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Amalia Zeichnerin Der Stern des Seth Steampunk-Abenteuer-Roman 1

Der Stern des Seth - Steampunkshop · Michael ,Mad’ Hatter – ein leicht verrückter Brite Dylan und Maureen McGrath – Zwillinge aus Irland ... „Danke, Herman”, Goldstein

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Page 1: Der Stern des Seth - Steampunkshop · Michael ,Mad’ Hatter – ein leicht verrückter Brite Dylan und Maureen McGrath – Zwillinge aus Irland ... „Danke, Herman”, Goldstein

Amalia Zeichnerin

Der Stern des SethSteampunk-Abenteuer-Roman

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überarbeitete Neuauflage© Amalia Zeichnerin 2018

Titelgestaltung und Buchsatz: Amalia Zeichnerin

Titelbilder: Attractive look, ©Andrey Kiselev, Fotolia

Anubis and Horus, © Frenta, Fotolia Landkarte, Hieroglyphen: Amalia Zeichnerin

Impressum:Amalia ZeichnerinOttersbekallee 520255 Hamburg

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf inirgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftlicheGenehmigung der Autorin reproduziert, vervielfältigt oderverbreitet werden.

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Dramatis personae

HauptcharaktereImmanuel Goldstein – ungarischer Erfinder und IngenieurGemma Hawthorne – junge britische JournalistinDoctor Frederic MacAlistair – britischer Wissenschaftler imBereich Humanmedizin, Biologie und ChemieIan Huntington – junger britischer ArchäologeVincent Wright – ehemaliger britischer Soldat im Range ei-nes Sergeants, KriegsveteranLord Wilbur George Eavesfield – ein adliger Unternehmer

weitere CharaktereLeah Mitchell – Doctor MacAlistairs AssistentinEdith Goldstein – Immanuels EhefrauJonah Goldstein – Immanuels SohnAadil – ein älterer Nomade und ErfinderNacera – eine NomadenkriegerinNajat – Heilerin des NomadenstammesJasina – eine ältere NomadinZahira – eine ÄgypterinCartridge – der mechanische Diener des Earls, ein PrototypGreen und Wallace – zwei menschliche Diener des EarlsRasul und Altair – zwei mechanische FalkenTahir – ein sudanesischer Fremdenführer Arthur Conan Doyle – ein Arzt und Schriftsteller

Die Muscleteers, eine SöldnergruppePeter Dwain – Engländer, der älteste der Söldner und ihrHauptmannBill Barrow – Afroamerikaner aus ColoradoMichael ,Mad’ Hatter – ein leicht verrückter BriteDylan und Maureen McGrath – Zwillinge aus IrlandJai Patel – ein Sikh aus IndienJesper Lindström – ein SchwedeIrina Malkova – eine RussinFrank Bell – aus Kanada, Dwains Stellvertreter

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kapitel 1 Eine Einladung aufs Land

Montag, 9. Februar 1885, London

„Und wann werde ich mit diesem Wunderwerk der Tech-nik etwas greifen können?“, fragte Vincent Wright den Erfin-der Goldstein.

Der hochgewachsene, breitschultrige Sergeant hatte vonletzterem gerade eine Prothese erhalten als Ersatz für seinenlinken Unterarm und die Hand. Die verlorenen Gliedmaßenschmerzten noch immer höllisch – Phantomschmerz nann-ten es die Ärzte. Doch Wright lehnte es ab, weiter Morphi-um zu nehmen, weil das Zeug süchtig machte und ihm dieSinne vernebelte.

Seine Arm- und Handprothese bestand außen ausEdelstahl und Lederriemen, welche mit punzierten Orna-menten verziert waren. Die Finger wurden aus Edelstahltei-len gebildet, die mit feinen Scharnieren verbunden waren.Im Inneren befanden sich künstliche Nervenfasern.

„Diese Art zählt zu den Besten, welche man heute bekom-men kann. Sie ist ihren Preis wert”, erklärte der Erfinder.

„Ja, dafür habe ich mich in Schulden gestürzt“, murmelteWright. „Mit einer herkömmlichen Prothese hätte ich nichtmal meine Finger mehr vernünftig bewegen können. Wiesollte ich dann gut arbeiten können?“

„Dann hoffe ich, dass Sie bald wieder arbeiten und IhreSchulden abbezahlen können”, erwiderte Goldstein. „Wie ichIhnen ja bereits bei unserem ersten Gespräch sagte: Derobere Teil der Prothese verfügt über künstliche Synapsen,welche sich mit den Nervensträngen in Ihrem verbliebenenArm verbinden. Dadurch verschmilzt die Prothese gewisser-maßen mit Ihrem Körper und der Nerventätigkeit darin. Ichhabe mit mehreren Ärzten zusammengearbeitet, um dieseEffekte zu erreichen. Das bedeutet, dass Sie die Prothese baldso gut wie Ihren anderen Arm und die rechte Hand steuernkönnen werden Alle Fingergelenke sind ebenfalls über künst-

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liche Nervenstränge und Synapsen mit den Nerven in IhremOberarm verbunden. Die Finger werden daher alle einzelnfrei beweglich sein, sobald Sie die Kontrolle darüber gelernthaben.” Der Erfinder tippte auf das Gebilde. „Im Innerender Prothese befindet sich außerdem ein mechanischesSystem mit Zahnrädern, das für die Bewegungen dereinzelnen Teile sorgt. Aber keine Sorge, Sie müssen den Me-chanismus nicht aufziehen, das macht er automatisch, so-fern die Prothese täglich in Bewegung ist. Übrigens, Sie kön-nen bei Bedarf auch noch etwas in den Prothesenarm ein-bauen lassen, er ist ja innen teilweise hohl.“

„Was meinen Sie damit?”, fragte Wright.„Naja, das kommt darauf an, was Sie brauchen. Eine klei-

ne Taschenlampe oder ein Werkzeug passt hinein – einMesser oder auch andere Dinge.”

„Hmm, klingt praktisch. Darüber werde ich noch nach-denken. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich mich ent-schieden habe. Und wie lange wird es dauern, bis ich dasDing steuern kann, Mister Goldstein?“ Vor seinem innerenAuge sah Wright schon endlose Stunden und Tage, welche ernun mit Übungen verbringen würde, um den künstlichenArm bewegen zu lernen.

„Wenn Sie sich jeden Tag ein paar Stunden Zeit nehmenund genügend schlafen – mit der Prothese, versteht sich –schätze ich, dass Sie in etwa zwei Wochen die grundlegendenBewegungen ausführen können sollten. Ich gebe Ihnen eini-ge Seiten mit, auf denen einige spezielle Übungen erklärtwerden. Solange Sie nicht gerade Klavier spielen möchtenoder andere feinmotorische Tätigkeiten unternehmen wol-len...”

Wright winkte ab. „Zwei Wochen, ehrlich? Das wärephantastisch. Scheint ja ein echtes Wunderding zu sein.“

„Danke für die freundlichen Worte. Lassen Sie mal vonsich hören, wie es voran geht“, erwiderte der Erfinder.

Wright nickte. „Das mache ich.”

