zufällige Sosein irgendeines Gegenstandes verständlich: "Die Realität ist in ihrer subjektiven Gegebenheit eine Erfahrung des ungeistigen, triebhaften Prinzips in uns: eine Erfahrung des einheitlichen, wie immer sich spezialisierenden Lebensdranges in uns. Und Realität ist als etwas Objektives und unserm Erfahren Trans­zendentes notwendig Gesetztheit durch das ursprünglich geistblinde dynamische Prinzip des Dranges - des anderen uns noch erkennbaren

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Prinzips des Urgrundes selbst" 56. - Es ist für Scheler eben ein ontolo­gisches Wesensgesetz, daß Dasein nie aus dem Logos notwendig folgt, sondern immer dynamisch gesetzt ist.

3. Schelers Personalismus als Solidarismus

Ein zweites herausragendes Merkmal des Schelerschen Personalismus muß zugleich als seine Bekrönung angesehen werden : in dieser Lehre ist sittlich wertvoll nicht die isolierte Person, sondern allein und aus­schließlich die ursprünglich sich mit dem Ganzen der Geisteswelt und der Menschheit solidarisch geeint fühlende Person. Es geht hier um die Schelersche Lehre von der ursprünglichen Mitverantwortlichkeit jeder Person für das sittliche Heil des Ganzen aller Personreiche, es ist die Geltung des Solidaritäts prinzips, wie es vor allem im Formalismus unter dem Titel "Einzelperson und Gesamtperson" 57 beschrieben wird. Dieses ethische Grundprinzip, das er nicht müde wird, immer wieder in seinen Werken herauszustreichen und mit dem er allen falschen sog. "Individua­lismus" überwunden glaubt, ist für ihn die Krönung seiner sozialethischen Bemühungen und deren letzte Formulierung. Er sieht in ihm das oberste Axiom aller Sozialphilosophie und aller Sozialethik.

Und dieses Solidaritätsprinzip ist zugleich der "natürliche" Abschluß dieser Arbeit, da hiermit die Person-Liebe-Lehre Schelers ihre höchste und letzte Formulierung findet. Mit dem Solidaritätsprinzip tritt ans Licht die neue Ordnung, deren Einheitsform personal, deren Band die Liebe ist. Das ontische Band der Liebe bewirkt die ontische Zuordnung der Personen aufeinander, eine ursprüngliche Verantwortung der Personen füreinander, eine ursprüngliche Solidarität. Und dieses "ursprünglich" besagt schon, daß sich diese sittliche Solidarität, diese Gegenseitigkeit aller moralischen Aktionen und Werte im Reich der endlichen Geister in voller Echtheit nur manifestieren kann in der vierten und höchsten Wesensart sozialer Einheit, nämlich in der Gesamtperson, einer Verknüp­fungsform, die nicht erst durch Vertrag festgelegt wird. Hier sind die Glieder selbständige und selbstverantworliche Wesen, die das Ganze bewußt und spontan in sich aufnehmen und sein Schicksal sowie das aller anderen Glieder mitverantworten. Hier herrscht eine ursprüng­liche solidarische Mitverantwortung für Existenz, Sinn und Wert des Ganzen. Durch das Solidaritätsprinzip wird die gesamte moralische

&8 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 360, 57 S. 509-548.

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Welt zu einem großen Ganzen, das bei jeglicher, auch bei der kleinsten Veränderung in ihm als Ganzes steigt und fällt, an dem jede Person im Maße ihrer besonderen einzigartigen Gliedschaft teil hat. Denn neben der individuellen Bestimmung gibt es für Scheler auch eine allgemein­gültige Bestimmung für jedes endliche Geistwesen, die sich ausdrückt in der Form eines Miteinander-lebens, -handeIns, -glaubens, -hoffens, -liebens da zu sein und füreinander zu sein und sich wert zu halten. Jeder ist neben der Verantwortlichkeit für die Verwirklichung seiner eigenen individuellen Bestimmung auch mitverantwortlich dafür, daß die anderen und das Ganze ihre individuelle Bestimmung einsehen und verwirklichen. Die Idee der individuellen Bestimmung schließt somit die gegenseitige Solidarität der Verantwortlichkeit keineswegs aus 58. -

Neben dem individualgültigen An-sieh-Guten gibt es auch ein allgemein­gültiges An-sieh-Gutes, und die Person hat sich im Sinne des Solidaritäts­prinzips nicht nur zu fragen: "Was hätte an sittlich Positivwertigem geschehen und an sittlich Negativwertigern in der Welt unterlassen werden können, wenn ich mich selbst als Vertreter einer Stelle in der Sozialstruktur anders verhalten hätte", sondern auch: "Wenn ich selbst als geistiges Individuum das ,An-sieh-Gute Jür mich' ... besser ins Auge geJaßt, resp. mehr gewollt und verwirklicht hätte" 59.

Während in der künstlichen und willkürlichen, auf Vertrag beruhenden Menschenverknüpfungsform der Gesellschaft das Prinzip herrscht, daß jeder nur für sich und seine Handlungen Träger von Verantwortung, Schuld und Verdienst sein könne, während hier die Ansicht vertreten wird, daß alle Gemeinschaft ein nur auf Wechselwirkung der Individuen beruhendes Gebilde sei, und alle Gemeinschaftswerte nur Summen der in den Individuen investierten Werte seien, weiß und fühlt unter der Herrschaft des Solidaritätsprinzips jeder die Gemeinschaft als Ganzes sich innewohnend und fühlt "sein Blut als Teil des in ihr kreisenden Blutes, seine Werte als Bestandteile der im Geiste der Gemeinschaft gegenwärtigen Werte" 60. Hier werden die Gesamtwerte durch Mitfühlen und Mitwollen getragen, hier herrscht eine ursprüngliche Solidarität zwischen allen Teilen der Menschheit, so daß Schicksale dieser Teile immer das Ganze mitbetreffen : angesichts jeder fremden Schuld haben wir uns mitschuldig, an jedem fremden Verdienst teilhabend zu fühlen. Das sittliche Solidaritätsprinzip setzt gleichsam eine innere Kapitalisie-

58 Vgl. Nachlaß I, S. 352. 59 Formalismus, S. 523. 60 Vom Umsturz der Werte, S. 140.

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rung der sittlichen Werte im "Reiche Gottes" voraus, an deren Ergebnis alle Individuen Anteil haben und immer wieder Anteil gewinnen können (und dies im Gegensatz zur "Interessensolidarität"). Diese sittliche "Totalsubstanz" ist überhaupt nur dadurch zu verstehen, daß sich jeder Mensch als Ingrediens einer umfassenden Ganzheit fühlt, daß er "weiß", daß die Werte dieser Ganzheit in seinem eigenen Blute und Geiste kreisen. Sittliche Autarkie wie etwa die der bürgerlichen Moral 61 ist hier undenkbar; immer schwingt in Mitverantwortung, Mitfühlen usw. das Bewußtsein letzter Seinsverbundenheit mit, das Bewußtsein auch, daß Individuen, Nationen und Rassen in sehr verschiedenen Graden der Betätigung an der allesumfassenden Solidarität teilzunehmen bestimmt sind. - Es gibt also eine sittliche Gesamtschuld und ein eben­solches Gesamtverdienst der sittlichen Daseinsgemeinschaft von Per­sonen als solcher, die niemals bloß die Summe der sittlichen Werte oder Unwerte der einzelnen Wesen ist. Und die Mitverantwortlichkeit wird nicht erst durch besondere Akte der Verpflichtung, durch ein Versprechen oder einen Vertrag gegen andere übernommen, sie ist schon die innere Voraussetzung auch für die Möglichkeit dieser Verpflichtungen. Die ursprüngliche Mitverantwortlichkeit ist nach Scheler für den Bestand eines moralischen Subjekts genau so wesentlich, wie es die Selbstverant­wortlichkeit ist.

Das große Prinzip der Solidarität aller Menschen in Verantwortlich­keit, Schuld und Verdienst, besagt nach Scheler, daß "Bestand der Mit­verantwortlichkeit und Tatsache und Bewußtsein jedes einzelnen von seiner Mitverantwortlichkeit für alles Geschehen des moralischen Kosmos nicht erst geknüpft sind an die je sichtbaren, nachweisbaren Wirkungen, welche die einzelnen direkt oder durch die Mittelglieder der ihnen erkennbaren sozialen und historischen Kausalgewebe aufeinander ausüben" 62. Diese Wirkungen und ihr Bewußtsein lokalisieren nur den Blick auf die Stellen der moralischen Welt, wo wir unsere Mitverant­wortung kennen können, nie aber schaffen sie erst die Mitverantwortung

81 Der Bourgeois beharrt auf seiner vom Ressentiment bedingten Auffassung, daß das eigene Heil nur vom Selbsterarbeiteten und Selbstge1eisteten abhängen kann. Nur insofern er selbst Prinzip seiner Akte ist, handelt er moralisch und wertvoll und nimmt in keiner Weise teil an der Schuld und dem Wert Anderer. In der Solidarität wie bei Scheler hingegen sind die Subjekte keine Monaden mehr; hier bilden die geis­tigen Personen ein Ganzes, das jeden an Allem teilhaben läßt, wo es nicht mehr darauf ankommt, wer das Gute tut, sondern, daß es getan wird (Die Existenz eines positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert).

62 Vom Ewigen im Menschen, S. 51.

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und das sie begleitende Gefühl von ihr. Die pure Form der Mitverant­wortlichkeit ist das stete Bewußtsein, daß der gesamte moralische Kosmos in aller räumlichen und zeitlichen Ausdehnung anders wäre, wenn ich nur anders wäre, und das dieses Bewußtsein begleitende Gefühl der Mitverantwortung. - Der Mensch ist eben nicht nur selbstverant­wortlich für all sein freies und individuelles Tun, sondern auch ursprüng­lich mitverantwortlich für jedes Ganze der Gemeinschaft, deren Glied er in irgendeiner Richtung ist: die eigene Verantwortung wird über die Grenze der eigenen Person hinaus maximal ausgedehnt. Jeder ist in der Tiefe seines Selbst mitverantwortlich für das Ganze des sittlichen Kos­mos überhaupt, schon ehe er weiß, woran und für wen im einzelnen er mitverantwortlich ist. - So verstanden bildet das Solidaritätsprinzip in Schelers Augen einen ewigen Bestandteil und gleichsam einen Grund­artikel eines Kosmos endlicher sittlicher Personen. Durch seine Geltung wird die gesamte moralische Welt in ihrer gesamten räumlichen und zeitlichen Erstreckung zu einem großen Ganzen, das selbst bei der klein­sten Veränderung in ihm als Ganzes steigt und fällt, und das als Ganzes in jedem Moment seines Seins einen einzigartigen sittlichen Gesamtwert besitzt - Gesamtschuld und Gesamtverdienst -, der nie als die mögliche Summe der Schuld und Verdienste der Einzelnen angesehen werden darf, an dem aber jede Person, sei es die Einzel- oder die Gesamtperson, nach dem Maße ihrer jeweiligen einzigartigen Stellung in diesem Ganzen, teil hat.

