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PhiN-Beiheft 23/2020: 58
Jana Mangold (Erfurt)
The paper investigates historical, pragmatic and theoretical aspects of the record cover based on
observations of Marcel Duchamp's boxes, appearing in works such as Boîtes-en-valise and
Rotoreliefs. The concentration on Duchamp's pragmatic constructions brings to the fore the three-
dimensionality even of the almost plane and slim record cover and its multifaceted supplements. In
following the manipulations of boxes, albums, record sleeves and the like, operations of folding or
rotating are inspected. These operations prove to be constitutive in shaping space and visibility,
which again are important features highlighted in the genre of unboxing videos of records.
Mit Duchamp Plattenhüllen öffnen
Die Schallplatteneinstecktasche und ihre Beilagen
Immer muss man erst einmal die Schachteln öffnen, um an die Platten zu
gelangen. Und immer fällt noch eine ganze Menge mehr mit heraus. So auch hier:
Abb. 1, Roché vor Sammlerstücken
Henri-Pierre Roché, Kunsthändler und Schriftsteller, posiert 1950 vor einigen
Sammlerstücken aus der Hand Marcel Duchamps. Vor ihm auf dem Boden steht
eine offene und halb entleerte, limitierte Boîte-en-valise, eine von Duchamp über
Jahre selbst konstruierte und handgefertigte Schachtel im Koffer mit allerlei
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Material.1 Ganz vorne im Bild, das Roché und seine Boîte zeigt, ist die
Reproduktion einer schwarzen Kreisform mit hellerem kreisrundem Schema in
der Mitte zu erkennen, auf einem weißen, rechteckigen Blatt Karton. Es ist das
Bild einer Platte, das hier mit anderen herumliegenden Bildern aus der Schachtel
gefallen ist.
Die Reproduktion zeigt auf einem Druckbogen ein Muster der Rotoreliefs, die
Duchamp 1935 auf einer Erfindermesse in Paris präsentiert hat (vgl. Daniels
1992: 122, 124).2 Die Rotoreliefs sind eine kleine Serie von beidseitig bedruckten,
kreisrunden Pappscheiben, die als "visuelle Schallplatten" (ebd.: 123) gelten
können (vgl. ebd.: 122f.). Auf einen Schallplattenspieler aufgelegt, versetzt die
Rotation des Plattentellers die einzelne Pappscheibe in Bewegung; der optische
Effekt der Verräumlichung entsteht aus den zweidimensionalen, aufgezeichneten
Schemata. Volumen und Tiefe erheben sich aus und senken sich in die kreisenden
Scheiben.3
Abb. 2, Duchamp mit Rotoreliefs, Filmstill aus DREAMS THAT MONEY CAN BUY (USA
1947), Foto: Arnold Eagle, Estate of Marcel Duchamp, Artists Rights Society
1 Zu den Boîtes-en-valise bzw. den Boîtes, von denen insgesamt über 300 Stück hergestellt und
teils handverlesen verteilt wurden, zum gesamten Prozess der ersten Überlegungen, Entwürfe,
Konstruktionen und schließlich der über Jahre und unter wechselnder Beteiligung von
Ausführenden durchgeführten Produktion der Schachteln im Koffer vgl. Bonk 1989. 2 Die Schreibweise der Objektbezeichnung "Rotoreliefs" übernehme ich aus dem Werkverzeichnis
The Complete Works of Marcel Duchamp (vgl. Schwarz 1997: 728). Es existiert auf den Scheiben
und in der Literatur auch die Schreibweise ohne Plural-s. 3 Slipmats für Plattenspieler sind heute häufig mit ähnlichen Mustern versehen und zeigen
denselben optischen Effekt, sofern man keine Platte auflegt. Das Prinzip der visuellen Schallplatte
im wörtlichen Sinne lebt indessen im Bereich der picture disc weiter. Für diese Hinweise danke ich
Lars Schneider.
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Auf einem Filmstill aus DREAMS THAT MONEY CAN BUY (USA 1947) sind
alle sechs Scheiben schon aus der Hülle gefallen. Duchamp hält hier einen
Plattenspieler verkehrt herum in die Kamera. Die farbigen Scheiben der
Rotoreliefs liegen verstreut auf dem waagerecht ins Bild ragenden Deckel des
Plattenspielers. Eine Scheibe hängt auf dem senkrecht gestellten Plattenteller vor
Duchamps Brustkorb. Und eine weitere Scheibe lugt, zwischen Mittel- und
Zeigefinger der rechten Hand gesteckt, schräg ins Bild. Während die Pose
insgesamt recht lässig wirkt – unterstrichen vom entschlossenen Griff der linken
Hand Duchamps um die Kurbel des anscheinend etwas älteren, handbetriebenen
Plattenspielers (gleich dreht er los und lässt uns alle vor optischer Illusion
schwindlig werden) –, erscheint die Haltung insbesondere durch die zusätzliche
Scheibe in der rechten Hand auch leicht verkrampft. Es ist anzunehmen, dass mit
dieser Hand auch der schwere Unterbau des Plattenspielers abgestützt werden
muss. All die Platten im Griff zu behalten, erscheint dabei gar nicht so leicht.
Abb. 3, Marcel Duchamp mit einer Boîte-en-valise 1942,
Foto: Allan Grant
Ebenso lässig und hemdsärmelig hält Duchamp übrigens bereits 1942 seine Boîte-
en-valise für eine Fotoaufnahme der Zeitschrift Time ins Bild. Hier hat Duchamp
ebenfalls alle Hände voll zu tun, auch nur im Ansatz vorzuführen, was seine
Schachtel alles zu bieten hat. Klapp- und Schiebeelemente, doppelter Boden,
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Einlegeblätter … Er stützt sich mit der linken Hand am aufgeklappten Mittelteil
seiner Konstruktion auf. Mit der rechten Hand, wieder zwischen Mittel-,
Zeigefinger und Daumen eingeschoben, hebt er einige der auf Karton
aufgebrachten Reproduktionen an, die in seiner Schachtel im Koffer zu finden
sind. Es scheint ein Versuch zu sein, irgendwie anzudeuten, dass sich eine Menge
Material in der Boîte befindet.
Warum auf Duchamp und auf Werkarrangements Duchamps schauen, wenn die
Frage ist, was die Platten machen, und zwar die Schallplatten? Duchamps
Arbeiten liefern meiner Ansicht nach Anhaltspunkte, um sich auf dem nahezu
unerforschten Feld des alltäglichen Umgangs mit und der
Gebrauchsaufforderungen von Platten und Plattenhüllen zu orientieren.4 An seinen
Werken, ihren (fotografischen) Inszenierungen und ihren Gebrauchsweisen,
ebenso aber an der Rezeptions- oder Gebrauchsgeschichte lässt sich sehen, welche
Untiefen ganz praktischer und erkenntnisleitender Art die Plattenhüllen zu bieten
haben. Unter anderem verhandeln diese Arbeiten Duchamps das Verhältnis von
Objekt und Verpackung bzw. von Objekt und Handhabung des Objekts aufgrund
einer spezifischen Verpackung. Ich frage mich daher, was sich von Duchamps
Konstruktionen und Angeboten über die Plattenhüllen, mithin über die
Geschichte, Praxis und Theorie der Verpackungen für Schallplatten erfahren lässt.