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Frustriert stieß Gemma Hawthorne einen Stein vom Geh-steig auf ihrem Weg nach Hause. Seit anderthalb Jahren ar-beitete sie sich nun schon in der Redaktion des London Tele-graph die Finger an ihrer Remington Schreibmaschine wund.Doch noch immer hing sie fest bei den Seiten für die„young folks“, die Zwanzig- bis Dreißigjährigen. Für gesell-schaftlichen Klatsch und Tratsch war sie zuständig, für dieneueste Mode, Frisuren und anderen oberflächlichen Kram,der sie nur am Rande interessierte. Von echter journalisti-scher Arbeit konnte da in ihren Augen kaum die Rede sein.Doch auch das heutige Gespräch mit dem Chefredakteurhatte ihr nicht das gewünschte Ergebnis gebracht.

„Ich möchte endlich echte Ereignisse recherchieren undnicht nur schreiben, welches Kleid die Adlige Sowieso aufdem Ball Irgendwo getragen hat“, hatte sie ihm gesagt; nichtzum ersten Mal.

Aber Robert M. Fielding, ein Urgestein unter den Journa-listen Londons, fand leider nach wie vor, sie sei bei denBoulevardseiten genau richtig und immerhin habe sie da-durch regelmäßig Zutritt zu angesagten Gesellschaften, Bäl-len und Veranstaltungen – ob das etwa nichts sei? Miss Haw-thorne hatte ihre spitze Antwort heruntergeschluckt.

Jetzt kam sie nach Hause in die Pension der Mrs. Mait-land. Die rundliche Vermieterin öffnete der schlanken, brü-netten Frau die Tür. Sie deutete auf die Kommode im Korri-dor. „Guten Abend, meine Liebe. Da ist ein Brief für Sie.“

„Danke, Mrs. Maitland“, nickte sie ihr zu und griff nachdem Brief. Mrs. Maitland sah sie erwartungsvoll an. AberMiss Hawthorne kannte das neugierige Wesen ihrer Vermie-terin. „Ich wünsche Ihnen einen guten Abend“, sagte sie nur,bevor sie sich abwandte und mit raschelnden Röcken dieTreppe hochstieg.

„Möchten Sie denn nicht zu Abend essen?“, rief ihr Mrs.Maitland hinterher.

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„Nein danke, heute nicht!“, erwiderte Miss Hawthorne aufder Treppe. Mrs. Maitlands gemurmelten Kommentar überjunge Damen, die sich halb zu Tode hungerten, um sichnoch enger einschnüren zu können, hörte sie noch, lächelteaber nur missmutig darüber.

Der Brief überraschte sie; kein geringerer als Earl WilburGeorge Eavesfield lud sie ein, ihn am kommenden Wochen-ende in seinem Herrenhaus in der Grafschaft Essex zu besu-chen, denn er wollte ihr ein Angebot unterbreiten. WelcherNatur dieses Angebot war, erläuterte sein Schreiben nichtnäher. Er schrieb außerdem, dass er ihr die Reisekosten er-statten würde.

Gemma Hawthorne kannte den Earl nicht persönlich; sei-nesgleichen verkehrte nicht gerade mit einfachen Journali-sten, doch sie erinnerte sich, vor kurzem erst einen Berichtüber ihn gelesen zu haben. Sie ging zu ihrem Bücherschrankund durchsuchte einen Stapel Zeitschriften.

„Da haben wir ihn...“, sagte sie schließlich, als sie den Arti-kel wiedergefunden hatte. Lord Eavesfield war zum einenvon altem Adel, zum anderen ein erfolgreicher Unternehmerin der Stahlindustrie. Der sechsundvierzigjährige Junggesellezeichnete sich darüber hinaus durch seine Philanthropie aus.Mehr als eine Stiftung und diverse soziale Projekte gingenauf sein Konto. So hatte er zum Beispiel ein Waisenhausund eine Schule für Arbeiterkinder gegründet. Oft sah manihn außerdem auf Benefizveranstaltungen und auf Gesell-schaften der High Society, worüber dann natürlich auch dieBoulevardpresse berichtete. Mehr als eine Dame hatte schonversucht, den wohlhabenden Earl mit ihrer Tochter im hei-ratsfähigen Alter zu verloben, doch dem Lord Eavesfield ge-fiel sein Junggesellendasein offenbar so sehr, dass er sämtli-chen Versuchen, eine Ehe anzubahnen, bisher widerstandenhatte.

Gemma Hawthorne hatte zwar keine Ahnung, warum erausgerechnet sie einlud, und sie wunderte sich auch, woherer ihre Adresse hatte, doch sie war – ihrer Vermieterin nichtunähnlich – von Natur aus neugierig. Die Aussicht, einmal

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ein hochherrschaftliches Herrenhaus auf dem Lande zu be-suchen, gefiel ihr sehr. Also setzte sie sich an ihrenSchreibtisch, griff nach Feder und Tinte und schrieb eineschriftliche Zusage.

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Die Tische in der Werkstatt des Immanuel Goldstein wa-ren übersät mit Werkzeugen aller Art: Zahnrädern, Scharnie-ren, Röhren, Kupferdraht. Dazwischen fand sich auch einLötgerät, welches der Erfinder und Ingenieur nun in dieHand nahm und einschaltete. Eine blaue Flamme wurdesichtbar. Goldsteins Augen waren hinter einer Schweißerbril-le verborgen, als er ein Kupferrohr mit einer Platte verlötete.

Er hörte das Schrillen der Haustürklingel. Goldstein arbei-tete weiter, denn sein Butler Herman würde dem Besucheröffnen. Nachdem der Erfinder eine Dreiviertelstunde spätereinen weiteren Teil seines neuen Werkes vollendet hatte –einen automatischen Stiefelschnürer – nahm er die Schwei-ßerbrille ab und räumte sein Werkzeug beiseite. Er zog sei-nen Arbeitskittel aus und schaltete das Licht in der Werk-statt aus.

Im Flur begegnete er seinem Hausdiener, welcher ihm einSchreiben überreichte. „Ein Brief für Sie, Sir.”

„Danke, Herman”, Goldstein überflog die wenigen Zeilen.„Sieh an, der gute Wilbur lädt mich ein! Wunderbar, wir ha-ben uns so lange nicht mehr gesehen. Herman, antwortenSie ihm bitte, dass ich seine Einladung gern annehme.“

„Sehr wohl, Sir. Das Abendessen steht für Sie im Salon be-reit. Ihre Frau erwartet Sie dort“, erwiderte der Butler.

„Vortrefflich, mein Bester.“ Goldstein strich sich über dieschwarzen Haare. Der Erfinder hatte olivfarbene Augen,einen eher dunkleren Teint und ein kantiges Kinn. Häufigwurde er gefragt, ob er aus Italien, Spanien oder Frankreichstamme. Doch er war gebürtiger Ungar und seine Familiekam aus Budapest. Nun begrüßte er seine Frau Edith im Sa-lon mit einem Kuss auf die Wange. Er betrachtete ihr noch

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immer zartes, herzförmiges Gesicht liebevoll und sagte: „Dusiehst heute ganz besonders bezaubernd aus, meine Liebe.“

„Und du bist ein Schmeichler, mein Lieber“, sagte sie la-chend. Edith trug an diesem Abend ein veilchenblauesKleid, das hervorragend zu ihren dunklen Locken passte undihre vornehme Blässe unterstrich. Der Kragen des Kleideswar mit kupfernen Zahnrädern verziert – ein großer Trendaus Frankreich, zurückgehend auf eine Kollektion desberühmten französischen Modemachers Etiénne Paradis, dieauch in anderen Ländern hundertfach kopiert worden war.

