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Emotionales Bewegtsein, Gänsehaut und die Kraft poetischerSprache
Being moved, goosebumps and the power of poetic language
Menninghaus, Winfried; Wassiliwizky, Eugen
Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Seit der antiken Poetik gilt es als ein Hauptziel der Künste, ihre Hörer, Leser oder Betrachter emotional zu
bewegen (lat. movere). Die hier berichteten Studien definieren „emotionales Bewegtsein“ und weisen seine
Rolle in ästhetischer Wertung nach. Höhepunkte des Bewegtseins, die von Gänsehaut begleitet sind, zeigen
eine parallele Aktivierung des primären Belohnungssystems und negativer Gefühlsindikatoren und damit eine
„gemischte“ Affektivität dieses Gefühls. Die Verteilung von Gänsehautmomenten über das Lesen von
Gedichten enthüllt zugleich kompositorische Geheimnisse poetischer Sprache.
Summary
Ever since antiquity, it is a declared goal of the arts to emotionally move its audience (lat. movere). The studies
reported here offer a scientific definition of feelings of being moved and prove its role in aesthetic evaluation.
Confirming a "mixed" affective nature of these feelings, goosebumps – which accompany peak states of being
moved – simultaneously activate the primary reward network and high levels of negative affect as measured
by facial electromyography (EMG). Moreover, the distribution of goosebumps episodes across the trajectory of
poems reveals secrets of artistic composition.
Was ist emotionales Bewegtsein?
In der modernen Psychologie ist das Gefühl des emotionalen Bewegtseins kaum untersucht worden. Vor
unseren Untersuchungen zur bewegenden Kraft von Kunstwerken mussten wir deshalb zunächst definieren,
was emotionales Bewegtsein überhaupt ist [1]. Extrem knapp formuliert: Emotionales Bewegtsein aktiviert
regelmäßig prosoziale Gefühle und Selbstideale. Zu den auslösenden Szenarien gehören kritische
Lebensereignisse (Tod, Geburt usw.), bedeutsame Beziehungsereignisse (Hochzeit, Trennung, Versöhnung),
politische Ereignisse von großer Bedeutung und eben Kunstwerke. Subjektiv wird Bewegtsein als weitend,
erhebend, rund, warm und angenehm erlebt. Intensive Grade gehen mit Tränen, Gänsehaut und
Schauergefühlen einher.
Eine große Fülle emotional bewegender Erlebnisse kann zwei Grundtypen zugeordnet werden: freudigem und
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traurigem Bewegtsein. In beiden Grundtypen sind freudige und traurige Gefühlsanteile in umgekehrter
Gewichtung enthalten. So schwingt etwa nach längerer Trennung eines Paares noch in der Freude der
Versöhnung eine Erinnerung an die vorausgehende Entzweiung mit. Umgekehrt sind Beerdigungen nur dann
bewegend, wenn sie neben der Trauer über einen großen Verlust zugleich positive Gefühle der Hochschätzung
des Verstorbenen und eines sozialen Bandes unter den Trauernden aktivieren.
Was hat dies alles aber mit Ästhetik zu tun?
Emotionales Bewegtsein korreliert mit positiven ästhetischen Bewertungen von Filmen
In einer Studie zu traurigen Film-Clips [2] konnten wir zeigen, dass hohe Werte für Bewegtsein hochgradig
positiv mit ästhetischer Wertschätzung korrelieren: Einen Film, der uns emotional bewegt, empfinden wir in
der Regel als einen „guten“, uns gefallenden Film.
Auch Gefühle der Traurigkeit, die von den Studienteilnehmern berichtet wurden, korrelierten positiv mit der
Zuschreibung hoher ästhetischer Qualität. Eine Mediationsanalyse ergab jedoch, dass Gefühle der Traurigkeit
nicht direkt und als solche zu ästhetischer Wertschätzung beitragen, sondern nur, indem sie Gefühle des
Bewegtseins verstärken.
Dieser Fund eröffnet eine neue Perspektive auf das viel diskutierte Paradox der Lust an negativen Gefühlen:
Emotionales Bewegtsein spielt eine zentrale vermittelnde Rolle für die Möglichkeit, auch negative Gefühle
lustvoll zu erleben.
Emotionales Bewegtsein ist sensitiv für ästhetische Qualitäten poetischer Sprache
Eine hohe statistische Korrelation mit ästhetischer Wertschätzung ist allerdings noch kein Beweis dafür, dass
emotionales Bewegtsein tatsächlich sensitiv für relevante ästhetische Qualitäten ist. Um auch dies zeigen zu
können, haben wir eine Studie mit 20 traurig und 20 freudig bewegenden Gedichten durchgeführt [3]. Wir
gingen dabei von Roman Jakobsons Hypothese [4] aus, dass poetischer Sprachgebrauch eine ungewöhnliche
Menge parallelistischer Merkmale aufweist. Parallelismen sind linguistisch optionale Rekurrenzmuster auf allen
Ebenen der Sprache (Phonologie/Prosodie, Syntax, Semantik). Gedichte enthalten eine Vielzahl solcher Muster,
darunter Metrum, Reim, Alliteration, Anapher, Assonanz usw. Unsere experimentelle Modifikation der Gedichte
entfernte viele dieser parallelistischen Merkmale bei gleichzeitiger Wahrung nicht nur des Inhalts, sondern
auch anderer charakteristischer Merkmale von Gedichten.