1. Duchamps Schachteln öffnen
Mit Duchamp Plattenhüllen zu öffnen, heißt, sich darüber klar zu werden, dass es
hier nicht allein ums Musikhören geht. Vielmehr muss Hand angelegt werden, um
den zu beschallenden Raum musikalisch einnehmen zu können. Zunächst sind
(Auf-)Falt-, Dreh- und Klappoperationen auszuführen, um an die Platten zu
gelangen. Duchamps Koffer, der in sich noch einmal eine Schachtel birgt, ist ein
mehrstufiges Klappobjekt (vgl. Mollerup 2001: 7, 11, 13, 17),5 das einzelne
4 Gut erforscht und gut beobachtet erscheint der Plattengebrauch allerdings im sogenannten Genre
der Popliteratur. Einschlägig wären etwa die Beobachtungen zum Vorgehen von Plattensammlern
und -händlern in Nick Hornbys High Fidelity (1995) oder Virginie Despentes' Vernon Subutex
(2015–17). Zu Letzterem siehe den Beitrag von Lars Schneider in dieser Ausgabe. 5 Laut Mollerup sind Klappobjekte "intelligente" Objekte, die ihre Größe den Anforderungen des
praktischen Bedarfs anpassen. Sie haben zwei Zustände, den passiven, zusammengeklappten und
den aktiven, auseinandergeklappten. Sie lassen sich wiederholt auf- und zusammenklappen. Sie
verteilen Volumen um und reduzieren es nicht nur einfach. Und sie zeichnen sich durch Effizienz
im Raum sowie im Transport aus. Den Koffer allerdings hält Mollerup für ein "quasi klappbares"
Objekt, da er sich nicht mit dem Ziel der Raumersparnis zusammenklappe (vgl. 2001: 24). Für
Duchamps Schachtel im Koffer gelten aber aufgrund der Umverteilung des Volumens an
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Schritte des Öffnens sehr deutlich beobachtbar macht und das deshalb auch ein
dankbares Objekt der Unboxing-Darbietungen auf netzbasierten Videoplattformen
abgibt – dazu mehr im abschließenden Teil dieses Aufsatzes. In den größtenteils
von Hobbyfilmern und Sammlern, aber auch von Museen oder Kultursendungen
veröffentlichten Kurzfilmen, die den vielzähligen und vielgestaltigen Inhalt der
Boîte-en-valise ansichtig werden lassen, lässt sich die Funktionsweise des
ineinander geschachtelten Objekts nachvollziehen.6
Abb. 4, Boîte-en-valise, aufgeklappter Koffer,
Foto: Uwe Düttmann
Zuerst ist der Schnappverschluss des Koffers aus Leder mit Ledergriff zu
betätigen. Dann kann der Kofferdeckel um 180° herumgeklappt werden. Unter
dem Kofferdeckel wird erneut ein Deckel sichtbar. Das ist die Schachtel. Sie
bestand bei den ersten 24 von Duchamp selbst gefertigten Exemplaren aus
Sperrholz und war mit einem Monogramm aus hölzernen Leisten versehen. Diese
Leisten liegen der gesamten Schachtelkonstruktion zugrunde (vgl. Bonk 1989:
Reproduktionen sowie der Wiederholbarkeit der Klapp- und Faltoperationen die Kriterien der
"echte[n] Klappobjekt[e]" (ebd.: 11). 6 Siehe dazu das Video der Scottish National Gallery of Modern Art, 00:04:01, oder das Video von
Vuk Ćosić, der unter dem Titel "Unboxing Duchamp's Boîte" eine Wiederauflage des Verlags
Walther König auspackt (00:11:01).
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158), wie sich sogleich beobachten lässt, wenn nun auch der Schachteldeckel
angehoben und nach einer Klappbewegung um 90° arretiert wird.
Abb. 5, Boîte-en-valise, aufgeklappte Schachtel,
Foto: Uwe Düttmann
Aus dem aufgestellten Schachteldeckel lassen sich über die hölzernen Leisten,
oder besser: Schienen, rechts und links je ein Flügel herausziehen. Über eine
Faltung ist zudem am Flügel linker Hand eine weitere Ebene angebracht und
ausklappbar. Sind diese Klapp-, Falt- und Drehoperationen ausgeführt, hat sich
die verschlossene Schachtel nicht nur nach oben, sondern auch in die Breite
geöffnet. Hier ist ein Schauraum, fast schon eine kleine Bühne, entstanden, der
sich in die Höhe, Breite und Tiefe erstreckt (vgl. ebd.: 20). Schachtel und Koffer
führen die Entfaltung einer neuen Raumstruktur im bestehenden Raumgefüge vor.
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Abb. 6, Boîte-en-valise, mit teils ausgezogenen Flügeln,
Foto: Uwe Düttmann
In der kunstwissenschaftlichen Literatur wird diese Schachtel im Koffer immer
wieder als transportables Museum beschrieben (vgl. ebd.: 9). Der Koffer 'entlässt'
aus sich, aufklappend und aufdrehend, aufgerichtete Präsentationswände, an
denen Reproduktionen von Duchamps Kunstwerken angebracht sind. Links ist
etwa bis zum Umklappen der berühmte 'Akt', der eine Treppe herabsteigt, zu
sehen. Rechts unter anderem eine Reproduktion von 9 moules malic. Sogar einige
Readymades haben es in miniaturisierter Form auf die mittlere ,Stellwandʻ der
Schachtel geschafft: "50 cc air de Paris; ...pliant, ...de voyage; Fountain".7 Mittig
erscheint schließlich nach dem Öffnen aller Schiebeelemente das Grand Verre im
verkleinerten Maßstab auf Celluloid.
Duchamp hat in jedem der über 300 ausgegebenen Koffer zwischen 68 und 80
Reproduktionen in verkleinertem Maßstab untergebracht. Die Schachtel bietet
eine Art Zusammenschau eines Großteils der Arbeiten Duchamps, die im Koffer
davongetragen werden können. Diese Zusammenschau erfordert aber einiges an
Handhabung und Platz, denn der untere Deckel der Schachtel erweist sich als
doppelter Boden und führt bei seinem Herumklappen nur noch weiter in die Tiefe,
entlässt immer noch mehr Reproduktionen aus sich. Sie verteilen sich, auf
gefalteten Blättern oder Mappen angebracht, im Raum, so dass die um Falze und
Scharniere angeordneten Kunstwerke einander immer wieder verdecken. Für fast
jedes Einzelteil, das zum Vorschein kommt, verschwindet ein anderes. So
7 Vgl. die zahlreichen Abbildungen sowie die Kapitel "Tafeln" und "Inventar" in Bonk 1989.
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bekommt man nie alles auf einmal zu Gesicht in dieser Zusammenschau,
stattdessen muss man immer weiter (auf-)blättern und auspacken.
Abb. 7, Boîte-en-valise ausgepackt, de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy 1935-1941,
Series A 0/XX, 1943, Philedalphia Museum of Art, The Louise and Walter Arensberg Collection
Der Kunst- und Medienwissenschaftler Dieter Daniels fasst diesen Umstand so
zusammen:
[A]llein durch die Anordnung der Reproduktionen in der Schachtel und die
Zusammenfassung von Werkgruppen in Mappen stellt Duchamp eine enge
thematische Verknüpfung her. Diese gedankliche Dimension erschließt sich nur im
Umgang mit den aufklappbaren und verschiebbaren Abbildungen und Modellen.
Erst durch das manuelle Hantieren entfaltet sich die bestechende Logik der
Anordnung, die eine räumliche Umsetzung der vielfachen gedanklichen Vernetzung
der Werke Duchamps darstellt. […] Duchamp […] entwickelt […] einen manuellen,
räumlichen Zugang zu komplexen gedanklichen Zusammenhängen. (1992: 128).
