Boris Baschanow - Ich War Stalins Sekretar, 1977

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    Mit 19 Jahren tritt Boris Baschanow whrend des Brgerkrieges in dieKommunistische Partei der Sowjetunion ein. Im Alter von 23 Jahren wird erOrganisationssekretr des Politbros der KPdSU, d.h. Stalins Sekretr. Einkometenhafter Aufstieg. Der junge ukrainische Intellektuelle verdankt ihn

    dem verzweifelten Mangel an Verwaltungstalenten im neuen Staat.Baschanows Fhigkeit, Sitzungen vorzubereiten und zu leiten, schnell und

    przise Beschlsse zu formulieren und die Broarbeit zu organisieren, ma-chen ihn zum idealen Gehilfen in der Parteifhrung. Sein Bro liegt Tr anTr mit dem Stalins; jederzeit hat er Zutritt zu ihm und allen Mitgliedern desZentralkomitees und Politbros. Bei jeder Sitzung der Parteispitze ist er alsProtokollfhrer anwesend. Smtliche Dokumente, die fr die hchsten poli-tischen Fhrer bestimmt sind, gehen durch seine Hnde. Baschanow kenntalle Interna und hat Zugang zum Parteiarchiv.

    Zu dieser Zeit ist in der KPdSU ein erbitterter Kampf um die NachfolgeLenins im Gange. Stalin mu seine Macht im Apparat ausbauen, um seineGegner endgltig ausschalten zu knnen. Baschanow erlebt aus nchster N-he, welcher Mittel sich der angehende Diktator zur Erlangung der Allein-herrschaft bedient.

    Lenins politisches Testament, in dem er die Ablsung Stalins vom Postendes Generalsekretrs empfohlen hatte, bleibt unerfllt; Baschanow schildertdie dramatische Sitzung, auf der in Stalins Gegenwart das Testament Leninsmit der Warnung vor Stalin verlesen wird.

    Baschanow hat die entscheidenden Jahre in der Entwicklung der Sowjet-union, in denen die Weichen fr die Durchsetzung der Herrschaft der Bro-kratie gestellt wurden, im innersten Zentrum der Macht erlebt. Was er siehtund hrt, lt ihn nicht nur zum Gegner Stalins, sondern auch des Kommu-nismus werden.

    Die Nhe, in der Baschanow fnf Jahre lang zu Stalin gestanden hat,macht seine Memoiren zu einem auerordentlichen zeitgeschichtlichenDokument. George Bailey von der New York Times" hat nach der Lektredes russischen Manuskripts geschrieben, da dieses Buch seiner Bedeutungnach nur mit Albert Speers Erinnerungen" verglichen werden knne.

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    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort zur Neuauflage ............................................ 5

    Vorwort des Verfassers ................................................. 7

    Eintritt in die Partei........................................................ 9

    In der Organisationsabteilung des Zentralkomitees ... 16

    Sekretr des Organisationsbros ................................ 29Stalins Gehilfe - Sekretr des Politbros ....................... 44

    Beobachtungen eines Sekretrs des Politbros ......... 57

    Auf dem bolschewistischen Gipfel ........................... 73

    Meine Entwicklung zum Antikommunisten ............. 89

    Stalins Sekretariat .......................................................... 107

    Stalin.............................................................................. 121

    Trotzkij .......................................................................... 132

    Die brigen Mitglieder des Politbros ...................... 143

    Stalins Staatsstreich ....................................................... 156

    Die GPU als Fundament der Macht............................... 170

    Letzte Beobachtungen .............................................. 189

    Vorbereitungen zur Flucht ......................................... 203

    Die Flucht ber Persien und Indien ............................... 217

    In der Emigration........................................................... 233

    Schluwort..................................................................... 253

    Personenregister ......................................................... 261

    Bildnachweis ................................................................. 269

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    Vorwort zur Neuauflage

    Boris Baschanow - ein merkwrdiger Russe: wahrheitsliebend, gnzlichfurchtlos; ohne die Neigung, begangene Fehler abzustreiten oder anderen et-was vorzulgen, um ihnen etwas Nettes zu sagen; ein khler Denker, derauch verwickelte Lagen blitzschnell bersah, von dem Molotow meinte, erknne wie Julius Caesar fnf Dinge zugleich berdenken; ein unbestechli-cher Mann, der keinen Schlagworten verfiel und dem Treue, Wahrhaftigkeitund Freiheit unverzichtbare Ideale bedeuteten.

    Da man seine Hochbegabung erkannte und ihn fr eine wertvolle Schraubein der sozialistischen Staatsmaschinerie hielt, stieg der unbekannte ukraini-sche Gymnasiast in kurzer Zeit zum Geheimschreiber des allmchtigenStalin auf. Baschanows Fhigkeit, Sitzungen vorzubereiten und zu leiten,schnell und przise Beschlsse zu formulieren und die Broarbeit zuorganisieren, hatten ihn zum idealen Gehilfen in der Parteifhrung gemacht.Sein Bro lag Tr an Tr mit dem Stalins; jederzeit hatte er Zutritt zu ihmund allen Mitgliedern des Zentralkomitees und Politbros. Bei jeder Sitzungder Parteispitze war er als Protokollfhrer anwesend. Smtliche Dokumente,

    die fr die hchsten politischen Fhrer bestimmt waren, gingen durch seineHnde. Baschanow kannte alle Interna und hatte Zugang zum Parteiarchiv.

    Doch konnte es bei Baschanows auergewhnlicher Intelligenz und Mo-ralauffassung nicht ausbleiben, da er schon bald erkannte, da in derUdSSR mittels der kommunistischen Partei unter der Maske derVolkswohlfahrt in Wahrheit eine orientalische Satrapenherrschaft errichtetwurde: Alle bisher gltigen sittlichen Werte wurden vernichtet und durcheine Art Wolfsrudel-Verhalten ersetzt. Hierzu gehrte, da jedermann des

    anderen Genosse zu sein schien, um diesen sofort zu zerfleischen, wenn erbeim Kampf um die Macht im Wege stand, wobei die Lge allgegenwrtigwurde und das Leben von der Spitze des Sowjetstaates bis zum kleinstenGenossen bestimmte.

    Dank seiner Begabung - aber unter Verkennung seiner moralischen Ein-stellung - war Baschanow bis zum Sekretr des Diktators aufgestiegen. Er

    brauchte nur den Tod Stalins abzuwarten, um dessen Stelle einzunehmen.Dann htte er in der UdSSR allmhlig alles umstrzen und zu einem

    erheblich frheren Zeitpunkt menschenwrdigere Verhltnisse herbeifhrenknnen als dies neuerdings von Gorbatschow mittels Perestroika undGlasnost versucht wird.Doch htte Baschanow, um dieses Ziel zu erreichen, jahrelang alle Verbre-

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    chen und Scheulichkeiten des Stalinismus decken und mitmachen mssen.Da er dies bei seiner sittlichen Veranlagung aber nicht vermochte, blieb ihmnur die Flucht ins Ausland.

    Nachdem Baschanow frei war, setzte Stalin alles daran, den Mitwisser der

    Staatsgeheimnisse zu beseitigen. Auch in Paris, wo sich der Flchtling nie-dergelassen hatte, wurde er noch jahrelang verfolgt.

    Nach der friedlichen Oktoberrevolution in Leipzig und der ffnung derBerliner Mauer am 9. November 1989 verliert der bis dahin mit skrupeloser

    Gewalt aufrechterhaltene Stalinismus auch im anderen Teile Deutschlandsmehr und mehr an Machteinflu. Immer neue Verbrechen werden bekannt,zu denen die stalinistischen Betonkpfe" in der DDR und anderen Ost-

    blockstaaten - z.B. Rumnien unter Ceausescu - fhig waren.

    Bei der nun beginnenden Aufarbeitung und berwindung des Stalinismusstellt sich die Frage: Wie war die Entstehung einer solchen Machtflle in derHand einzelner Personen und eine derartig menschenverachtende Diktaturdes Proletariats" durch die kommunistischen Parteien in den Ostblockstaatenberhaupt mglich? Nur bei einer richtigen Beantwortung dieser Frage kannman sicher sein, da der Stalinismus allmhlig berwunden wird und sichetwas Vergleichbares in der Zukunft nicht wiederholt.

    Baschanow hat die entscheidenden Jahre in der Entwicklung der Sowjet-

    union als Organisationssekretr des Politbros der KPdSU, d.h. als SekretrStalins, erlebt. Er beschreibt in diesem Buch, welcher Mittel sich der ange-hende Diktator bei der Ausschaltung seiner Konkurrenten Sinowjew, Kame-new sowie Trotzki bediente.

    Dieses Buch, das in Westdeutschland erstmals im Jahre 1977 erschien undwesentliche aber kaum bekannte Vorgnge hinter den Kulissen des Kremlber den Aufstieg Stalins zur Alleinherrschaft schildert, ist vllig vom Buch-markt verschwunden. Der Lhe-Verlag gibt diesen Nachdruck daher erneutmit freundlicher Genehmigung des Ullstein-Verlages als Band 4 seinerReihe Internationale Literatur zur Erforschung politischerHintergrundmchte" heraus.

    Mge dieses Buch die kaum bekannten Hintergrnde des Aufstiegs Stalinseinem greren Leserkreis zugnglich machen und im Zeichen der Perestro-ika dazu beitragen, den Stalinismus in der UdSSR, der DDR und anderenOstblockstaaten aufzuarbeiten und zu berwinden.

    Armin Hinrichs

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    Vorwort

    Diese Erinnerungen beziehen sich hauptschlich auf meine Ttigkeit alsGehilfe des Generalsekretrs des ZK der KPdSU Stalin und als Sekretr desPolitbros dieser Partei. Ich wurde auf diese Posten am 9. August 1923 berufen.Zum Antikommunisten geworden, floh ich am 1. Januar 1928 ber die

    persische Grenze. In Frankreich verffentlichte ich 1929 und 1930 einigemeiner Beobachtungen in Zeitungsartikeln und Bchern. Ihr Hauptanliegen

    bestand in der Schilderung des wahren Mechanismus der kommunistischenMacht (damals im Westen etwas sehr wenig Bekanntes), der Trger dieserMacht sowie einiger historischer Ereignisse dieser Epoche. In meinen Artikeln

    bemhte ich mich stets darum, skrupuls genau zu sein, indem ich nur dasschilderte, was ich selber gesehen hatte oder mit unbedingter Genauigkeitwute. Die Mchte des Kremls haben nie den geringsten Versuch gemacht, zu

    bestreiten, was ich geschrieben habe, sondern zogen die Taktik vlligenSchweigens vor. Mein Name durfte nirgends erwhnt werden. Deraufmerksamste Leser meiner Artikel war freilich Stalin selber. Sptereberlufer aus dem sowjetischen Machtbereich nach Frankreich besttigten,da er verlangt habe, ihm jeden meiner Artikel unverzglich auf dem

    Luftweg zuzusenden.Trotz peinlicher Genauigkeit in meinen Berichten mute ich in bereinkunft

    mit meinen in Ruland zurckgebliebenen Freunden wegen ihrer grerenSicherheit ein Detail ndern, das mich allein betrifft: das Datum, an dem ichzum Antikommunisten wurde. Das spielte keine Rolle in meinen Artikeln; sienderten sich nicht dadurch, ob ich zwei Jahre frher oder spter Gegner desKommunismus wurde. Doch wie sich herausstellte, brachte mich das persnlichin eine sehr unangenehme Lage. In einem der letzten Kapitel des Buches -

    Vorbereitung meiner Flucht ins Ausland - werde ich erklren, wie undweshalb meine Freunde mich baten, es nicht zu tun. Auerdem konnte ich berviele Tatsachen und Menschen deshalb nicht schreiben, weil sie lebten. Sokonnte ich z. B. nicht erzhlen, was mir die persnliche Sekretrin Lenins ineiner sehr wichtigen Frage berichtet hatte, weil sie das sehr teuer zu stehengekommen wre. Jetzt, da fast ein halbes Jahrhundert vergangen ist und dergrte Teil der Menschen jener Epoche nicht mehr unter den Lebenden weilt,kann ich fast ber alles schreiben, ohne riskieren zu mssen, dadurch

    jemanden Stalins Genickschu auszusetzen.

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    Auerdem kann ich jetzt bei der Schilderung aller historischen Ereignisse,deren Zeuge ich war, dem Leser auch jene Folgerungen und Schlssedarlegen, die sich aus ihrer unmittelbaren Beobachtung ergaben. Ich hoffe, dadies dem Leser helfen wird, das Wesen jener Ereignisse und den ganzenAbschnitt jener Epoche der kommunistischen Revolution besser zu begreifen.