In welchen Wesensfundamenten liegt nun dieses Solidaritätsprinzip, diese ursprünglichen (und nicht nur tatsächlichen) rein sozialen Pflichten und Rechte der Menschen auf allen Gebieten des Soziallebens, begrün­det? Scheler unterscheidet hier das Fundament, welches dieses Prinzip allererst möglich macht, von demjenigen, das es notwendig macht. Das das Solidaritätsprinzip allererst möglich machende Fundament ist für ihn der Satz, daß Gemeinschaft von Personen überhaupt zur evidenten Wesenheit einer möglichen Person gehört, und daß auch die möglichen Sinneinheiten und Werteinheiten solcher Gemeinschaft eine apriorische Struktur besitzen, die von Art, Maß, Ort und Zeit ihrer realen Verwirk­lichung prinzipiell unabhängig ist. Dieser Satz gilt also unabhängig von allem empirisch-realen Konnex zwischen bestimmten Personen mit anderen bestimmten Personen, heißt demnach nicht, daß Menschen faktisch in Gemeinschaft leben. Sein des Menschen ist gleichzeitig und gleichursprünglich Fürsichsein und Miteinandersein. Dies ist für Scheler eine ewige, in sich geschlossene Wesenswahrheit und -notwendigkeit: es gehört zum ewigen ideellen Wesen einer vernünftigen Person, daß

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ihr ganzes geistiges Sein und Tun ebenso ursprünglich eine selbstbe­wußte, eine selbstverantwortliche individuelle Wirklichkeit ist, als auch bewußte mitverantwortliche Gliedwirklichkeit in einer Gemeinschaft. Und dies gilt auch für den erkenntnistheoretischen Robinson, der ja per Definition faktisch nie in Gemeinschaft gelebt hat; auch zu ihm gehört "Gemeinschaft überhaupt", auch er weiß sich einer Gemeinschaft zugehörig. Ebenso ursprünglich wie das individuelle Ich- und Selbst­bewußtsein ist ihm das Bewußtseinserlebnis, zu einer Gemeinschaft überhaupt zu gehören 63.

Und die Frage nach dem Warum dieses letzteren Bewußtseinserleb­nisses führt uns zu dem zweiten Fundament, das in Schelers Augen die Solidarität notwendig macht: der formale Satz von der "wesensmäßigen Gegenseitigkeit und Gegenwertigkeit aller sittlich relevanten Verhaltungs­weisen" 64 und die entsprechenden materialen Sätze über Wesens­zusammenhänge zwischen den Grundarten der sozialen Akte. Robin­son kennt zwar die faktische Gemeinschaft nicht, der er sich zugehörig weiß, aber er weiß sich eben doch einer Gemeinschaft überhaupt zuge­hörig, und dies durch das positive Bewußtsein des Unerfülltbleibens einer großen Gruppe von geistigen, zu seiner Wesensnatur gehörigen Akten und Intentionen, wie da sind Lieben, Mitfühlen, Achten, Verspre­chen usw., durch das sog. "Leerbewußtsein". Und nun - dies ist das zweite Fundament - liegt es Schelers Ansicht nach in der idealen Sinneinheit dieser Akte als Akte dieses Wesens, daß sie Gegenakte als ideale Seinskorrelate fordern, um überhaupt einen sinneinheitlichen Tatbestand bilden zu können. So liegt es im Wesen der Liebe, wo sie erblickt wird, Gegenliebe hervorzurufen, im Wesen der Achtung, Gegen­achtung zu erwecken. - Und wird dies nun im Rahmen der Schelerschen Wertlehre und ihrer Axiomatik gesehen, ergibt sich Folgendes: Aus dem Verhältnis der Werte zur Existenz - Die Existenz eines positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert - ergibt sich die moralische Ver­pflichtung: die positiven Werte müssen sein, die negativen nicht-sein. Und da zwischen den sozialen Akten eine wesenhafte Verbindung und Gegenseitigkeit besteht, da das Wesen der Liebe Gegenliebe erfordert, erweckt die Liebe von A für B die Liebe von B für A; somit realisiert A einen doppelten positiven Wert: in sich den positiven Wert seiner Liebe, in B den positiven Wert der Gegenliebe. Weil nun die positiven

63 Siehe hierzu Schelers Erkenntnistheorie "Vom fremden Ich", in Sympathie, S.209-258.

84 Formalismus, S. 525.

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Werte sein müssen, begeht jeder, der seine Liebe jemandem verweigert, nicht nur den Fehler des Unterlassens seines eigenen Aktes (Selbst­verantwortung), sondern er trägt ebenso die Verantwortung für die Nicht­Existenz des positiven Aktes der Gegenliebe bei dem Anderen (Mitverant­wortung). Und schon "dieser Tatbestand aber begründet eine Mitverant­wortlichkeit eines jeden (sonst variablen) Trägers solchen Aktes für die sittlichen Werte und Unwerte der Akte der (sonst variablen) Träger der Gegenakte" 65.

Infolgedessen ergibt sich das Prinzip der Solidarität aller sittlichen Wesen aus dem von Erfahrung unabhängigen Satz, daß jede Liebe, so sie irgendwie erfahren wird, Gegenliebe setzt (die Gegenliebe ist hier keineswegs als Vorbedingung der Liebe anzusehen), und insofern ein neues sittlich Gutes zur Erscheinung bringt - Gegenliebe wie Liebe sind Träger von "sittlich gut". Und dies Prinzip besagt, daß prinzipiell jeder für alle und alle für jeden mitverantworten, was sie sittlich wert sind, daß alle für einen und einer für alle steht. Und Sinn und Geltung dieses Prinzips sind nicht durch die Geschichte und den Wechsel der Gemein­schaften in faktischer Berührung irgendwie erzeugt, sondern nur in ihr -fragmentarisch - erfüllt, das Prinzip selbst aber ist ein sittliches Apriori aller möglichen Geschichte und möglichen Gemeinschaft 66.

Auf einen der wichtigsten Aspekte dieses vom Solidaritätsprinzip regierten Reiches sittlich-geistiger Personen haben wir schon hingewiesen (V gl. "Das anschauende und das wertende Verhältnis des personalen Geistes zur Welt. Person und Wahrheit. Person und Wert"), wo wir anführten, daß nach Scheler die ganze Wahrheit über einen Gegenstand nur erfaßbar ist durch die Kooperation aller für diese Erkenntnis uner­setzlichen und unvertretbaren Personindividuen, letztlich nur durch die ganze Menschheit. Nur die Fülle aller geistig-individuellen Personen können in solidarischer Kooperation und Ergänzung zur adäquaten Erkenntnis eines Gegenstandes kommen. Und dies gilt nicht nur für die Erkenntnis des Wahren, sondern ebensowohl für die Erkenntnis des Guten: Das wahrhaft Gute an sich kann zur evidenten Einsicht gebracht werden nur, wenn dem allgemeingültig Guten-an-sich die Fülle und Mannigfaltigkeit aller individual gültigen Guten-an-sich hinzugefügt werden. - Es handelt sich hier also um die Schelersche Lehre von der

65 Formalismus, S. 525. 66 Die auf dem Solidaritätsprinzip beruhende solidarische Einheit ist für Scheler

gleichzeitig der Kern und das Neue des echten altchristlichen Gemeinschaftsgedankens. VgJ. die Anwendung des Solidaritätsprinzips in "Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt", in Vom Ewigen im Menschen, S. 355-401.

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Notwendigkeit der Zusammenarbeit aller Personen (Einzel- und Gesamt­personen) in Erkenntnis und Ethik. Nicht die Erkenntnis der Dinge ver­dient am strengsten den Namen Wahrheit und das Attribut der Sach­gültigkeit, die das Personelle und Nationale möglichst ausschaltet; die Wahrheit über die Welt ergeben im Gegenteil erst die sich zu einem Gesamtbild ergänzenden charakteristischen Weltbilder der Personen und Nationen, der Einzel- und Gesamtpersonen, deren jede dasjenige an Welt gesucht und gefunden hat, was eben nur sie auf Grund ihrer letzten eigentümlichen und unvertretbaren metaphysischen Seinsbezogen­heit auf das Universum zu erkfmnen vermag. Nur die zeitliche und gleichzeitige kosmopolitische Kooperation und Ergänzung aller unver­tretbaren Teile der Menschheit, aller Einzelpersonen, Nationen, Kultur­kreise usw., vermag die Gesamtaufgabe "menschliche Erkenntnis" zu erfüllen, die der Menschheit als räumlich und zeitlich ungeteiltem Artganzen einwohnt. - Dies gilt ebenfalls für das Wesenserkennen : es ist nach Scheler im Wesen von Vernunft und Erkenntnis selbst gelegen, "daß nur ein Miteinander des Erkennens, eine Kooperation der Teile der Menscheit in allen höchsten Geistestätigkeiten (auch bei idealer Rechtheit ihrer Anwendung) eine vollständige Erkenntnis der Wesens­welt zu leisten vermag" 67. Der Erwerb der unerschöpflichen Fülle der Erkenntnis ist eben nur möglich durch die solidarische Kooperation und Ergänzung aller Zeitalter, aller Einzel- und Gesamtpersonen.