Ob die Boîte tatsächlich einen Zugang zu gedanklichen Zusammenhängen liefert,
sei dahingestellt. Hervorzuheben ist jedoch, dass das Hantieren, das Bedienen, das
haptische und raumgreifende Interagieren mit dem Objekt oder den Objekten
diesen Museumskoffer auszeichnen. Duchamps Boîte-en-valise zu öffnen,
bedeutet daher, auf die Räumlichkeit, die Transformierbarkeit und die
Notwendigkeit bestimmter Handgriffe beim Öffnen von Schachteln aufmerksam
zu werden. Die konstitutive, Raum und Sichtbarkeiten entwerfende Funktion von
Operationen des Klappens, Faltens oder Drehens wird erfahrbar. Vielmehr als ein
tragbares Museum ist die Boîte daher eine Gebrauchsaufforderung, eine
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Anweisung zum Öffnen und ein Anweisen im Öffnen. Dabei verflüchtigen sich
Rezeptionsvorgaben in variable, explorierbare Reihenfolgen, und lediglich die
Klapp- und Schiebeoperationen sind festgelegt.
Bei der Benutzung der Rotoreliefs lässt sich Ähnliches beobachten. Um sie in
Aktion zu sehen, muss der Deckel des Schallplattenspielers aufgeklappt werden.
Die Scheiben müssen aus ihrer Verpackung geholt werden. Es muss ausgewählt
werden, welche Scheibe es denn nun sein soll. Und es müssen weitere
Plattenhüllen geöffnet, weitere Platten herausgenommen und auf dem Plattenteller
platziert werden. Denn, so die Anweisung auf dem Beipackzettel der ersten
französischen Edition von 1935: "Le pivot du plateau gênant le placement des
disques optiques, entasser quelques disques de musique jusqu'à complète
disparition de la pointe." (Schwarz 1997: 729).8 Der Plattentellerstift stört das
einfache Auflegen der optischen Scheibe ohne Mittelloch. Es wird daher
angeraten, zunächst einige Schallplatten auf dem Plattenteller aufzustapeln, so
dass der Mittelstift zum Verschwinden gebracht wird und ein Podest für die
Auflage der optischen Scheibe entsteht.
Mit dem Einsatz des Schallplattenspielers zur Hervorbringung und zum
Betrachten des visuellen Effekts wird eine populäre Medientechnologie und eine
konventionalisierte Praktik, sprich eine 'Alltagstechnik', aufgerufen. Es wird
explizit mit dem bekannten Umgang mit der (zerbrechlichen) Scheibe aus
Schellack kalkuliert, um die Rotoreliefs wirken zu lassen. "Das Stück ist also
schon durch die praktische Handhabung ausdrücklich zum Gebrauch für
jedermann gedacht" (1992: 122), kommentiert Daniels. Dabei durchkreuzen die
Rotoreliefs gleich zweierlei Auffassungen von der Scheibe: Zum ersten steigern
sie die konstatierte Zweidimensionalität der Platte, welche etwa nach Theodor W.
Adorno ein zweidimensionales Modell der Wirklichkeit abgibt (vgl. Adorno 1984:
530–534, 531), in die Dreidimensionalität der optischen Tiefenwirkung der
rotierenden disques optiques. Die Scheiben thematisieren in der Rotation die
Grenze von Zweidimensionalität und Dreidimensionalität. Aus der Scheibe
wächst eine konische Form oder ein gegenständliches Glas, sie transformiert sich
in den Raum hinein mittels der Abspieltechnik für Schallplatten.
8 Übers.: "Da der Plattentellerstift das Auflegen der optischen Scheiben behindert, schichte einige
Musikplatten auf dem Plattenteller auf, bis die Spitze des Mittelstifts vollständig verschwunden
ist."
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Zum zweiten durchkreuzen die Rotoreliefs auch die Auffassung von einer
schmalen Hülle für das flächige Objekt Schallplatte. Als die optischen Scheiben
1935 auf den Markt kommen, zu einer Zeit, in der die Plattenindustrie selbst noch
kein rechtes Format für den Verkauf und den Transport der Schellackscheiben
gefunden hat, bieten sie bereits eine sehr avancierte Verpackung für die kleine
Serie von zwölf Offsetdrucken auf sechs Scheiben an. Noch bis 1910 lagen
Schallplatten ohne jede Hülle in den Auslagen und Regalen. Einzelne Verkäufer
schlugen sie in Packpapiertüten ein, um sie über die Ladentische zu reichen. Bald
setzte sich immerhin das kreisrunde Loch in der Mitte der notdürftigen
Papierumschläge durch – für den Durchblick auf das Label der Platte, das alle
wichtigen Informationen zu Musikrichtung, Interpreten und Produzenten lieferte.
So waren es die Musikhandlungen selbst, die nach und nach die ersten stabileren
Hüllen herstellten. Diese einfachen Papphüllen zierten dann Aufdrucke wie
"Woolworthʼs" oder die Namen der ansässigen Elektrogeschäfte (Hamilton 1985:
8–15; Schmitz 1984: 31f.).9
Abb. 8, Frühe Schallplattenhüllen,
Foto: Ron Hunt
Duchamps Scheiben hingegen boten sogleich eine dauerhafte und stabile
Konstruktion, um sie zu verstauen. Sie wurden 1935 von zwei Kunststoffringen
auf jeder Seite eingefasst, welche durch ein schwarzes Schaumgummiband an der
Außenseite dieser Ringe zusammengehalten wurden (vgl. Schwarz 1997: 728).
9 Zum Zusammenhang mit Entwicklungen der Verpackungsindustrie und der Einführung des
Selbstbedienungssystems vgl. Schmidt-Bachem 2001: 198–201.
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Abb. 9, Rotoreliefs 1935 mit Kunststoffring und "Beipackzettel"
Abb. 10, Pappbändchen und Stecknadeln der Rotoreliefs-Verpackung von 1935, Duchamp Dossier
Plate N (Ausschnitt)
Ein weißer Pappstreifen konnte mit zwei kleinen Stecknadeln an jedem Ende im
Schaumgummirand befestigt werden und so die verbliebene Öffnung zwischen
den schwarzen Ringen schließen, damit die Platten nicht herausfielen (ebd.: 729).
Die Aufforderung "Tirer Lʼépingle", also die Stecknadel zu ziehen, an beiden
Enden des Pappstreifens kündet von einer diffizil-effektvollen Weise, die runde
Schachtel der Rotoreliefs zu öffnen und nach der Stecknadel auch noch an den
Scheiben zu ziehen.
Mit dieser Fassung gab Duchamp seiner Serie von visuellen Schallplatten eine
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Erscheinung, die aus den in den 1930er Jahren üblichen Verpackungen für
Plattenserien heraussticht. Aufgrund der kurzen Abspiellänge der frühen Platten
(bei 78 Umdrehungen pro Minute und einem Durchmesser von zehn bis zwölf
Zoll brachten es die Schellackplatten auf ca. drei bis fünf Minuten Musik pro
Seite, vgl. Evans 2017: 8, 14, 17, 36, 38f; Hamilton 1985: 9) erschien zu dieser
Zeit auch die reproduzierbar gewordene Musik zumeist auf mehreren
Schallplatten. Insbesondere die ab Mitte der 1920er Jahre vielfach
aufgenommenen Orchesterstücke benötigten mehr als eine Schallplatte, um in
Gänze in den Wohnstuben wieder abgespielt werden zu können (vgl. Schmitz
1984: 14, 34; Hamilton 1985: 9).10 Damit die Einzelteile des langen Stücks nicht
auseinanderfielen (vgl. Kramer / Pelz 2013: 7–22), erhielten sie gewissermaßen
eine Sammlerhülle – einen Albumeinband: "As orchestral recordings began to
appear, many of them required multiple discs, the problem of packaging arose.