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    Eintritt in die Partei

    Ich wurde 1900 in der ukrainischen Stadt Mogilew-Podolsk geboren. Als dieFebruarrevolution 1917 ausbrach, sa ich in der siebenten Klasse desGymnasiums. Im Frhjahr und Sommer 1917 erlebte die Stadt alle Ereignisseder Revolution und besonders den allmhlichen Zerfall der alten Ordnung.

    Nach der Oktoberrevolution beschleunigte er sich noch. Die Front brachzusammen, die Ukraine sonderte sich ab. Die ukrainischen Nationalistenrangen mit den Bolschewiken um die Macht in der Ukraine. Die Anarchie inunserem Gebiet griff immer weiter um sich. Doch Anfang 1918 besetzten

    deutsche Truppen die Ukraine; mit ihrer Untersttzung wurde einigermaenOrdnung hergestellt, die reichlich seltsame Macht des Hetmans Skoropadskijetablierte sich, der Form nach ukrainisch-nationalistisch, in Wirklichkeit aberunbestimmt konservativ.

    Das Leben kehrte in einigermaen normale Bahnen zurck, der Unterrichtging wieder flott weiter, im Sommer 1918 beendete ich das Gymnasium, um imSeptember das Studium an der physikalisch-mathematischen Fakultt derUniversitt Kiew aufzunehmen. Doch leider whrte mein Studium nicht lange.Gegen November zeichnete sich Deutschlands Niederlage ab, die deutschenTruppen traten aus der Ukraine den Rckzug an. Die Universitt kochte bervor revolutionrer Ttigkeit. Meetings, Reden. Die Regierung schlo dieUniversitt. Ich beschftigte mich damals nicht mit Politik, mit meinen 18Jahren meinte ich, mich in den grundlegenden Lebensfragen der Gesellschaftnoch unzureichend auszukennen. Doch wie die Mehrheit der Studenten warich mit der Unterbrechung des Studiums sehr unzufrieden. Ich war aus dertiefsten Provinz zum Studieren nach Kiew gekommen. Deshalb beteiligte ichmich an einer Studentendemonstration, die auf der Strae gegenber der

    Universitt angesetzt wurde, um gegen die Schlieung zu demonstrieren.Dort wurde mir eine sehr wichtige Lektion zuteil. Auf Lastautos traf eine

    Abteilung der ukrainischen Staatswacht ein, sprang eilends ab, stellte sichin Reih und Glied auf und erffnete ohne die geringste Warnung das Feuer aufdie Demonstranten. Es mu gesagt werden, da die Menge beim Anblick derGewehre in wilder Flucht auseinanderstob. Etwa drei bis vier DutzendMenschen, die es unter ihrer Wrde fanden, schon bei Erscheinen der Polizeiwie die Hasen davonzulaufen, blieben den Gewehren gegenber stehen. Diese

    Leute waren wenige Augenblicke spter entweder tot

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    (etwa 20) oder verwundet (auch an die 20). Ich war unter den Verwundeten.Eine Kugel hatte den Kiefer getroffen, war aber an ihm abgeglitten, so da ichmit zwei-drei Wochen Hospital davonkam.

    Mit dem Studium war es vorbei, die Kmpfe zwischen Bolschewiken undukrainischen Nationalisten flammten wieder auf, whrend ich nach Hausezurckkehrte, um zu genesen und ber den Gang der Ereignisse nachzu-

    denken, an denen ich wider Willen teilgenommen hatte. Bis zum Sommer 1919las ich viel und setzte mich mit dem Marxismus und anderen revolutionrenLehren und Programmen auseinander.

    Im Jahre 1919 entwickelte sich der Brgerkrieg und der Vormarsch derweien Armeen auf Moskau von den Rndern zum Zentrum. Doch unser

    podolischer Winkel lag seitab von diesem Feldzug. Um die Macht rangen beiuns nur die Petljuraleute und die Bolschewiken. Im Sommer dieses Jahres

    beschlo ich, in die KP einzutreten.

    Fr uns, die studierende Jugend, stellte sich der Kommunismus damals alsauerordentlich interessanter Versuch zur Schaffung einer neuen sozialistischen

    Gesellschaft dar. Wenn ich am politischen Leben teilnehmen wollte, dann gabes hier, in meiner provinziellen Wirklichkeit, nur die Wahl zwischen denukrainischen Nationalisten und den Kommunisten. Der ukrainische

    Nationalismus zog mich berhaupt nicht an, er war fr mich mit einem gewissenAbstieg von der Hhe der russischen Kultur verbunden, in der ich erzogen war.Aber auch die Praxis des Kommunismus begeisterte mich nicht, doch ich sagtemir (und nicht nur ich allein), da man nicht viel verlangen drfe von diesenungebildeten und primitiven Bolschewiken aus den Reihen analphabetischerArbeiter und Bauern, die alle Schlagworte des Kommunismus auf wildeWeise verstanden und ins Leben umsetzen wollten; und da alsbald gebildetereund verstndigere Leute diese Fehler korrigieren und die neue Gesellschaftaufbauen wrden, damit sie mehr den Ideen der Fhrer entsprche, dieschlielich irgendwo weit weg, in fernen Zentren, wirkten und das Wohl desVolkes wnschten.

    Die Kugel, die mich in Kiew erwischt hatte, wirkte auf mein politisches

    Bekenntnis nicht sehr ein. Doch die Frage des Krieges spielte fr mich keinegeringe Rolle.

    Die letzten Jahre meiner Jugend war ich entsetzt von dem Bild deslangjhrigen, sinnlosen Weltkrieges. Trotz meiner Jugend verstand ichdurchaus, da keinem der kriegsfhrenden Lnder der Krieg etwas ein-

    bringen konnte, das die Millionen Opfer und kolossalen Zerstrungeneinigermaen aufwiegen wrde. Ich begriff, da die Vernichtungstechnik einensolchen Stand erreicht hatte, da die alte Art, Streitigkeiten zwischen den

    Gromchten durch Kriege auszutragen, jeden Sinn verloren hatte. Undwenn die Lenker dieser Staaten sich an der alten Politik des Nationa-

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    lismus begeisterten, die ihnen vor einem Jahrhundert gestattet wurde, als manfr die Reise von Paris nach Moskau zwei Monate bentigte und die Lnderunabhngig voneinander leben konnten, so waren das jetzt, da das Leben allerStaaten miteinander verbunden war und die Reise von Paris nach Moskau nurzwei Tage dauerte, Bankrotteure, und sie trugen ein hohes Ma anVerantwortung fr die im Schlepptau der Kriege folgenden Revolutionen, die

    jede alte Lebensordnung zerstrten. Ich nahm damals die Zimmerwalder undKienthaler Proteste der internationalen Kriegsgegner fr bare Mnze; erst vielspter begriff ich, in welcher Kriegsbegeisterung Lenins Anhnger waren,konnte ihnen doch nur der Krieg die Revolution bringen.

    Nach meinem Eintritt in die rtliche Parteiorganisation wurde ich bald zumSekretr der Kreisorganisation gewhlt. Bezeichnenderweise geriet ich sofortin Konflikt mit den Tschekisten, die man aus der Hauptstadt desGouvernements hergeschickt hatte, um eine rtliche Tscheka zu organisieren.Diese Kreis-Tscheka requirierte das Haus des Notars Afenjew, eines reichenund harmlosen Alten, und erscho ihn. Ich verlangte von derParteiorganisation die unverzgliche Schlieung der Tscheka und dieRckkehr der Tschekisten nach Winniza. Die Organisation zgerte, doch ichberzeugte sie schnell. Die Stadt war jdisch, die Mehrheit der Parteimitglieder

    waren Juden. Die Machtverhltnisse wechselten alle zwei-drei Monate. Ichfragte die Organisation, ob sie begreife, da fr die sinnlosen Erschieungender tschekistischen Sadisten die jdische Bevlkerung ben werde, der beimnchsten Machtwechsel ein Pogrom drohe. Die Organisation verstand unduntersttzte mich. Die Tscheka wurde geschlossen.

    Die sowjetische Macht hielt sich nicht lange. Es kamen die Petljuraleute. EineZeitlang war ich in Shmerinka und Winniza, wo ich im Januar 1920 unerwartetals Leiter der Gouvernementsabteilung fr Volksbildung eingesetzt wurde.Meine Karriere wurde durch Rckfalltyphus und dann durch die Nachrichtvom Tod meiner Eltern am Flecktyphus unterbrochen. Ich eilte nach Hause.Dort waren noch die Petljuraleute. Doch sie rhrten mich nicht an, die rtlicheBevlkerung verbrgte sich, da ich ein ideeller Kommunist sei, der allen nur

    Gutes erwiesen und dazu noch die Stadt vom tschekistischen Terror gerettethabe.

    Bald nderten sich die Machtverhltnisse erneut, es kamen die Bolsche-wiken. Dann zog die Rote Armee wieder ab. Der polnisch-sowjetische Krieg

    begann. Doch gegen Sommer 1920 wurde die Kreisstadt Jampol zurckerobertund ich zum Mitglied und Sekretr des Jampoler Revisionskomitees ernannt.Kaum jemals drfte Jampol nach der Revolution eine friedlichere undwohlwollendere Obrigkeit gesehen haben. Der Vorsitzen-

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    de der Revisionskommission Andrejew sowie ihre beiden Mitglieder Trofi-mowund ich waren friedliche und gute Menschen. Das zumindest mute die

    Meinung der Beamtenwitwe sein, in deren Haus wir alle drei wohnten, mit ihram gleichen Tisch zu Mittag aen und dabei zu ihrem groen Staunen undtrotz unserer ganzen Macht an den Hungerpfoten saugten.

    Nach einem Monat wurde Mogilew eingenommen. Man versetzte mich

    dorthin, ich wurde erneut zum Sekretr des Kreiskomitees der Partei ernannt.Im Oktober ging der sowjetisch-polnische Krieg zu Ende, im Novemberwurde die Krim besetzt, der Brgerkrieg endete mit dem Sieg der Bolsche-wiken. Ich beschlo, nach Moskau zu fahren, um mein Studium fortzusetzen.Im November 1920 kam ich dort an und wurde in die Technische Hochschuleaufgenommen.

    Die Hochschule hatte natrlich eine rtliche Parteizelle, doch waren derenAktivitten recht schwach entwickelt. Die Partei nahm wohl an, da bei dem

    ungeheuren Mangel an zuverlssigen technischen Spezialisten im Land dieHauptaufgabe von uns Parteistudenten das Studieren sei. Was wir auch taten.Dennoch kam ich im Zentrum schon etwas nher mit der Partei in

    Berhrung. Nach Beendigung des Brgerkrieges begann das Land, zumfriedlichen Aufbau berzugehen. Die kommunistischen Verwaltungsmethodenwhrend der drei Jahre, die seit der bolschewistischen Revolution vergangenwaren, schienen definitiv zu sein, waren jedoch erbitterten Wortgefechten inder Parteispitze whrend der berhmten Diskussion ber die GewerkschaftenEnde 1920 ausgesetzt. Fr uns gewhnliche Parteimitglieder sah es so aus, alsginge der Streit um die Methoden, wie die Wirtschaft oder vielmehr dieIndustrie zu lenken sei. Es schien einen Standpunkt des einen Parteiflgels mitTrotzkij an der Spitze zu geben, der meinte, da zuerst die Armee in eineArbeiterarmee verwandelt und die Wirtschaft auf dem Prinzip hartermilitrischer Disziplin wiederhergestellt werden msse; ein anderer Teil derPartei dagegen mit Schljapnikow und der Arbeiteropposition meinte, da dieWirtschaftsverwaltung den Gewerkschaften bergeben werden msse;schlielich waren Lenin und seine Gruppe sowohl gegen Arbeiterarmeen als

    auch gegen eine gewerkschaftliche Wirtschaftsfhrung. Sie vertraten dieAnsicht, da die konomie ohne militrische Methoden von sachkundigenRteorganen geleitet werden msse. Es siegte Lenins Gesichtspunkt, wenn auchnicht ohne Schwierigkeiten.