Goldstein berichtete seiner Frau beim Aperitif von derEinladung seines alten Freundes und fügte hinzu, dass diesenur für ihn galt.

„Das ist mir recht. Ich besuche am Valentinstag TanteRuth. Ach ja, und Jonah hat ein Telegramm geschickt, erkommt am Valentinswochenende nicht nach Hause, weil ihnsein Freund Benedict eingeladen hat, diese Tage bei seinerFamilie zu verbringen.”

„Wie schön, dass unser Sohn nach so kurzer Zeit bei derArmee schon Freunde gefunden hat”, erwiderte Goldstein.

„Und davon einmal abgesehen, wollt ihr Männer dochgewiss gern einmal unter euch sein – da ihr euch so langenicht mehr gesehen habt.“

„Meine Liebe, du triffst wieder einmal den Nagel auf denKopf”, antwortete Goldstein lachend. Dann stellte er mit ei-nem Blick auf ihr Kleid fest: „Ah, du trägst wieder malZahnräder. Ich denke ja immer noch, Zahnräder gehören inUhrwerke und Maschinen, und nicht auf Kleidung oder inOhrringe...“

„Etiénne Paradis’ Kollektion Das Rädchen im Getriebe mitden Zahnrädern ist hier und auf dem Kontinent eingeschla-gen wie eine Bombe”, entgegnete seine Frau. „Und er solldazu gesagt haben: ,Der Mensch ist nur ein Rädchen imgroßen Getriebe der Welt und der Zeit.’ Und die Zahnräderauf der Kleidung und im Schmuck sollen daran erinnern.“

„An diesem Modemacher ist wohl ein Philosoph verlorengegangen”, erwiderte er lächelnd.

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Dienstag, 10. Februar 1885, London

„Hey Doctor, hier ist ein Brief für Sie.“ Frederic MacAli-stairs Assistentin, Miss Mitchell, kam in das Forschungs-labor, warf mit Schwung die Tür zu und schwenkte einenBriefumschlag vor seiner Nase.

„Vorsicht, nicht gegen den Tisch stoßen! Die Mischung istnoch nicht stabil. Und wie oft habe ich Ihnen schon gesagt,Sie sollen die Tür nicht zuknallen?“ Doctor MacAlistairwischte sich ein paar verirrte rote Haarsträhnen aus demsommersprossigen Gesicht und rückte seine Brille zurecht,während er seine Assistentin mit einem strafenden Blick be-dachte.

„Muss ich mir jetzt Sorgen machen, dass uns das Laborgleich um die Ohren fliegt?“, fragte sie und schien nur müh-sam ein Kichern zu unterdrücken.

„Ja, in der Tat, das sollten Sie... Scherz beiseite, geben Siemir endlich den Brief.“

Miss Mitchell wedelte noch einen Moment lang mit demBriefumschlag herum, aber MacAlistair griff danach undriss ihn auf. Er überflog das Schreiben auf dem feinenBütten-papier und machte ein paar Mal „Hmm ... aha, so so...“

„Darf ich erfahren, worum es geht?“„Ein gewisser Lord Eavesfield lädt mich ein, ihn auf dem

Land zu besuchen. Er kommt für die Reisekosten auf undwill mir ein Angebot unterbreiten.“

„Mensch, Doctor, davon haben Sie doch immer geträumt– ein Mäzen, der Ihre Forschungen unterstützt!“, rief MissMitchell begeistert.

Doctor MacAlistair hatte Chemie, Biologie und Human-medizin studiert und forschte seitdem über verschiedeneThemen. Mittlerweile hatte er schon mehr als eine Entde-ckung von wissenschaftlichem Interesse gemacht und ent-sprechende Texte in Wissenschaftsmagazinen veröffentlicht.Universitäten hatten ihm Angebote gemacht, bei ihnen zu

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forschen und zu lehren, doch er zog es vor, unabhängig zuarbeiten. Deshalb hatte er sich hier ein eigenes Labor ein-gerichtet.

Vor Miss Mitchell hatte er bereits vier andere Assistentengehabt, doch entweder hatten diese gekündigt, oder er hattesie hinausgeworfen, weil sie in seinen Augen nichts taugten.Mit Miss Mitchell war es etwas anderes, denn die beidenkannten sich noch aus Studientagen und hatten sich ange-freundet. Sie war eine der wenigen, die mit seinen schnellenGedankengängen und -sprüngen kaum Probleme hatte. Waser sehr schätzte.

„Mäzene gibt es doch nur für Künstler“, erwiderte er nun.„Wenn irgendwelche Leute Forschungsprojekte unterstützen,dann bestimmt nicht aus gemeinnützigen Interessen. Ichkenne diesen Earl nicht einmal. Was will der also von mir?“

„Fahren Sie hin und finden Sie es heraus“, meinte seineAssistentin. „Ein Tapetenwechsel würden Ihnen ohnehin ein-mal gut tun, wenn ich das so sagen darf. Sie kommen vielzu selten heraus aus dem Labor und sind schon ganz blassum die Nase.“

„Jetzt klingen Sie wie meine Mutter“, erwiderte er kopf-schüttelnd. Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe.„Naja, wenn dieser Eavesfield Interesse an meinen For-schungen hat, sollte ich vielleicht wirklich hinfahren. Finan-zielle Unterstützungen kann ich immer gut gebrauchen fürmeine Forschungen.”

Miss Mitchell nickte. „Soll ich ihm schreiben, dass Sie sichgeehrt fühlen und die Einladung gern annehmen?“

Doctor MacAlistair hatte sich bereits wieder seiner Ver-suchsanordnung zugewandt und erwiderte ein wenig geistes-abwesend: „Wie? Also ... ja ... aber lassen Sie das mit dem,Geehrt-fühlen‘ weg.“

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kapitel 2Im Eavesfield Mansion

Sonnabend, 14. Februar 1885

Es regnete an diesem Valentinstag und der Wind hatte auf-gefrischt, als Immanuel Goldstein aus dem Zug stieg. Erkämpfte eine Weile mit seinem Regenschirm, der aber vomWind so herumgezerrt wurde, dass er es bald aufgab undihn wieder schloss. Immerhin würde ihn sein Zylinder undder schwere Wollmantel ein wenig vor dem Regen schützen.