This led to the album, that had a separate sleeve for each record and opened up
like a photograph album" (Schmitz 1984: 34).
Abb. 11, Schellackplattenalbum
Die (braunen) Papiereinstecktaschen für die einzelnen Platten wurden unter
festerem Karton in der jahrhundertealten Technik der Buchbindekunst zu
regelrechten "Plattenbüchern" (Hamilton 1985: 9) zusammengebunden. Das
Musikalbum bezieht seinen Namen noch immer aus dieser Aufbewahrung der
Platten in der Buchform eines Albums. Von seiner Handhabung her schloss das
Plattenalbum mit der durch die zusammengebundenen Papiertaschen geschlitzten
10 Evans weist darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Musikstücke eines Interpreten
oder einer Musikrichtung auf mehreren Scheiben zusammengestellt und als Album verkauft
wurden (vgl. 2017: 14).
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Seite sehr deutlich an Material und Technik der frühen Einsteckalben für Porträt-
und Visitenkarten an, die ab 1858 zu finden sind. Auch hier bekommt die weiße
Seite des Albums einen Schlitz, durch den die Fotografie an der oberen oder
unteren Kante in die Albumseite geschoben wurde (vgl. Maas 2001: 100).11 Bei
den Platten-Alben wurde auf diese Weise vermieden, dass mit einem Mal alle
Platten aus dem Einband fielen, wenn das Plattenbuch aufrecht ins Regal gestellt
wurde. Und tatsächlich wurden bis in die 1940er Jahre hinein diese Alben, die
noch keine individuelle Gestaltung der Cover boten, wie Bücher in den
Verkaufsregalen dargeboten. Nur der Album-Rücken war zu sehen (vgl. Schmitz
1984: 57).
Duchamps Rotoreliefs hatten mit dem raffinierten und feinmotorisch sicherlich
anspruchsvollen Verschluss eine ganz eigene Form des Rausfallschutzes kreiert.
Bei der Wiederauflage der Rotoreliefs in den USA 1953 ersetzt dennoch eine
Kartonhülle den Verschluss durch Pappstreifen und Stecknadeln.12 Der erprobte
Fassungsring für die Scheiben besteht nun aus schwarzem Pappkarton und wird in
einen an zwei gegenüberliegenden Seiten offenen "display folder"13 – eine
Faltmappe zur Schaustellung – eingeschoben.
Dieser Faltkarton ist nicht so groß wie die zu diesem Zeitpunkt dann längst
üblichen Kastentaschen oder Schuberverpackungen aus Pappe für die inzwischen
entwickelten Langspielplatten.14 Er umhüllt die optischen Scheiben nicht
vollständig und hält sie auch nicht recht zusammen, dem Eindruck der Fotografien
nach zu urteilen. Hierfür dient noch immer der schwarze Fassungsring. Bei
genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass es bei dieser 'Faltmappe' tatsächlich auf
die Faltung und Faltbarkeit ankommt. Sie lässt sich nämlich zu einem Würfel
aufstülpen, der mit den nach oben und unten offenen Seiten den Mittelstift auf
dem Plattenteller überbaut.
11 Zur Verkaufspräsentation in den 1930er Jahren vgl. Beitrag von Jan Henschen: "Über den Tresen
auf Biegen und Brechen – Karl Valentin im Schallplattenladen", 46–56. 12 Die Neuauflage wurde von Enrico Donati herausgegeben mit einer Auflage von 1000 Stück. Es
folgten weitere Wiederauflagen 1959, 1963 und 1967 (vgl. Schwarz 1997: 729f.). 13 Vgl. Bonk / Hartigan / Hopps 1999: 333. Zu den Verpackungsmaterialien der verschiedenen
Ausgaben des Rotoreliefs siehe Schwarz 1997: 728f. 14 Die Langspielplatte kommt 1948 medienwirksam auf den Markt (vgl. Evans: 2018, 36).
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Abb. 12, Faltmappe um Rotoreliefs 1953, Marcel Duchamp Plate 19
Der Karton liefert nun das Podest für die optischen Scheiben, so dass sie auf dem
Plattenteller ungestört kreisen können. Damit thematisiert die Plattenhülle der
Rotoreliefs die Grenze von Zwei- und Dreidimensionalität nicht nur, sondern sie
operiert auf ihr mittels ihrer Faltung. Die zunächst flache Hülle transformiert sich
wie schon die Schachtel im Koffer in ein stark räumliches und Raum
einnehmendes Gebilde. Die Funktionalität der Plattenhülle kommt sogar erst
aufgeklappt zur Geltung,15 und die Betrachterin muss wiederum Hand anlegen,
um die Platten und ihren optischen Effekt, getragen vom mechanischen Apparat,
ansehen zu können.
An Duchamps Klappobjekten lassen sich somit basale Kulturtechniken des
Klappens, Faltens und Drehens beobachten, bei denen stets Objekte und
Handlungsketten miteinander verschaltet sind. Kategorien wie Zwei- und
Dreidimensionalität, aber auch – wie sich noch zeigen wird – von Kunst im
Gegensatz zum Handwerk oder von Haupt- und Nebensache werden durch
Kulturtechniken eingesetzt und zugleich sichtbar gemacht (vgl. Siegert, 2013: 58–
62; Dünne / Fehringer / Kuhn / Struck, 2020).
15 "The cardboard stand for this edition has a double function: when the disks are in motion, it
serves as support; when being prepared for storage, the circular holder is inserted into the flattened
stand, to prevent the disks from falling out." (vgl. Schwarz 1998: 730)
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2. Plattenhüllen, Schulbänke, Koffer, Schubladen und Bücher
Was heißt es also, mit Duchamp Plattenhüllen zu öffnen? – Es heißt vermutlich,
dass die Schallplattenhülle nichts anderes ist als eine Kiste ohne Boden. Dauernd
fallen Dinge aus ihr heraus: Fotos, Lyrics, Poster, Ausschneidebögen, sogar
Schlüpfer.
Abb. 13, Alice Cooper Schoolʼs Out mit inner sleeve-Schlüpfer
Diese Damenunterhose diente der Platte des Alice Cooper-Albums Schoolʼs Out
von 1972 als inner sleeve. Sie konnte einer Plattenhülle im Design einer
historischen Schulbank entnommen werden. Das Cover ist nach oben aufklappbar
und imitiert somit das Hochklappen der alten Schulbänke. Auf der Innenseite der
Klapphülle zeigt sich eine Ansicht vom Innenleben der Lade. Alles liegt hier
durcheinander: Papier, Stifte, Zwille, Murmeln, Taschenmesser. Beim Blick in das
solchermaßen nachempfundene Fach lässt die Vielzahl und Unterschiedlichkeit
der herausragenden Dinge die (Un-)Tiefen der Lade erahnen.