    Erst Jahre spter, als ich schon Sekretr des Politbros war, begriff ichbeim Blttern in alten Archivmaterialien, da die Diskussion nur einausgeklgelter Vorwand war. In Wirklichkeit war es Lenins Kampf um die

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    Mehrheit im ZK der Partei. Lenin frchtete damals den bermchtigen EinfluTrotzkijs und bemhte sich, ihn zu schwchen und etwas von der Macht zuentfernen. Die ziemlich zweitrangige Frage der Gewerkschaften wurdeknstlich aufgeblht. Trotzkij fhlte die Geschraubtheit der ganzenMachination Lenins, und fast zwei Jahre lang waren die Beziehungenzwischen beiden ziemlich khl. Im weiteren Kampf um die Macht spielte diese

    Episode und ihre Folgen eine groe Rolle.Im Mrz 1921, zu der Zeit, da der Parteikongre stattfand, wurden alleMitglieder der Parteizelle unserer Hochschule eilig in das Rayonskomitee derPartei gerufen. Man erklrte uns, da wir mobilisiert seien, hndigte unsGewehre und Patronen aus und verteilte uns auf Betriebe, die grtenteilsgeschlossen waren. Wir muten sie bewachen, um mglichen Arbei-terkundgebungen gegen die Regierung zuvorzukommen. Es waren die Tagedes Kronstdter Aufstandes.

    Etwa zwei Wochen lang hielten wir zu dritt in einem geschlossenen BetriebWache. Mit mir war mein Freund, der Kommunist Jurka Akimow, Student wieich, und ein Rulanddeutscher mit blauen Augen, Hans Lemberg. EinigeJahre spter, als ich Sekretr des Politbros war, schob ich ihn auf den Postendes Sekretrs der Sportintern. Er erwies sich als Intrigant belster Sorte.

    Jurka Akimow verlor ich nach zwei-drei Jahren aus den Augen. Erst aus derSowjetenzyklopdie erfuhr ich unlngst, da er verdienter Professor derMetallurgie ist.

    Auf dem Parteitag im Mrz hielt Lenin ein Referat ber den Ersatz derGetreideablieferung durch eine Naturalsteuer. In der ganzen offiziellenSowjetliteratur wird dieses Datum als die Einfhrung der NEP (Neuekonomische Politik) dargestellt. Das trifft aber nicht zu. Lenin ist keineswegsso schnell auf die Idee der NEP verfallen. Whrend des Brgerkrieges und imSommer 1920 wurde den Bauern das Getreide mit Gewalt weggenommen. DieBehrden berschlugen, wieviel ungefhr in jedem Rayon die Bauern anGetreide haben muten, die Ziffern der ermittelten Konfiskationsmengewurden auf die Drfer und Hfe verteilt, dann wurden Getreide und Produkte

    gewaltsam (von den Produktabteilungen) weggenommen, zudem ganzwillkrlich und mit vielen Ausschreitungen, um irgendwie die Armee und dieStdte durchzufttern. Das war die Getreideablieferung. Dabei erhielten dieBauern im Austausch fast keinerlei Industrieerzeugnisse, es gab ja praktischkeine. Im Sommer 1920 brachen Bauernaufstnde aus, der bekannteste inAntonowskoje (Gouvernement Tambow), der bis zum Sommer 1921 dauerte.Auerdem ging ganz betrchtlich die Anbauflche zurck, die Bauern wolltenkeinen Getreideberschu, den man ihnen ohnehin weggenommen htte.

    Lenin begriff, da die Verhltnisse einer Katastrophe zusteuerten und daman vom

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    dogmatischen Kommunismus zum realen Leben zurckkehren msse, indemman der Bauernarbeit einen wirtschaftlichen Sinn gab. Die Getrei-deablieferung wurde durch die Naturalsteuer ersetzt, d. h. der Bauer warverpflichtet, eine bestimmte Menge seiner Erzeugnisse abzugeben, die alsSteuer galt, whrend er ber den Rest frei verfgen konnte.

    Der Kronstdter Aufstand regte Lenins Denken noch strker an. Im Lande

    herrschten Hunger, allgemeine Unzufriedenheit und Mangel anIndustrieerzeugnissen. Die Wiederherstellung nicht nur der Landwirtschaft,

    sondern der Wirtschaft berhaupt war nur mglich, wenn man derBevlkerung einen wirtschaftlichen Anreiz gab, also von der kommunistischenPhantastik zur normalen Tauschwirtschaft zurckkehrte. Das schlug Leninauch Ende Mai auf der 10. Allrussischen Parteikonferenz vor, doch inausgereifter Formulierung unterbreitete er die NEP erst Ende Oktober auf derParteikonferenz des Moskauer Gouvernements. Ich werde noch daraufzurckkommen, was mir seine Sekretrinnen nach seinem Tod ber dieheimlichen Gedanken Lenins in jener Periode sagten.

    Ich setzte meine Studien fort. Man whlte mich zum Sekretr derParteizelle. Das nahm nicht viel Zeit in Anspruch, das Parteileben derHochschule war absichtlich wenig aktiv.

    Das ganze Jahr 1921 herrschte Hunger im Lande. Es gab keinen Markt. Manmute ausschlielich von der Zuteilung leben. Die bestand aus einem Pfund(400 Gramm) brothnlicher Kittmasse tglich, hergestellt aus wei Gottwelchen Resten und Abfllen, und vier Pfund ranzigem Hering monatlich. Inder Mensa der Hochschule gab es einmal tglich ein wenig wrigeBuchweizengrtze ohne die kleinste Spur von Fett - und noch dazu ohne Salz.Bei solcher Verpflegung konnte man es nicht lange aushalten. Zum Glckkam der Sommer, man konnte ins Sommerpraktikum in einen Betrieb fahren.Ich hatte mir mit drei Kameraden ein Praktikum in einer Zuckerfabrikausgesucht (wir studierten an der chemischen Fakultt) und noch dazu inmeinem Heimatkreis Mogilew. Dort kamen wir wieder zu Krften: dieVerpflegung wurde in Zucker ausgegeben, und fr Zucker konnte man sich

    eintauschen, was man wollte.Im Herbst kehrte ich nach Moskau zurck und setzte meine Studien fort.

    Doch bei dem Hungerregime magerte ich bis zum Januar derart ab, da ichvllig von Krften kam. Ende Januar 1922 beschlo ich daher, wieder in dieUkraine zu fahren.

    Im Laboratorium fr quantitative Analyse war der junge, sympathischeStudent Sascha Wolodarskij mein Nachbar. Es war der Bruder jenesPetersburger Kommissars fr das Pressewesen, den im Sommer 1918 der

    Arbeiter Sergejew erschlagen hatte. Sascha Wolodarskij war ein sehr lieber undbescheidener Jngling. Wenn man seinen Namen hrte und dann

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    fragte: Sagen Sie, sind Sie ein Verwandter jenes bekannten Wolodar-skij?,antwortete er: Nein, nein, nur ein Namensvetter!

    Ich fragte ihn um seine Meinung, wen er statt meiner fr den Posten desSekretrs der Parteizelle vorschlagen wrde. Warum? Ich erklrte ihm, da ichfort wollte von hier, um nicht zu verhungern. Und warum machen Sie es nichtso wie ich?, erwiderte Wolodarskij.

    Wie?Na, einen halben Tag studiere ich, und einen halben Tag arbeite ich im ZKder Partei. Dort gibt es bestimmte Arbeiten, die man nach Hause nehmenkann. brigens wird gerade der Apparat der ZK stark erweitert, man brauchtdort gebildete Mitarbeiter. Versuchen Sie es.

    Ich versuchte es. Der Umstand, da ich schon Sekretr eines Kreiskomiteesgewesen und jetzt Sekretr der Parteizelle in der Technischen Hochschule war,

    erwies sich als gewichtiges Argument. Der Geschftsfhrer des ZK

    Ksenofontow (brigens ein ehemaliges Tscheka-Mitglied), der die ersteAuswahl traf, schickte mich in die Organisationsabteilung des ZK, wo ich auchangenommen wurde.

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    In der Organisationsabteilung des Zentralkomitees

    Damals fand eine auerordentliche Erweiterung und Festigung des Par-teiapparates statt. Die wohl grte Abteilung des ZK bildete die organisa-tions-instruktorische, in die ich geraten war; sie wurde bald darauf mit derstatistisch-distributiven zur organisations-distributiven Abteilung vereinigt.Gleichzeitig mit den gewichtigen Unterabteilungen (der Organisation- und derinformativen) wurde eine belanglose Unterabteilung, die Statistik derrtlichen Erfahrung, geschaffen, deren Funktionen reichlich unklar waren. Ichwurde als gewhnlicher Mitarbeiter dieser Unterabteilung eingestellt. Sie

    bestand aus einem Leiter, dem alten Parteimitglied Rastoptschin, und fnfAngestellten. Rastoptschin und drei seiner Mitarbeiter betrachteten ihre Arbeitals Sinekure auf Zeit. Rastoptschin selber zeigte sich einmal wchentlich frein paar Minuten. Wenn man ihn fragte, was denn eigentlich zu tun sei, sagteer lchelnd: Bekundet Initiative! Drei von den fnf bekundeten sie in demSinn, da sie sich eine Arbeit suchten, die ihnen mehr einbrachte; und damithatten sie bald Erfolg. Rajter wurde nach einer Reihe komplizierter Intrigenverantwortlicher Instrukteur des ZK und dann Sekretr irgendeinesGouvernementskomitees. Kicis wartete geduldig Rajters Ernennung ab, um

    dann mit ihm zu gehen. Sorge (nicht jener berhmte, nicht der japanische)wollte im Ausland auf der Linie der Komintern wirken. Wirklich zu arbeitenversuchte allein Nikolaj Bogomolow, ein Werkttiger aus der Gegend vonOrecho-wo-Sujewo, ein sehr sympathischer und verstndiger Mann. Spterwurde er Gehilfe des Leiters der organisations-distributiven Abteilung zurAuslese von Parteiarbeitern, dann Stellvertreter des Leiters und schlielich, weider Himmel warum, Leiter der Handelsvertretung in London. Whrend derSuberung des Jahres 1937 verschwand er, wahrscheinlich ist er

    umgekommen.Ich tat die erste Zeit fast berhaupt nichts, sondern orientierte mich undsetzte mein Studium fort. Nach dem schweren Jahr 1921 besserten sich meineLebensverhltnisse pltzlich. Bisher hatte ich in Moskau nicht nur gehungert,sondern auch miserabel gewohnt. Auf Order des Rayonssowjets war uns(Jurka Akimow und mir) ein von Burshuis requiriertes Zimmerchenzugewiesen worden. Es hatte keine Heizung und nicht die geringsteAndeutung irgendeines Mobiliars, wenn man nicht eine Wasch-

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    schssel samt Krug auf dem Fensterbrett als solche bezeichnen wollte. ImWinter sank die Temperatur auf fnf Grad unter Null, so da sich das Wasserim Krug in Eis verwandelte. Zum Glck hatte das Zimmerchen einenhlzernen Fuboden. Wir wickelten uns in unsere Schafpelze und drckten unszur gegenseitigen Erwrmung aneinander, schliefen in einem Winkel auf demFuboden, mit Bchern unter dem Kopf statt des nicht vorhandenen

    Kopfkissens.Jetzt hatte sich die Lage gendert. Die Mitarbeiter des ZK lebten unter

    anderen Bedingungen. Mir wurde ein Zimmer im 5. Haus der Sowjets, demehemaligen Hotel Loskuta (Twerskaja 5), zugewiesen, das alle gewhnlich 5.Haus des ZK nannten, da es ausschlielich von Bediensteten des ZK der Partei

    bewohnt wurde. Freilich nur von gewhnlichen, da sehr verantwortungsvolleentweder im Kreml oder im 1. Haus der Sowjets (Ecke Twers-kaja-Mochowaja) wohnten.

    Obgleich ich wenig arbeitete, wurde ich doch bald mit Kaganowitsch, demLeiter der Organisationsabteilung, bekannt. Unter seinem Vorsitz fandirgendeine halbinstruktive Beratung ber Fragen des sowjetischen Aufbausstatt. Man bestimmte mich zum Sekretr dieser Beratung, rein zufllig, wieman eben jemandem in die Finger gert. Kaganowitsch hielt eineauerordentlich gescheite und kluge Rede. Ich schrieb sie natrlich nichtnieder, sondern machte nur ein Protokoll der Beratung.

    Nach einigen Tagen erbat sich die Redaktion der Zeitschrift SowetskojeStrojitelstwo (Sowjetischer Aufbau) von Kaganowitsch einen Leitartikel berdas von ihm behandelte Thema. Kaganowitsch antwortete, er habe keine Zeit.Das war eine Ausrede. Die Sache war vielmehr die, da sich Kaganowitsch,ein auerordentlich fhiger und lebhafter Mann, schlecht auf die Kunst desLesens und Schreibens verstand. Schuster von Beruf, hatte er keinerleiBildung genossen; deshalb schrieb er mit groben orthographischen Fehlern,und literarisch formulieren konnte er berhaupt nicht. Da ich bei der Beratungals Sekretr fungiert hatte, wandte sich die Redaktion an mich. Ich versprach,es zu versuchen.