Er wartete nicht erst auf einen Kofferträger, den es in die-sem Provinzbahnhof wahrscheinlich ohnehin nicht gab, son-dern ging rasch mit seinem Koffer in die kleine Bahnhofs-halle. Dort stand ein mannsgroßer, mechanischer Diener,der ein Schild vor der Brust hielt, auf dem „Lord Eavesfield“stand. Hinter den Augen des Automatons – zwei einfachenrunden Gläsern – leuchtete ein blaues Licht, während sein„Gesicht” aus poliertem Messing bestand. Auf der Stirn waraußerdem eine Art Lampe eingebaut. Er steckte in einem of-fensichtlich teuren dunkelblauen Anzug, ganz wie ein Gent-leman. Nur die wohlhabendsten Mitglieder der Oberschichtkonnten sich einen mechanischen Diener leisten. Goldsteinselbst hatte keinen, denn er interessierte sich weniger fürprestigeträchtige Statussymbole dieser Art, sondern eher fürpraktische, alltagstaugliche Dinge, die sich auch Menschenaus der Mittelschicht leisten konnten. Die Prothesen, welcheer gelegentlich für Veteranen und andere Versehrte baute,lagen bereits am oberen Rand des finanziellen Spektrums,welches er mit seinen Erfindungen abdeckte.

Er sah eine junge Dame ebenfalls aus dem Zug steigenund zu seiner Überraschung ein bekanntes Gesicht: SergeantWright. Er nickte ihm freundlich zu und wandte sich an denmechanischen Diener. „Guten Tag. Ich hatte eigentlichMister Winter erwartet, den Butler des Earls.”

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„Guten Tag, Sir. Mein Name ist Cartridge”, erwiderte dermechanische Diener mit schnarrend metallischer Stimme.„Ich bin der neue Butler von Lord Eavesfield.”

„Sehr erfreut. Was ist denn aus Mister Winter geworden?”„Mister Winter ist kurz vor Weihnachten 1884 in Rente

gegangen”, berichtete Cartridge mit monotoner Stimme.„Ah, verstehe...”, antwortete Goldstein.Nun stellte sich der Sergeant dem Diener vor. „Guten Tag,

ich bin Vincent Wright. Ich habe eine Einladung von LordEavesfield erhalten. Mister Goldstein – schön, Sie wiederzu-sehen.”

„Ebenso, Sergeant Wright”, erwiderte er lächelnd.Die Dame trat auf die beiden Männer und den mechani-

schen Diener zu. Bevor sie etwas sagen konnte, sprach Cart-ridge sie an: „Ich nehme an, Sie sind Miss Hawthorne, dieJournalistin vom London Telegraph?“

„Die bin ich.“„Sehr erfreut, Miss“, erklärte der Diener. „Dann warten wir

nur noch auf Doctor MacAlistair.“Doch die Bahnhofshalle hatte sich längst geleert; an die-

sem Abend waren nur wenige Fahrgäste hier ausgestiegen.Auch ein Blick auf den Bahnsteig zeigte, dass Doctor Mac-Alistair offenbar nicht unter den Reisenden war.

„Nun, ich nehme an, Doctor MacAlistair verspätet sich”,sagte Cartridge. „Vielleicht kommt er mit einem späterenZug. Folgen Sie mir bitte.“

Er nahm der Journalistin ihr Gepäck ab. Kurz darauf stie-gen sie alle in ein großes, elegantes Automobil, welches voneinem jungen Chauffeur gefahren wurde, der sie freundlichbegrüßte. Das Gefährt glitt erstaunlich leise durch den strö-menden Regen.

„Wie haben Sie Ihre Hand verloren, Mister Wright – wennich fragen darf?“, erkundigte sich Miss Hawthorne.

Er verzog das Gesicht und krempelte seinen linkenMantelärmel hoch. Darunter kam auch der Prothesenarmzum Vorschein. „Es war auch der Arm – ein schwerer Fallvon Wundbrand. Ich hab eine Kugel abgekriegt, die nicht

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gleich entfernt werden konnte. Kann froh sein, dass dienicht im Brustkorb eingeschlagen ist, sonst säße ich jetztnicht hier. Das war vor einigen Wochen im Sudan, dieSchlacht von Abu Klea, am 17. Januar.”

„Oh, davon habe ich gelesen”, erwiderte die Journalistin.„Tausendfünfhundert britische und ägyptische Soldaten, dieeine Überzahl von zehntausend Mahdisten geschlagen ha-ben.”

„Wegen der besseren technischen Ausrüstung”, ergänzteWright. „Die Mahdisten hatten keine Dampfgewehre, undviele waren nur mit Schwertern, Dolchen oder Speeren be-waffnet.”

„In welchem Regiment waren Sie eigentlich, Wright?”, er-kundigte sich Goldstein.

„Das Kamel-Corps unter Generalmajor Herbert Stewart,bei der berittenen Infanterie. Guter Mann, dieser Stewart.Wurde für seine Leistungen auch zum Knight Commander ofthe Order of the Bath ernannt. Ist leider vor wenigen Tagen ge-fallen, wie ich hörte.” Wright blickte einen Moment langmit gequältem Blick aus dem Fenster, ehe er fortfuhr. „Je-denfalls, als ich zurück nach England kam, mussten mir dieÄrzte den Arm unter dem Ellenbogen abnehmen. Damit istmeine Karriere beim Militär wohl beendet – auch wenn die-se Prothese wirklich gut ist, Goldstein. Sicher, ich könntenoch am Schreibtisch arbeiten, aber das habe ich mir nie ge-wünscht...”

Der Regen prasselte an die Fensterscheiben des Automo-bils. Der Sergeant schwieg.

„Es tut mir sehr leid, was Sie alles durchgemacht haben“,sagte Miss Hawthorne.

Wright machte eine abwehrende Geste. „Naja, immerhinbin ich noch am Leben. Ich sollte dankbar sein...“

Goldstein erzählte der Journalistin, was er Wright bereitsbei ihrem ersten Treffen berichtet hatte. „Ich war früherauch beim Militär, beim Devonshire Regiment. Ich habe1880 in Südafrika im Burenkrieg gekämpft. Ich bin auchfroh, dass ich dort lebend herausgekommen bin.“

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Sie nickte. „Gewiss, Mister Goldstein. Ist es nicht schreck-lich, wieviele kriegerische Konflikte es allein in den letztenJahren gegeben hat?“

„Da gebe ich Ihnen recht. Ich jedenfalls habe 1881 meinenDienst beim Regiment quittiert und mich als Erfinder selb-ständig gemacht, zusammen mit einem Teilhaber.“

Kurz darauf wandte er sich an den jungen Chauffeur.„Das ist ein wunderbares Automobil, von der Firma F.H.Royce and Co., nehme ich an?“

Der Chauffeur nickte. „Ja genau, Sir. Lord Eavesfield be-sitzt übrigens noch ein weiteres Automobil.”

Goldstein fragte ihn: „Arbeiten Sie schon länger für denEarl?“

„Erst seit letztem Herbst, Sir. Vorher hatte er noch keineAutomobile.“

„Sind Sie eigentlich beide mit dem Earl bekannt?“, erkun-digte sich die Dame.

„Ich kenne ihn recht gut aus meiner Studienzeit in Ea-ton“, erwiderte Goldstein. „Wir haben uns ein Zimmer ge-teilt und waren damals gut befreundet. Er hat Geschichteund Betriebswirtschaft studiert, und ich Ingenieurswissen-schaften und Technik. Aber wir haben uns schon längernicht mehr gesehen. Ich habe zwei Jahre in Wien gearbeitetund bin erst vor drei Monaten wieder nach London zurück-gekehrt.”