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Abb. 14, Alice Cooper Schoolʼs Out aufklappen
Abb. 15, Alice Cooper Schoolʼs Out aufgeklappt
Kurt Tucholsky beschreibt den Überblick über die obere Schicht, die sich beim
Öffnen des eigenen Koffers fern von Zuhause darbietet. Auch hier ragen die
einzelnen Packstücke und Teile von innen dem Betrachter entgegen: "[A]uf
einmal ist alles wieder da […]. Ein Stiefel guckt hervor, Taschentücher, sie
bringen alles mit, fast peinlich vertraut sind sie dir […]. Ihre stumme Ordnung,
ihre sachliche Sauberkeit im engen Raum sind noch von da drüben. Da liegen sie
und sprechen schweigend" (Tucholsky 1998: 233). Von Ordnung und Sauberkeit
kann in der Schulbank der Alice Cooper-Plattenhülle zwar keine Rede sein,
dennoch markieren auch diese verstreuten Dinge einen anderen Raum. Und in der
Draufsicht auf den geöffneten Kasten stellt sich eine Art Überblick über
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zumindest die obere Schicht des Verstauten ein. Ganze Welten können sich in
Schulbänken verbergen, was letztlich die Eigenart jeder Lade ist, wie Roger-Pol
Droit in seinen philosophischen Erfahrungen mit Alltagsdingen ausführt:
"Mehrere Male öffne und schließe ich die Schublade. Ich sehe […] Schals auftauchen,
verschwinden, wieder auftauchen, wieder verschwinden. Mich überkommt ein altes
Staunen, ein Gefühl aus der Kindheit. Wie kann es einen Raum im Raum geben? Einen
Extraraum, eine zusätzliche Welt, eingelassen in die gewöhnliche Welt? Ein zweites
Universum, dann noch eins und noch eins – so viele, wie es Schubladen gibt – sind in
dem bereits bekannten Universum enthalten." (Droit 2005: 55)
Die trompe-lʼœil-Fotografie auf der Schoolʼs Out-Plattenhülle imitiert eine solche
Welt in der Welt und verweist dabei noch auf die potentielle Tiefe der
Schallplattentasche selbst. Ausgehend von den Beilagen in Schallplattenhüllen
und der Klappbarkeit der Cover lässt sich die These aufstellen, dass Schallplatten
in Schubfächern liegen, die geleert werden wollen.
In ihrer Handhabung unterscheidet sich die Plattenhülle jedoch von den Laden,
Koffern und Schubfächern. Das Herausziehen bringt hier nicht, wie bei einer
Schiebeschachtel oder Schublade ein nach oben offenes Behältnis hervor, in das
man hineinblicken könnte. Die Plattenhülle gibt die Vielfalt der Dinge, ihre
Ordnung oder Unordnung, nicht auf einen Blick preis. Sie kehrt die Reihenfolge
der Handlungen und des erkennenden Sich-Bemächtigens um. Während die Laden
nach dem Öffnen zuerst das Sehen und Erkennen gestatten und das Hineingreifen
dem nachgeordnet ist, fordern die Plattenhüllen das Hineingreifen in die dunkle
Tasche als ersten Zugriff und das Sehen und Erkennen wird erst im zweiten oder
gar dritten Schritt möglich. Es ist an den Dingen selbst zu ziehen. Sie kommen
einem im Packen entgegen oder sie fordern, je nach Anzahl und Format der
Einzelteile, wiederholte Eingriffe. Man muss das Beigelegte dann eins nach dem
anderen aus der Tasche fischen. Und dabei ist die Schallplatte selbst nur eines von
den Dingen, die aus der Hülle herauskommen.
Mit dem Packen, den man nicht auf einmal überblickt, der vielmehr nur in
Schichten und damit sequentiell abgetragen werden kann, weisen die
Schallplattenhülle und ihre Beilagen deutlich auf ihre Verwandtschaft mit dem
Buch und vor allem mit dem Album (und dessen spezifischer Handhabung) hin.
Auch im Album liegen die Dinge, Gesichter und Ansichten in Schichten
übereinander (vgl. Bickenbach 2001: 100). Der Albuminhalt lässt sich ebenfalls
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nicht auf einmal mit einem einfachen Aufklappen erfassen. Es bedarf mehrerer
Schritte des Aufklappens, Blätterns, gegebenenfalls des Entnehmens und
Sortierens. Nach Matthias Bickenbach ist das Album nicht gleich ein Buch,
insofern es nicht dem Buch als Ordnungsform folge (vgl. ebd.: 101). Es ist
vielmehr eine Sammlung in der – und hier wäre noch hinzuzufügen: materiell-
technisch konfigurierten – Struktur des Buchs. Das Dispositiv der Schichtung und
des Blätterns ist somit Teil des Dispositivs des Fotoalbums, das Bickenbach
untersucht (vgl. ebd.).
Die Schichtung der zusammengebundenen Blätter verbindet das Album mit dem
Buch und mit dem Beilagenpacken in der Schallplattenhülle. Aber auch die
Schallplattenhülle selbst reiht sich in die buchbinderischen Arbeiten ein, und zwar
selbst dann noch, wenn es nicht mehr ein Album-Cover der ersten Jahrzehnte der
Schallplatte ist. Das verbindende Element ist hier der Falz. Er entsteht durch die
Kulturtechnik des Falzens, die das Buchbindehandwerk auszeichnet. Wie Nina
Wiedemeyer ausführt, erzeugt das Falzen einen Bruch in der Materialstruktur des
Papiers, der ein Scharnier bildet. Hierdurch wird ähnlich wie bei Duchamps
Plattenhülle von 1953 eine Fläche vom Zustand des Zweidimensionalen in den
Zustand des Dreidimensionalen überführt.16 Und auch hierbei wird die Grenze
zwischen beiden Zuständen nicht lediglich thematisiert – z.B. durch eine optische
Täuschung –, vielmehr wird sie als materiell-technische Operation erkennbar.
Diese Operation ist konstitutiv für das Format und die Handhabungsweise des
Buchs. Mit dem Blick auf die materiell-technische Operation des Falzens tritt die
Räumlichkeit des Buchs hervor, die die übliche Geschichtsschreibung vom Buch
als Objekt des Buchdrucks hinterfragt (vgl. Wiedemeyer 2014).
Auch die Standardtaschen der Plattencover gehen auf einen Falz bzw. mindestens
zwei Falze zurück. Bei der einfachen Kastentasche wird zunächst ein Bogen
bedruckt und dann mit einer "sogenannten Doppelrillung von 3 Millimetern
Abstand versehen […], über die dann gefalzt wird" (MINT 2018: 27), so dass die
Seiten und Kanten der Hülle aus einer Fläche entstehen. Drei Millimeter Abstand
bieten Stauraum genug für das ganze Universum der Laden, wie die
Plattengeschichte zeigt. Das Klappcover, also die zweiseitige Schlauchtasche für
Doppelalben, ist somit eigentlich nur die besonders augenfällige Kombination aus
16 Wiedemeyer argumentiert in ihrem Aufsatz für die "räumliche Verfasstheit" von Büchern, aber
auch von Malerei (vgl. 2014: 60).
PhiN-Beiheft 23/2020: 76
Buchraum und Lade, die letztlich jede Plattenhülle von ihren Herstellungs- und
Gebrauchstechniken her ist: "Gatefold (auch Klappcover): Der Standard für
Doppelalben, aber auch mit geschlossener linker Seite für einfache LPs
gebräuchlich. Gatefolds werden ebenfalls auf einem Bogen hergestellt, dann
entsprechend gefalzt und geklebt." (ebd.: 28) Um gatefold oder Buchrücken
rotieren bedruckte Flächen im Raum (vgl. Wiedemeyer 2014b: 65). Diese
Wendigkeit kündet von der "widerständige[n] Räumlichkeit" (vgl. Wiedemeyer
2014a: 7) gefalzter Objekte.