    So rief ich mir Kaganowitschs Worte ins Gedchtnis und kleidete sie in dieForm eines Artikels. Dann ging ich zu ihm und sagte: Genosse Kaganowitsch,da ist Ihr Artikel ber den sowjetischen Aufbau, ich habe alles aufgeschrieben,was Sie auf der Beratung gesagt haben. Kaganowitsch las es durch und war

    begeistert. Tatschlich, alles da, was ich gesagt habe - aber wie schn esausgefhrt ist. Ich antwortete, die Ausfhrung sei ganz zweitrangig, auf dieGedanken komme es an, und die seien von ihm, also brauche er den Artikel nurzu unterschreiben und an die Zeitschrift zu schicken. Aus Unerfahrenheit zierte

    sich Kaganowitsch: Das haben doch Sie geschrieben, nicht ich. Ichberzeugte ihn ohne Schwierigkeiten, da

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    ich es einfach statt seiner geschrieben htte, um ihm die Zeit zu ersparen. DerArtikel wurde gedruckt. Man mute gesehen haben, wie stolz Kaganowitschwar, es war sein erster Artikel. Er zeigte ihn allen.

    Die Episode hatte Folgen. Ende Mrz, Anfang April fand der turnusmigeParteikongre statt. Ich wurde wie viele andere junge Mitarbeiter derOrganisationsabteilung dem Sekretariat des Kongresses als Hilfskraft fr

    technische Arbeiten zugeteilt. Bei jedem Kongre wurde nmlich eine Reihevon Kommissionen mit alten Parteiknastern (Mitgliedern des ZK undangesehenen rtlichen Funktionren) als Vorsitzenden gebildet, whrend dieArbeit junge Mitarbeiter des ZK-Apparates taten. So ging es zumindestens inder Redaktionskommission zu, in die ich geschickt wurde. Der Redner tritt auf,die Stenographin schreibt die Rede mit und diktiert sie dann der Stenotypistin.Dieser erste Text ist voller Fehler und Entstellungen, denn die Stenographinhat vieles nicht verstanden, einiges nicht gehrt und manches nichtmitschreiben knnen. Deshalb ist noch jedem Redner ein Mitarbeiter derRedaktionskommission zugeteilt, der verpflichtet ist, sich die Rede genauanzuhren. Er fhrt auch die erste Korrektur durch und gibt dem Text oftseinen endgltigen Wortlaut. Der Redner braucht dann nur nochunbedeutende Zustze und Berichtigungen vorzunehmen. So wird ihm sehrviel Zeit erspart.

    Auf dem Kongre hielt Lenin (zum letztenmal) den politischen Rechen-schaftsbericht des ZK. Es entstand die Frage, wem man diese Arbeit - zuhren und zu verbessern - anvertrauen sollte. Kaganowitsch sagte: Dem

    Genossen Baschanow, der macht das ausgezeichnet.Die Tribne des Kongresses steht ein- bis anderthalb Meter ber dem

    Fuboden des Saales. Auf der Tribne sitzt das Prsidium des Kongresses.Rechts (wenn man mit dem Gesicht zum Saal steht) das Pult, hinter dem derRedner steht. Auf dem Pult liegen seine Unterlagen und Hilfszettel, in derfrhen sowjetischen Praxis wurden die Referate nie vorher niedergeschrieben,sondern improvisiert, hchstens da der Referent auf einem Zettel einenkurzen Plan und einige Ziffern und Zitate hatte. Vor dem Pult fhrt eine kleine

    Treppe in den Saal; auf ihr steigen die Redner auf die Tribne und kehren inden Saal zurck. Da whrend Lenins Referat niemand auf die Tribne mute,setzte ich mich oben auf das Treppchen, einen Meter von Lenin entfernt, soberzeugt war ich, hier alles gut zu hren.

    Whrend Lenins Referat machte der Hofphotograph (Ozup wahrscheinlich)

    Aufnahmen. Lenin konnte es nicht leiden, whrend seines Auftrittes gefilmt zuwerden, es strte ihn, lenkte ihn ab und verhedderte den Faden seinerGedanken. Er lie sich kaum auf die zwei unerllichen offiziellen

    Photographien ein. Der Photograph nahm ihn von links auf: in der Tiefe ist wiein einem Nebel das Prsidium zu sehen; dann nahm er ihn von rechts

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    auf: man sieht nur Lenin und hinter ihm eine Ecke des Saales. Doch aufbeiden Aufnahmen vor Lenin - ich.

    Diese Aufnahmen wurden hufig in den Zeitungen gedruckt: Wladimirlljitsch tritt zum letztenmal auf dem Parteikongre auf. Einer der letzten

    ffentlichen Auftritte des Genossen Lenin. Bis 1928 figurierte ich stetszusammen mit Lenin. Im gleichen Jahr flchtete ich ins Ausland. Nach Paris

    gelangt, begann ich die sowjetischen Zeitungen zu lesen. Bald erblickte ich da inder Prawda und da in der Izvestija die bekannte Photographie: Wladimir lljitschhlt sein letztes politisches Referat auf dem Parteikongre. Doch ich war nichtmehr auf der Photographie. Offenbar hatte Stalin alles Ntige veranlat, um michvon der Aufnahme verschwinden zu lassen.

    In diesem Frhjahr 1922 arbeitete ich mich langsam ein, aber noch mehrstudierte ich. Meine Beobachtungsstelle war sehr schn, ich orientierte michrasch ber die fundamentalen Lebensprozesse des Landes und der Partei.Einige Details besagten mitunter mehr als lange Studien. So kann ich mich z.B. wenig an jenen 2. Parteikongre von 1922 erinnern, bei dem ich anwesendwar, habe jedoch deutlich den Auftritt Tomskijs, eines Mitglieds desPolitbros und Gewerkschaftsfhrers in Erinnerung. Er sagte: Man wirft unsim Ausland vor, da es bei uns das Regime einer Partei gibt. Das stimmt nicht.Bei uns gibt es viele Parteien. Doch im Gegensatz zum Ausland ist bei unsnur eine Partei an der Macht, die brigen sind im Gefngnis. Der Saalantwortete mit strmischem Applaus.

    Ob Tomskij wohl 14 Jahre spter an diesen Auftritt dachte, als sich vor ihm

    die Tore von Stalins Gefngnissen auftaten? Er erscho sich, da er ihre Schwellenicht bertreten wollte.

    Die Gerechtigkeit erfordert zu bemerken, da ich damals noch Vertrauen zumeinen Fhrern hatte: Die anderen Parteien im Gefngnis, also ist es ntig sound besser.

    Im April oder Mai dieses Jahres kam ich mir darber ins klare, wie dieEvolution einer Macht vor sich geht. Es war augenfllig, wie sich die Machtimmer mehr in den Hnden der Partei konzentrierte und je weiter, desto mehr

    im Parteiapparat. Unter anderem fiel mir ein wichtiger Umstand auf. DieOrganisationsformen der Parteiarbeit und ihres Apparates, welche dieEffektivitt der Arbeit bestimmten, waren ihre Statuten. Doch die Partei-statuten "hatten im wesentlichen jene Form beibehalten, wie sie 1903angenommen worden waren. Nur auf dem 6. Parteikongre im Sommer 1917hatte man sie etwas abgendert, auch die 8. Parteikonferenz im Jahre 1919

    brachte einige kleine Neuerungen an, doch im allgemeinen paten die Statuten -in der Illegalitt der vorrevolutionren Zeit entstanden - berhaupt nicht mehr

    fr eine Partei, die sich an der Macht befand, zumals sie

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    deren Arbeit sehr einschrnkten, ohne ihr die ntigen klaren und genauenFormen zu geben.

    Ich machte mich ans Werk und stellte einen Entwurf neuer Parteistatutenzusammen, wobei ich die alten sehr stark umkrempelte. Nachdem ich allesnoch einmal durchgesehen hatte, tippte ich auf der Maschine die zweiParalleltexte, links den alten, rechts den neuen, wobei ich alle genderten

    Stellen meines Textes unterstrich.Mit diesem Dokument erschien ich bei Kaganowitsch. Sein SekretrBalaschow erklrte mir, da Genosse Kaganowitsch sehr beschftigt sei undniemanden empfange. Ich gab nicht nach. Aber melde mich trotzdem. Sag, daich in einer sehr wichtigen Sache komme.

    Na, was fr eine wichtige Sache kannst du schon haben, raisonnierteBalaschow.

    Melde mich trotzdem. Ich gehe nicht, bevor du mich nicht gemeldet hast.Balaschow tat es, Kaganowitsch empfing mich.

    Genosse Baschanow, ich bin sehr beschftigt. Drei Minuten - worum gehtes?

    Es geht darum, Genosse Kaganowitsch, da ich Ihnen den Entwurf neuerParteistatuten bringe.Kaganowitsch war ber meine Frechheit ehrlich bestrzt.Wie alt sind Sie, Genosse Baschanow?Zweiundzwanzig.Und wie lange sind Sie in der Partei?Drei Jahre.

    Und wissen Sie, da sich im Jahre 1903 unsere Partei nur wegen der Frageber die Redaktion des ersten Punktes der Statuten in Bolschewiken undMenschewiken gespalten hat?Natrlich.Und trotzdem erkhnen Sie sich, neue Parteistatuten vorzulegen?Jawohl.Und aus welchem Grund?

    Aus einem sehr einfachen. Die Statuten sind ganz veraltet und haben freine Partei unter den Bedingungen der Illegalitt getaugt; sie entsprechen inkeiner Weise mehr dem Leben einer Partei, die an der Macht ist, und geben ihrnicht die unerllichen Formen fr ihre Arbeit und Entwicklung.Na, zeigen Sie her.

    Kaganowitsch las den ersten und den zweiten Punkt in der alten und neuenFassung und berlegte. Haben Sie das selber geschrieben?Ja.

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    Er verlangte Erklrungen. Ich gab sie ihm. Nach einigen Minuten steckteBalaschow den Kopf zur Tr herein und erinnerte Kaganowitsch, dadrauen die Leute sen, die zu empfangen man versprochen habe, und daes Zeit fr eine wichtige Sitzung sei. Kaganowitsch jagte ihn hinaus. Ich bin

    sehr beschftigt. Empfange niemanden. Die Sitzung auf morgen verschieben.An die zwei Stunden las, geno und berlegte Kaganowitsch meine

    Statuten, verlangte Erklrungen und Rechtfertigungen fr meine Formu-lierungen. Als er mit allem fertig war, seufzte er und sagte: Na, da haben Sieeinen schnen Brei angerhrt, Genosse Baschanow. Darauf nahm er denHrer ab und fragte Molotow, ob er ihn in einer wichtigen Sache sehen knnte.Molotow war damals zweiter Sekretr des ZK. Wenn nicht fr lange,kommen Sie.Gehen wir, Genosse Baschanow.

    Da, erklrte Kaganowitsch, als er bei Molotow eintrat, dieser junge Mannda schlgt nicht mehr und nicht weniger vor als neue Parteistatuten.Molotow war ebenso erschttert. Und weier, da im Jahre 1903 ...Ja, wei er.Und nichtsdestoweniger ...Nichtsdestoweniger.Und Sie haben den Entwurf gelesen, Genosse Kaganowitsch?Ja.Und wie finden Sie ihn?Ich finde ihn ausgezeichnet.Na, zeigen Sie her.

    Mit Molotow ging dasselbe vor. Im Laufe von zwei Stunden wurde derStatutenentwurf Punkt fr Punkt durchgegangen, ich gab Erklrungen,Molotow fragte neugierig: Haben Sie das selber geschrieben?Ja.

    Nichts zu machen, sagte Molotow, als er den Entwurf zu Ende gelesenhatte, gehen wir zu Stalin.

    Stalin wurde ich gleichfalls als junger Wirrkopf vorgestellt, der sich erkhnt

    hatte, an einem ehrwrdigen, unantastbaren Heiligtum zu rtteln. Nach dengleichen rituellen Fragen, wie alt ich sei und ob ich wte, da im Jahre 1903,sowie nach Darlegung der Grnde, nach denen ich meinte, da man die Statutenndern msse, ging man wieder zur Lektre und Beurteilung des Entwurfes

    ber. Frher oder spter kam Stalins Frage: Haben Sie das selbergeschrieben? Doch diesmal folgte noch eine andere nach: Stellen Sie sichauch vor, was fr eine Evolution der Parteiarbeit und des Parteilebens Ihr Text

    bewirkt? Meine Antwort war, da ich mir das sehr gut vorstelle und da ich

    mir diese Evolution so und so vorstelle. Stalin

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    blickte mich lange und aufmerksam an, weil meine Statuten eine wichtigeWaffe fr den Parteiapparat zur Erkmpfung der von ihm angestrebten Machtwerden konnten. Stalin begriff das. Ich auch.

