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Das grosse Komplott Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie haben Verschwörungstheorien Konjunktur. Selbst ganz normale Menschen geraten in ihren Sog. Was treibt sie um? Von Sebastian Kempkens Fotos: Roman Pawlowski, Die Zeit Nr. 21, 13. Mai 2020 Die Verwandlung des Kochs und Bestseller-Autors Attila Hildmann in einen Anführer der Verschwörungstheoretiker beginnt einige Tage bevor Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Bundesländer beschließen, das Land herunterzufahren. Es ist Mitte März – noch gibt es keine Kontaktsperre, noch sind öffentliche und private Feiern erlaubt, noch haben auch Geschäfte geöffnet, die nicht der Grundversorgung dienen. Es gibt aber auch: Meldungen von überfüllten Leichenhäusern in Italien, von einer landesweiten Ausgangssperre in Frankreich. In Bayern wird Personen, die sich in einem Risikogebiet aufgehalten haben, der Zugang zu Krankenhäusern und Pflegeheimen untersagt. Attila Hildmann sitzt in seinem Büro in Berlin-Charlottenburg und schaut auf sein iPhone. Wie so oft in diesen Tagen liest Hildmann die Nachrichten. Dabei hätte der 39-Jährige eigentlich genug zu tun. Seine Firma »Attila Hildmann Empire « macht gerade Rekordumsätze. Hildmann verkauft Bio-Lebensmittel, Nuss-Nougat-Creme, vegane Bolognese, Chili sin Carne. Es ist die Zeit der Hamsterkäufe, Edeka, Kaufland und die Reformhäuser fragen immer mehr seiner Produkte nach. Hildmann, so könnte man sagen, ist ein Gewinner der Corona-Krise. Zumindest bis zu jenem Tag. Dem Tag, an dem Hildmann auf ein Video klickt, von dem er heute sagt, dass es bei ihm eine Veränderung angestoßen hat. »Ich habe immer mehr gecheckt, was in Deutschland vor sich

bdwr.files.wordpress.com  · Web view2020. 5. 14. · Das grosse Komplott. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie haben Verschwörungstheorien Konjunktur. Selbst ganz normale Menschen

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Das grosse Komplott

Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie haben Verschwörungstheorien Konjunktur. Selbst ganz normale Menschen geraten in ihren Sog. Was treibt sie um?

Von Sebastian Kempkens Fotos: Roman Pawlowski, Die Zeit Nr. 21, 13. Mai 2020

Die Verwandlung des Kochs und Bestseller-Autors Attila Hildmann in einen Anführer der Verschwörungstheoretiker beginnt einige Tage bevor Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Bundesländer beschließen, das Land herunterzufahren. Es ist Mitte März – noch gibt es keine Kontaktsperre, noch sind öffentliche und private Feiern erlaubt, noch haben auch Geschäfte geöffnet, die nicht der Grundversorgung dienen. Es gibt aber auch: Meldungen von überfüllten Leichenhäusern in Italien, von einer landesweiten Ausgangssperre in Frankreich. In Bayern wird Personen, die sich in einem Risikogebiet aufgehalten haben, der Zugang zu Krankenhäusern und Pflegeheimen untersagt. Attila Hildmann sitzt in seinem Büro in Berlin-Charlottenburg und schaut auf sein iPhone.

Wie so oft in diesen Tagen liest Hildmann die Nachrichten. Dabei hätte der 39-Jährige eigentlich genug zu tun. Seine Firma »Attila Hildmann Empire « macht gerade Rekordumsätze. Hildmann verkauft Bio-Lebensmittel, Nuss-Nougat-Creme, vegane Bolognese, Chili sin Carne. Es ist die Zeit der Hamsterkäufe, Edeka, Kaufland und die Reformhäuser fragen immer mehr seiner Produkte nach. Hildmann, so könnte man sagen, ist ein Gewinner der Corona-Krise. Zumindest bis zu jenem Tag. Dem Tag, an dem Hildmann auf ein Video klickt, von dem er heute sagt, dass es bei ihm eine Veränderung angestoßen hat. »Ich habe immer mehr gecheckt, was in Deutschland vor sich

geht«, erzählt er. »Ich habe verstanden, was für dunkle Mächte unser Land zerstören wollen.«

An einem Tag im Mai sitzt Hildmann in seinem Restaurant, in Jogginghose und Kapuzenpullover, an einer Kette baumelt ein blauer Edelstein. An den Wänden stehen aufeinandergestapelte Tische und Stuhle, in der Küche brät ein Koch Burger für die Kunden, die draußen auf einer Bank auf ihr Takeaway-Essen warten. Hildmann sieht müde aus, aber wach genug, um darüber zu sprechen, was ihn seit Wochen nicht mehr loslässt: die Verschwörung.