„Ich kenne den Earl noch nicht persönlich – ist mir ehr-lich gesagt ein Rätsel, warum er mich eingeladen hat“, sagteder Sergeant. „Und wie steht es mit Ihnen, Miss Hawthor-ne?“

„Mir geht es wie Ihnen, Mr. Wright. Ich frage mich eben-falls, womit ich die Ehre seiner Einladung verdient habe.Sein Schreiben war recht vage.“

„Genau wie das meine“, erwiderte Wright.„Sie werden lachen, das geht mir genauso, obwohl wir uns

ja von früher kennen“, sagte Goldstein. Warum hatte sein al-ter Freund wohl diese Journalistin und den Sergeant eingela-

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den, obwohl beide gar nicht mit ihm bekannt waren? Undwarum diese Gruppeneinladung?

Das Fahrzeug rollte nun langsam über die lange, von statt-lichen Bäumen gesäumte Allee, welche durch den weitläufi-gen Park bis vor das Herrenhaus Eavesfield Mansion führte.Wie ein graues Bollwerk ragte das stattliche Gebäude ausdem Regen hervor, genau wie Goldstein es in Erinnerunghatte.

Beim Aussteigen knallte Wright versehentlich mit demProthesenarm gegen das Automobil. „Verdammt noch mal!”,rief er. „Entschuldigen Sie, Miss“, wandte er sich im näch-sten Moment an Miss Hawthorne. „Man sollte ja nicht flu-chen in Anwesenheit von Damen, aber ich habe dieses Dingerst seit drei Wochen und dazu kommt, dass ich immernoch Schmerzen im Arm habe – auch wenn er gar nichtmehr vorhanden ist. Außerdem bereiten mir viele Bewegun-gen immer noch Schwierigkeiten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Bitte machen Sie sich keine Ge-danken deswegen.“

Goldstein versuchte, den Sergeant zu beruhigen. „Gedul-den Sie sich, Wright. In ein paar Wochen wird der Phan-tomschmerz gewiss verschwunden sein und Sie können dieProthese ohne Probleme verwenden.”

Wright sah ihn zweifelnd an. „Das hoffe ich sehr.“Derweil nahm Cartridge die Koffer und Taschen der Gäste

aus dem Kofferraum. Dabei war ihm ein junger mensch-licher Diener behilflich, der mit einem ebenfalls mensch-lichen Kollegen aus dem Herrenhaus herbei geeilt war. DerChauffeur parkte inzwischen das Automobil irgendwo hinterdem Gebäude. Cartridge wies den zweiten Diener an:„Green, führen Sie die Gäste des Earls bitte nach drinnenund zeigen Sie ihnen ihre Zimmer. Sicherlich möchten sichdie Dame und die Herren nach ihrer Reise frisch machen.“

Goldstein fiel auf, dass er auch diese beiden Diener nie zu-vor gesehen hatte...

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Eavesfield Mansion war eine Augenweide, fand Miss Haw-thorne, während sie und die anderen drei dem Diener Greenfolgten. Der Korridor, durch den er sie führte, war mit elek-trischen Lampen ausgestattet.

Immanuel Goldstein deutete darauf. „Sehen Sie sich nurdiese Glühlampen an. Es ist ein komplettes Edison-Beleuch-tungssystem. Dieses hier wird mit einem ziemlich teurenDampfmaschinen-Dynamo betrieben, der im Keller steht.Soweit ich weiß, hat Thomas Edison diesen höchstpersönlichhier installiert.“

Miss Hawthorne betrachtete die edle Mahagoniholzvertä-felung an den Wänden und die vielen Bilder – Jagdszenen,Portraits streng blickender Damen und Herren bis hin zuavantgardistischen Werken. Sie erkannte den Stil der franzö-sischen Impressionisten und ein Werk aus dem Kreis derPräraffaeliten. Dazwischen fanden sich einige fadenscheinigeGobelins, die vielleicht in einem Museum besser aufgehobengewesen wären, und so manche ausgestopfte Jagdtrophäe.Außerdem sah sie mehrere Objekte, die sie hier nicht erwar-tet hätte: grimmig wirkende Holzmasken afrikanischen Ur-sprungs, auf einem vermutlich orientalischen BeistelltischStatuetten im altägyptischen Stil. Ob das Nachbildungen wa-ren oder Originale, konnte sie nicht erkennen.

Auch ihr Zimmer war sehr schön, vor allem im Vergleichmit ihren bescheidenen Räumlichkeiten in Mrs. MaitlandsPension. Es verfügte über einen eigenen Kamin, in dem eindienstfertiger Geist schon ein Feuer entfacht hatte, welchestanzende Schatten an die Wände warf. Diese waren mit de-zent gemusterten Stofftapeten bedeckt. Auf dem Boden lagenTeppiche, die auf sie orientalisch wirkten.

Sie bedankte sich bei dem Diener, der ihren Kofferbrachte. „Wann werden wir denn unseren Gastgeber sehen?“

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„Mein Herr ist noch geschäftlich unterwegs, außerdem er-warten wir noch einen weiteren Gast, der sich verspätet. Ichgehe aber davon aus, dass wir Sie alle in ein oder zwei Stun-den zum Abendessen bitten können.“

„Sehr schön. Dürfte ich mich vielleicht solange in der Bi-bliothek aufhalten?“

„Sicherlich, ganz wie Sie wünschen. Die Bibliothek befin-det sich im ersten Stock. Sie ist übrigens auch gut beleuchtet.Wenn Sie sich in die Eingangshalle begeben, die linkeTreppe hinauf und dann die vierte Tür auf der rechten Sei-te.“

Miss Hawthorne lächelte. „Vielen Dank, Sie werden michdann dort finden.“

„Sehr wohl, Ma’am.“ Der Diener deutete eine Verbeugungan und verließ rückwärts das Zimmer.

Miss Hawthorne wusste nicht recht, ob sie seinen förm-lichen Abgang übertrieben finden oder sich darüber amüsie-ren sollte.

Die Bücherregale in der Bibliothek reichten bis unter diemit Stuck verzierte Decke; drei bequeme Sessel luden zumVerweilen ein. Neben einigen Deckenleuchten gab es hierdrei Leselampen neben den Sesseln. Draußen hörte sie dasHeulen des Windes und den Regen, welcher noch immer ge-gen die Fensterscheiben prasselte. Sicher kündigte sich da-mit der Sturm an, von dem morgens die Wettervorhersage inder Zeitung berichtet hatte.

Sie wanderte durch die Bibliothek und sog den typischenGeruch ein, welchen die Bücher verströmten – ein Duft nachaltem Papier, Druckertinte und Ledereinbänden.

Sie wollte mehr über ihren Gastgeber herausfinden. DieBücher eines Menschen vermochten viel über seinen Charak-ter und seine Interessen zu verraten. Sie schaute sich um – indieser Bibliothek schien alles versammelt, was literari-schenRang und Namen hatte. Und nicht nur englische, sondernauch französische, italienische und deutsche Dich-ter undAutoren in Originalfassungen waren hier vertreten. Ganze

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Bücherregale waren außerdem Sachbüchern gewidmet, vonNaturwissenschaften und Geschichte über Technik bis hinzu exotischen Themen wie Parapsychologie.