    Das Ende war eigenartig. Stalin griff zur Kurbel. Wladimir Iljitsch? Stalin.Wladimir Iljitsch, wir sind hier im ZK zu der berzeugung gekommen, da dieParteistatuten jetzt nicht mehr den neuen Bedingungen der Parteiarbeit

    entsprechen. Die alten, da war die Partei noch in der Illegalitt, sind veraltet,jetzt ist die Partei an der Macht usw. Waldimir Iljitsch stimmte telefonischoffenbar zu. Na also, sagte Stalin, wir haben darber nachgedacht undhaben einen Entwurf neuer Statuten ausgearbeitet, den wir vorlegen wollen.Lenin stimmte zu und sagte, da man die Frage in der nchsten Sitzung desPolitbros vorbringen msse.

    Das Politbro erklrte sich im Prinzip einverstanden und bergab die Fragezur vorbereitenden Bearbeitung dem Organisationsbro. Am 19. Mai 1922

    ernannte das Organisationsbro eine Kommission zur Durchsicht derParteistatuten. Molotow war der Vorsitzende, ferner gehrten ihr

    Kaganowitsch an und ich in meiner Eigenschaft als Sekretr.Ein Jahr spter kam ich in Molotows Wirkungsbereich.

    Mit den Statuten muten wir uns noch zwei Monate lang plagen. Der

    Entwurf wurde den rtlichen Organen mit der Frage nach ihrer Meinungzugesandt, und Anfang August wurde die Allrussische Parteikonferenz (die12.) zwecks Annahme der neuen Statuten einberufen. Die Konferenz dauertedrei oder vier Tage. Molotow referierte ber den Entwurf, die Delegiertensagten ihre Meinung. Schlielich whlte man die endgltigeRedaktionskommission unter Molotows Vorsitz, der auch einige fhrendeFunktionre der rtlichen Organisationen angehrten wie etwa Mikojan(damals Sekretr des Sdostbros des ZK) und ich als Sekretr. Wirredigierten also, und die Konferenz besttigte die neuen Statuten endgltig(formell brigens erst spter auch das ZK).

    Das ganze Jahr 1922 wohnte ich in dem 5. Haus des ZK - Loskuta. Die dortuntergebrachten Mitglieder des ZK waren nach persnlicher Bekanntschaft und

    Arbeit nach Zirkeln gruppiert. Als ich durch den Studenten SaschaWolodarskij in dieses Milieu geriet, schlo ich mich einem Kreis an, der sichebenso um das Ehepaar Wolodarskij gruppierte wie um Lera Golubzowa,Marusa Ignatjewa und Lida Wolodarskij. Lera und Marusa waren wie auchSascha Wolodarskij Informatoren in der Informationsunterabteilung derOrganisationsabteilung, Lida sogar deren Sekretrin. Die Informatorenwaren streng gesprochen keineswegs Informatoren, sondern Referenten eineroder zweier Gouvernements-Parteiorganisationen. Der Informator bekam alles

    Material ber das Leben dieser Organisationen und stellte daraus fr dieObrigkeit der Organisationsabteilung

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    Auszge und periodische Berichte ber alles Wichtige zusammen, was in diesenOrganisationen vorging. Wolodarskij und seine Frau waren sehr gesellig. Zuihnen kam auch der Dichter Boris Pilnjak, eine Bekanntschaft, auf die sie sehrstolz waren. Zu meinem grten Erstaunen erfuhr ich, da der bescheidene undstille Sascha whrend des Brgerkrieges Sekretr bei der blutrnstigen RosaliaSamoilowna Semljatschka gewesen war, die als Mitglied der Parteileitung der

    8. Armee durch Erschieungen und allerlei Grausamkeiten von sich redenmachte.Zu unserem Kreis gehrten auer mir noch Georgij Malenkow und German

    Tichomirnow.Georgij Malenkow war der Mann von Lera (Valeria) Golubzowa. Obgleich

    zwei Jahre jnger als ich, bemhte er sich, wie ein alter Parteimenschauszusehen. In Wirklichkeit war er erst zwei Jahre in der Partei. ImBrgerkrieg war er als kleiner Politarbeiter an der Front gewesen, dannstudierte er wie ich an der Technischen Hochschule. Da er jedoch vorher keinehheren Schulen besucht hatte, war er gezwungen, mit der vorbereitendenArbeiterfakultt anzufangen. In der Technischen Hochschule verbrachte erzwei Jahre. Dann zog ihn seine gescheite Frau, der er seine Karrierehauptschlich verdankte, in den Apparat des ZK und stie ihn dort dieselbeLeiter empor, auf der auch ich stand. Er war zuerst Sekretr desOrganisationsbros und dann nach meinem Weggang Sekretr des Politbros.

    Seine Frau Lera war viel gescheiter als ihr Mann. Georgij Malenkow machteden Eindruck eines sehr mittelmigen Menschen ohne irgendwelche Talente,

    obwohl er immer eine sehr ernste und aufgeblasene Miene zur Schau trug.Allerdings war er damals erst ganze zwanzig Jahre alt.

    German Tichomirnow war zwei Jahre lter als ich und zweiter GehilfeMolotows. Das war so gekommen. Als 15-jhriger Kasaner Gymnasiast hatteMolotow whrend der Halbrevolution von 1905 zusammen mit seinemKlassenkameraden Viktor Tichomirnow (dem Sohn sehr reicher Eltern

    brigens) das Revolutionskomitee des hheren Schulwesens in Kasanorganisiert. An der Revolution 1917 hatte Tichomirnow ebenfalls gemeinsam

    mit Molotow aktiv teilgenommen und auerdem noch whrend des Weltkriegesder Partei einen sehr ansehnlichen Geldbetrag gespendet, durch den dasErscheinen der Prawda ermglicht wurde und Molotow in derenRedaktionsstab gelangte, da die Hilfe fr die Zeitung durch seine Vermittlungzustande gekommen war.

    Im Frhjahr 1917 fiel Molotow in den ersten Wochen der Revolution einefhrende Rolle in der Partei zu, nmlich deren Lenkung durch das zentralePresseorgan. Da man ihn aber berhaupt nicht als politische

    Fhrerpersnlichkeit betrachtete, blieb er dort nicht lange. Bald trafen in

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    Piter die Mitglieder des ZK Kamenew, Swerdlow und Stalin ein, dann auchLenin, Trotzkij und Sinowjew, die Molotow in die Provinz abschoben. ImJahre 1919 war er Bevollmchtigter des ZK im Wolgagebiet, 1920 im

    Nowgoroder Gouvernementskomitee der Partei und in dessen Vollzugskomitee,

    dann 1920-1921 Sekretr des Donezer Gouvernementskomitees. Doch imMrz 1921 wurde er Mitglied des ZK und dessen Sekretr. Noch im Lauf des

    gleichen Jahres avancierte er zum verantwortlichen Sekretr des ZK, zwarnoch nicht zum Generalsekretr, aber auch nicht mehr zum technischenSekretr, wie es seine Vorgnger, etwa die Stasowa und andere waren. Im April1922 lste ihn Stalin auf diesem Posten ab. Es htte nicht viel gefehlt und ander Spitze des Parteiapparates, der automatisch auf die Macht zusteuerte, htteMolotow gestanden bzw. wre Molotow verblieben. Doch Sinowjew undKamenew zogen Stalin vor, in Wirklichkeit nur wegen eines Symptoms: sie

    brauchten auf diesem Posten einen unbeugsamen Feind Trotzkijs.Viktor Tichomirnow wurde 1917 Mitglied des Innenministeriums und

    beschftigte sich hauptschlich mit strafrechtlich-administrativer Arbeit; 1919nach Kasan geschickt, um dort Ordnung zu schaffen, starb er offenbar amFlecktyphus.

    Sein jngerer Bruder German trat 1917 in die Partei ein. Bis 1921 diente er inder Armee, einige Zeit sogar als Tschekist in den Sonder-Abteilungen. Von dortging er mit einigen Anzeichen geistiger Abnormitt ab, wahrscheinlich war dietschekistische Arbeit nicht mehr so einfach. Als Molotow ins ZK kam,nahm er den Bruder seines Freundes zu sich ins Sekretariat, wo er viele Jahre

    als zweiter Gehilfe arbeitete. Mit Molotow stand er als alter Bekannter auf Du,aber Molotow hielt ihn kurz, fuhr ihm stndig ber den Mund und machte ihmVorwrfe.

    Durch besonderen Verstand zeichnete er sich nicht aus. Bei Molotow warer persnlicher Sekretr. Viel verantwortlichere Sachen als Tichomirnow hatteder erste Gehilfe Wassiljewskij zu erledigen, ein sehr gescheiter und sachlicherMann. German betrachtete sich als anerkannter Tschekist. Ich wunderte michanfnglich, weshalb er nicht auf Grund seines Postens im 1. Haus der Sowjets

    wohnte, sondern weiterhin im Loskuta blieb. Dann begriff ich. Molotow undWassiljewskij lieen im Loskuta, wo die gewhnlichen Mitarbeiter des ZK, dasihnen ntige Personal, lauter gescheitere Leute wohnten, bespitzeln. Germanfreundete sich mit ihnen an, kam zu ihnen in die Wohnung, studierte,durchleuchtete sie nach Tschekistenart und traf seine Entscheidungendarber, ob man ihnen trauen konnte. So ntzte auch die gescheite LeraGolubzowa ihre Bekanntschaft mit German aus und lie ihren Georgij durchdas Sekretariat des Organisationsbros (das Reich Molotows) emporklettern -

    und nicht mit geringem Erfolg.

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    Nach der Geschichte mit den Parteistatuten hielten sie auch nach mirAusschau und inspizierten mich. Bis Ende des Jahres arbeitete ich noch mitKaganowitsch und Molotow zusammen.

    Lasar Moissejewitsch Kaganowitsch zeichnete sich dadurch aus, da er einerder wenigen Juden war, die sich whrend der ganzen Stalinzeit an der Machthielten. Bei Stalins Antisemitismus war dies nur mglich, indem er sich von

    seinen Verwandten, Freunden und Bekannten vllig lossagte. So ist z. B.folgende Tatsache bekannt. Als Stalins Schergen gegen Kagano-witschs BruderMichail Moissejewitsch, den Minister fr Flugzeugindustrie, einen Prozezusammengebraut hatten und Stalin Lasar Kaganowitsch fragte, was er davonhalte, antwortete dieser - obwohl er natrlich genau wute, da man ohne diekleinste Grundlage einen Mord fabriziert hatte -, das sei Sache derUntersuchungsbehrden und gehe ihn nichts an. Vor seiner Verhaftungerscho sich Michail Kaganowitsch brigens.

    Lasar Kaganowitsch hatte sich kopfber in die Revolution gestrzt und reisteseit 1917 in revolutionren Angelegenheiten von Ort zu Ort. In Nischnij

    Nowgorod traf er mit Molotow zusammen, der ihn auf den Posten desVorsitzenden des Nowgoroder Gouvernements-Vollzugskomitees hievte.Diese Begegnung bestimmte seine weitere Laufbahn. Freilich nomadisierte ernoch und hielt sich in Woronesch und Mittelasien auf, aber schlielich wurde erVorsitzender des Zentralrates der Gewerkschaften der Sowjetunion. Von dortholte ihn Molotow 1922 als einen der Leiter der Organisationsabteilung desZK zu sich, wo auch sein rascher Aufstieg begann.

    Ein Umstand spielte in dieser Karriere eine nicht unwichtige Rolle. Im Jahre1922 sagte Lenin auf einer Versammlung des Politbros, indem er sich andessen Mitglieder wandte: Wir fnfzigjhrige Genossen (er hatte sich undTrotzkij im Auge) und ihr vierzigjhrige Genossen (alle brigen), mssen eineAblsung durch die Dreiigjhrigen und Zwanzigjhrigen vorbereiten: sieaussuchen und allmhlich fr leitende Arbeiten vorbereiten. Vorderhand

    beschrnkte man sich auf die Dreiigjhrigen und whlte zwei aus:Michailow und Kaganowitsch.

    Michailow zhlte damals 28 Jahre, war Kandidat des ZK und Sekretr desMoskauer Parteikomitees; im folgenden Jahr whlte man ihn zum Mitglied desZK und sogar zu dessen Sekretr. Aber das whrte nicht lange, weil sich alsbaldherausstellte, da die groen Staatsgeschfte ber Michai-lows Krfte gingen. So

    schob man ihn allmhlich auf kleinere Posten ab. Er war schlielich Leiter desDnjeproges (der Wasserkraftstation am Dnjepr). Im Jahre 1937 wurde erzusammen mit anderen erschossen, weil er 1929 so unvorsichtig gewesen war,

    fr Bucharin zu stimmen. Im allgemeinen gelang die von Lenin angeregte

    Ablsung nicht.