Was mit dem Unternehmer in den letzten Wochen passiert ist, lässt sich nicht leicht begreifen. Vielleicht begreift er es nicht einmal selbst. Aus Sorge darüber, was aus der Gesellschaft in der Corona-Krise wird, wuchs bei Attila Hildmann Misstrauen gegen die Bundesregierung. Und aus Misstrauen wurde Hass.

Vor ein paar Tagen stand Hildmann vor dem Reichstag und rief: »Ich bin bereit, für dieses Land zu sterben.« Dutzende applaudierten ihm. Der Shutdown hat den Veganer politisiert, er hat ihn radikalisiert. Manche gehen so weit, zu sagen, Hildmann sei in einen Wahn verfallen. Aber Hildmann ist kein Einzelner, der abgedreht ist. Er ist nicht der Einzige, der sein Vertrauen der Regierung, dem System entzogen hat.

Die ZEIT hat für dieses Dossier Menschen getroffen, die an keine offiziellen Darstellungen mehr glauben, nicht an die der Bundesregierung, nicht an die des Robert Koch-Instituts, nicht an die von führenden Virologen. Taucht man ein ins Milieu der Verschwörungstheoretiker, stellt man schnell fest: Was sie eint, ist das Misstrauen gegenüber den Autoritäten. Der Wille, sich zu wehren. Und die Zurückweisung des Begriffs »Verschwörungstheoretiker«. Allenfalls ironisch, mit spöttischem Stolz würden sie selbst sich so nennen, um zu betonen, dass sie zum Mainstream nicht dazugehören. Da ist zum Beispiel ein Psychotherapeuten-Paar, das wegen Corona zum ersten Mal in seinem Leben auf eine politische Demonstration geht. Da ist ein Professor der Mikrobiologie, der Angela Merkel in einem millionenfach angeklickten Video die Leviten liest.

Hildmann, das Psychologenpaar und der Professor haben unterschiedliche Geschichten und politische Einstellungen, sind unterschiedlich gebildet, unterschiedlich alt. Aber sie sind – der eine mehr, der andere weniger – Teil einer Bewegung, die im Internet immer mehr Zulauf bekommt und die manche für gefährlich halten. Der Sprecher der Bundesregierung, die Bundesjustizministerin und zahlreiche weitere Politiker, der Präsident des Bundeskriminalamts – sie alle haben in dieser Woche vor der Macht der Verschwörungstheorien rund um Corona gewarnt. In einer Analyse, die der ZEIT vorliegt, schreibt der Anti-Terror-Koordinator der EU, diese Theorien könnten neue Formen »des gewalttätigen Aktivismus und sogar des Terrorismus« anheizen. Was ist es, das Verschwörungstheorien solche Wirkung verleiht? Und was sind das für Menschen, die an sie glauben?

Attila Hildmann wächst in Berlin-Tempelhof auf, er ist türkischer Herkunft. Sein deutscher Adoptivvater: Ingenieur, die Adoptivmutter: Sachbearbeiterin beim Auswärtigen Amt. Hildmann ist gut in der Schule, er beginnt ein Physikstudium, bricht es aber ab. Hildmann kocht gern, und irgendwann macht er sein Hobby zum Beruf. Er schreibt Bücher über vegane Küche und verkauft Hunderttausende Exemplare. Er baut sein Lebensmittelunternehmen auf, das wächst und wächst. Bald beschäftigt er rund 30 Angestellte und macht einige Millionen Umsatz im Jahr. Hildmann kauft sich einen Porsche 911 GT3 und zieht in ein Loft. Er hat es geschafft.

Aus Corona macht sich Hildmann anfangs nicht viel. Auf Instagram postet er Vorher-nachher-Bilder oben ohne, 21 Kilogramm habe er letztes Jahr abgenommen, dank seiner Detox-Diät und seines Matcha-Tees. Er kündigt eine neue Kochshow auf YouTube an und sucht neue Mitarbeiter für den Vertrieb einer Bio-Limonade.

Hildmann tritt manchmal wie ein Gangsta-Rapper auf, manchmal erinnert er eher an einen Hippie. Er trägt abgelaufene Schuhe. Im Gespräch wirkt Hildmann freundlich, herzlich sogar. Begeistert erzählt er von den hochwertigen Inhaltsstoffen der Gerichte auf seiner Speisekarte. Er kennt sogar den japanischen Bauern persönlich, von dem er seine Teeblätter bezieht.

Polizisten führen Attila Hildmann nach

Hätte man ihn vor einigen Wochen mit einer Verschwörungstheorie konfrontiert, sagt Hildmann, hätte man ihm etwa die Pyramide auf dem Dollarschein gezeigt, mit dem Auge in der Spitze, er hätte gesagt: »Na und? Da ist halt ’ne Pyramide drauf.« Heute kann er nur noch lächeln über seine einstige Naivität.