Abb. 16, Rotoreliefs an der Wand hängend, Ausstellungsdesign, David Bermant Foundation
Jene "widerständige Räumlichkeit" eint nun auch die Arbeiten Duchamps mit den
Schallplattenhüllen und ihren jeweiligen Darstellungen oder
Geschichtsschreibungen. Duchamps Boîte und Rotoreliefs werden oft der
Verflachung preis gegeben für Ausstellungskontexte und erst recht für die Studien,
die Bücher liefern können. So wurden und werden die Rotoreliefs in
Ausstellungen bevorzugt an die Wand gehangen. Hier drehen sie sich in einem
Bilderrahmen und ordnen sich der repräsentativen Logik der Museumswand unter,
vor der man aufrecht steht und senkrecht hängende Kunststücke betrachtet. Das
Ausstellungsdesign führt vor allem den visuellen Effekt vor. Seine
Schauanordnung dient der contemplatio.
PhiN-Beiheft 23/2020: 77
Abb. 17, Ausstellungsdesign für Boîte-en-valise 1942,
Foto: Berenice Abbott/Commerce Graphics Ltd. Inc.
Ähnlich ergeht es auch der Boîte-en-valise. Schon bei einem ersten
Ausstellungsdesign für Peggy Guggenheims Galerie "Art of This Century" 1942
ist das eigenhändige Kofferaufklappen nicht zugelassen. Der Koffer ruht in halb
aufgeklapptem Zustand und mit leicht geöffnetem Deckel der Schachtel hinter
Glas. In einem zweiten Fenster in der dafür errichteten Ausstellungswand
erscheinen, eins nach dem anderen, die von Duchamp dem Koffer beigegebenen
Reproduktionen. Um sie nacheinander betrachten zu können, kann die
Museumsbesucherin an einem Schwungrad drehen, das ein Objekt aus dem Koffer
nach dem anderen im Sichtfenster erscheinen lässt. Auch hier hebt das
Ausstellungsdesign auf die contemplatio ab.
Die Ausstellungsweisen entsprechen dem Ansatz der Kunstwissenschaft:
Duchamp geht es um einen optischen Effekt, also stellt man den Effekt an der
Wand hängend aus. Duchamp geht es um eine Versammlung seiner Werke in
Miniaturversion, also stellt man die Werke zur Kontemplation einzeln aus.17 Aber
17 Auch Duchamp selbst ging es durchaus ums Ausstellen des optischen Effekts. Von Beginn des
"Vertriebs" der Rotoreliefs an, gab es auch Vorrichtungen, die die Scheiben in der Senkrechten
rotierend ausstellten. Siehe die vielzitierte Passage Henri-Pierre Rochés zur ersten Präsentation der
Rotoreliefs auf der Pariser Erfindermesse (vgl. Daniels 1997: 122) und die von Duchamp
mitgelieferten Apparaturen zur Ausstellung an der Wand (vgl. Schwarz 1997: 730 / Kaufmann
2018: 15, 145, Abb. 3 u. Kat. 26).
PhiN-Beiheft 23/2020: 78
wie verhält es sich eigentlich mit Duchamps jahrelanger Planung und minutiöser
Konstruktion des Koffers mit seiner Schachtel und ihren Schienen und
Scharnieren für verschiedene raumgreifende Klappelemente? Und wie ist die
runde Schachtel mit Klapphülle der Rotoreliefs einzuordnen? Sind sie etwa nicht
Teil der Arbeiten?18 Die zur Betrachtung notwendigen Handgriffe und die damit
ins Werk gesetzten Kulturtechniken des Öffnens, Hochklappens, Blätterns usw.
dienen nicht der contemplatio, sondern markieren vielmehr den Unterschied einer
als Nicht-Kunst betrachteten Sphäre des Handwerklichen, das nicht der
Ausstellung wert erachtet wird.19 Als Koffer, Klappbilder oder Plattenhüllen fallen
die Arbeiten Duchamps aus dem klassischen Kunstkorpus heraus. Dabei lässt sich
an ihnen so einiges über diese unauffälligen Objekte beobachten.20
Die widerständige Räumlichkeit der Schallplattenhülle und noch der Schallplatte
selbst ist auch in der kritischen Auseinandersetzung mit der um 1900 neuen
Weise, Musik zum Erklingen zu bringen, immer wieder übersehen worden.
Angefangen bei Adornos Abwertung der Scheibe, die Höhe und Abgrund des
musikalischen Aufführungsereignisses der Fläche opfere (vgl. Adorno 1984: 531),
über die Abwertung der E-Musik, die sich in ihren Eigenarten von der Scheibe
selbst aus konfigurierte (Diederichsen 2014), bis zur Plattengeschichtsschreibung
anhand von Cover Artwork werden die Platten und ihre Hüllen verflacht und nicht
als raumgreifende und das Eingreifen erfordernde Objekte erfasst. Die
Hüllengestaltung hat längst ihren Platz in der Designgeschichte erhalten.21
Ähnlich wie bei Duchamps komplexen Objekten wird das Augenmerk
hauptsächlich auf die visuell erfassbaren, repräsentativen (Gestaltungs-)Anteile
gerichtet. Material, Konstruktion und Handhabung der Koffer, Mappen,
Faltkartons und Kastentaschen hingegen fallen aus dem Raster.
18 Dies eben sind die Fragen, an denen Duchamp selbst, hantierend, handwerkend und umsetzend
arbeitete: Mit seinen Arbeiten hat er die Konstitutionsbedingungen von Kunst vorgeführt,
hinterfragt und transformiert. Duchamp hat es u.a. mit den Rotoreliefs und der Boîte geschafft,
dass Reproduktionen und Offset-Drucke lange vor der Pop Art in den Kunstkontext aufgenommen
wurden. Der ohnehin schwierige Status des Originals war dabei nur ein Aspekt der
Kunstproduktion, den Duchamp außer Kraft setzte (vgl. Germer 1995: 26f., 30f.). 19 Dass es Duchamp mithin um das Außerkraftsetzen dieser Differenz gerade durch die
handwerkliche Konstruktionsarbeit ging, zeigt Georges Didi-Huberman (vgl. 1999: 108–189). 20 Unter anderem lässt sich in der Benutzung (und ließe sich in der Ausstellung der Benutzung)
direkt erfahren, dass Falz- und Klappobjekte durch Handhabung der Abnutzung und schließlich
sogar der Auflösung ausgeliefert sind. 21 Siehe dazu die reiche Literatur bzw. die Vielzahl der Kataloge zum Cover Artwork (vgl. ECM
1996; Walton 1998; Music Graphics 1996; Moroder 2009; Thorgerson / Dean 1985).
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3. Unboxing (very famous) Records
Nicht so im Unboxing-Video. Diesem Genre geht es um eine recht detaillierte
Auseinandersetzung mit Materialien, Formen und Objekten. Das, was
normalerweise unter die Schwelle der Aufmerksamkeit fällt (vgl. Mowlabocus
2019: 8, 16), erhält hier seinen Kameramoment, einen Kommentar und/oder ein
freundliches Streicheln mit der Hand.
Unboxing-Videos lassen sich irgendwo zwischen anatomischer Dissektion und
Striptease einordnen (vgl. ebd.: 6). Sie widmen insbesondere der Handhabung von
meist technischen Geräten oder – auch sehr beliebt – von Spielzeug und dessen
Verpackungen ihre Aufmerksamkeit. Dabei spielt das verwendete Material der
Objekte, aber auch der Verpackungen eine wichtige Rolle. Päckchen, Pakete,
Koffer, Verkaufsverpackungen, Schachteln und auch Schallplattenhüllen sind
Protagonisten des Genres. Jubiläumseditionen werden mit Genuss ausgepackt, alle
Extras einzeln vorgeführt. Dem Klang von Materialien der Verpackungen und
Gehäuse usw. wird Aufmerksamkeit geschenkt.22 Die Sinnlichkeit der
Oberflächen und Geräusche, aber auch des Prozesses des Auspackens und (zum
ersten Mal) Anfassens tritt in den Vordergrund und spornt die Lust am Unboxing
an.23
Auf dem objektspezifischen Gebiet des Schallplatten-Unboxing ist es die
Inspektion von Hüllen und Beilagen, die den Reiz der Vorführungen ausmacht.