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    Kaganowitsch war viel fhiger. Indem er sich unbeirrbar an Molotow hielt,wurde er allmhlich mit diesem selber zu einem der Hauptstalinisten. Stalin warfihn von einem wichtigen Posten des Parteiapparates auf den anderen. Sekretrdes ZK der Ukraine, Sekretr des ZK der Allrussischen KP, Mitglied desPolitbros, erster Sekretr des Moskauer Parteikomitees, wieder Sekretr desZK der Partei, wenn ntig sogar Volkskommissar fr Verkehr - er kam allen

    Befehlen Stalins geflissentlich nach. Wenn er anfnglich noch ein Gewissenund andere menschliche Eigenschaften hatte, so gingen sie alle im Zuge seinerAnpassung an Stalins Forderungen verloren; er wurde wie Molotow einhundertprozentiger Stalinist. Deshalb gewhnte er sich an alles: selbst dieMillionen Opfer rhrten ihn nicht. Als jedoch nach Stalins Tod Chruschtschow,der sich zu dessen Lebzeiten auch allem angepat hatte, pltzlich aufwachteund mit Stalins Verurteilung auftrat, da wnschten Kaganowitsch, Molotow undMalenkow sehr charakteristisch kein anderes Regime als ein stalinistisches, in

    dem man die Schraubenmutter so fest andrehen konnte, da es weiter nichtmehr ging, da sie genau wuten, wie ruhig man bei einem solchen Regimeschlafen kann und da keinerlei Gefahren drohen; hingegen war ganzunbestimmt, was Chruschtschows Miniliberalisierung fr ihre geruhsamenSpitzenposten und das Regime selbst mit sich bringen wrde.

    In der zweiten Hlfte des Jahres 1922 arbeitete ich in KaganowitschsBehrde weiter. Molotow und Kaganowitsch begannen, mich als Sekretrverschiedener Kommissionen des ZK zu verwenden. In dieser Eigenschaft warich sowohl fr den einen wie fr den anderen ein gefundenes Fressen. Mir wardie Fhigkeit gegeben, schnell und genau formulieren zu knnen. Kaganowitsch,lebhaft und gescheit, begriff sogleich alles, beherrschte aber die Schriftsprachenicht. Ich war fr ihn sehr wertvoll. Aber noch wertvoller in den Kommissionenwar ich fr Molotow.

    Er war kein glnzender Mensch, sondern ein beraus arbeitsfhigerBrokrat, der von morgens bis nachts ohne Pause am Schreibtisch sitzenkonnte. Er mute viel Zeit auf Sitzungen verschiedener Kommissionenzubringen. In den Kommissionen kam es in der Sache selbst relativ schnell zur

    bereinstimmung, aber dann hob eine endlose Balgerei bei der Redigierung derBeschlsse an. Man versucht, einen Punkt zu formulieren - es regnetVerbesserungen und Einwnde; Streitigkeiten entstehen, in deren Verlauf manden Anfang der Formulierungen vergit und sich vllig verheddert.Bedauerlicherweise suchte Molotow, der sich auf die Sache sehr wohlverstand, stets mit groer Mhe nach den ntigen Formulierungen. Zum Glckfand ich schnell die erforderliche Linie. Sobald ich die Lsung gefunden hatte,hob ich die Hand. Molotow unterbrach sofort die Debatte. Hren wir. Ich

    trug die Formulierung vor, Molotow klammerte

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    sich geradezu an sie. Ja, das ist's, ja da haben wir ja, was wir brauchen.Schreiben Sie es sofort auf, sonst vergessen Sie es. Ich versicherte ihm, es nichtzu vergessen. Wiederholen Sie es noch einmal. Ich wiederholte es. Nun - dieSitzung war beendet, wieviel Zeit war damit gewonnen! Sie ersparen mir eineMenge Zeit, Genosse Baschanow, sagte Molotow. Der Erfolg war, da ich fast

    bei allen der zahllosen Kommissionen, denen er vorstand, als Sekretr fungieren

    mute, zumal das ZK stets mit Kommissionen arbeitete; fr jede wichtige Fragewurde nach flchtiger Beurteilung eine Kommission eingesetzt, die sowohl dieFrage analysierte als auch den endgltigen Text des Beschlusses ausarbeitete, derschlielich dem Organisationsbro zur Besttigung vorgelegt wurde.

    Eine der wichtigsten Kommissionen des ZK war die zirkularische. In allenwichtigen Fragen nahm das ZK Direktiven an und verschickte diese an diertlichen Organisationen. Das war ein Zirkular des ZK. Die Zirku-larkommission legte auch den Text dieser Zirkulare fest. Den Vorsitz fhrtemanchmal Molotow, manchmal Kaganowitsch. Ich war gewissermaen schonder besttigte Sekretr dieser (stndigen) Kommission. Ob nun die rtlichenParteiorganisationen eine Kampagne fr die Aussaat auf dem Land fhrenmuten oder die Umregistrierung der Partei und die Einfhrung neuerParteibilletts erfolgen sollte oder die Kampagne zur Aufnahme einer neuenAnleihe bevorstand, die Direktive erfolgte in Form eines Zirkulars.

    Ich interessierte mich bald fr diese Arbeit. Jeden Tag ergingen neueZirkulare. Welche von ihnen in Kraft blieben, welche veraltet waren, welchedurch den Gang der Ereignisse oder durch neue Beschlsse gendert werden

    muten, das wute niemand. Und wie sollten sich die rtlichen Organisationenin dieser Masse von Zirkularen zurechtfinden? Und wie sollte man aus diesenTausenden von Zirkularen jenes herausfinden, das man brauchte? Ich nhrtekeinerlei Illusionen hinsichtlich der Organisationsknste der rtlichenParteibrokraten. So begann ich damit, da ich die ganze Masse der Zirkularenahm und alles hinauswarf, was veraltet, gendert oder auer Kraft gesetztwar; alles dagegen, was geeignete, brauchbare Direktiven enthielt, sammelteich in einem Buch, sortierte es nach Fragen, Themen, Ressorts, Zeit und nach

    dem Alphabet. Mit einem Wort so, da man nach diesen Indicesaugenblicklich finden konnte, was man suchte. Dann ging ich damit zuKaganowitsch. Jetzt erwartete er von mir nur noch serise Dinge. Nicht ohneFrechheit fand ich einen Terminus, der ihn fesseln mute. GenosseKaganowitsch, ich schlage vor, eine Kodifizierung der Partei-Gesetzgebungdurchzufhren. Das klang sehr feierlich. Genosse Kaganowitsch war vondem Terminus berauscht. Er setzte die ganze Maschine in Gang. Molotow warauch sehr zufrieden. Es

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    ergab sich ein Buch von 400-500 Seiten, das den Titel Handbuch fr denParteiarbeiter bekam. Es wurde in der Druckerei des ZK hergestellt undsollte jhrlich erscheinen.

    Molotow ernannte mich zum Redaktionssekretr der Izvestija des ZK. DieseZeitschrift hatte - abgesehen vom Titel - mit der Tageszeitung Izvestija nichtszu tun. Die Izvestija des ZK sollte das Organ des inneren Parteilebens sein, der

    Redakteur war Molotow; und weil Molotow der Redakteur war, stellte dieZeitschrift ein ungewhnlich trockenes und langweiliges brokratischesErzeugnis dar. Es schlug sich darin berhaupt kein Leben der Partei nieder,sondern war mit Direktiven und Weisungen des ZK angefllt. Meine Arbeit alsSekretr gestaltete sich ebenfalls vllig brokratisch. Ich begann daher zuberlegen, wie ich von dieser langweiligen Kanzleiarbeit loskommen knnte, alsich pltzlich (pltzlich fr mich, denn Molotow und die anderen waren lngstinformiert darber) einen neuen wichtigen Posten bekam. Ende 1922 wurdeich zum Sekretr des Organisationsbros ernannt.

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    Sekretr des Organisationsbros

    Ich begann mich zu einem wichtigen Schrubchen in der staatlichen Partei-maschine zu entwickeln. Dabei ertrank ich in meiner Arbeit, vom wahrenLeben vllig abgeschnitten. Was im Lande geschah, erfuhr ich lediglich durchdas Prisma des Parteiapparates. Erst nach eineinhalb Jahren kam ich aus diesemPapierozean etwas heraus; dann hatte ich aber jegliche Information zur Hand,konnte Tatsachen und Daten zusammenstellen, konnte urteilen, Schlsseziehen und zu Ergebnissen kommen; und sehen, was tatschlich vor sich gingund wohin alles ging.

    Vorlufig nahm ich immer mehr Anteil an der Arbeit des zentralenParteiapparates. Er hatte immer weniger Geheimnisse vor mir.

    Was sind die Funktionen eines Sekretrs des Organisationsbros? Ichfungierte als Sekretr auf den Sitzungen des Organisationsbros und auf denSitzungen des ZK-Sekretariats; auerdem auf der Konferenz derAbteilungsleiter des ZK, die Materialien fr die Sitzungen des ZK-Sekretariatsvorbereitete; auerdem auf den Sitzungen der verschiedenen Kommissionendes ZK. Schlielich kommandierte ich das Sekretariat des Organisationsbros,worunter dessen Kanzlei zu verstehen ist.

    Nach den Statuten verlief das Wichtigskeitsgeflle der gewhlten Zen-tralorgane der Partei wie folgt: das Sekretariat (bestehend aus den dreiSekretren des ZK), ber ihm das Organisationsbro, darber das Politbro.Das Sekretariat des ZK war ein Organ, das sich im Proze schneller Evolution

    befand und offenbar mit Riesenschritten auf die absolute Macht im Landzusteuerte, aber nicht so sehr als Institution denn in der Person seinesGeneralsekretrs. In den Jahren 1917-1919 war der (rein technische)Sekretr des ZK die Genossin Stasowa gewesen, whrend den ziemlich

    rudimentren Apparat des ZK Swerdlow dirigierte. Nach dessen Tod im Mrz1919 waren bis Mrz 1921 Serebrjakow und Krestinskij die (halb technischen,halb verantwortlichen) Sekretre. Dann folgte Molotow nach, aber schon mitdem Titel eines verantwortlichen Sekretrs. Im April 1922 whlte dann dasPlenum des ZK drei Sekretre aus seinen Reihen, nmlich als GeneralsekretrStalin, als zweiten Sekretr Molotow und als dritten Michailow, der aber baldvon Kuibyschew abgelst wurde. Seitdem hielt das Sekretariat Sitzungen ab.

    Die Funktionen des Sekretariats waren in den Statuten nicht gut festgefegt.

    Hatte man, wie sich aus diesen ergab, das Politbro zur Lsung der

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    wichtigsten politischen Fragen geschaffen und das Organisationsbro zurLsung der organisatorischen, so oblag wohl dem Sekretariat, wenigerwichtige Fragen zu lsen oder wichtige Fragen fr das Organisations- undPolitbro vorzubereiten. Doch zum einen stand das nirgends geschrieben undzum andern hie es in den Statuten schlauerweise, da jeder Beschlu desSekretariats, wenn kein Mitglied des Organisationsbros gegen ihn protestiert,

    automatisch zum Beschlu des Organisationsbros wird, und jeder Beschludes Organisationsbros, gegen den kein Mitglied des Politbros protestiert,zum Beschlu des Politbros wird, also zum Beschlu des Zentralkomitees.Jedes Mitglied des ZK kann gegen einen Beschlu des Politbros vor demPlenum des ZK protestieren, was aber nicht dessen Vollzug aufhlt.

    Um es anders auszudrcken: stellen wir uns vor, da das SekretariatBeschlsse ber sehr wichtige politische Fragen fat. Vom Gesichtspunkt derinnerparteilichen Demokratie wie auch der Parteistatuten lt sich dagegennichts einwenden. Das Sekretariat usurpiert ja nicht die Rechte hhererInstanzen, die zudem diese Beschlsse jederzeit ndern oder verwerfenknnen. Wenn aber der Generalsekretr des ZK, wie 1926 der Fall, schon dieganze Macht in Hnden hlt, vermag er ganz ungeniert durch das Sekretariatzu kommandieren.