Das Video, das Hildmanns Verwandlung angestoßen hat, wurde offenbar in der chinesischen Stadt Wuhan aufgenommen. Es zeigt, wie Männer mit Käschern eingefangene Hunde in einen Käfig werfen und wie, so scheint es, dieselben Tiere in einer Lehmgrube entsorgt werden. Hildmann postet das Video am 14. März auf Instagram und schreibt: »In China gehen sie jetzt soweit, dass sie Haustiere einsammeln und lebendig begraben!«

Hildmann versteht sich als Tierschützer. Er spendet an Umweltprojekte weltweit, vor allem das Wohl der Tiger ist ihm wichtig. Lebensmittel verkaufen – das mache er vor allem, um Tiger zu schützen, sagt er. Das Video aus Wuhan berührt ihn. Nachdem er es angeschaut hat, klickt er weitere Videos an. Sie zeigen Haustiere, die in China misshandelt wurden, weil sie angeblich das Virus übertrugen. Hildmann liest auch, dass Menschen, die in China ausquartiert wurden, ihre Haustiere zurückliessen.

So viele Tiere sollen leiden nur wegen eines Virus, das Menschen krank macht? Kann das richtig sein? Und was steckt dahinter, wer profitiert davon? Hat womöglich jemand das Virus absichtlich in die Welt gebracht?

Von nun an geht es in Hildmanns Instagram-Feed immer mehr um Corona, bis es irgendwann gar kein anderes Thema mehr gibt. Anfangs verbindet Hildmann seine Mitteilungen noch mit Werbung für seine Produkte und verteilt Rabattcodes, bald lässt er das sein. Hildmann ärgert sich über die Ausgangssperre und schreibt: »... in ein paar Wochen wird auch der letzte aufwachen aber in ein paar Wochen wird es zu spät sein!« Er schreibt, Corona zeige, »dass es zu viele dumme Leute gibt die nichts hinterfragen, dafür alles glauben was man ihnen einhämmert!« Seitdem er das Video mit den Hunden gesehen hat, ist Attila Hildmann zum Aktivisten geworden. Man könnte dieser Tage denken, Verschwörungstheorien seien noch nie so mächtig gewesen, hätten noch nie so viele Menschen erfasst. Aber das stimmt nicht. Es hat sie schon immer gegeben. Sie scheinen ein tiefes Bedürfnis des Menschen zu erfüllen.

Im Jahr 1348 wütet in Europa die Pest, Millionen Menschen sterben. In einem Ort am Genfer See gesteht ein jüdischer Arzt namens Balavigny unter Folter, vor etwa zehn Wochen habe ihm ein Rabbi aus Spanien von einem Jungen eine Ledertasche bringen lassen. Darin ein Brief mit dem Befehl, beiliegendes Puder – etwa so viel, wie in ein Ei passen würde – in die Brunnen der Stadt zu streuen. Der Junge habe ihm ähnliche Briefe gezeigt, die an zahlreiche andere Juden in anderen Orten verschickt werden sollten.

Die spektakuläre Nachricht vom Geständnis des Arztes wandert von Stadt zu Stadt. So kommt der Mythos vom jüdischen Brunnenvergifter in die Welt. Endlich eine Erklärung für das Massensterben! Die Zahl der Pogrome und Morde an Juden steigt in dieser Zeit sprunghaft an. Vom unsichtbaren Bakterium Yersinia pestis ahnt niemand etwas.

Im Jahr 1918 zeigt sich ein deutscher Schriftsteller davon überzeugt, »das internationale Illuminatentum « trage womöglich die Schuld an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs. Das müsse natürlich von Experten noch genauer untersucht werden, aber er habe seine »genauen und unumstößlichen Überzeugungen in dieser Hinsicht«. Der Name des Schriftstellers: Thomas Mann. An einem Morgen im Jahr 1947 reitet im USBundesstaat New Mexico der Vorarbeiter einer Ranch los, um nach den Schafen zu sehen. Auf der Weide entdeckt er Trümmerteile. Er berichtet dem Sheriff von seinem Fund, der alarmiert die Armee, und bald steht in den Zeitungen, über New Mexico sei ein Ufo abgestürzt. Später heißt es, Forscher hätten die Leichen der außerirdischen Piloten geborgen und heimlich beiseitegeschafft.

In Wahrheit handelte es sich um die Überreste eines Ballons, den die U.S. Army heimlich ausprobiert hatte. Er sollte dazu dienen, mittels Schallwellen sowjetische Nukleartests zu registrieren. Die Ära des atomaren Wettrüstens hatte begonnen, der Angst vor der Bombe. Es war auch die Zeit der Ufo-Sichtungen, der Comics über Eroberer aus dem All, der Spielfilme über verrückte Wissenschaftler, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen.