Dasselbe Prinzip hat seine Geltung in der Ethik: die einmalige sittliche Gesamtbestimmung der "Menschheit" zu erfüllen vermag nur das gleichzeitig-gemeinschaftliche und das sukzessiv-historische Miteinander des Liebens der nach dem ordo amoris geordneten Wertregionen : Jede Einzelperson hat ihre individuelle Bestimmung zu verwirklichen, jedes höhere Individuum Cd.h. jede Gesamtperson) die ihre, und die zeitliche und räumliche Kooperation dieser aller verwirklicht diese einmalige Gesamtbestimmung der Menschheit. Es werden also unter­schieden die faktischen Wertsysteme der Geschichte, die je verschiedenen Geistesstrukturen der je zeitlich und örtlich abgegrenzten Kultureinheit, von dem der Wesensidee des Menschen entsprechenden absoluten Ideen­und Wertreiche. Alle Güterordnungen, Zweckordnungen, Normord­nungen der menschlichen Gesellschaft in Ethik, Religion, Recht und Kunst sind schlechthin relativ und historisch wie soziologisch je stand­punktlich bedingt. In die Geheimnisse in Form einer hierzu wesensnot­wendigen Geschichte des Geistes der Idee aber des ewigen objektiven

67 Schriften, S. 330.

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Logos einzudringen vermag nie eine Nation, ein Kulturkreis, sondern nur alle zusammen, mit Einschluß der zukünftigen, in "je solidarischer zeitlicher wie räumlicher Kooperation unersetzlicher, weil individualer, einmaliger Kultursubjekte" 68.

Ein weiterer Aspekt dieser solidarischen Verknüpfungsform, auf den wir hier aber nicht näher eingehen werden, bezieht sich auf die religiösen Überzeugungen Schelers in seiner "klassischen" Schaffensperiode. In diesem Zusammenhang muß die solidarische Gemeinschaft aller Personen gesehen werden als Gemeinschaft in Gott. Das Liebesgebot ist bezogen auf den Menschen als Glied des in sich solidarischen Gottesreiches. Die Liebe ist hier vor allem primär gerichtet auf den geistigen Kern des Menschen, seine individuelle Persönlichkeit, in der er am Reiche Gottes unmittelbar Anteil nimmt. Der Menschen Geistes- und Personge­meinschaft wird hier göttlich geistigen Ursprungs und göttlich sank­tionierten Rechts. Alle Wesensgemeinschaft von individuellen Personen (Einzel- und Gesamtpersonen) ist nicht etwa gegründet in irgendeiner "Vernunftgesetzmäßigkeit" oder in einer abstrakten Vernunftidee, sondern allein in der möglichen Gemeinschaft dieser Personen zur Person der Personen, d.h. in der Gemeinschaft mit Gott. Alle anderen Gemein­schaften sittlichen und rechtlichen Charakters haben diese Gemeinschaft zum Fundament. Alles amare, contemplare, cogitare, velle ist mithin mit der einen konkreten Welt, dem Makrokosmos, erst als ein amare, contemplare, cogitare und velle "in Deo" intentional verknüpft. Hier ist die Kooperation begründet in der Notwendigkeit für Gott, sich in Per­sonen offenbaren zu müssen; d.h. da jeder individuellen Person nur eine ihr eigentümliche offenbarte Teilansicht des Grundes aller Dinge zugäng­lich ist, ist die von den anderen Einzel- und GesamtpersQnen vermittelte Offenbarung notwendig, muß durch Nach- und Mitvollzug in das eigene Personwesen übernommen werden, um zu einer möglichst adä­quaten Erkenntnis Gottes zu gelangen. Insofern gilt für die Erkenntnis Gottes dasselbe Prinzip, das für die Erkenntnis alles Wahren und Guten Geltung besitzt. - Auch wenn wir Letzteres noch gelten lassen, weil es eben für jegliche Erkenntnis, also auch für die mögliche Erkenntnis Gottes, Anwendung findet, scheint es uns doch fragwürdig vom rein philosophischen Standpunkt, alle Gemeinschaft in Gott als der Person der Personen zu begründen. Die Unterordnung aller Einzel- und Gesamt­personen unter die Idee der unendlichen Person findet unserer Ansicht nach ihre Grundlage hauptsächlich in der religiösen Überzeugung

88 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 27.

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unseres Philosophen, und müßte präziser vom religions philosophischen Standpunkt untersucht werden.

In Schelers Spätwerk findet sich diese Lehre von der Solidarität aller Personen ohne wesentliche Änderungen zurück. Nur löst auch sie sich zu dieser Zeit immer mehr von ihrem religiös-christlichen Hinter­grund, wie dies für Schelers Spätphilosophie allgemein charakteristisch ist: so sieht er z.B. in dem modernen sozialethischen Begriff der Solidari­tät, wie er etwa bei den Streikbewegungen der Arbeiterschaft eine Rolle spielt, ein Wiedererstarken seines Solidaritätsprinzips, erwartet er vom Ethos der Solidarität, daß es ein neues Pflicht- und Verantwortungsbe­wußtsein bei allen Schichten der Bevölkerung begründe. - Aber auch in dieser Periode bildet dieses Prinzip - obschon säkularisiert - die höchste Leitidee des Schelerschen Liebesethos und bleibt aufs engste verknüpft mit dem "Hauptteil unserer reinen Soziologie" 69 : der Lehre von den Wesensformen menschlicher Verknüpfungsform, mit denen er sich eingehend im Formalismus auseinandergesetzt hat und an der er zeitlebens festhalten wird: das Solidaritätsprinzip bildet das Funda­ment der souveränsten von ihm angenommenen Sozialeinheit, d.i. der Gesamtperson. Letztere wird definiert als die Form des personalisti­schen Solidaritätssystems selbständiger, selbst- und mitverantwortlicher Individuen, als person-solidarische Verknüpfungsform unvertretbarer Individuen, als solidarische Persongruppierung unersetzlicher Person­individuen 70.

Aber auch hier - wie schon im Teilkapitel über den Dualismus -kann eine gewisse Ausweitung des Solidaritätsprinzips festgestellt werden; Ausweitung, die in engem Verband steht mit dem Umschwung seiner religionsphilosophischen Ansichten, mit seiner Abwendung vom christlichen Gedankengut. Die Solidarität der Personen untereinander ist hier zugleich die Solidarität mit dem obersten Seinsgrunde, das Solidaritätsprinzip ist die Krönung seines Verwirklichungsprozesses. "Der Mensch muß wieder neu lernen, die große unsichtbare Solidarität aller Lebewesen untereinander im Alleben, aller Geister aber im ewigen Geiste, zugleich die Solidarität des Welt prozesses mit dem Werdeschick-

69 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 18. 70 VgJ. Ebenda, S. 33, 45, 122. In diesem Zusammenhang verweist Scheler auf die

Weiterführungen seiner diesbezüglichen Lehre durch STEIN Edith, Beiträge zur philo­sophischen Begründung der Psychologie und Geisteswissenschaften, in Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung V (1922), S. 1-283, und durch Llrr Theodor, Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie, 3. Aufl., Leipzig, 1926.

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sal ihres obersten Grundes und dessen Solidarität mit dem Weltprozeß zu erfassen. Und er muß diese Weltverbundenheit nicht wie eine bloße Lehre aufnehmen, sondern sie lebendig erfassen und sie äußerlich wie innerlich üben und betätigen. Gott ist so wenig in seinem Wesensgrunde der ,Herr' der Welt, wie der Mensch der ,Herr und König' der Schöpfung. Sondern beide sind vor allem Genossen ihres Schicksals, leidend und überwindend - einst vielleicht siegend" 71. - Der Gott seines Spätwerkes bedarf der menschlichen Person als seines Mitstreiters : er steht mit den Menschen, die die Teilmomente seines Seins ausmachen, in Solidaritäts­verbundenheit und wird erst durch ihre Wirksamkeit seiner Vollendung entgegengeführt.

Zum Thema "Solidarismus bei Scheler" müssen zum Ende zwei Schlußbemerkungen hinzugefügt werden. Die erste ist der Hinweis darauf, daß dieses Thema zum heutigen Zeitpunkt noch nicht abschlies­send behandelt werden kann, da man mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen muß, daß im unveröffentlichten Nachlaß noch sehr vieles zu diesem Problemkreis vorhanden ist: in den ersten Nachkriegsjahren war dieses Thema Gegenstand einer größeren Anzahl von Vorträgen; auch hat Scheler von 1919 bis 1923 an der Universität Köln verschiedene Vorlesungen und Übungen über "Individualismus, Sozialismus, Solidaris­mus. Grundzüge einer Sozialphilosophie" , "Solidarismus. Grundlinien einer Sozialphilosophie" und über "Die Formen des Sozialismus und das Christentum" gehalten. Außerdem berichtet die erste Herausgeberin seiner Gesammelten Werke, Maria Scheler, daß sich im Nachlaß ein größeres Manuskript befindet mit dem Titel "Christlicher Sozialismus als Antikapitalismus" (1919) 72. Scheler selbst schreibt: "Es bedürfte eines besonderen Buches, um auch nur einigermaßen die Tiefen dieses Prinzips <des Solidaritätsprinzips> auszuschöpfen. Ich habe bisher in verschiedenen akademischen Vorlesungen und Übungen die drei sozialphilosophischen Grundprinzipien : Sozialismus - Individualismus - Solidarismus - eingehend entwickelt" 73. - Zur definitiven Abklä­rung dieses Problemkreises muß demnach die Veröffentlichung dieser Nachlaßmanuskripte abgewartet werden.

Auch für die Klärung der zweiten Schlußbemerkung muß dieselbe Wartezeit eingehalten werden: ob es richtig war, so wie wir es getan haben, die diesbezügliche Schelersche Lehre als "Solidarismus" zu

71 Philosophische Weltanschauung, S. 108. 73 Vgl. das "Nachwort der Herausgeberin", in Schriften, S. 404-405. 78 Schriften, S. 265, Fußnote.