Das Cover-Artwork, die Aufmachung der Hüllen und alles, was den Platten so
beigegeben ist, wird einzeln untersucht, berührt und in die Kamera gehalten. Es
geht insbesondere im Sammlerbereich um Fragen nach dem pressing, dem
verwendeten Label der Produktionsfirmen, um die schillernden Farben des
neusten Vinyl-Hypes. Die Tonträger werden auf Kratzer abgesucht. Es gibt immer
einen Kommentar. Gefallen, Erinnerungen, Wissenswertes über die Platten und
Bands werden berichtet.
Der Vorteil und die große Neuerung in diesen Begutachtungen liegt in der
beiläufigen und doch notwendigen Darbietung der unvermuteten
Dreidimensionalität des Gegenstands Platte und seiner Verpackungsformen. Das
22 Empfehlenswert zum Thema der sinnlichen und ästhetischen Aufladung des Auspackens vor der
Kamera sind die Filme des YouTubers TheRelaxingEnd. 23 Nach Mowlabocus verweist das Unboxing-Video deutlich auf die Sprache der kommerziellen
Pornographie, der es um Enthüllung, ums Zeigen und die Lust am 'ersten Mal' gehe (vgl. 2019:
6ff.).
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bewegte Bild in seiner zeitgebundenen Form fängt ein, was aus den
Warenkatalogen, aus den (Kunst-)Geschichten des Artwork oder aus
Ausstellungen zur Populärkultur herausgehalten wird. Das sind die Ecken und
Kanten, die Klappen und Falze einerseits und deren händische Bearbeitung und
haptische Erfahrung andererseits.
Beispielhaft dafür kann das Video The Beatles – Sgt. Pepper Vinyl Unboxing des
YouTubers cwlstudios betrachtet werden. Cwlstudios führt das Cover einer
historischen reissue von 1978 des Beatles-Albums Sgt. Pepperʼs Lonely Hearts
Club Band zunächst von allen Seiten vor. Das Cover mit Schutzfolie wird in
geringem Abstand direkt vor der statischen Kamera hin- und herbewegt,
gewendet. Die Rückseite wird begutachtet und der Plattenhüllenrücken, also die
Falzungen, werden inspiziert: "See the spine right there" (ebd. 00:02:10–
00:02:45).
Das Unboxing-Video von Schallplatten bietet also eine Auseinandersetzung mit
der Handhabung von Objekten und Techniken der Buchbinderei. Die
Hüllenrücken werden mit der Hand abgefahren, Kanten auf ihren Abstoßungsgrad
geprüft. Im konkreten Raum vor der Kamera lässt sich das Objekt dreidimensional
bewegen. Insbesondere Klappcover lassen sich hier gut in Szene setzen, da sie
sowohl aufgeschlagen als auch im Moment des Zuklappens, Drehens usw.
ansichtig werden können.
Da es sich beim weltberühmten Cover des Sgt. Pepper-Albums um ein
Klappcover handelt, führt cwlstudios auch dies vor: "So I do wanna make sure
that the gatefold is in good shape." (ebd. 00:03:53–00:03:56) Er zieht die
Schutzfolie vom Cover und berührt das "beste Titelbild aller Zeiten" (Q, zitiert
nach Grasskamp 2004: 8). Dann klappt er das Cover auf: "And there is the
gatefold, first time, ever seeing the light of day." Nach einem Entlangfahren der
ca. 63 x 31,5 cm großen ausgeklappten Hülle an der Kamera mit fester
Kameraeinstellung und der Bestätigung "Perfect, perfect condition" (ebd.
00:04:30–00:04:46) klappt das Cover wieder zu.24 Die Zuschauerin hat es in
seiner Breite und Räumlichkeit gezeigt und vorgeführt bekommen.
24 Mit den Worten und Gesten "This is the first time anyone has ever touched this. Pretty crazy"
(cwlstudios 00:04:25) oder "first time ever seeing the light of day" (ebd. 00:04:36) bestätigt
"cwlstudios" im Übrigen Mowlacobusʼ These, dass das Ausstellen und das Miterleben der ersten
Blicke und ersten Berührungen zum besonderen Reiz des Unboxing-Videos gehören und auf die
Sprache der kommerziellen Pornographie zurückgehen. (Vgl. Mowlacobus 2018: 6ff.)
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Schließlich holt cwlstudios in seinem Video auch die Platte aus der Hülle. Er
öffnet mit beiden Händen den schmalen Schlitz der flachen Einstecktasche, greift
mit der rechten Hand hinein, hält den Inhalt fest und zieht mit der linken Hand die
Hülle weg. Und auch hier gilt: Es fällt immer noch etwas mehr mit heraus.
Cwlstudios hält einen kleinen Packen in der Hand und trägt die Schichten des
Packens ab. Zuerst werden die cut outs, die Beilage, unter dem inner sleeve
hervorgezogen und begutachtet. Dann erst wird die Platte aus ihrer dünnen
Papierhülle mit Ausstanzung in der Mitte herausgeholt (vgl. ebd. 00:02:53–
00:03:40).
Unboxing-Videos bestätigen, was Duchamps Schachteln bereits über die
Plattenhüllen verraten haben: Es sind Dinge, die hin- und hergewendet werden
müssen, die ihre Geltung erst im Gebrauch entfalten (im wahrsten Sinne des
Wortes). Da sich weder die Hülle selbst noch ihr Inhalt oder ihre Beilagen
aufgrund der widerständigen Räumlichkeiten der Objekte auf einen Blick
überblicken lassen, erscheint das prozessuale, filmische Format des Unboxing als
geradezu optimale Darstellungsweise für die Schachteln und Klappobjekte.
Mithin nimmt die Fangemeinde hier an einem Format der Entautomatisierung
gewöhnlicher Tätigkeiten wie Aufreißen, Auspacken oder Hervorholen teil.
Dies entautomatisiert zugleich aber auch die Schausituation selbst. Gerade das
Ent- und Ausfalten stört nämlich so manche Genre-Konvention des Unboxing-
Videos. In sehr großer Zahl am heimischen Schreibtisch produziert reicht der enge
Kamerawinkel meist nur über die Tischplatte oder fängt neben der Ansicht des
Unboxers noch einen Ausschnitt seines Wandregals mit ein. Es gibt keine Totalen.
Die nahe Einstellung oder die leichte Aufsicht herrschen vor. Die
Kameraeinstellungen sind überwiegend statisch. In diesem durch die Kadrierung
verengten Raum fällt die widerständige Räumlichkeit von Plattenhülle und
Beilage sofort auf, so etwa beim Auspacken einer der hochwertigen Neuauflagen
der Beatles-Alben, die Hay Un Lugar auf YouTube präsentiert. Spätestens mit
dem Unboxing des sogenannten White Album muss hier das etablierte Format des
Unboxing-Videos aufgegeben werden. Es gilt dann aufzustehen, sich im Zimmer
auf genügend Freifläche zu positionieren und die Arme weit auszustrecken. Und
auch dann noch wächst das buchbinderische Werk aus der Kadrierung (vgl. Hay
Un Lugar 00:06:39).