Eine rätselhafte neue Krankheit, damals die Pest, heute Corona. Ein Krieg, der ein mächtiges Kaiserreich in den Abgrund reißt. Eine Technologie, mit der auf einen Schlag Millionen getötet werden können. Wenn sich plötzlich die Ordnung ändert, wenn die Menschen Orientierung suchen und die Realität zu kompliziert erscheint, um sie mit dem Verstand zu erfassen – dann schlägt die Stunde der einfachen Erklärungen.

Der Mensch ist ein Wesen, das Muster erkennt und nach Ursachen forscht, das macht seinen Erfolg aus. Ein Jäger und Sammler der Urzeit, der beim Rascheln eines Baumes sitzen blieb und erst mal abwartete, besaß weniger Überlebenschancen als einer, der aufsprang und rief: Ganz klar, das müssen Löwen sein! Für den modernen Menschen rascheln gewissermaßen ständig und überall die Bäume.

Die Stunde der einfachen Erklärungen, sie ist immer auch die Stunde der Erklärer. Der Gegen-Autoritäten, die all das komplexe Geschehen, das die etablierten Experten noch mühevoll zu durchdringen versuchen, zu scheinbar schlüssigen Geschichten zusammen–fügen.

Es ist der 15. März, der Tag, nach dem Attila Hildmann das Video von den Hunden aus Wuhan kommentiert hat, als Sucharit Bhakdi beschließt, dass es so nicht weitergehen kann. Bhakdi ist ein feingliedriger älterer Herr, der am Wohnzimmertisch seines Hauses in Schleswig-Holstein sitzt, eine halbe Stunde von Kiel entfernt. Im Regal an der Wand: die Sammlung klassischer Schallplatten, viele Exemplare sind von Musikern signiert. Durchs Fenster schaut man auf einen Acker und eine Pferdekoppel, dahinter schimmert der Selenter See. Bhakdi, Sohn thailändischer Diplomaten, wohnt hier mit seiner Frau und zwei Kindern, er mag die Ruhe.

Bhakdi ist schon lange im Ruhestand. 22 Jahre lang hat er das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Mainz geleitet, bis 2012. Er spricht mit sanfter Stimme, man kann sich gut vorstellen, dass er ein verständnisvoller, aber strenger Professor war. Inzwischen ist er 73 Jahre alt und emeritiert. Er sitzt jetzt viel zu Hause und passt auf »den Kleinen« auf, vor drei Jahren ist er noch mal Vater geworden, sein siebtes Kind.

Leben in einer bürgerlichen Idylle

Der Professor hält Covid-19 für einen »Spuk«. Die Reaktion der Politik auf die Pandemie sei »unglaubwürdig «. Er und seine Frau, eine Professorin für Dermatologie, seien Mitte März angesichts der von der Politik beschlossenen Maßnahmen fassungslos gewesen. Er habe gedacht: »So geht’s nicht, Leute.«

An jenem 15. März setzen die beiden sich abends an den Wohnzimmertisch und arbeiten sich durch die Corona-Krise, stundenlang. Sie versuchen, Bhakdis These zu beweisen: Corona ist nicht schlimmer als eine Grippe. Zwei Freunde helfen ihnen dabei, ein Video aufzunehmen.

»Corona-Krise: Prof. Sucharit Bhakdi erklärt warum die Maßnahmen sinnlos und selbstzerstörerisch sind.« Die Tonqualität ist nicht besonders gut, Bhakdispricht abgehackt und umständlich, er deutet auf Zahlen auf einem Clipboard. Man kann ihm nur schwer folgen. Trotzdem wird das Video auf YouTube mehr als eine Million Mal angeklickt.

Bhakdi kritisiert, die Zahlen, die das Robert Koch-Institut für seine Hochrechnungen nutzt, seien viel zu hoch angesetzt, viele Menschen würden mit, aber nicht an Corona sterben. Bhakdis eigene Hochrechnung lautet so: 99 Prozent der Infizierten seien nicht schwerstkrank. Grund für die hohen Todeszahlen in Italien und China sei die hohe Luftverschmutzung in diesen Ländern.

In der etablierten Presse werden Bhakdis Thesen kaum diskutiert. Einmal zitiert ihn die Süddeutsche Zeitung, unter der Überschrift »Falschmeldungen für Millionen«. Die öffentlich-rechtlichen Sender bringen Faktenchecks, die allesamt nicht besonders gut für Bhakdi ausfallen. Der Mediziner benutze teils valide Zahlen und Argumente, vermische sie aber mit Desinformation und Spekulation. So zeigen etwa Zahlen der OECD, dass die Luftverschmutzung in Italien nicht höher ist als in Deutschland.

Zu den Gründen, warum die Bundesregierung angeblich falsche Zahlen benutzt, hält Bhakdi sich bedeckt. Entweder geschehe dies aus Absicht, sagt er, dann sei es perfide. Oder aus Unwissenheit – dann sei es dumm. Mit Verschwörungstheorien will er nicht in Verbindung gebracht werden. Aber ausschließen könne er nichts.