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bezeichnen, oder ob es nicht besser gewesen wäre, sie als "christlichen Sozialismus" zu charakterisieren. In der Abhandlung Prophetischer oder marxistischer Sozialismus? 74 setzt unser Pnilosoph sich mit dieser Frage auseinander und scheint eher zu der zweiten Benennung zu neigen. Wohl betont er ausdrücklich, daß es in prinzipieller Hinsicht keinen christlichen Sozialismus geben kann, und daß diese Bezeichnung nur gerechtfertigt ist im zeitgeschichtlichen, praktischen und relativen Sinne, um diese Lehre dem "Individualismus" entgegenzusetzen. Wenn wir aber nun doch diese Bezeichnung ablehnen, so dies aus dem einfachen Grunde, weil Scheler selbst andernorts von "christlichem Individualis­mus" 75 spricht - wieder ein Beispiel für die Ungenauigkeit seiner Sprache -, und wir haben genügend Gründe, um zu behaupten, daß für Scheler "christlicher Sozialismus" und "christlicher Individualismus" ein und dieselbe Soziallehre bezeichnen. Das Eigenschaftswort "christ­lich" dient ihm lediglich dazu, jeden grundsätzlichen Individualismus wie auch jeden grundsätzlichen Sozialismus zu verweigern. Es bedeutet eine Rückkehr zur klassischen altchristlichen Korporationslehre, die keines­falls eine "rechte Mitte" ist zwischen Individualismus und Sozialismus. Der Gedanke der wechselseitigen realen Solidarität aller für alle tritt allem echten Individualismus wie jedem echten Sozialismus auf das Schärfste entgegen. - Und dies ist der Hauptgrund, aus dem wir die Bezeichnung "Solidarismus" vorzogen. Ein weiterer Grund ist die Tat­sache, daß diese Lehre sich in Schelers Spätwerk von ihrem christlichen Hintergrund völlig losgelöst hat und hier also keinesfalls mehr als "christlicher Sozialismus" bezeichnet werden darf. - Wohl muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß der Schelersche Solidarismus keineswegs identisch ist mit dem, was man in den späteren Jahren allge­mein unter "Solidarismus" verstand. Mit diesem Wort bezeichnete man eine neothomistische Bewegung, die in den Jahren um 1930 im sog. "Königswinterer Kreis" ihren Höhepunkt erlebte, und deren vor­nehmliche Vertreter u.a. Th. Bauer, G. Briefs und G. Grundlach waren 78.

Hier wird die soziale Disposition im Menschen hauptsächlich als Ergän­zungsbedürjnis erklärt, das Individuum als soziale Potentialität, als bestimmbar durch die Anderen dahingestellt. Von einer Gleichstellung dieser Lehre mit dem Schelerschen Solidarismus kann hier also keine Rede sein.

74 In Schriften, S. 259-272. 75 Vom Ewigen im Menschen, S. 382. 76 Siehe z.B. den Aufsatz "Solidarismus" von G. GRUNDLACH, in Staatslexikon, 5.

Aufi., Freiburg, 1931, Bd. 4, col. 1613-1614.

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Im Zusammenhang mit dieser Lehre von der solidarischen Verbun­denheit aller Personen muß noch auf eine andere Lehre Schelers hinge­wiesen werden, die man als eine vertikale Verbundenheit aller Menschen bezeichnen könnte, und zwar die Lehre von Führerschaft und Gefolg­schaft, von Vorbild und Nachfolge. Diese sehr aristokratische Lehre unseres Philosophen stützt sich, genau wie das Solidaritätsprinzip, vor allem auf das Mit-lieben. Aber während die solidarische Verbunden­heit aller Personen sich nur auf einer bestimmten Ebene menschlicher Verknüpfungsform, der Gesamtperson, echt verwirklichen kann, bezieht sich die hier behandelte auf alle möglichen Formen menschlicher Ver­bände: in allen Verbandsformen gibt es den Unterschied von Führern und Geführten, von Vorbildern und Nachfolgenden. Diese Schelersche Lehre scheint ihre Ursprunge zu haben bei Fichte und Eucken. So legt Fichte großen Wert auf die direkte Vermittlung durch die Großen der Geschichte, in denen seiner Lehre nach Gott sich offenbart. Über ihre Vermittlung und Offenbarung gelangt die übersinnliche Welt vornehm­lich an den Einzelnen. Auch bei Eucken kommt das Geistesleben in den großen Persönlichkeiten zum Durchbruch. Alle bedeutsame Ent­wicklung des Geisteslebens geschieht durch die großen Persönlichkeiten, denen das menschliche Leben eine innere Erhöhung verdankt. Die Großen der Geschichte brechen eine Bahn und ziehen die anderen überwältigend in die Bewegung der teilnehmenden Liebe hinein.

Letzteren Gedanken finden wir bei Sche1er zurück, wenn auch hier in seine Wertlehre verankert: Alles sittliche Wertwachstum (bzw. -abnahme) erfolgt primär nicht durch Akte des Gehorsams oder Unge­horsams gegen eine Norm, sondern durch die Wirksamkeit von person­haft gestalteten Vorbildern (bzw. Gegenbildern). Das Vorbildprinzip ist überall der primäre Beweggrund aller Veränderung in der sittlichen Welt. Und dieses Vorbildprinzip ist streng personal: jede Veränderung einer sittlichen Einzelperson ist mitbedingt durch eine Person oder die Idee einer solchen. Das Vorbild, und zwar vor allem durch seine Liebe, spielt hier die wertentdeckende Rolle 77, und im Mitlieben erscheinen den Nachfolgenden dann diese neuentdeckten höheren Werte. Das Vorbild, veranschaulicht an seinem liebesintendierten Exemplar, zieht und ladet, und wir "folgen", und zwar nicht im Sinne von Gehorchen, sondern im Sinne einer freien Hingabe an seinen autonomer Einsicht

77 Es ist vor allem Nicolai HARTMANN, der diese Lehre Schelers eingehend behandelt und weitergeführt hat. Von ihm werden die Vorbilder als die "Maieutiker der Menge" charakterisiert. V gl. besonders seine Ethik.

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zugänglichen Personwertgehalt. Die Liebe zielt hier also nicht primäl auf die "Persönlichkeit" des Vorbildes, sondern auf die Werte - an erster Stelle auf seinen Personwert -, die es verkörpert bzw. entdeckt. So definiert Scheler das Vorbild als ein "seinem Gehalt nach struktu­rierter Wertverhalt in der Einheitsform der Personeinheit, eine struk­turierte Sowertigkeit in Personform, der Vorbildhaftigkeit des Gehalts nach aber die Einheit einer Sollseinsforderung, die auf diesen Gehalt fundiert ist" 78. Und in jeder faktischen Sozialeinheit besteht je ein ganzes System von vorbildlichen idealtypischen Personen, von Wertperson­typen 79. Um den reinen Personwert des Vorbildes zur Gegebenheit kommen zu lassen, und da dieser Personwert nicht vergegenständlicht werden kann, muß ich lieben, was das Vorbild liebt, muß ich mit-lieben. Diese Liebe zielt demnach primär nicht auf die Erkenntnis der vorbild­lichen Person, sondern auf die Teilnahme an ihr. Nachfolge ist also hier Teilnahme am sittlich-persönlichen Sein und Sosein der vorbildlichen Person. Und diese Teilnahme ist letztlich fundiert in der Liebe zu und mit dieser Person. Wir werden den Vorbildern ähnlich in unserem Sein selbst, indem wir sie lieben.

Es ist hier nicht der Ort, die Schelersche Lehre von Vorbild und Führer eingehend zu behandeln. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, daß er sich in seiner "klassischen" Schaffenszeit vor allem im Formalismus 80

und in dem im ersten Nachlaß-Band veröffentlichten Artikel Vorbilder und Führer 81 mit ihr auseinandergesetzt hat, und daß diese Lehre zu dieser Zeit eng mit seinen religionsphilosophischen und religiösen Ansichten verknüpft war. Ihren Ursprung findet sie in der grundsätz­lichen Forderung Schelers, daß der höchste und endgültige sittliche Sinn aller Welt das mögliche Sein positivwertiger und höchstwertiger Personen sein muß, daß nicht die Realisierung eines obersten Gesetzes oder die Herstellung einer bestimmt gearteten Ordnung der höchste Sinn aller sittlichen Akte ist, sondern ein solidarisches Personreich bester Personen. In dieser Ethik ist die Person nicht ein bloßes Subjekt möglicher Vernunftakte, ist sie nicht nur Vernunftperson, sondern ein individuelles konkretes selbstwertiges Aktzentrum, und die Ideen gut und böse haften ursprünglich nicht an gesetzmäßigen oder -widrigen Akten, sondern

78 Formalismus, S. 564. 79 Vgl. hierzu auch DOERRY Gerd, Der Begriff des Wertpersontypus bei Scheler

und Spranger, Eine vergleichende Betrachtung zur Ethik der Persönlichkeit, Berlin, 1958 (Phi!. Diss.).

80 Formalismus, S. 558-580. 81 Nachlaß I, S. 255-344.

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am Sein der Personen selbst. Aus diesem Grundsatz allein folgt schon, daß in einer solchen Ethik alles sittliche Werden, alle sittliche Verände­rung nicht durch eine irgendwie gestaltete jedenfalls unpersönliche Normwirksamkeit erzeugt werden kann, sondern eben nur durch eine Person oder die Idee einer solchen. Somit wird das Vorbildprinzip zum primären Vehikel aller Veränderungen in der sittlichen Welt. Und - in Folgerichtigkeit der in dieser Abhandlung behandelten Schelerschen Lehre - ist das Verhältnis des Nachfolgenden zum Vorbild primär und letztendlich durch Liebe getragen und bestimmt. - Auch der Unter­schied zwischen Führer und Vorbild kann hier nur kurz angedeutet werden: Während Führerschaft und Gefolgschaft ein gegenseitiges Bewußtseinsverhältnis ist, ist das Vorbild-Nachfolge-Verhältnis dies nicht. Während das Verhältnis von Führer zu Gefolgschaft ein reales, soziologisches Verhältnis ist, besteht zwischen Vorbild und Nachfolgenden ein ideales, von Raum, Zeit, realer Gegenwart,ja selbst realer historischer Existenz des Vorbildes unabhängiges Verhältnis. Während "Führer" ein allgemeinster wertfreier soziologischer Begriff ist, ist "Vorbild" seinem immanenten Sinne gemäß stets ein Wertbegriff. Und während der Führer immer nur unseren Willen bewegt, bestimmen die Vorbilder, die nicht in einem wollenden, sondern einem Wert-Bewußtsein und an erster Stelle in Liebe gegeben sind, immer schon unsere hinter dem Wollen liegende "Gesinnung" : sie bestimmen also den Spielraum unseres möglichen Wollens und Handeins : wir werden ihnen ähnlich in unserem Sein selbst, indem wir sie lieben (wie schon hervorgehoben). Besonders eingehend werden von Scheler in oben erwähntem Artikel drei Vorbildmodelle behandelt, deren Ideen nicht aus der zufälligen Welt- und Geschichtser­fahrung empirisch abstrahierte Begriffe, sondern mit dem Wesen des menschlichen Geistes und der ihm entsprechenden obersten Wertkatego­rien selber gegebene apriorische Wertideen sind: der Held, der Genius und der Heilige. Der Heilige ist eine Person, deren geistige Gestalt uns in ausgezeichnetem Maße ein, wenn auch noch so inadäquates Abbild der Person Gottes darstellt, und dies nicht auf Grund dessen, was er sagt, sondern auf Grund dessen, was er ist 82, d.h. auf Grund seines Person­wertes. Er ist maximal unabhängig von fremdgegebener Materie, indem sein "Werk" eben "er selber" ist, resp. die fremde Menschenseele, die

82 Dies steht in engem Zusammenhang mit der Ansicht unseres Philosophen, daß es im Wesen der personalen Gottesidee liegt, daß ihre "Wahrheit" sich nur dar­stellen kann in der Seinsgestalt einer Person: die Vermittlung der göttlichen Offenba­rung ist notwendigerweise personal.