Das Resultat: Die Gedichte in der originalen, hochgradig parallelistischen Diktion wurden nicht nur als schöner,
intensiver und melodischer bewertet als die modifizierte Version, sie ließen auch stärkere Gefühle von
Bewegtsein, Freude, Traurigkeit und positivem Affekt erleben. Emotionales Bewegtsein durch Kunstwerke wird
also keineswegs hinreichend durch zugrundeliegende Auslöse-Szenarien erklärt (die ja in den originalen und
modifizierten Gedichten gleich sind). Die Kraft der poetischen Sprache selbst ist ein wichtiger zusätzlicher
Faktor. Insofern ist emotionales Bewegtsein in Kunstkontexten tatsächlich (auch) ein genuin „ästhetisches
Gefühl“.
Physiologische Korrelate intensiven Bewegtseins
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Abb. 1: Messung psychophysiologischer Korrelate beim Hörenvon Gedichten.
© Eugen Wassiliwizky
In einer weiteren Gedichtstudie untersuchten wir physiologische Korrelate intensiven Bewegtseins. Frühere
Forschungen hatten gezeigt, dass emotionale Höhepunkte des Musikhörens von chills (Schauergefühlen)
beziehungsweise Gänsehaut begleitet sein können [5-7]. Wir konnten nachweisen, dass diese peak emotional
responses charakteristisch für besonders intensive Momente emotionalen Bewegtseins sind [8]. In der
Annahme, dass poetische Sprache ebenfalls solche starken physiologischen Effekte bewirken kann, zeichneten
wir neben Hautleitwert und Herzfrequenz (Abb. 1A) auch die Gänsehaut mittels einer eigens dafür
entwickelten Kamera auf (Abb. 1B). Zusätzlich erfassten wir die Aktivität zweier Gesichtsmuskeln, die dem
Stirnrunzeln (Musculus corrugator supercilii) beziehungsweise Lächeln (Musculus zygomaticus major) zugrunde
liegen und deren Aktivierungsgrad – auch ohne im Gesicht erkennbare Veränderungen – als Anzeige
negativen und positiven Affekts gilt (Abb. 1C).
Die Daten von zwei Studien mit insgesamt 57 Studienteilnehmern belegen, dass poetische Sprache tatsächlich
die Kraft hat, Gänsehaut auszulösen. In solchen Momenten waren Hautleitwert und Herzschlagfrequenz
deutlich erhöht. Auch der Corrugator-Muskel (Stirnrunzel-Muskel) war signifikant stärker aktiviert, was auf
erhöhten negativen Affekt hinweist. Da wir in einer anschließenden Studie mittels funktioneller
Magnetresonanztomografie (fMRT) mit denselben Teilnehmern und Gedichten nachweisen konnten, dass die
chills – wie im Fall der Musik – das primäre Belohnungssystem involvieren, erscheint gleichzeitig gefühlter
negativer Affekt auf den ersten Blick kontraintuitiv. Unser Modell des emotionalen Bewegtseins kann jedoch
das scheinbare Paradox erklären, denn es definiert dieses Gefühl ja durch charakteristische Koaktivierungen
positiver und negativer Gefühlsanteile. Wie es scheint, setzt die Präsenz eines negativen Affektanteils beim
Lesen emotional bewegender Gedichte den positiven nicht herab, sondern verstärkt sogar die Intensität des
Erlebens. Damit leistet auch diese Studie einen Beitrag zur Erklärung der Lust an negativen Gefühlen in der
Kunstrezeption.
Was verrät die Erforschung physiologischer Wirkungen über dichterische Sprache?
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Abb. 2: Heatmap eines der verwendeten Gedichte. JedesRechteck symbolisiert ein Wort. Die Sättigung der Farbe zeigtan, wie viele Gänsehautmomente (0 bis 16) das jeweiligeWort in einer der Studien bei insgesamt 27 Teilnehmernausgelöst hat.© Eugen Wassiliwizky
Gänsehautmomente beziehungsweise chills wurden in unseren Studien bevorzugt am Ende einzelner Verse,
einzelner Strophen und vor allem des ganzen Gedichts erlebt (Abb. 2). Warum diese Endlastigkeit? Die
Antwort liegt in kompositorischen Merkmalen von Gedichten begründet. Poetische Metren (regelhafte Abfolge
von betonten und unbetonten Silben im Vers, oft verbunden mit geregelter Anzahl der betonten Silben)
erwecken starke Erwartungshaltungen beim Rezipienten. Das Vorhersagesystem im Gehirn (das große
Überlappung mit dem Belohnungssystem aufweist) prüft kontinuierlich, inwiefern ein Gedicht die Erwartungen,
die es selbst aufbaut, erfüllt oder verletzt. Besonders stark sind diese Erwartungen an Schlusspositionen, da
diese das Auftreten der Zäsur oder gar des Gedichtendes antizipieren und oft durch das Reimschema
zusätzlich verstärkt werden. Auch die inhaltliche Choreographie von Gedichten trägt zu Erwartungen an eine
finale Lösung oder Zuspitzung bei. Dichter wissen offenbar mit solcher Kraft auf der Klaviatur unserer Gefühle
und Erwartungen zu spielen, dass sie uns insbesondere am Ende von Spannungsbögen – nahe den Stellen,
denen in der antiken Rhetorik als Coda beziehungsweise Klausel eine entscheidende Rolle zugesprochen
wurde – einen Schauer über den Rücken laufen lassen.
Hinweis: Die hier berichteten Studien zur Gänsehaut sind noch nicht veröffentlicht.
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