Schließlich entdeckte Gemma Hawthorne ein ihr vertrau-tes Gebiet: Bücher über den nahen Osten, den Orient –Reiseberichte, wissenschaftliche Abhandlungen über Archä-ologie in Nordafrika bis hin zu Bänden aus dem letztenJahrhundert über das alte Ägypten. Überrascht sah sie einigeBücher in arabischer Sprache.

Mit diesem Thema kannte sie sich aus, seit sie vor mehre-ren Jahren ihren Onkel David in Ägypten besucht hatte; die-ser hatte dort eine archäologische Ausgrabung geleitet. Zu je-ner Zeit hatte sie gerade die Journalistenschule beendet undauch Aussicht auf eine Anstellung, die allerdings erst einhalbes Jahr später beginnen sollte. Wie es der Zufall wollte,konnte ihr Onkel jede Hilfe bei seiner Ausgrabung ge-brauchen. Er hatte ihr angeboten, für circa sechs Monate sei -ne Assistentin dort zu werden.

Damals war sie Feuer und Flamme gewesen angesichts derAussicht, etwas gänzlich Neues kennenzulernen. In Ägyptenlernte sie nicht nur vieles über Archäologie, sondern auch ei-nige altägyptische Hieroglyphen und deren Bedeutung ken-nen. Leider reichten sechs Monate nicht aus, um auch diedazugehörige alte Sprache verstehen zu lernen.

„Mach dir nichts daraus, meine Liebe“, hatte ihr Onkel siegetröstet. „Ich habe Jahre gebraucht, um das Altägyptischezu lernen. Und ich lerne immer noch dazu...“

Inzwischen war die Ausgrabung in der Nähe des ehemali-gen Theben beendet und ihr Onkel zurück in Cambridge,wo er als Professor Archäologie unterrichtete. Durch seineAusgrabungen hatte er das Britische Museum in London umso manches schöne alte Stück bereichert.

Angesichts dieser Bücher hier in der Eavesfieldschen Bi-bliothek fragte sie sich, welches Interesse der Hausherr amAlten Ägypten und dem Nahen Osten hatte. Ob er wohlauch Arabisch sprechen konnte?

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Kurze Zeit später trat Immanuel Goldstein ein. „Ah, MissHawthorne, sind Sie auch auf der Suche nach Lesestoff?“

„Nein, eigentlich versuche ich mehr über unseren Gast-geber herauszufinden.“

„Nach dem Motto: Sag mir, was du liest und ich sage dir,wer du bist? Ich schätze, ich könnte Ihnen eine ganze Mengeüber meinen guten alten Freund erzählen, aber wo läge dasVergnügen darin? Ich möchte Ihnen Ihre Detektivarbeitnicht verleiden. Schauen Sie sich nur um und erzählen Siemir dann, was Sie entdeckt haben. Ich bin gespannt...“

Der Erfinder nahm sich nach kurzer Suche eintechnisches Sachbuch, machte es sich in einem der Sesselbequem und begann im sanften Schein der Leselampe zulesen.

Ungefähr anderthalb Stunden vergingen, dann kam derjunge Diener in die Bibliothek. „Das Essen wird nun serviertund Lord of Eavesfield erwartet Sie im Speisesaal. Wenn Siemir bitte folgen, Miss, Sir?“

Auf dem Weg zum Speisesaal fragte Goldstein die Journa-listin mit einem verschwörerischen Schmunzeln: „Und, washaben Sie nun herausgefunden über Wilbur?“

„Er scheint ein sehr ausgeprägtes Interesse am Orient zuhaben, insbesondere am Alten Ägypten. Möglicherweise be-herrscht er die arabische Sprache. Und er ist mit Sicherheitumfassend gebildet, wenn er all die Bücher hier gelesen hat.Außerdem habe ich einige Klassiker gefunden, darunter diegesammelten Werke von Shakespeare, Marlowe und Chau-cer. Die hat er offensichtlich geerbt, weil in den Exlibris an-dere Namen stehen.“

„Ich bin enttäuscht, Miss Hawthorne. Um das herauszu-finden, hätte ich keine anderthalb Stunden gebraucht.“

„Dafür kennen Sie den Earl ja bereits seit Ihrer gemeinsa-men Studienzeit.“

Goldstein lachte. „Auch wieder wahr.“

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In Wrights Augen war der Speisesaal ebenso prunkvoll wieder Rest des Hauses. Ein überdimensionaler elektrifizierterKronleuchter thronte an der Decke über dem langen Ess-tisch. Die farbenfrohen, floral gemusterten Tapeten stamm-ten unverkennbar aus der bekannten Werkstatt des KünstlersWilliam Morris.

Nun wurden er, Miss Hawthorne und Goldstein von ih-rem Gastgeber begrüßt. Lord Eavesfield war eine beeindru-ckende Erscheinung, dachte Wright im Stillen – und er warnicht leicht zu beeindrucken. Der Earl war ziemlich großund hielt sich militärisch gerade. Seine graublauen Augenhatten einen stechenden Blick und das dunkle, kurze Haarwar an den Schläfen und am Backenbart fast weiß. Er stelltesich nun jedem Einzelnen vor, umarmte seinen FreundGoldstein herzlich und beehrte die einzige anwesende Damemit einem angedeuteten Handkuss.

Miss Hawthorne knickste, wie es die Etikette verlangte. „Es freut mich, dass Sie heute alle hier sein können”, sagte

Lord Eavesfield. „Bitte setzen Sie sich doch, das Dinner wirdgleich serviert.“

In diesem Moment trat ein Mann um die vierzig mit zer-zausten roten Haaren und einem Gesicht voller rötlicherSommersprossen ein. Seine Haare waren nass vom Regen.„Verzeihen Sie die Verspätung, Lord Eavesfield. Ich habe lei-der einen Zug verpasst“, sagte er atemlos.

Lord Eavesfield nickte ihm zu. „Doctor MacAlistair, neh-me ich an?“

„Ja, der bin ich.“„Sie haben Ihr Eintreffen zeitlich gut abgestimmt, wir

wollten gerade mit dem Essen beginnen. Meine Herren, mei-ne Dame, darf ich vorstellen – Doctor Frederic MacAlistair,seines Zeichens Wissenschaftler im Bereich der Biologie, derHumanmedizin und der Chemie.“

Wright betrachtete den Neuankömmling. MacAlistair warblass um die Nase, so als ob er die meiste Zeit in einemLabor oder am Schreibtisch verbrachte. Sieht mir nach einem

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Bücherwurm aus... Er schüttelte dem Doctor die Hand, auchdie anderen beiden stellten sich vor.

Nach einigem Stühlerücken konnte das Dinner beginnen.Während die Suppe aufgetragen wurde, plauderte der Gastge-ber zunächst über Belangloses – wie es üblich war bei Einla-dungen zum Abendessen. Er sprach über das Wetter, Nach-richten von der Börse in London, die letzten Tee-Duell-Meisterschaften und eine Benefizveranstaltung für Waisen-kinder, welche er organisiert hatte. Außerdem erkundigte ersich nach dem Befinden von Goldsteins Frau und dessenSohn. Von Wright wollte er wissen, wie dieser mit seinerProthese zurecht kam.