Es gibt andere mehr oder weniger bekannte Männer, die expliziter sind. Sie vermuten hinter den Corona-Maßnahmen eine Verschwörung böser Mächte – und erwecken mit ihren Botschaften den Eindruck: Endlich bringt jemand Licht ins Dunkel.

Da ist Xavier Naidoo, der Ende der Neunzigerjahre zu einem der größten deutschen Popstars aufstieg, sich dann aber immer mehr in einem Geflecht aus Reichsbürgern, Klimaleugnern und Flüchtlingsgegnern verlor. Zuletzt forderte er in einem millionenfach gesehenen Video Beweise für die Existenz des Coronavirus. Er sagte, er lasse sich »nicht länger verarschen«, man müsse sich »wehren«.

Da ist der ehemalige Radio-und Fernsehmoderator Ken Jebsen, der von seinem Sender, dem Rundfunk Berlin-Brandenburg, 2011 wegen Antisemitismusvorwürfen rausgeworfen wurde. Seitdem verbreitet er als freier Journalist auf seinem YouTube-Kanal Verschwörungstheorien zu den Terroranschlägen auf das World Trade Center, kritisiert westliche Medien und wirft Israel vor, es wolle eine »Endlösung für Palästina«. In einem Video, in den vergangenen Tagen ebenfalls millionenmal aufgerufen, wirft er Angela Merkel vor, »eine Impfpflicht durch die Hintertür« zu planen.

Geht man der Frage nach, welche Wesenszüge einen Menschen dazu verleiten, solche Dinge zu glauben, dann findet man keine klaren Antworten. Psychologische Studien weisen darauf hin, dass viele Menschen anfällig sind für Verschwörungstheorien, unabhängig von Geschlecht, Alter, Intelligenz und Bildung, unabhängig auch von der politischen Haltung. Eines aber scheinen alle gemeinsam zu haben: Sie fühlen sich besonders – die Psychologie spricht von »narzisstischer Selbstüberh.hung«.

Sie sind diejenigen, die es besser wissen. Sie sind diejenigen, die gegen den Strom schwimmen. All die anderen mit ihren Ungewissheiten, ihren Fragen und Zweifeln? Werden von den Eingeweihten gern »Schlafschafe« genannt. Dumm vor sich hin blökend, laufen sie durch die Welt. Bis sie sich auf der Schlachtbank wiederfinden. Oder aufwachen.

Manuela Pietza und Kristian Marklin wohnen auf einem Hof in Niedersachsen, der in ein Seminarzentrum umfunktioniert wurde. Hier hält Pietza klinische Hypnosestunden ab und empfängt Psychotherapie-Patienten, ihr Mann, ebenfalls Therapeut, unterrichtet T’ai Chi Kineo. Ein Paar, das zum Establishment gehört. Die politische Biografie der beiden: Pietza war bei der Gründung der Grünen dabei, ihr Ehemann war Mitglied der Jungen Union und hat sein Leben lang CDU gewählt. Sie haben sich einen idyllischen Ort geschaffen: Von der Veranda blickt man in einen Garten, so groß wie ein Park, mit Teich und Swimmingpool.

Die beiden sind freundliche Gastgeber. Sie servieren Spargel und Quiche und betonen, wie sehr sie sich darüber freuen, dass ihre Stimme Gehör findet. »Endlich«, sagt Manuela Pietza.

Die Therapeuten erzählen, dass sie Corona anfangs einschüchternd fanden. Die Bilder aus Italien und China – in Deutschland, hieß es, könnte es ähnlich kommen. Und dann passierte: nichts.

Stattdessen hörten Pietza und Marklin von befreundeten Ärzten, dass die Intensivstationen der Krankenhäuser leer stünden. In den Nachrichten wurde gesagt, dass die Verdopplungszeit der Infiziertenzahlen wichtig sei, daran könne man festmachen, wie gefährlich die Epidemie ist. Dann hielt Bundeskanzlerin Merkel eine Pressekonferenz ab und beschwor die sogenannte Reproduktionszahl, die angibt, an wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt die Krankheit weitergibt. Wenig später änderte sich auch das, so erinnern sich Pietza und Marklin. Plötzlich seien die Neuinfektionszahlen die wichtigste Kennzahl geworden. Bei der Frage, wie sinnvoll Masken seien, sei es das Gleiche gewesen: erst nein, dann ja.