    So ist es auch tatschlich geschehen. Bis 1927/1928 hatten das Politbro undseine Mitglieder noch so viel Gewicht, um das Sekretariat von derleiVersuchen zurckzuhalten, aber ab 1928 war das Politbro derart von Stalinabhngig, da er es nicht mehr fr ntig hielt, anders als ber das Politbro zu

    regieren. Und nach einigen weiteren Jahren hatte sich sowohl das Politbro alsauch das Sekretariat in einfache Empfnger und Vollstrecker seiner Befehleverwandelt; und nicht der war an der Macht, der den hchsten Posten in derHierarchie einnahm, sondern jener, der ihm am nchsten stand; sein Sekretrwog mehr in dem Apparat als der Vorsitzende des Ministerrates oder ein

    beliebiges Mitglied des Politbros.Doch vorlufig stehen wir erst Anfang 1923. Auf den Sitzungen des

    Sekretariats fhrte der dritte Sekretr des ZK, Rudsutak, den Vorsitz, dem es

    schon gelungen war, Kuibyschew abzulsen, der wiederum vor seinerSekretariatszeit als Vorsitzender des ZK der Komintern fungiert hatte. Auf den

    Sitzungen waren Stalin und Molotow anwesend, denn nur die Sekretre des ZKhatten beschlieendes Stimmrecht. Mit dem Recht beratender Stimmen warenalle Abteilungsleiter des ZK anwesend: Kaganowitsch, Syrzow, Smidowitsch

    (Frauenabteilung) und die anderen; es waren ihrer nicht wenige, nmlich derGeschftsfhrer des ZK Ksenofontow, der Geschftsfhrer derFinanzabteilung Raskin, der Geschftsfhrer der Statistischen Abteilung

    Smitten, dann der Geschftsfhrer der neuen Infor-

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    mations- und Presseabteilung usw.; auerdem die wichtigsten Gehilfen der ZK-Sekretre. Rudsutak fhrte den Vorsitz gut und geschickt. Zu mir war er sehrnett und ftterte mich mit Bonbons; er hatte das Rauchen aufgegeben undlutschte dafr stndig an Sigkeiten.

    Auf den Sitzungen des Organisationsbros fhrte Molotow den Vorsitz. ZumOrganisationsbro gehrten die drei Sekretre des ZK, die Geschftsfhrer

    der wichtigsten Abteilungen des ZK, nmlich Kaganowitsch und Syrzow,ferner der Chef der Politischen Verwaltung des Revolutionren Militrrates (erbesa die Rechte einer Abteilung des ZK) und auerdem ein bis zweiMitglieder des ZK, die man persnlich in das Organisationsbro gewhlt hatte,am hufigsten der Sekretr des Zentralrates der Gewerkschaften derSowjetunion und der erste Sekretr des Moskauer Stadtkomitees.

    Stalin und Molotow waren daran interessiert, den Stab des Organisa-tionsbros mglichst klein zu halten, also nur mit ihren Leuten aus demParteiapparat zu besetzen. Der Grund dafr war, da das Organisationsbro frStalin eine Arbeit von immenser Bedeutung leistete, weil es die Parteiarbeiteraussuchte und verteilte. Erstens berhaupt fr alle Behrden, was relativunwichtig war, zweitens aber alle Arbeiter des Parteiapparates, die Sekretreund Hauptarbeiter in den Gouvernements-, Gebietsund Kreisorganisationender Partei, was enorm wichtig war, da sie beim nchsten Parteikongre Stalindie Mehrheit sicherten; darin bestand die hauptschlichste Voraussetzung zurErkmpfung der Macht. Diese Arbeit ging in energischem Tempo voran;erstaunlicherweise wandten Trotzkij, Sinowjew und Kamenew, in den Wolken

    der hheren Politik schwebend, diesen Machenschaften keine besondereBedeutung zu. Sie begriffen deren Wichtigkeit erst dann, als es schon zu sptwar.

    Das erste Organisationsbro wurde nach dem 8. Parteitag (Mrz 1919)gegrndet. Ihm gehrten Stalin, Beloborodow, Serebrjakow, die Stasowa undKrestinskij an. Wie aus diesem Personenstand hervorgeht, mute es sich mitder Organisation des technischen Parteiapparates und der Verteilung seinerKrfte beschftigen. Seitdem hatte sich alles gendert. Mit Stalins Ernennung

    zum Generalsekretr wurde das Organisationsbro seine Hauptwaffe zurAuslese seiner Leute und auf diese Weise zur Eroberung aller

    Parteiorganisationen in der Provinz.Molotow war schon ein alter Bekannter. Sehr zufrieden mit mir, setzte er mich

    wie frher zum Sekretr fr alle Kommissionen des ZK ein und beschleunigte

    damit meine durchdringende Kenntnis des Apparates.Da existierte z. B. die Budgetkommission des ZK, eine stndige Kommission

    brigens, deren Vorsitzender Molotow war, ich dagegen ihr Sekretr. Sie bestand

    aus den zwei Sekretren des ZK Stalin und Molotow (wobei

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    ich ersteren auf keiner einzigen Sitzung der Kommission gesehen habe) und demGeschftsfhrer der Finanzabteilung des ZK Raskin. Ich vergewisserte michschnell, da sowohl Raskin als auch ich nur deshalb an den Sitzungenteilnahmen, um Molotows Beschlsse niederzuschreiben. Gut, da Raskin nichtviel zu sagen hatte. Dieser russische Jude, schon als Kind aus Rulandemigriert und in sehr vielen Lndern herumgekommen, sprach ein derartiges

    Russisch, da man ihn kaum verstand. Wahrscheinlich auch in anderenSprachen. Die Mitarbeiter seiner Abteilung sagten: Raskin beherrscht alleSprachen, auer seiner eigenen.

    Einerseits beurteilte und besttigte die Budgetkommission die Kosten-voranschlge des ZK. Da waren die Geschftsfhrer der einzelnen Abtei-lungen anwesend und versuchten, ihre Interessen wahrzunehmen, whrendMolotow mit ihnen stritt, aber natrlich allein entschied. Andererseits ging eshier um gewaltige Summen, denn die Budgetkommission besttigte dieHaushalte aller auslndischen Kommunistischen Parteien. Zu den Sitzungenwurde aber nie ein Vertreter der Bruderparteien zugelassen, sondern nur derGeneralsekretr der Komintern Pjatnizkij. Molotow verteilte das himmlischeManna widerspruchslos und unwiderruflich, wobei mir die Vorstellungen, vondenen er sich dabei leiten lie, nicht immer klar waren. Die Finanztechnik zumUnterhalt der Kommunistischen Parteien erklrte mir freundlicherweise Raskinals versteckten Transfer aus den berschssen der Monopole desAuenhandels.

    Ich konnte mich auch schnell ber die Arbeit des sogenannten Parteige-

    wissens informieren, worunter man das Kollegium der Zentralen Kon-trollkommission zu verstehen hat.

    Im Lande herrschte Ordnung, die gesamte Bevlkerung befand sichrechtlos in den Klauen der GPU. Ein parteiloser Brger konnte jedenAugenblick verhaftet, verschickt, zu vielen Jahren Kerker oder zum Tode durchErschieen verurteilt werden, ohne sich dagegen wehren zu knnen. DochParteimitglieder konnte die GPU 1923 noch nicht verhaften, das kam erst acht

    bis zehn Jahre spter. Wenn ein Parteimitglied gestohlen, einen Mord

    begangen oder die Parteigesetze verletzt hatte, mute ihn zuerst die rtlicheKontrollkommission verurteilen, whrend fr hhere Parteimitglieder dieZentrale Kontrollkommission einige ihrer Mitglieder fr diese Aufgabedelegierte. In die Hnde des Gerichts oder in die Klauen der GPU fiel einKommunist erst dann, wenn er von dem Parteikollegium aus der Parteiausgeschlossen wurde. Davor zitterten die Kommunisten. Eine der hufigstenDrohungen lautete: Wir werden Ihre Sache der ZentralenKontrollkommission bergeben.

    Auf den Sitzungen dieses Parteikollegiums richteten und verurteilten ein paaralte Komdianten vom Schlag eines Solz, wobei sie Phrasen von der

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    hohen Moral der Parteimitglieder droschen und das Gewissen der Parteimimten. In Wirklichkeit gab es jedoch zwei Ordnungen. Die eine, wenn es umkleine Fische und rein kriminelle Dinge ging, etwa Diebstahl; dann brauchteSolz nicht gro Komdie zu spielen. Die andere, wenn es sich um hhereParteimitglieder handelte. Da trat schon der niemandem bekannteInformationsapparat der GPU in Erscheinung. Er wirkte vorsichtig, mit Hilfe

    und unter Beteiligung der GPU-Mitglieder Peters, Lazis und Man-zew, dieman als Fachleute eigens zu Mitgliedern der Zentralen Kontrollkommissiongemacht hatte. Wenn es um oppositionelle Parteimitglieder ging oder umGegner der Stalingruppe, gelangten die Informationen der GPU - egal, obrichtig oder speziell zur Kompromittierung des Betreffenden erfunden -unsichtbar und auf geheimen Wegen ber den Geschftsfhrer des ZKKsenofontow (einen alten Tschekisten) und seinen Stellvertreter Brisanowskij(auch ein Tschekist) in Stalins Sekretariat zu seinen Gehilfen Kanner undTowstucha. Darauf erfolgte ebenso geheim die Weisung an die ZentraleKontrollkommission, was zu tun sei; nmlich auszuschlieen aus der Parteioder abzusetzen von verantwortlicher Arbeit oder ein strenger Verweis mitVerwarnung usw. Es war dann Sache des Parteikollegiums, eineentsprechende Beschuldigung zu finden und zu begrnden. Das war berhauptnicht schwer, selbst wenn es um Nichtigkeiten ging, jemanden zu schikanierenund zu schurigeln. Da hat z. B. ein Parteimann einen Artikel fr eine Zeitschrift

    verfat und dafr 30 Rubel Honorar ber das parteibliche Maximumbekommen. Solz spielt deshalb eine derart hysterische Szene, da man sich im

    Knstlertheater whnt. Mit einem Wort, wenn Solz oder Jaroslawskij vonKanner ihre Direktiven bekommen haben, spielen sie verrckt und regen sichauf, wie ein Kommunist es wagen kann, derart die Reinheit des Parteigewandeszu besudeln, und fllen das Urteil, das sie diktiert bekommen haben. AufKanner und Stalins Sekretariat werden wir noch zu sprechen kommen.

    Doch in den Statuten gibt es einen Paragraphen: die Beschlsse derKontrollkommission mssen mit den entsprechenden Entscheidungen desParteikomitees bereinstimmen, die Beschlsse der Zentralen Kontroll-

    kommission also mit denen des ZK der Partei. Dem entsprach die folgendePraxis.Wenn die Sitzungen des Organisationsbros beendet waren und die

    Mitglieder ihrer Wege gingen, blieb ich mit Molotow zurck, der sich dieProtokolle der Zentralen Kontrollkommission ansah. Sie enthielten eine langeListe von Beschlssen ber verschiedene Angelegenheiten. Nehmen wir dieStelle: Sache des Genossen Iwanow ber die und die Beschuldigungen.Beschlu: Genosse Iwanow ist aus der Partei auszuschlieen oder Genossen

    Iwanow drei Jahre lang die Ausbung verantwortlicher

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    Ttigkeit verbieten. Molotow, der alle dem Parteikollegium erteiltenDirektiven kannte, machte ein Hkchen. Ich schrieb darauf ins Protokoll desOrganisationsbros: Stimmt mit den Beschlssen der Zentralen Kon-trollkommission in Sachen des Genossen Iwanow (Protokoll vom soundso-

    vielten) berein usw. Doch an einer anderen Stelle war Molotow mit demUrteil nicht einverstanden. Die Zentrale Kontrollkommission hatte, sagen wir,

    einen strengen Verweis beschlossen. Molotow strich es aus und schrieb:Aus der Partei auszuschlieen. Ich trug ins Protokoll desOrganisationsbros ein: In der Sache des Genossen Iwanow der ZentralenKontrollkommission vorschlagen, ihren Beschlu vom soundsovielten indiesem und diesem Punkt zu revidieren. Solz rief nach Erhalt des Protokolls

    jedes Mal an und fragte: Welcher Beschlu also? Ich sagte ihm, wasMolotow geschrieben hatte. Und im nchsten Protokoll der ZentralenKontrollkommission hie es: Nach Revision ihres Beschlusses vomsoundsovielten beschliet das Parteikollegium der Zentralen Kon-trollkommission in Anbetracht der vorgebrachten Beschuldigungen: GenossenIwanow aus der Partei ausschlieen. Begreiflich, da das Organisationsbro(d. h. Molotow) diesem Beschlu zustimmte.