Das Cover des White Album (1968) der Beatles, dessen überbordende
PhiN-Beiheft 23/2020: 82
Plattenbeilagen Hay Un Lugar in seinem Unboxing-Video in Gänze auszufalten
und vorzuführen sucht, wehrte sich vom Zeitpunkt seiner Entstehung an gegen
jede bildliche oder motivgeschichtliche Leseweise. Die historische Klapptasche
mit dem komplett weißen Front-Cover lenkt die Aufmerksamkeit auf Material und
Technik seiner Herstellungsgeschichte sowie auf die Handhabungsweisen der
Schallplattenschutzumschläge selbst. In den ersten Pressungen als flipback sleeve-
Klapphülle ausgegeben, ist das White Album ein deutliches Beispiel für die
technische und operationale Verwandtschaft der flachen Hülle mit den
Einsteckfotoalben, mit Schubfächern und noch mit Faltschachteln.25 Das flipback-
Klappcover nämlich trägt den Schlitz zum Entnehmen und Einstecken der Platten
am oberen Seitenrand, so wie die frühen Fotoalben. Die Falzstreifen, die die drei
Millimeter Raum nach der Faltung der zweidimensionalen Pappfläche erzeugen,
sind von außen auf die Coverrückseite (beim Doppelalbum also auf die Innenseite
des gatefold) aufgeklebt (vgl. Frank 2007: 71, 203; MINT 2018: 28). Diese
herumgefalteten Klebekanten bringen deutlich die (Falt-)Schachtel ins Spiel (vgl.
Böcher 2001: 30f., 103–114), als die die Schallplattenverpackung vor allem Raum
macht für alle möglichen Dinge. Aus den beiden Schachteln des White Album
bzw. aus seinen Albumeinsteckseiten lassen sich nun auch eins ums andere
verschiedene Gegenstände oder Beilagen ziehen. In einem der beiden Fächer
liegen neben der Platte noch großformatige Fotografien der Mitglieder der Band
bei. Aus der anderen Schachtel entfaltet sich, wie bei Hay Un Lugar zu sehen, ein
großformatiges Poster, das so auf keinem Tisch Platz findet.26
25 Zu operationalen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen bisher nicht zusammen betrachteten
Dingen siehe Lutz / Siegert 2016: 119. 26 Und das auch nicht in die Genre-Konventionen der Unboxing- und Schallplattensammler-Videos
passt, wie es "BioCYTE1" in seinem "Beatles | Vinyl Collection"-Video offen ausspricht: "This has
a full foldout poster in it. And there ist no way Iʼm gonna try to open it on camera" (00:13:47–
00:13:53).
PhiN-Beiheft 23/2020: 83
Abb. 18: The Beatles (White Album) flipback sleeve
Das ist ein wenig wie bei Duchamps Koffer. Das Aufklappen, Herausnehmen und
Betrachten dieser Schallplattenhüllen und ihrer Beilagen braucht Zeit. Und es
braucht Raum. Im Genre des Unboxing-Films tritt hervor, dass
Schallplattenhüllen Kisten sind, die ganz spezielle Handgriffe erfordern und eine
eigene Raumordnung freisetzen. Unboxers kommen, so könnte man behaupten,
mit ihren Vorführungen nicht nur einem erotischen Interesse nach (vgl.
Mowlacobus 2018) sondern auch einem Verlangen nach der dritten Dimension
und nach dem Öffnen der Schubladen dieser Welt.
Das White Album ist inzwischen nur noch als Schlauchtasche neu zu erstehen. Bei
dieser Herstellungsform der Plattenhülle hält einzig der Falz in der Mitte des
durchgängigen Schlauchs die Dinge, die man oben hineinsteckt, davon ab, unten
wieder herauszufallen. Am Ende des Prozesses des Aufklappens, Herausziehens
und Entfaltens können die Platten selbst dann auch leicht einmal verloren
gegangen sein.
PhiN-Beiheft 23/2020: 84
Abb. 19, "Das White Album ausgepackt"
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Bildnachweise
Abb. 1: Henri-Pierre Roché mit seiner Boîte-en-valise, The Menil Collection
Houston, aus: Bonk 1989: 182.
Abb. 2: Duchamp mit Rotoreliefs, Filmstill aus DREAMS THAT MONEY CAN
BUY (USA 1947), Foto: Arnold Eagle, Estate of Marcel Duchamp, Artists Rights
Society,
[http://medienkunstnetz.de/werke/rotoreliefs/, 14.12.20].
Abb. 3: Marcel Duchamp mit einer Boîte-en-valise 1942, Foto: Allan Grant, aus:
Bonk/Hardigan/Hopps 1999: 105.
Abb. 4: Boîte-en-valise, aufgeklappter Koffer, Foto: Uwe Düttmann, aus: Bonk
1989: 11.
Abb. 5: Boîte-en-valise, aufgeklappte Schachtel, Foto: Uwe Düttmann, aus: Bonk
1989: 13.
Abb. 6: Boîte-en-valise, mit teils ausgezogenen Flügeln, Foto: Uwe Düttmann,
aus: Bonk 1989: 14–15.
Abb. 7: Boîte-en-valise ausgepackt, de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy
1935-1941, Series A 0/XX, 1943, Philedalphia Museum of Art, The Louise and
Walter Arensberg Collection, aus: Bonk/Hardigan/Hopps 1999: 138–139.
Abb. 8: Frühe Schallplattenhüllen, Foto: Ron Hunt,
[https://www.wiganworld.co.uk/album/photo.php?opt=8&id=32188&gallery=78+
RPM+RECORD+SLEEVES&page=10, 14.12.20].
PhiN-Beiheft 23/2020: 88
Abb. 9: Rotoreliefs 1935 mit Kunststoffring und "Beipackzettel", aus: Schwarz
1997: 729.
Abb. 10: Pappbändchen und Stecknadeln der Rotoreliefs-Verpackung von 1935,
Duchamp Dossier Plate N (Ausschnitt), aus: Bonk/Hardigan/Hopps 1999: 45.
Abb. 11: Schellackplattenalbum,
[https://picclick.de/Altes-Schallplatten-Album-f%C3%BCr-Schellackplatten-10-
25-153992580301.html, 14.12.20].
Abb. 12: Faltmappe um Rotoreliefs 1953, Marcel Duchamp Plate 19, aus:
Bonk/Hardigan/Hopps 1999: 133.
Abb. 13: Alice Cooper Schoolʼs Out mit inner sleeve-Schlüpfer,
[https://www.popsike.com/ALICE-COOPER-SCHOOLS-OUT-LP-w-PAPER-
PANTIES-K56007/190109164604.html, 14.12.20].
Abb. 14: Alice Cooper Schoolʼs Out aufklappen,
[https://wimwords.com/2013/09/28/from-the-stacks-alice-cooper-schools-out/,
14.12.20].
Abb. 15: Alice Cooper Schoolʼs Out aufgeklappt,
[https://wimwords.com/2013/09/28/from-the-stacks-alice-cooper-schools-out/,
14.12.20].
Abb. 16: Rotoreliefs an der Wand hängend, Ausstellungsdesign, David Bermant
Foundation,
[https://davidbermantfoundation.org/project/rotorelief/, 14.12.20].
Abb. 17: Ausstellungsdesign für Boîte-en-valise 1942, Foto: Berenice
Abbott/Commerce Graphics Ltd. Inc., aus: Bonk/Hardigan/Hopps 1999: 84.
Abb. 18: The Beatles (White Album) flipback sleeve,
[https://recordmecca.com/item-archives/beatles-uk-first-pressing-apple-lp-white-
album/, 14.12.20].
Abb. 19: "Das White Album ausgepackt", aus: Grasskamp 2004: 112.