„Ich habe sie vor drei Woche erhalten und Mister Gold-stein meinte, es könnte zwei, drei Wochen dauern, bis ich siesteuern kann. Und er hatte recht, sie ist mir mittlerweile eineechte Hilfe”, erwiderte er.

Miss Hawthorne kam auf die Bibliothek des Earls zu spre-chen. „Sie haben viele Bücher über den Nahen Osten. Wo-her kommt Ihr Interesse an dieser Region, wenn ich fragendarf?“

„Oh, das ist eine lange Geschichte. Aber ich erzähle sie Ih-nen gern heute Abend, wenn wir noch in geselliger Rundebeisammen sitzen.“

„Mit Verlaub, my Lord“, meldete sich der Wissenschaftlerzu Wort. „Ich kann nicht allzu lange bleiben, meine For-schungen verlangen meine Anwesenheit in London. Ichmöchte mit dem letzten Zug heute zurückfahren.“

„Oh, ist das so?“ Ein Hauch von Irritation stahl sich beidiesen Worten in die Stimme des Earls. Ihr Gastgeber blickteauf die goldene Taschenuhr, die an seiner Weste befestigtwar. „Das tut mir leid, Doctor MacAlistair, aber ich fürchte,der letzte Zug ist bereits abgefahren. Ich mache Ihnen einenVorschlag: Mein Chauffeur wird Sie morgen in aller Herr-gottsfrühe zum Bahnhof fahren. Was halten Sie davon?“

Doctor MacAlistair schien alles andere als erfreut. „MyLord, mit Verlaub, wissenschaftliche Forschungen sind keineBriefmarkensammlung, die man nach Belieben aus der

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Hand legen kann. Erlauben Sie mir, Ihren Fernsprecher zubenutzen? Ich muss mit meiner Assistentin sprechen.“

„Gern, Doctor MacAlistair.“ Lord of Eavesfield läutetenach einem Diener.

Sein Butler Cartridge trat ein. „Sie wünschen, my Lord?“„Cartridge, zeigen Sie Doctor MacAlistair den Fernspre-

cher.“Der mechanische Diener nickte. „Sehr wohl, my Lord.“MacAlistair stand einfach vom Tisch auf, ohne sich bei

den Anwesenden zu entschuldigen.Was für ein ungehobelter Kerl, dachte Wright.

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MacAlistair wurde von dem mechanischen Diener in einkleines Empfangszimmer geführt, in dem sich auch einFernsprechapparat befand. Er hoffte, dass Miss Mitchellnoch nicht nach Hause gegangen war. Er hatte einen Fern-sprecher in seinem Labor installieren lassen, für Notfälle al-ler Art.

MacAlistair nahm den Hörer auf und sprach in dasMundstück des Fernsprechers: „Vermittlung? Verbinden Siemich mit London, 548-90712.“

Nach einigem Knacken und Knistern in der Leitung hörteer die Stimme seiner Assistentin. „Leah Mitchell, Labor vonDoctor Frederic MacAlistair.“

„Guten Abend Miss Mitchell, hier ist Doctor MacAlistair.Hören Sie, ich komme hier heute nicht mehr weg. Ich binfrühestens morgen um elf Uhr wieder in London. Bittekümmern Sie sich um die Versuchsanordnung, die wir ges-tern aufgebaut haben. Sehen Sie um elf Uhr nach, ob sichdie Lösung schon verändert hat. Und dann wieder um vierUhr morgens. Und vergessen Sie nicht, jedes Mal drei Milli-liter von dem Liptonid hinzuzufügen.“

Nach kurzem Zögern kam ihre Antwort. „Ja, Doctor. Ichwerde hier mein Nachtlager aufschlagen.“

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„Ich danken Ihnen. Ach, und Miss Mitchell – entschuldi-gen Sie die Unannehmlichkeiten.“

„Nicht der Rede wert, Doctor.“ Falls Miss Mitchell genervtwar, ließ sie es sich zumindest am Fernsprecher nicht an-merken. Einmal mehr war er froh über seine engagierte undflexible Assistentin.

Nach dem mehrgängigen, üppigen Abendessen begabensich alle in den Blauen Salon. MacAlistair hatte sich ihnennach seinem Gespräch am Fernsprecher wieder angeschlos-sen. Der Salon war durchgehend in Blautönen gehalten, sodass er sich in ein Aquarium versetzt fühlte. Selbst die Lam-penschirme waren aus blauem Glas gefertigt. Er war ver-sucht, darüber einen Scherz zu machen, behielt diesen aberdoch lieber für sich. Mehr als einmal hatte er die Erfahrunggemacht, dass viele Leute seine Art Humor nicht teilten.

In der Mitte des Salons stand ein Schreibtisch. Lord Eaves-field setzte sich dahinter, während seine Gäste sich davor aufweich gepolsterten Stühlen niederließen.

„Nun, meine werten Gäste, kommen wir zu dem Angebot,das ich Ihnen unterbreiten möchte. Worum es mir geht, istFolgendes: Ich möchte Sie alle bitten – kurz gesagt – fürmich ein historisches Artefakt zu finden, welches aus demAlten Ägypten stammt. Dieses Artefakt möchte ich der Kö-niglichen Gesellschaft für Antiquitäten und Archäologie alsAusstellungsstück zur Verfügung stellen. Es wäre ein wahresPrunkstück ihrer Sammlung. Ich bin dem Direktor der Ge-sellschaft einen Gefallen schuldig, daher habe ich ihm ange-boten, mich auf die Suche nach diesem sagenumwobenenArtefakt zu machen. Nur sehen Sie, es ist so...“, er breitetedie Arme in einer Geste der Hilflosigkeit aus. „Ich kann esmir als Unternehmer nicht leisten, mir längere Zeit freizu-nehmen und auf Schatzsuche zu gehen, wenn man so will.Also dachte ich mir, ich lade einige Experten auf verschiede-nen Gebieten ein, die vielleicht an meiner Stelle gemeinsamauf Expedition gehen möchten. Natürlich komme ich füralle Ihre Kosten auf – Anreise, Abreise, Verpflegung, Ausrüs-

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tung und so weiter. Und wenn Sie das Artefakt finden, war-tet auf jeden von Ihnen eine großzügige Belohnung.“

„Was um alles in der Welt bist du diesem Direktor schul-dig, Wilbur?“, platzte Goldstein heraus. „Ich meine, eine sol-che Expedition ist doch sehr kostspielig – “

„Und wahrscheinlich auch zeitaufwändig“, ergänzte derEarl. „Aber du weißt ja, dass Kosten für mich kaum eineRolle spielen. Und auch wenn Zeit Geld ist, kommt es aufein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an.“

Doctor MacAlistair ergriff das Wort: „Aber wie kommenSie gerade auf uns, my Lord? Wie soll denn beispielsweiseausgerechnet ein Biologe und Chemiker auf einer solchenExpedition von Nutzen sein?“ MacAlistair musste an seineVersuche und Experimente denken, die es ihm nicht erlaub-ten, London für längere Zeit zu verlassen.