Kristian Marklin lacht, er breitet die Arme aus: »Ja, was denn nun?«

Manuela Pietza und ihr Mann haben ihre Überzeugungen, die nicht immer mit dem Mainstream übereinstimmen. Auch nicht mit den Erkenntnissen der etablierten Wissenschaft. Sie und ihr Mann sind Impfgegner. Nur einmal, sagt Pietza, habe sie keine andere Wahl gehabt, als sie ins Amazonasgebiet reiste. »Danach war ich tagelang fürchterlich krank.« Gegen Corona, sagen sie, würden sie sich nicht impfen lassen. Es scheint eine langsame, nun durch Corona befeuerte Entfremdung von der Welt der etablierten Meinungen und Grundsätze zu sein, die das Therapeutenpaar durchläuft. Seit Jahren hat Marklin den Tagesspiegel abonniert, aber jetzt fühlt er sich durch die sogenannten Mainstream-Medien nicht mehr gut informiert. Er klickt sich nun auch öfter in den Kanal von Eva Herman auf dem Messaging-Dienst Telegram. Die ehemalige Tagesschau-Moderatorin ist zu einer festen Größe der verschwörungstheoretischen, rechtspopulistischen Szene geworden. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Andreas Popp wohnt sie in der Provinz Nova Scotia an der kanadischen Ostküste, von hier versorgen die beiden ihre Follower mit Infos zur Corona-Krise. Sie empfiehlt, Handtücher aus dem Fenster zu hängen – zum Zeichen des Protests gegen die »Corona-Lüge«.

Auch das Video von Sucharit Bhakdi haben Pietza und Marklin angeschaut. Sie fragen sich: Warum wird nicht mal Bhakdi zu Anne Will eingeladen? Warum will keiner die sonnenklaren Erklärungen hören, die er anzubieten hat? Es klingt doch alles so logisch.

Die Experimente der US-amerikanischen Psychologen Jennifer Whitson und Adam Galinsky brachten 2008 bahnbrechende Erkenntnisse zur Entstehung von Verschwörungstheorien. Bei einem setzten die Wissenschaftler etwa ihre Probanden an einen Computer und ließen sie einen Logiktest durchlaufen. Die Ergebnisse, die sie nach jeder Runde erhielten, waren allerdings vollkommen willkürlich, sie stimmten nicht mit den tatsächlichen Leistungen der Teilnehmer überein.

Im Anschluss daran zeigten die Forscher den Probanden Bilder, auf denen schwarze und weiße Punkte unterschiedlich angeordnet waren. Mal bildeten die Punkte ein Motiv, mal waren sie willkürlich verteilt. Je verunsicherter die Studienteilnehmer aufgrund des vorherigen Tests waren, desto häufiger erblickten sie nun Motive, wo gar keine waren.

Die beiden Wissenschaftler folgerten, dass es beim Menschen »ein tief sitzendes Bedürfnis nach Ordnung gibt. Und das kann, wenn jemand wenig Kontrollmöglichkeiten hat, auch eine eingebildete Ordnung sein«.

Wie genau diese Ordnung aussieht, ist dann gar nicht mehr wichtig. Hauptsache, sie existiert.

In sozialen Medien, in Chatgruppen und in Internetforen kursieren derzeit verschiedene Theorien, woher das Virus stammt, wer es verbreitet hat, was es anrichtet. Einige dieser Theorien werden über russische Troll-Fabriken verbreitet. Eines der gängigsten Gerüchte besagt, das Coronavirus sei in einem Labor gezüchtet worden und solle zukünftig als Biowaffe eingesetzt werden. Die einen sehen die Chinesen als Urheber, die anderen die USA. So sagte der ehemalige AfD-Politiker Wolfgang Gedeon in einer Rede im Landtag von Baden-Württemberg Anfang März: »Gott scheint geopolitisch Amerikaner zu sein.« Denn die USA und ihr Bündnispartner Israel seien weitgehend verschont geblieben von dem Virus, China, Iran und Deutschland hingegen schwer getroffen. Inzwischen sind die USA das Land, in dem das Virus am heftigsten wütet. Die Anhänger der sogenannten QAnon-Bewegung haben eine weitere Erklärung für die Corona-Pandemie. Sie glauben, eine global vernetzte Elite betreibe einen Pädophilen-Ring. An geheimen Orten würden Kinder gefoltert, um für die Reichen und Mächtigen den Stoff Adrenochrome zu produzieren. Dabei handle es sich nicht, wie es in Lehrbüchern steht, um ein harmloses Abbauprodukt des Hormons Adrenalin – sondern um ein Wundermittel, mit dem die Elite die ewige Jugend erlangen wolle. Die Ausgangssperren seien nun von Donald Trump und seinen Mitstreitern verhängt worden, um die Kinder aus den Fängen des Ringes zu befreien und den Eliten das Handwerk zu legen. Corona als Weltrettung. Ein Artikel auf einer deutschsprachigen Website vermutete, Mobilfunkmasten der 5G-Technologie seien in Wirklichkeit schuld an einer Covid-19-Erkrankung. Denn in Wuhan, wo das Virus seinen Ursprung hat, stünden Tausende dieser Masten herum. Die Strahlung führe im menschlichen Körper zu einem Zellabbau, der wiederum Covid-19 verursache. Ein Virus gebe es gar nicht. Der Artikel wurde unzählige Male geteilt. Dabei ignorierten sowohl der Verfasser des Beitrages als auch die meisten Leser, dass im Iran Tausende Menschen an der Krankheit gestorben sind, obwohl dort keine 5G-Masten stehen.