    Meine Kanzlei bestand aus einem Dutzend streng gesiebter und ergebenerMitarbeiter. Die ganze Arbeit des Organisationsbros galt als geheim (die desPolitbros als streng geheim). Um die Geheimnisse auf einen mglichstkleinen Personenkreis zu beschrnken, wurde am Personal gespart. Die Folgewar eine starke berlastung der Mitarbeiter, so da sie praktisch kein

    Privatleben hatten. Die Arbeit begann um 8 Uhr, man a schnell irgend etwasund irgendwie am Arbeitsplatz, um 1 Uhr nachts war Feierabend. Trotzdemkamen wir mit der Arbeit nicht zurecht, in dem Papierozean unseresOrganisationsbros herrschte ein vlliges Durcheinander, man konnte nichtsfinden, die Papiere waren nach der vorsintflutlichen Methode ihres Ein- undAusganges registriert. Wenn das Sekretariat des ZK irgendeine Unterlage

    brauchte oder ein Dokument aus dem Archiv, begannen stundenlangeSuchereien in dem Archivmeer.

    Ich sah, da diese Organisation nichts wert war. So gab ich sie ganz auf undfhrte mehrere Kartotheken ein mit Eintrag eines jeden Schriftstckes nach dreiverschiedenen alphabetischen Indices. Allmhlich gelangte alles an seinenPlatz. Im Laufe von ein paar Monaten war jedes Schriftstck, das vomSekretariat des ZK verlangt wurde, sptestens in einer Minute unterwegs zuihm; die Abteilungen des ZK, die es bisher als hoffnungslos betrachtet hatten,sich ans Sekretariat des Organisationsbros zu wenden, konnten sich nichtgenug ber die Schnelligkeit wundern, mit der pltzlich alles vonstatten ging.

    Molotow war beraus zufrieden und verkndete berall mein Lob. Doch ohnesich dessen bewut zu werden, bereitete er

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    selber meinen Verlust vor. Im Sekretariat des Politbros herrschte ein nochschlimmeres Durcheinander, und Stalin begann darber nachzudenken, da esnicht schlecht wre, wenn ich auch dort Ordnung schaffte. Doch das war keineso einfache Sache, wie wir noch sehen werden.

    Die Folgen fr das Personal meiner Kanzlei waren vllig unerwartet. Zuerstprotestierten alle energisch gegen meine Reformen und beklagten sich bei den

    Sekretren des ZK, da man mit mir nicht arbeiten knne. Als ich dieReorganisation dennoch mit fester Hand durchfhrte und die Ergebnisse aufder Hand lagen, verstummten die Proteste allmhlich. Bisher hatten sie denganzen Tag mit Nichtigkeiten wegen der langen und fruchtlosen Suchaktionenzugebracht. Jetzt ging die Arbeit schnell und genau vonstatten, die Arbeitslastverringerte sich. Meine Mitarbeiter kamen um neun und gingen zwischen fnfund sechs Uhr. Sie verfgten jetzt ber Freizeit und konnten sich einPrivatleben leisten. Waren sie zufrieden? Im Gegenteil. Bisher waren sie inihren eigenen Augen mit der Gloriole der Mrtyrer und einer geistigen Eliteversehen, die sich der Partei zum Opfer brachte. Jetzt waren sieKanzleibedienstete eines gut eingespielten Apparates, aber sonst nichts mehr.Ich fhlte deutlich, wie enttuscht alle waren.

    Ich arbeitete in stndigem Kontakt mit Molotows Sekretren und hatte auchschon einigen Kontakt mit Stalins Sekretren.

    An der Spitze von Molotows Sekretariat stand sein erster SekretrWassiljwskij. Das war ein sehr flinker und energischer Mann, gescheit undarbeitsam, doch beraus mager. Er organisierte Molotows ganze Arbeit und

    fand sich schnell in allen Dingen zurecht. Mit Molotow duzte er sich und genodessen volles Vertrauen. ber seine Vergangenheit konnte ich nichts inErfahrung bringen. Er war offenbar ein ehemaliger Offizier aus der Zarenzeit,vielleicht Leutnant. Gleich nach der Oktoberrevolution war er(bolschewistischer) Stabschef des Moskauer Militrbezirks. Als ich 1926 ausdem ZK ausschied, verlor ich seine Spur, spter habe ich nie mehr etwas gehrtvon ihm.

    Der zweite Gehilfe Molotows war German Tichomirnow, von dem ich schon

    gesprochen habe. Er war der eigentliche Privatsekretr. Das Pulver hatte ernicht erfunden, ich wunderte mich, wie Molotow mit einem solchenPrivatsekretr zurechtkam. Der dritte und vierte Gehilfe waren aber auch nicht

    besser. Molotow war von Tichomirnows Arbeit nicht begeistert, duldete ihnaber aus den bekannten Grnden. Erst zwei-drei Jahre spter ernannte er ihn

    zum Leiter des Zentralen Parteiarchivs beim ZK; er hatte aber nur harmloseBestnde zu verwalten, da sich alle wichtigen Dokumente in Stalins Sekretariatund bei Stalins Sekretr Towstucha befanden.

    Durch die Zusammenarbeit mit Molotow lernte ich die Parteispitze

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    immer besser kennen. So begann ich allmhlich, den eigentlichen Kern desstattfindenden Kampfes um die Macht zu verstehen.

    Nach der Revolution und whrend des Brgerkrieges war die Zusam-menarbeit zwischen Lenin und Trotzkij ausgezeichnet gewesen. Bei Ende desBrgerkrieges im November 1920 betrachteten das Land und die Partei Leninund Trotzkij als die Fhrer der Revolution, weit vor allen brigen

    Parteigren. In Wirklichkeit hatte den Krieg die ganze Zeit ber Leningefhrt. Land und Partei wuten dies zu wenig und waren geneigt, den Sieghauptschlich Trotzkij zuzuschreiben, dem Organisator und Haupt der RotenArmee. Diese Position Trotzkijs pate Lenin nicht, er sah die ernste undgefhrliche Wendung beim bergang zum friedlichen Aufbau voraus. Um sichdabei die Fhrung zu sichern, mute er sich die Mehrheit in den zentralenFhrungsgremien der Partei - dem ZK - sichern. Auch bis zur Revolution undim Jahre 1917 hatte sich Lenin in der von ihm geschaffenen Partei oftmals in derMinderheit befunden und die Mehrheit wieder mit groer Mhe erkmpfenmssen. Und nach der Revolution wiederholte sich das. Man braucht sich z. B.nur daran zu erinnern, welche Niederlage er im ZK in einer so wichtigen Fragewie dem Brest-Litowsker Frieden mit Deutschland erlitt, wo er ebenfalls in derMinderheit blieb.

    Lenin wollte sich also garantiert die Mehrheit sichern. Eine mglicheBedrohung der Fhrerschaft sah er nur von Seiten Trotzkijs. Ende 1920 in derDebatte ber die Gewerkschaften bemhte er sich, Trotzkijs Position zuschwchen und dessen Einflu zu schmlern. Lenin forcierte noch sein Spiel,

    indem er Trotzkij in der Geschichte mit dem Transportwesen in eine dummeLage brachte. Man mute eilends das zerstrte und darniederliegendeEisenbahnwesen in Ordnung bringen. Lenin wute genau, da Trotzkij freine solche Aufgabe der denkbar ungeeignetste Mann war und da er auchkeinerlei objektive Mglichkeiten hatte, sie zu erfllen. Dennoch ernannteman ihn zum Volkskommissar des Verkehrswesens. Trotzkij machte sichenthusiastisch, pathetisch, rhetorisch ans Werk, ganz nach seinem Gehabe alsrettender Volkstribun. Doch es kam dabei nichts heraus als Konfusion.

    Trotzkij gab mit dem Gefhl eines Fiaskos auf.Im ZK organisierte Lenin die Gruppe seiner engsten Helfer aus demTrotzkij-feindlichen Lager. Das waren Sinowjew und Stalin. SinowjewsFeindschaft stammte aus dem Herbst 1919, als der erfolgreiche AngriffJudenitschs auf Petrograd Sinowjew derart in Panik versetzte, da er jeglicheFhigkeit verlor, irgend etwas zu tun; da kam Trotzkij, bereinigte die Lage undtraktierte Sinowjew mit Verachtung. Seitdem haten sie einander. Nichtweniger hate Trotzkij Stalin. Whrend des ganzen Brgerkrieges war Stalin

    als Mitglied des Revolutionren Militrrates verschiedener Armeen undFronten Trotzkij unterstellt gewesen. Dieser

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    verlangte Disziplin, Ausfhrung der Befehle und die Verwendung militrischerSpezialisten, Stalin sttzte sich auf rtliche, undisziplinierte Freiwillige,kmmerte sich whrend der ganzen Zeit keinen Deut um das Oberkommandound konnte Trotzkij als Juden nicht ausstehen. Lenin mute stndig denSchiedsrichter spielen, wenn Trotzkij ber Stalin herfiel.

    Kamenew, der keine persnlichen Grnde fr eine Feindschaft Trotzkij

    gegenber hatte, auch weniger zu Intrigen geneigt war, hatte sich Sinowjewangeschlossen und folgte dessen Spuren. Lenin schob nun die ganze Gruppestark in den Vordergrund. So stellte er Sinowjew an die Spitze der Komintern(Trotzkij nahm das damals ruhig hin, weil er auf einem viel wichtigeren Postenstand), machte Kamenew zu seinem ersten und hauptschlichsten Gehilfen imRat der Volkskommissare und bertrug ihm mit dem Arbeits- undVerteidigungsrat auf dem Aprilplenum des ZK 1922 faktisch die obersteLeitung ber die Wirtschaft des Landes. Er hatte nicht einmal dagegen etwaseinzuwenden, als ihm Kamenew nach einer Idee Sinowjews vorschlug, Stalinzum Generalsekretr des ZK zu machen, obwohl er diesen gut kannte. Sosicherte diese Gruppe im Mrz-April 1922 Lenin die Mehrheit, ohne aus ihrerBotmigkeit entlassen zu werden, whrend Trotzkij aufgehrt hatte,gefhrlich zu sein.

    Doch am 25. Mai 1922 trat ein unerwartetes Ereignis ein, das alles nderte,Lenins erster Schlaganfall. Er hatte in den letzten Jahren schon des ftern dasBett hten mssen. Im August 1918 wurde er durch das Attentat der FannyKaplan verwundet, im Mrz 1920 war er sehr krank, auch von Ende 1921 bisMrz 1922 ging es ihm so schlecht, da er nicht arbeiten konnte. Mittlerweilehatte er sich aber erholt, am 27. Mrz 1922 gab er auf dem Parteikongre den

    politischen Rechenschaftsbericht des ZK und hielt alles in Hnden. DerSchlaganfall brachte nun die Karten durcheinander. Bis Ende Oktober warLenin praktisch nicht geschftsfhig, und nach Meinung der rzte (geheim frdie Mitglieder des Politbros, nicht fr das Land) war es der Anfang vom Ende.Gleich nach dem Schlaganfall organisierten Sinowjew, Kamenew und Stalin ihreTroika, um ihren Hauptrivalen Trotzkij auszuschalten. Aber sie nahmen noch

    nicht den Kampf gegen ihn auf, weil sich Lenin wider Erwarten im Juni ziemlichrasch erholte und Anfang Oktober wieder seine Arbeit aufnahm. Er trat am 20.sogar im Plenum des Moskauer Sowjets auf und hielt noch am 3. Novemberein Referat auf dem 4. Kongre der Komintern. Whrend dieser Rckkehrnahm er wieder alles in die Hnde und schalt Stalin wegen seiner Nationali-ttenpolitik, der im Entwurf der vorbereiteten Verfassung die Schaffung einerRussischen Sozialistischen Sowjetrepublik befrwortete und damit eine mehrzentralistisch russifizierende, whrend Lenin eine Union der Sozialistischen

    Sowjetrepubliken forderte, da er darin die Mglichkeit

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    eines Beitrittes auch anderer Lnder nach Revolutionserfolgen in Ost undWest sah. Auch schickte sich Lenin an, Stalin wegen seines (und seinerMitstreiter Ordschonikidse und Dserschinski) Konflikts mit dem ZK Gru-siniens zu tadeln, kam aber nicht mehr dazu. Im Oktober 1922 nahm dasPlenum des ZK ohne Lenin Beschlsse an, die das Monopol des Auen-handels schwchten. Im Dezember lehnte Lenin, noch einmal zurckgekehrt,

    auf einem neuen Plenum diese Oktoberbeschlsse ab. Es schien, als hielte erwieder alles in Hnden; deshalb kehrte auch die Troika wieder in die Rolleseiner engsten Gehilfen und Vollstrecker zurck.

    Doch die rzte behielten recht, die Besserung war n