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den idealen Wert- und Sinngehalt seines Werkes, d.h. der eigenen geis­tigen Gestalt, in freier Nachfolge immer neu in sich reproduziert. Der der Kategorie der geistigen Werte entsprechende Genius oder Weise ist derjenige, der an fremdgegebener Materie ein einmalig Originales ohne Vorbild schafft, und der Held, weit abhängiger vom historisch vorgeprägten Stoff der Gemeinschaften und Gruppen, führt letztere in den Grenzen ihrer gegebenen Entfaltungsmöglichkeiten durch uner­setzliche Taten (die aber auch denkbar ein anderer hätte vollbringen können) weiter.

Grundsätzlich bleibt Sche1er diesen Gedanken in seinem Spätwerk treu, auch wenn sie hier in einem anderen Rahmen erscheinen, und zwar dem der Probleme einer Soziologie des Wissens 83 und Die Formen des Wissens und die Bildung 84. In diesem Rahmen von Kultur und Bildung entspricht der Bedeutung, die Scheler dem Personwert in seinem Welt­bild zukommen läßt, die nachdrücklich herausgestrichene Behauptung, daß alle geschichtliche Entwicklung sich nur auf Grund der Wirksam­keit kleiner "Eliten" vollzieht. Dieser Begriff "Elite" wird als zwar ganz formaler, doch unerläßlicher soziologischer Terminus herausge­stellt, der einer reinen Tatsache Ausdruck verleiht. Diese Tatsache wird folgendermaßen formuliert: es gibt keine Sozialordnung, in der nicht das "Gesetz der kleinen Zahl" (dies im Anschluß an den Soziologen Von Wieser) wirksam wäre. D.h., überall gibt es einen beschränkten Kreis von Personen bzw. Persönlichkeiten, die den Massen gegenüber eine führende Rolle spielen. Worauf sich die Auswahl dieser Persönlichkeiten gründet, ob auf Wahl, Tradition, autoritäre Ernennung oder ein anderes Ausleseverfahren, diese Frage wird hierbei überhaupt noch nicht in Erwägung gezogen : in diesem Sinne spielt die Elite ihre Rolle sowohl in einem kommunistisch geordneten Staatswesen wie in einem aristo­kratischen Gesellschaftssystem.

Alle Kultur, alle Weltanschauung und alle Metaphysik können nur entstehen und sich verbreiten auf Grund dieser Eliten : so ist es faktisch immer die freie Tat und der freie Wille einer "kleinen Zahl" von Personen, der zum positiven Realisationsfaktor eines rein kulturellen Sinngehaltes wird, und es ist immer die Masse, die "große Zahl", die auf Grund von Ansteckung, von willkürlicher oder unwillkürlicher Nachahmung diesen Vorbildern und Pionieren (im Sinne der Wertentdeckung) folgt. Auch Weltanschauungssetzung ist nach Scheler einzig und allein die Leistung

83 In Die Wissens/ormen und die Gesellscha/t, S. 15-190. 84 In Philosophische Weltanschauung, S. 16-48.

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solcher Eliten, d.h. einzelner Personen, die sich den Wagnissen ihrer eigenen Vernunft überlassen, die zu jenem radikalen Zweifel am Herge­brachten fähig sind, ohne den der menschliche Geist kein Neuland erblik­ken kann. Und schließlich charakterisiert er die Metaphysik folgender­maßen in seinem Spätwerk : "Die Metaphysik ist unter den übrigen Wissensformen, soziologisch gesehen, stets diejenige geistiger Eliten, die, losgelöst von den religiösen und sonstigen Traditionen ihrer Lebens­gemeinschaft und frei von wirtschaftlicher Arbeit, Muße haben, die Welt nach ihren ideellen Wesensstrukturen in rein theoretischer Einstellung zu betrachten und, in Verbindung mit dem Wissensstande der Zeit in positiv-wissenschaftlicher Hinsicht, wahrscheinliche Hypothesen über die letzten Gründe der Dinge auszubilden. Da die Totalität der Welt als solche aber nur der Totalität einer Person theoretisch zugänglich ist, ist die Metaphysik notwendig personhaft gebunden und von sog. ,Schulen' metaphysischer Weisheit getragen, die sich um eine Person grup­pieren. Sie ist ferner wesentlich kulturkreishaft, ja sogar wesentlich an dem nationalen 85 Genius gebunden - unvergleichlich bestimmter als die internationale, arbeitsteilige positive Fachwissenschaft" 86.

Jede Bildungsgruppe hat je eigene Strukturen, d.h. eigene Formen und Strukturen des Denkens und Anschauens, des Liebens und Hassens, des Geschmackes und Stilgefühls, des Wertschätzens und Wollens, und die Strukturbildung nimmt ihren Ausgangspunkt in einer Elite von Personen. Der erste und größte Bildungsreiz ist demnach das Wertvor­bild einer Person, die unsere Liebe und unsere Verehrung gewann, von der wir ganz erfaßt worden sind, das uns lockt und ladet. Nationale Vor­bilder, Berufsvorbilder, sittliche, künstlerische Vorbilder, und schließlich die wenigen Vorbilder der reinsten und höchsten Menschenbildung selbst, die sehr wenigen Heiligen, Reinen und Ganzen, die diese Erde sah - das sind die Stufen und zugleich die Wegbereiter, die jedem Men­schen seine (individuelle) Bestimmung klären und verdeutlichen, an denen wir uns messen und an denen wir uns zu unserm geistigen Selbst empor­ringen können, die uns unsere wahren Kräfte kennen und sie tätig gebrau­chen lehren. - Somit hängt die Bedeutung des Vorbildprinzips zusam­men mit der Unfähigkeit des eigenen Willens, seine Vollkommenheit zu realisieren: die Verwirklichung des höchsten persönlichen Wertes ist nur möglich durch die Vermittlung eines Vorbildes. Die Vorbilder sind die Wegbereiter zum Hören des Rufes unserer eigenen Person, sie

8G Kulturkreis und Nation als Gesarntpersonen. 86 Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 85.

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sind "anbrechende Morgenröte des Sonnentages unseres individuellen Gewissens und Gesetzes" 87.

Nicht also blinde Nachahmung und Unterwerfung verbindet sie mit uns, im Gegenteil: sie sollen uns frei machen, und sie machen uns frei 88 - so sie selbst Freie und keine Sklaven sind. Sie machen uns frei zu unserer individuellen Bestimmung und zur vollen Ausladung unserer Kraft. - Und jeder Mensch,jede Gruppe, jeder Beruf und jedes Zeitalter hat seine typische Triebstruktur, d.h. seine bestimmte Ordnung der Triebvorherrschaft, hat sein eigentümliches Ethos, und darum auch je seine besonderen Vorbilder.

87 Philosophische Weltanschauung, S. 34. 88 Echt frei machen kann uns das Vorbild nur innerhalb der höchsten sozialen

Verknüpfungsform, der solidarischen Persongemeinschaft, während z.B. in der Masse Ansteckung und Kopierung das Verhältnis des Einzelnen zum Vorbild kennzeichnen.

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ZUSAMMENFASSENDE SCHLUSSFOLGERUNGEN

Dieser Arbeit lag die Aufgabe zugrunde, Max Schelers "Versuch eines phänomenologischen Personalismus" zur Darstellung und in großem Maße zur Selbstdarstellung zu bringen. Schon durch diese Aufgabe allein wurde dieser Arbeit der Rahmen und die Grenzen gesetzt : zwar wurden alle Werke und alle Schaffensperioden unseres Philosophen berücksichtigt; verschiedene wesentliche Lehren wie u.a. seine materiale Wertethik, seine Religionsphilosophie und seine Soziologie wurden aber nur in dem Maße behandelt, als sie für seinen Personalismus Bedeutung aufwiesen; eine systematische Darstellung dieser Lehren konnte hier nicht gegeben werden.

Der Aufbau dieser Arbeit war von der Thematik selbst her gegeben. Als erstes schien es uns jedoch notwendig, in einer Einleitung in das Leben und Werk des "genialsten" Mitstreiters des Begründers der phänomenologischen Bewegung kurz einzuführen; dies um so mehr, als wir die Ansicht vertreten, daß das Leben dieses Philosophen durch eine nicht zu übergehende Beeinflussung auf sein philosophisches Schaffen eingewirkt hat, daß seinem intensiven Leben eine intensive geistige Aufnahmefähigkeit und Regsamkeit entpsrach. Da diese Rezep­tivität jedoch begleitet war von einer gewissen Nachlässigkeit bezüglich der historischen Genauigkeit, und da die aufgenommenen Ideen sofort in die eigene Gedankenwelt eingeordnet wurden, erwies sich das Quel­ienstudium zu dieser Philosophie als besonders schwierig; wir haben luns darauf beschränkt, etwas näher auf sein Verhältnis zu Husserl, von dem er die phänomenologische Grundeinstellung übernommen hat, einzugehen, und für die anderen für seine Thematik wichtigen Quellen nur die Richtungen anzugeben, in der diese zu suchen sind: als Haupt­richtungen wurden herausgestellt das christliche Gedankengut, der Kantianismus und der deutsche Idealismus sowie die Lebensphilosophie. Im Laufe dieser Abhandlung haben wir dann versucht, einige dieser

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Einflüsse konkret aufzuzeigen. - Auch schien es uns angebracht, eine kurze Übersicht über die heutige Scheler-Forschung wiederzugeben, einen "status quaestionis" gewissermaßen.