Die Anhänger der Theorie bekämpfen nun lieber den neuen Feind: Allein in Großbritannien gab es seit dem Beginn der Krise weit über fünfzig Angriffe auf Mobilfunkmasten. In Wilhelmshaven filmte sich Ende April ein Mann dabei, wie er die Kabel eines Mobilfunkmasts zerschnitt und in die Kamera sagte: »Leute, ich will euch nur sagen: Diese Scheiße – ich lasse mich davon nicht mehr kaputtmachen. Und ich erwarte von euch, dass ihr auch rausgeht und diese Scheiße vernichtet.«

Man könnte nun vermuten, dass sich die Verfechter der einzelnen Theorien streiten wie Theologen zur Zeit der Reformation über Gottesgnadentum und Rechtfertigungslehre. Aber so ist es nicht. Sie sind geeint in dem Stolz darauf, dass es ihnen gelungen ist, die komplizierte Wirklichkeit mit der Logik der Kausalketten in den Griff zu bekommen.

Der Fernsehkoch Attila Hildmann beginnt in den Tagen rund um den Lockdown, die einzelnen Glieder seiner Kette zusammenzusetzen. Auf Spiegel.de liest er, dass nun zahlreiche Länder drastische Corona-Maßnahmen verhängen. Polen, Ungarn, Israel, für Hildmann wirkt es, als wären all diese Staaten auf dem Weg in die Diktatur. Er macht sich Sorgen.

Dann stößt er auf einen Artikel über Defender 2020, das größte Nato-Manöver seit 25 Jahren, etwa 37.000 Soldaten sollen über Deutschland nach Osteuropa verlagert werden.

Was passiert hier?, fragt Hildmann sich. Als am 23. März auch in Deutschland die Corona-Maßnahmen in Kraft treten, sieht Hildmann in einem Video auf Instagram, wie Feuerwehrautos durch die Straßen des Landes fahren, es ist zu hören, wie die Bürger über Lautsprecher aufgerufen werden, sich an die neuen Regeln zu halten: »Bleiben Sie zu Hause! Halten Sie Abstand! Tragen Sie Masken!« Attila Hildmann bekommt Angst.

Die Pyramide mit dem Auge auf dem Dollarschein – ja, wenige Wochen zuvor war sie noch eine Pyramide und weiter nichts. Jetzt ist er sicher: Es ist das Zeichen der Freimaurer und damit der kommenden Neuen Weltordnung, der NWO.

Das Virus der Verschwörungstheorie ergreift immer mehr Besitz von Attila Hildmann.

Hatte Hildmann in den Tagen zuvor schon viel auf sein Handy geschaut, legt er es jetzt kaum noch weg. Er recherchiert wie ein Wahnsinniger. Je mehr er herauszufinden glaubt, desto paranoider wird er.

Hildmann stößt auf Berichte über einen unvollendeten Film namens Gray Stone von David Crowley. Der US-Amerikaner war nach seiner Zeit als Soldat im Irak Filmemacher geworden, per Crowdfunding hatte er Geld für einen Film über das Leben in einer nahen dystopischen Zukunft gesammelt. Crowleys Film sollte erzählen, wie eine Regierung die persönliche Freiheit ihrer Bürger immer mehr einschränkt.

Doch im Januar 2015 wurde Crowley mit seiner Familie tot in Minnesota aufgefunden. Es heißt, vermutlich habe Crowley seine Frau und seine Tochter umgebracht und dann sich selbst. Doch schnell wuchern Theorien: Wurde der Filmemacher auf Geheiß von oben getötet? Ist er der Wahrheit zu nahe gekommen?

Hildmann sieht einen aktualisierten Trailer von Gray Stone. Szenen aus einer grauen Welt totaler Überwachung flimmern über sein Smartphone, Bilder von Zwangsimpfungen, von Vereinsamung, es wirkt wie eine Verfilmung von George Orwells 1984. Dazwischen hat jemand Nachrichtensequenzen aus den vergangenen Wochen geschnitten. Angela Merkels Stimme: »Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge.« Ursula von der Leyens Stimme: »Vertrauen Sie der WHO!« Bilder von Polizeikontrollen und von Demonstranten, die von Sicherheitskräften abgeführt werden.

Ganz am Ende des Films flimmert das Gesicht von Bill Gates auf. Hildmann googelt: »Gates Corona «, dann »Gates Impfung«, »Gates WHO«. Und immer findet er etwas. Vor Attila Hildmanns Augen formt sich ein klares Bild: Bill Gates ist die zentrale Figur einer globalen Verschwörung.