Lord Eavesfield nickte ihm zu. „Dafür habe ich mehrereGründe. Ich weiß zum Beispiel, dass Sie auch auf dem Ge-biet der Medizin bewandert sind, und das kann sich in Not-fällen als sehr günstig erweisen. Aber nun werden Sie ein-wenden, dass ich unter diesem Gesichtspunkt auch einfacheinen Arzt hätte einladen können. Was aber das Artefakt an-geht, so ist davon auszugehen, dass es aus einem sehr altenund empfindlichen Material besteht, das unbedingt richtigbehandelt und konserviert werden muss, damit es nichteinfach zu Staub zerfällt, wenn es ausgegraben wird. Ichmuss gestehen, dass keine Quellen darüber bekannt sind, auswelchem Material das Artefakt eigentlich geschaffen wurde.Und aus diesem Grund erscheint es mir sinnvoll, einenWissenschaftler an Bord zu haben, der auch auf den Gebie-ten der Biologie und der Chemie bewandert ist.“

MacAlistair nickte langsam, doch er hatte noch einen Ein-wand vorzubringen: „Aber niemand von uns ist Archäologe,und das wäre doch das passende Fachgebiet.“

„Ich habe auch einen Archäologen eingeladen, an der Ex-pedition teilzunehmen. Sein Name ist Ian Huntington. Erarbeitet zur Zeit in Kairo. Von dort wird er zu Ihnen stoßenund Sie – sofern Sie mit dabei sind – auf der Expedition mit

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seinen Fachkenntnissen unterstützen. Er ist Spezialist für dasAntike Ägypten und spricht fließend Arabisch.“

„Ich habe übrigens vor einigen Jahren sechs Monate langbei einer archäologischen Ausgrabung in Ägypten assistiert”,warf Miss Hawthorne ein.

Lord of Eavesfield lächelte. „Das ist mir bekannt. Ihr On-kel David hatte nur lobende Worte für Ihre Arbeit dort üb-rig. Ich habe ihn vor einiger Zeit auf einem Kongress derKöniglichen Gesellschaft kennengelernt.“

„Aber ich bin keine Archäologin, sondern Laie auf diesemGebiet.”

„Nun, wie ich ja bereits sagte, kann ich nicht selbst mit-reisen. Ich wünsche mir allerdings einen detaillierten Reise-bericht, am besten auch mit Illustrationen und wenn mög-lich Photographien, damit diese Expedition für die Nach-welt festgehalten werden kann. Und deshalb habe ich mirüberlegt, dass eine Journalistin dieser Aufgabe sicherlich ambesten gewachsen ist. Ihr Onkel sagte mir auch, Sie beherr-schen die Kunst der Photographie.”

„Das ist richtig, ja. Ich habe auch bei seiner Ausgrabungeinige Photographien gemacht. Und ein wenig Zeichnenkann ich auch.”

„Hervorragend”, Der Earl lächelte erfreut. „Ich werde Ih-nen genügend Geld zur Verfügung stellen, dass Sie sich ent-sprechend ausrüsten können.”

„Das klingt gut. Sagen Sie, woher kennen Sie eigentlichdiesen Mister Huntington?“, fragte Miss Hawthorne.

„Huntington ist mit Ihrem Onkel bekannt. Er hat bei ihmin Cambridge studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen.Und Ihr Onkel hat mir sowohl Sie als auch Mister Hunting-ton gewissermaßen empfohlen. Er selbst hat im Momentkeine Zeit, aufgrund seiner Vorlesungen an der Universität.Übrigens befindet sich das Artefakt gar nicht mehr in Ägyp-ten, sondern im Sudan, also dem Nachbarland. Ich verfügeüber eine mit hoher Wahrscheinlichkeit authentische Quelle,die besagt, dass es in einem Krieg mit diesem Nachbarlandverschleppt wurde, schon in der Antike.“

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„Was ist es denn eigentlich, dieses Artefakt?“, fragte derSergeant nun. „Ist es eine Statue, eine alte Waffe, ein Grab-stein oder etwas anderes?“

„Ich wünschte, ich wüsste eine Antwort darauf.” Die Au-gen des Earls wurden einen Moment lang schmal, als erweitersprach. „Das Artefakt wird der Stern des Seth genannt.”Sein Gesichtsausdruck entspannte sich wieder, er hob dieHände in einer Geste der Ratlosigkeit. „Aber es gibt keineAbbildung davon und auch keine genaue Beschreibung. Eskönnte alles Mögliche sein. Vielleicht ist es auch einfach einsternförmiger Gegenstand.“

„Dann habe ich dazu eine Frage: Wie sollen wir ihn dennfinden, wenn wir gar nicht wissen, wie er aussieht?“, meinteDoctor MacAlistair. Was ist das für ein verworrener Auftrag?

Lord of Eavesfield sah ihn einen Moment lang nachdenk-lich an, ehe er antwortete. „Der Stern des Seth ist ein sagen-umwobenes Artefakt. Man könnte ihn eine Art Stein derWeisen der Archäologie nennen, denn schon viele Alter-tumsforscher haben versucht, ihn zu finden und sein Rätselzu lösen. Bisher vergeblich. Doch zu Ihrer Frage: Es geht we-niger darum, wonach Sie suchen sollten, sondern wo. Ichhabe Hinweise auf den Ort, an welchem er versteckt wurde.Und mit Sicherheit ist der Stern des Seth etwas Imposantes,also ein relativ großer Gegenstand.“

„Zeigen Sie uns doch bitte mal Ihre Quellen, my Lord“,bat die Dame.

„Sicher, hier sind sie.“ Er klappte eine Dokumentenmappeauf, die auf dem Tisch lag, und förderte einige lose Blätterzutage. Es handelte sich offenbar um Abschriften antikerSchriftstücke, denn das Papier war neu.

„Ich werde Ihnen die Übersetzungen der Originaltexte vor-lesen“, erklärte der Earl. „Ich fange an mit dem Text derHieroglyphen: Es heißt, der mächtige Seth selbst habe den Sternangefertigt. Und in seinem Inneren glühte eine mächtige Kraft vonnie dagewesener Größe.”

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Bei diesen Worten ließ der Earl seinen Blick durch dieRunde seiner Zuhörer schweifen. Beinahe ... beifallsheischend.Seltsam, überlegte MacAlistair.

Der Earl fuhr fort. „Wunderbar war der Stern des Seth undsein Glanz erfüllte jeden, der seiner gewahr wurde, mit Freude undDankbarkeit. Man sagt, jeder, der den Stern sah, war fortan eintreuer Diener des Herrschers. Der Pharao Amenemhet II. ließ somanche Parade veranstalten. Dabei wurde der Stern des Seth unterdie Gläubigen gebracht. Doch im 12. Jahr seiner Regentschaft, alsder Pharao Krieg führte gegen die Nubier, da nahm er den Sterndes Seth mit sich, auf dass dessen göttliche Macht dem Pharao undseiner Armee Glück bringe.“

Lord of Eavesfield hielt kurz inne und erklärte: „Nubienwar der damalige Name für den heutigen Sudan.“

Er las weiter. „Doch die Götter waren dem Pharao nicht wohlgesonnen, denn er kam beinahe um in der Schlacht vor der StadtNapata, und der Stern des Seth ward gestohlen. Und so ver-schwand der Stern des Seth im Land Nubien.“

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