Die Einführung in das eigentliche Thema dieser Arbeit glaubten wir beginnen zu müssen mit einer Darstellung des die vielen Facetten dieses Denkens einenden Grundproblems, nach dessen Klärung dieses gesamte Schaffen tendiert: der Klärung der Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos. Und es zeigte sich, daß diese Grundfrage bei Scheler von einem Grundgedanken getragen ist : daß der Mensch an erster Stelle und ursprünglich nicht ein erkennendes oder wollendes, sondern ein liebendes Wesen ist.

Nach der Einleitung stellte sich die für jede philosophische bzw. philosophiegeschichtliche Arbeit vordringlichste Aufgabe : da die Philo­sophie eine weit intimere Abhängigkeit von ihrer Methode besitzt als die übrigen Wissenschaften, muß, bevor der eigentliche "Gegenstand" (hier nur im Sinne des "Gegenstandes einer Untersuchung") behandelt wird, klargestellt werden, wie, d.h. in welcher Einstellung, in welcher Geisteshaltung, der betreffende Philosoph an diesen Gegenstand herantritt. Wenn wir von Schelers Jenaer, der kantischen Philosophie unter Rudolf Euckens Einfluß nahestehenden Zeit absehen - und dies ist insofern berechtigt, als es sich hier um eine Formungs-, nicht eigentlich schöp­ferische, Zeit handelt -, muß diese seine Geisteshaltung ab etwa 1901 als die phänomenologische bezeichnet werden. Wobei jedoch sofort unterstrichen wurde, daß seine Philosophie nicht ausschließlich phäno­menologisch ist, daß er eben mehr war als nur der erste Mitarbeiter Husserls I, Dies kann aber gleichzeitig als eine der Schwächen dieser Philosophie angesehen werden: wir finden hier eine eigenartige und einzigartige Verbindung von apriorischem philosophischem Wissen mit empirischen Feststellungen und Hypothesen, wobei es oft schwer auszumachen ist, wo bei Scheler das eine aufhört und das andere beginnt. Es ist dies die Verbindung von Philosophie und Weltanschauung, von der später noch die Rede sein wird. - Aber wie Husserl glaubt auch Scheler, daß durch die Phänomenologie und insbesondere durch die phänomenologische Reduktion eine völlig neue Dimension des Erlebens für die Beschreibung freigelegt wird. Auch für Scheler scheint die Phäno­menologie die Grundlage aller Philosophie zu sein; sie ist nicht nur eine

1 "For Scheler was certainly more than a phenomenologist", SPIEGELBERG Herbert, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction. Band I, 2. Aufl.., 3. Nach­druck, The Hague, 1971, S. 226.

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neue philosophische Methode, sondern die Grundstufe in der philosophi­schen Behandlung der verschiedenen Probleme der Philosophie. Ihr Ziel ist die Erkenntnis dessen, was an der Welt und an den Operationen, mit denen der Mensch seine Welt entwirft und erfaßt, wesenhafter Natur ist, dessen, was konstant bleibt, wenn von der zufälligen Raum-Zeitver­teilung der Dinge und der Akte abgesehen wird.

Die Gemeinsamkeiten beider Philosophen dürfen jedoch nicht über die wesentlichen Verschiedenheiten hinwegtäuschen. Diese Verschieden­heiten bewegen sich auf verschiedenen Ebenen, deren grundliegendste die unterschiedliche Auffassung der phänomenologischen Reduktion sein dürfte. War bei Husserl die Reduktion das Resultat einer langen und schwierigen Untersuchung und Entdeckung, war hier die Freilegung des transzendentalen reinen Bewußtseins und der nicht-sinnlichen Wesen­heiten ein überaus kompliziertes Verfahren, ergibt sich bei Scheler die Reduktion direkt aus der phänomenologischen Geisteshaltung, die zwar auch die Entwirklichung oder die Ideierung der Welt und des Erkennen­den beinhaltet, die aber vor allem besteht in der liebegeleiteten Hingabe an die Welt. Aber schon die Entwirklichung ist für Scheler eine wesent­lich moralische Haltung und weniger ein Erkenntnis-Akt; ein asketischer Akt, der - im Anschluß an seine Auffassung der Realität, wonach Realsein nicht mehr Gegenstandsein, sondern Widerstandsein gegen unsere urquellende Spontaneität ist - die triebhaften die Realität gebenden Akte außer Kraft setzt. Um nun zum Wesen der Dinge vorzu­stoßen, genügt aber nicht dieser asketische Akt der Entwirklichung; notwendig hinzukommen muß die Befreiung des Geistigen von allem Alltäglichen, aller Umweltbindung und allem Vitalen, und diese Befreiung ist nur möglich durch die begierdefreie Liebe zu dem Sein und dem Wertsein aller Dinge. Lief für Husserl die Reduktion letztendlich auf ein Sichzurückziehen des Bewußtseins in die eigene Sphäre hinaus, ist sie für Scheler vor allem diese liebe geleitete Bewegung "Zu den Sachen selbst". - Aus dieser Auffassung heraus entwickelt sich dann der Scheler­sche Begriff des Wissens, das als die Teilhabe eines Seienden am Sosein eines anderen Seienden, als ein Seinsverhältnis also, definiert wird.

Und vor der Hervorhebung des Schelerschen Versuches einer Neube­gründung einer Ontologie der Werte wurde auf den wohl bekanntesten Unterschied zwischen Husserl und Scheler hingewiesen, den letzterer mit den anderen Denkern der sog. "Münchener Phänomenologie" gemein hatte: die vielzitierte Weigerung, dem "Meister" in den transzen­dentalen Idealismus zu folgen. In diesem Zusammenhang haben wir Schelers Lehre von der Trennbarkeit von Dasein und Sosein dargelegt

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und zugleich ihre Schwächen herausgestellt. Der "phänomenologische Realismus" wird unserer Ansicht nach immer den Beweis schuldig bleiben, daß der wahrgenommene Gegenstand uns wirklich leibhaft gegeben ist, und daß uns kein Phantom zum Besten hält. Man denke nur an die Phantomhaftigkeit des Schelerschen "Daseins", das uns zwar als Widerstand gegeben ist, das uns aber wesensnotwendig transintelli­gibel sein soll.

Da es einerseits zumindest verwunderlich ist, in einem Kapitel über die phänomenologische Einstellung die "Liebe" eine so entscheidende Rolle spielen zu sehen, und da wir andererseits schon in der Einleitung darauf hingewiesen haben, daß dieser Begriff in Schelers Gesamtphilo­sophie und besonders für seinen Personalismus die grundlegende Rolle spielt, tauchte ganz von selbst die Frage auf, was denn eigentlich "Liebe" in Schelers Augen zu bedeuten habe; besonders da es offensichtlich war, daß es sich hier nicht um die Liebe des alltäglichen Sprachgebrauches und auch nicht um einen ausschließlich phänomenologischen Begriff handeln konnte. In diesem Zusammenhang galt es als erstes, das Phänomen -und als solches nicht definierbar, sondern nur erschaubar - "Liebe" als den ursprünglichsten und elementarsten Personakt herauszustellen und es gegen mit ihm verwandte oder mit ihm verbundene Phänomene abzugrenzen: nur so konnte seine ontologische Ursprünglichkeit aufgezeigt werden. Als "letztes Agens" ist sie für unseren Philosophen die schöpferische Bewegung, in der der höhere Wert zum Aufblitzen kommt: sie ist damit für die Philosophie als fortschreitende Erkenntnis von grundlegender Bedeutung, da nur durch sie das Höhersein eines Wertes zur Gegebenheit kommen kann; und Scheler geht sogar noch weiter : für ihn ist die Liebe die ursprünglichste Wurzel al/es Geistes, sowohl des erkennenden wie des wollenden: sie ist die grundlegende Einheit von Verstand und Willen. Als sittlich wertvoll kann man sie jedoch erst dann bezeichnen, wenn sie Liebe der Person zur Person selbst ist; d.h. zu ihren Eigenschaften des Sich-Transzendierens und des Schöpferischen gehört für die Ethik notwendigerweise die Richtung zum Personindividuum, und es ist hier gleich, ob es sich um die eigene oder die andere Person handelt: Fremdliebe und Selbstliebe (von "Egoismus" natürlich scharf zu scheiden) sind gleichursprünglich und gleichwertig. Sie ist - im Unterschiede zum Mitgefühl- ein rein spontaner emotiona­ler Akt, und, im Vergleich zum Triebe, ist sie ein absolut ursprüng­licher Akt, der nie auf Triebe zurückgeführt werden kann. Als nicht­intellektuelle und doch geistige Grundpotenz geht sie der Erkenntnis und allem Wollen vorher; sie ist die "Weckerin zur Erkenntnis und zum

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Wollen". Es wird also hier eine Ordnung der Fundierung angegeben: ein Primat von Liebe und Haß gegenüber allen Vorstellens- und Urteils­akten und allem Wollen, auch wenn sie sich intentional nur auf Werte bezieht. - Nach dieser allgemeinen Charakterisierung galt es, die ver­schiedenen Arten, Formen und Modi der Liebe anzuführen und ihre tiefe Verbundenheit mit der christlichen Liebe und dem christlichen Liebesbegriff aufzuzeigen: mit dem Aufzeigen dieser Verbundenheit will Scheler wahrscheinlich herausstreichen, daß die christliche Liebes­idee nicht nur den Glaubenden und Mitgliedern der Kirche zugänglich zu sein braucht, sondern vom universellen Logos übernommen und in philosophischer Rede vorgeschlagen werden kann.

Ist die Liebe intentional immer auf Werte bezogen, beginnt ihre sittliche Relevanz jedoch erst an dem Moment, wo sie auf den Person­wert bzw. auf die Wertperson bezogen ist; und dies führt uns zur Person­Iehre Schelers, die das eigentliche Zentral thema dieser Arbeit darstellt. Auch ist die Person als Aktzentrum primär ein Liebeszentrum, und man darf sagen, daß das Wesen des Menschen als Person die Liebe ist. Die Person als "konkreter Geist" ist wesensmäßig Liebe. Und hier wird be­sonders deutlich, daß die Liebe keine ausschließlich phänomenologische "Kategorie" ist, sondern vor allem den metaphysischen Aspirationen Schelers dient. Das Wesen der Geisteshaltung, das all seinem Philo­sophieren zugrunde liegt, ist "liebes bestimmter Aktus der Teilnahme des Kernes einer endlichen Menschenperson am Wesenhaften aller möglichen Dinge", und somit ist die Liebe vor alIem die Frage, auf die das Sein in der Erkenntnis die Antwort erteilt : sie ermöglicht also erst die Erkenntnis: sie ist zugleich aber auch die grundlegende Tendenz des Seins in dem Maße, als das Sein sich unserer Erkenntnis "aufdrängt".

Im Zusammenhang der Personlehre Schelers galt es als erstes heraus­zustellen, was der Mensch ist, und was, in Vergleich zu diesem, die Person darstellt, da für unseren Philosophen Personsein erst auf einem gewissen Niveau des Menschseins erscheint: Voraussetzungen hierfür sind Vollsinnigkeit, phänomenale Mündigkeit und Herrschaft über den Leib. Das Menschsein hingegen ist für ihn streng an den Begriff "Geist" gebunden, der sich durch "Akt, Wesen, Intentionalität und Sinnerfülltheit" definiert. Einen wesentlichen Unterschied zwischen Tier und Mensch nimmt er nicht an, wohl aber zwischen Geistwesen und Lebewesen: der Mensch charakterisiert sich vor allem dadurch, daß er einerseits fähig ist, sich selbst und sein Leben und alIes Leben zu transzendieren, daß er andererseits wesensmäßig auf das Absolute hin tendiert (sei es der Gott des Christentums oder der "werdende"

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Gott seiner panentheistischen Periode); er ist das Wesen, in dem eine allem Leben überlegene Ordnung von Akten und Inhalten zur Erschei­nung kommt.

Die Ausgangsstellung der Frage nach dem Wesen der Person sieht Scheler folgendermaßen: vor uns steht ein Seiendes, das Akte ver­schiedenen Wesens vollzieht, das urteilt, erkennt, liebt, fühlt, handelt usw. Welches ist das Wesen dieses X, das all diese Akte vollziehen kann und dabei immer doeh dasselbe, d.h. immer doch ein konkretes, reales und wirksames Seiendes bleibt? Kann die wissenschaftlich erkennende, die in den Lebenskämpfen zu sittlicher Entscheidung berufene, die ihr Verhältnis zur Gottheit suchende Persönlichkeit eine einheitsvolle Iden­tität zu sich selbst behaupten? Für ihn ist die Person jedenfalls mehr als nur die Summe ihrer einzelnen Akte, und sie kann auch nicht auf einen bloßen Begriff zurückgeführt werden; sie ist vielmehr die konkrete, selbst wesenhafte Seinseinheit von Akten verschiedenartigen Wesens; ihr Sein fundiert alle wesenhaft verschiedenen Akte. Die Person ist das konkrete Zentrum unserer sich in den Zeitablauf hinein erstreckenden geistigen, liebenden, fühlenden Akte, sie existiert und lebt nur im Vollzug ihrer - intentionalen - Akte. Und als die konkrete Einheit aller nur möglichen Akte ist sie gegenstandsunfähig : sie ist kein substantielles Ding und kein Sein von der Form des Gegenstandes. Wir können uns zu ihrem Sein nur aktiv sammeln. Sie ist und erlebt sich nur als aktvoll­ziehendes Wesen und ist in keinem Sinne "hinter" oder "über" diesen Akten; sie ist je ganz in jedem ihrer Akte und vollzieht ihr Sein in jedem Akt mit.

Scheler versucht mithin, die Person zu definieren, ohne auf den Sub­stanzbegriff zurückgreifen zu müssen; er sucht eine Mitte zwischen der substantialistischen und der aktualistischen Personauffassung, was sehr deutlich seine Definition der Person als "Aktsubstanz" aufzeigt. Hiermit soll einerseits vermieden werden, die Person ganz in ihren Akten aufgehen zu lassen, andererseits, irgendeine Substanz "hinter" diesen Akten annehmen zu müssen : sie ist, existiert und erlebt sich nur im Vollzug ihrer Akte, und gleichzeitig ist sie doch ein "Sein", das Scheler auch manchmal als "unbegründbares Plus" (zu der Summe ihrer Akte) bezeichnet. In diesem Zusammenhang konnten einige Unklarheiten des Schelerschen Personbegriffes nicht aus dem Wege geräumt werden, wie auch in Bezug auf seine Aussage, daß Personsein gegenstandsunfähig ist: da das Sein des Geistes nur im Vollzuge bzw. Mitvollzuge zugänglich ist, entzieht er sich der intentionalen Erfassung im Sinne einer objektiven Teilnahme, und deshalb erklärt es sich, daß er, wie Akt und Person,

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nie zum Gegenstand erhoben werden kann. Wie sind diese Aussagen zu verstehen, besonders da es offensichtlich ist, daß wir die Person' indem wir sie lieben, erkennen ... , doch irgendwie zum "Gegenstand" un­serer Liebe, unseres Erkennens ... erheben? Wir gehen mit Scheler in der Auffassung überein, daß Anthropologie keinesfalls als objektivie­rende Wissenschaft betrieben werden darf, sondern daß sie auf eine ihr eigentümliche, dem objektivierenden Verfahren entgegengesetzten Me­thode bearbeitet werden muß. Und es liegt evidentermaßen im Wesen dieser wesensverschiedenen Akte (Liebe, Wollen, Urteilen usw.) be­gründet, daß sie nur als Akte einer Person zum Vollzuge kommen können. Die phänomenologische Wesensbetrachtung dieser Akte führt uns zur "reinen Person", da es sinnlos wäre, vom Vollzuge etwa eines Willens­aktes zu reden, ohne zugleich ein X anzunehmen, welches diesen Willens­akt vollzieht. In jedem Akt steckt die reine Person, die also nicht mit der empirischen Person verwechselt werden darf, nicht als ein Ding mit Eigenschaften aufgefaßt werden darf, und diese reine Person kann unserer Ansicht nach doch irgendwie zur Selbstgegebenheit gebracht werden. Da es sich bei der reinen Person jedoch um eine einzigartige Gegenstands­an handelt, die zugleich Zielpunkt und Träger des Erfassens ist, muß ihr als solcher auch eine eigentümliche Erfassungsart entsprechen, die Scheler "Verstehen" nennen wird. Wir können demnach prinzipiell und wesenhaft ein Bewußtsein von ihr haben - da uns sonst auch nichts in der Welt berechtigen würde, von ihr zu reden -, und somit sind wir geneigt, die Schelerschen Unklarheiten in diesem Sinne aufzulösen 2 :

wir können die Person durchaus vergegenständlichen, wenn wir hierunter nur verstehen, daß sie zum Gegenstand des Bewußtseins erhoben werden kann. Dies heißt aber nicht, daß wir sie "objektivieren" können, und wir verstehen dies in dem Sinne, daß wir sie nie auf ein bloßes Objekt-Ding reduzieren können bzw. dürfen.

Wie ist nun aber diese "reine Person", die Scheler als "Aktsubstanz" definiert, näher zu bestimmen? Da Scheler die Person anderweitig als "Ordnungsgefüge von Akten" beschreibt, glaubten wir, hieraus folgern zu können, daß die "Substanz" dieser "Aktsubstanz" als Struktur zu verstehen ist, als ordo amoris : dieser ist der eigentliche Kern der Person, das, "was für den Kristall die Kristallformel ist". Der "ordo amoris" ist

2 Vgl. hierzu auch REINACH Adolf. Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes Buch: Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen, 1912, in Göttingische gelehrte Anzeigen 4 (1914), S. 193-214; auch in A. Reinach, Gesammelte Schriften, Halle, 1921, S. 351-376.

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die eigentliche Grundstruktur, die bei allen Veränderungen der anderen Faktoren (Eigenschaften, Tätigkeiten usw.) gleichmäßig erhalten bleibt; er ist das Beharrende in der Person; er ist die Grundformel gleichsam des individual-persönlichen Wertwesens. - Hiermit ist schon angedeutet, daß die Individualität der Person nicht an die "anderen Faktoren" wie Tätigkeiten, Eigenschaften usw. gebunden ist. Auch verwirft Scheler die raum-zeitliche Individuierung sowie die Individuierung durch die Bewußtseinsinhalte. Für ihn kann die Daseinsverschiedenheit niemals eine Person zu diesem oder jenem Personindividuum individuieren, sondern nur die pure Soseinsverschiedenheit : die Person ist individuiert durch sich selbst und in sich selbst. Sie ist ein individuell-"substantielles" Sein, sie ist wesensindividuell, und hieraus folgerten wir dann, daß das letztfundierende Individuationsprinzip der Person der ihr eigene "ordo amoris" ist; und dieses individuelle Wesenszentrum ist zugleich das Ideal der persönlichen individuellen Bestimmung. Damit ist der "ordo amoris" auch gleichzeitig die jeder Person eigentümliche Vollkommen­heitsrichtung, auf die sich die wahre Personliebe als Liebe zum indivi­duellen Personzentrum zu richten hat.

Sodann galt es, die Person in ihre verschiedenen Wesenszusammen­hänge zu stellen. Als erstes mußte festgestellt werden, daß Scheler keine ausführliche Lehre von der Freiheit ausgearbeitet hat (wie auch das Verhältnis von Person zu Recht und Gerechtigkeit kaum untersucht worden ist), sondern daß zu diesem Problem nur Ansätze vorhanden sind, die uns die Richtung angeben, in der unser Philosoph diesen Problemkreis zu lösen versuchte. Neben der Wahlfreiheit - oder der reaktiven Freiheit der Wertverwirklichung, wie er sie bezeichnet - kennt Scheler noch eine, diese letztere fundierende Freiheit, und zwar die Frei­heit der Liebe, die sich vor allem durch die aktive Loslösung vom Vitalbereich und vom psychischen Bereich sowie durch den Aufschwung zur Realisierung der individual-persönlichen Bestimmung charakteri­siert. Freiheit ist in seinen Augen eine regsame persönliche Spontaneität des geistigen Zentrums im Menschen, die sich in seiner Spätperiode zu einer rein negativen Tätigkeit des Hemmens und Enthemmens von Trieb­impulsen entwickelt. - Anschließend untersuchten wir das Verhältnis der Person zu Wahrheit und Wert. Sowohl das Verhältnis der Person zur Welt im Wissen wie auch der Person zur Wertewelt sind nach Scheler in der Liebe fundiert. Die philosophische Erkenntnis als Erkenntnis reiner und absoluter Tatsachen muß nach ihm die persönliche Form besitzen, die allem rein Geistigen eigen ist; d.h. Wahrsein von etwas für eine Person ist wesenhaft individualgültige und doch streng objektive

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und absolute Wahrheit und Einsicht. Das absolut Wahre kann allein die personhaft-individuelle Wahrheit sein, die mit subjektiver Wahrheit jedoch nichts zu tun hat. - So gründet ebenfalls das Bewußtsein meines Sollens im Erblicken des Wesenswertes meiner Person, meines einzigar­tigen individuellen Wertgehaltes, in der evidenten Erkenntnis eines An-sieh-Guten, das "An-sich-Gutes-für-mich" ist. Doch in beiden Fällen - für die absolute Wahrheit wie für die absolute Gutheit - spielt das Schelersche Prinzip von der Solidarität aller Personen eine bedeutsa­me Rolle, denn die ganze Wahrheit über einen Gegenstand und die wahre Gutheit sind nur zu erreichen durch die solidarische Kooperation aller geistig-individuellen Personen.

Wir wiesen schon darauf hin, daß für die Erkenntnis dieses individual­persönlichen Wertwesens eine diesem "Gegenstand" eigentümliche Erfassungsart besteht, die Scheler das "Verstehen" nennt; dieses Ver­stehen ist seinerseits wiederum in Liebe gegründet. Nur durch die Liebe­Fremd- wie Selbstliebe - können wir zum vollen Verstehen gelangen, d.h. zum Anschauen und Fühlen der jeder Person eigenen, einzigartigen individuellen Bestimmung, und somit ihres individual-persönlichen Wertwesens und ihres "ordo amoris". Erkennenden, doch nicht objekti­vierenden, Anteil an der Person gewinnen können wir nur dadurch, daß wir ihre freien Akte nach- und mitvollziehen durch das nur durch die Haltung der geistigen Liebe mögliche Verstehen. Ihrem Sosein nach ist die Person einer Seinsteilnahme fähig nur durch das Verstehen, während sie ihrem Dasein nach nur im Mitvollzug ihrer Akte zugänglich ist. Verstehen ist ebensowohl als Akt- wie als objektives Sinnverstehen die von allem Wahrnehmen verschiedene Grundart der Teilnahme eines Seins vom Wesen des Geistes am Sosein eines anderen Geistes: es zielt also auf die soeben erwähnte "Substanz" der Aktsubstanz, während der Körper, die Leibeinheit und das Ich mit der ihm zugehörigen Vital­seele von uns objektiviert werden können. Auch wurden die Grenzen dieses liebegeleiteten Verstehens untersucht, was uns dazu führte, die Schelersche Unterscheidung von intimer und sozialer Person darzulegen.

Der Mensch ist aber nicht nur das Wesen, das sich selbst, sein Leben und alles Leben transzendiert, er ist für Scheler zur gleichen Zeit und in denselben Akten auch das Wesen, das Gott sucht, das Göttliche intendiert. Die Person kann sich nur gewinnen, wenn sie sich in Gott verliert. Und der Wandel seiner religiösen und religionsphilosophischen Überzeugungen hat dieser Lehre keinen Abbruch getan, da es sich hier um die Qualität des Göttlichen handelt und nicht um die Idee Gottes im Sinne einer existierenden positiv bestimmten Realität.

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Nach dieser ausführlichen Darstellung der Schelerschen Liebes- und Personlehre, die sich hauptsächlich als Mit-denken verstanden wissen wollte, haben wir dahin tendiert, uns ein wenig von diesem Standpunkt "von innen her" zu lösen, indem wir die Errungenschaften, Besonder­heiten und Schwierigkeiten dieser Lehre herauszustreichen versuchten. Eine erste Errungenschaft schien uns die Gleichursprünglichkeit der intimen und der sozialen Sphäre innerhalb der Person, wobei jedoch betont werden mußte, daß nur die ungeteilte konkrete Person Träger der sittlichen Werte sein kann. Als zweites erschien uns hervorhebens­wert die Aufweisung der apriorischen Evidenz des Bewußtseins von Gemeinschaft überhaupt, die sich vor allem in einem Leerbewußtsein, im Erlebnis des Erfüllungsmangels der sozialen Akte konstituiert. Sodann wurde auf die philosophisch interessante Verknüpfung der personalistischen Auffassungen Schelers mit seiner "streng wissenschaft­lichen und positiven Grundlegung der philosophischen Ethik" in der phänomenologischen Werttheorie hingewiesen. - Dies führte uns zu der allgemeinen Frange, inwieweit der Personalismus überhaupt den Anspruch erheben darf, eine echte Philosophie zu sein. In diesem Zusam­menhang haben wir unter anderem versucht, den Schelerschen Persona­lismus mit dem Husserlschen Ideal einer Philosophie als strenger Wissen­schaft zu vergleichen, und es ergab sich, daß beide eine sehr unterschied­liche Auffassung von "Weltanschauungsphilosophie" bzw. philosophi­scher Weltanschauung haben. Setzende Weltanschauungsphilosophie ist als Metaphysik und als materiale Wertrangordnungslehre für Scheler echter Bestandteil der Philosophie. Daß diese philosophische Weltan­schauung dem Anspruch nach strenger Wissenschaft und nach größt­möglicher Systemhaftigkeit in nur geringerem Maße gerecht werden kann als die reine Phänomenologie, erschien uns von selbst gegeben. Und unserer Ansicht nach führt die Tatsache, daß Scheler beides betrie­ben hat, ohne immer die nötigen Unterscheidungen zu treffen, zu der anderen Tatsache, daß wir uns hier - unsere Arbeit scheint uns dies aufgewiesen zu haben - vor dieser eigenartigen Verknüpfung von aprio­rischen phänomenologischen Wesenseinsichten mit metaphysischen Hypo­thesen befinden, wo außerdem noch hinzuzufügen ist - was in unseren Augen einen der größten Mängel dieser Philosophie darstellt -, daß Scheler die Sprachphilosophie so gut wie ignoriert zu haben scheint.

Und bevor wir zu zwei wesentlichen Besonderheiten dieses Perso­nalismus übergingen, wurde nochmals auf die Errungenschaften der philosophischen Anthropologie unseres Philosophen der Nachdruck gelegt sowie der personalistische Charakter seiner Gesamtphilosophie

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herausgestrichen. - Eine erste Besonderheit schien uns die zuerst nur ganz relativ ausgeprägte, nach 1922 aber immer stärker werdende Ten­denz zum dualistischen Denken. Konnte man vor diesem Zeitpunkt noch von einer vielleicht zu rechtfertigenden Dualität innerhalb des Personseins reden, wird diese nachher zu einem echten Dualismus ausgebaut, der sich außerdem auf die metaphysische und religions­philosophische Ebene ausweitet, wo sich - auf anthropologischer Ebene - Geist und Leben als zwei ungleiche Partner ein und desselben menschlichen Daseins gegenüberstehen, während auf metaphysischer Ebene das Sein sich aus zwei sich gegenüberstehenden Grundattributen -Drang und Geist - zusammensetzt.

Die höchste und letzte Formulierung findet die Schelersche Liebe­Person-Lehre in der Lehre von der ursprünglichen Mitverantwort­lichkeit jeder Person für das sittliche Heil des ganzen Personreichs. Durch das Solidaritätsprinzip wird die gesamte moralische Welt zu einem großen Ganzen, in dem jeder Einzelne nicht nur für sich selbst verant­wortlich ist - was in der sog. bürgerlichen Moral ja auch der Fall ist -, sondern wo Jeder gleichursprünglich für alle Anderen und das Ganze mitverantwortlich ist. Uns scheint es sich hier um eine wahrhaft ontolo­gische Solidarität zu handeln, die zwar unsere freien Entscheidungen mitumfaßt, diese aber gleichzeitig um vieles überragt. Sollte dies nämlich nicht der Fall sein und wir tatsächlich für Alles mitverantwortlich wären, müßte uns dieses Bewußtsein notwendigerweise mit großer Angst erfüllen und unsere Entscheidungen lähmen, wenn nicht unmöglich machen. Auch brächte diese Mitverantwortung für Alles unserer Ansicht nach mit sich, daß wir letztendlich für nichts mehr Verantwortung fühlen könnten. - Das Solidaritätsprinzip bei Scheler setzt jedenfalls gleichsam eine innere Kapitalisierung der sittlichen Werte im Person­reiche voraus, an deren Ergebnis alle Individuen teilhaben - in Schuld und in Verdienst. Und dieses Prinzip ist in seinen Augen ein sittliches Apriori aller möglichen Geschichte und möglichen Gemeinschaft, und seine Anwendung ist notwendige Voraussetzung für die neue Ordnung, deren Einheitsform personal und deren Band die Liebe ist.

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BIBLIOGRAPHIE

Die Schriften Schelers sowie die bestehenden Bibliographien wurden am Ende unserer Einleitung angeführt, sodaß wir uns hier auf die für diese Arbeit relevanten Werke und Artikel beschränken können.

a. Monographische Schriften

ADoLPH Heinrich, Die Anthropologie Max Schelers, in Imago Dei. Beiträge zur theologischen Anthropologie. Gustav Krüger zum 70. Geburtstag, Gießen, 1932, S. 199-213.

BASSENGE Friedrich, Drang und Geist. Eine Auseinandersetzung mit Schelers Anthropologie, in Zeitschrift für philosophische Forschung XVII (1963), S. 385-418.

BIEFIELD Rebecca S., Max Sehe/er, an essay commemorating the one­hundredth anniversary of his birth, in Journal of the British Society for Phenomenology, Vol. 5, n° 3 (oct. 1974), S. 212-218.

BUBER Martin, Die Lehre Schelers, in M. BUBER, Das Problem des Menschen, Heidelberg, 1961, S. 127-157.

CANTIUS P., Max Seheler's ethiek als personalisme, in Bijdragen 7 (1946), S. 36-58.

CHEVROLET Jean-Pierre, Le sacre dans la philosophie de Max Seheler (These FribourgjSuisse), Fribourg, 1970.

COMMENTATOR George E., The Phenomenology of Love in Max Seheler, Boston, 1970 (Phil. Diss.).

DEEKEN Alfons, Process and permanence in ethics. Max Scheler's moral philosophy, Paramus (N.Y.), 1974.

DEININGER Dieter, Die Theorie der Welterfahrung und der Begriff der Teilhabe in der Philosophie Sehelers, Frankfurt, 1966.

Dupuy Maurice, La philosophie de Max Scheler. Son evolution et sou unite. Tome I : La critique de l'homme moderne et la philosophie theorique. Tome II: De /'ethique a la derniere philosophie, Paris, 1959.

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