Bill Gates, der Gründer von Microsoft, ist einer der reichsten Menschen der Welt. Mit seinem Vermögen unterstützt er zahlreiche Hilfsorganisationen, darunter auch die Weltgesundheitsorganisation WHO. Er hat seit Jahren vor dem Ausbruch einer Pandemie gewarnt. Dass es nun tatsächlich so gekommen ist – für Verschwörungstheoretiker kann das kein Zufall sein.

Hildmann findet einen Artikel zu den Georgia Guidestones, einem sagenumwobenen Monument aus Granitsteinen im US-Bundesstaat Georgia. In die massiven Steinblöcke sind in acht modernen Sprachen zehn Regeln eingeschlagen. Die erste lautet: »Halte die Menschheit unter 500.000.000 in fortwährendem Gleichgewicht mit der Natur.«

Notizen von Sucharit Bhakdi – sie sind die Grundlage für sein geplantes Corona-Buch

Die Georgia Guidestones wurden 1980 enthüllt, aber der Geldgeber ist unbekannt. Angeblich sind es mehrere. Hildmann glaubt nun, dass Gates sich die Einhaltung der Guidestones-Regeln zum Ziel gesetzt habe. Gates’ Vater nämlich war im Vorstand von Planned Parenthood, einer amerikanischen NGO, die sich etwa für das Recht auf Abtreibung einsetzt. Hildmann liest, dass Margaret Sanger, die Gründerin von Planned Parenthood, als Eugenikerin gilt. Er leitet daraus ab, dass auch Bill Gates Eugeniker ist – und die Weltbevölkerung mit vergifteten Corona-Zwangsimpfungen von gut sieben Milliarden auf 500 Millionen reduzieren will.

Wenn Hildmann Sherlock-Holmes-haft seinen großen Corona-Beweis führt, kommt man kaum hinterher, so schnell geht es.

Man kann ihn einfach nur für besessen halten. Kein Zweifel, dass er an das glaubt, was er sagt. Kein Zweifel aber auch, dass seine Argumente keine sind. Konfrontiert man ihn mit Einwänden, sagt er resigniert: »Ihr wollt doch immer, dass alle mitdiskutieren – und jetzt ist es falsch, wenn ich was sage?«

Und hat er nicht einen Punkt? Hat das Psychologenpaar Marklin und Pietza nicht recht, wenn es fordert, abweichende Meinungen müssten eben auch gehört werden?

Historiker haben nachgezeichnet, dass moderne Verschwörungstheorien auf Massenmedien und eine funktionierende Öffentlichkeit angewiesen sind. Sie entfalten nur dann ihre Wirkung, wenn man daran glaubt, dass der Mensch prinzipiell die Fähigkeit besitzt, sein eigenes Schicksal zu gestalten und die Welt nicht beherrscht wird von Göttern und schicksalhaften Mächten. Die Machtfülle eines Bill Gates – im Mittelalter hätte man sie allenfalls dem Teufel zugeschrieben.

Die Corona-Verschwörungstheoretiker sind Kinder der Aufklärung. Vieles von dem, was sie tun, wird seit 200 Jahren von Philosophen als Errungenschaft gefeiert. Sich seines eigenen Verstandes bedienen. Dinge hinterfragen, Kritik üben. Den Eliten auf die Finger schauen.

Und, ganz wichtig: sich auf Wissenschaftler und ihre Argumente berufen.

Sucharit Bhakdi hat Gefallen an seiner neuen Nebentätigkeit als YouTuber gefunden. Er weiß zwar nicht, wie die Plattform funktioniert, seinen Account hat ihm seine Frau eingerichtet. Aber Videos zu drehen, das sei ein großer Spaß. Am 29. März, zehn Tage nach dem ersten Video, legt er nach. Bhakdi hat sich mit seinem erwachsenen Sohn in Singapur beraten, mit einem Freund in Thailand, gemeinsam entwarfen sie ein Konzept: Der Professor soll einen offenen Brief an Angela Merkel verlesen.

Als Bhakdi seinen Brief an die Bundeskanzlerin vorliest, scheint draußen die Sonne, durchs Wohnzimmerfenster leuchtet ein grelles weißes Gegenlicht, das der Szene etwas Unwirkliches gibt. Bhakdi wendet sich erst an die Zuschauer, »liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger«. Sein Wunsch sei es, »zur Sachlichkeit zurückkehren«. Er verfolge »keine politische Agenda, keine persönlichen Interessen« und fühle sich »einzig der Wissenschaft und der Gesellschaft verpflichtet«.

Dann stellt Bhakdi Fragen an Angela Merkel: Wurde bei den Hochrechnungen des RKI zwischen Menschen mit Symptomen und symptomfreien Infizierten unterschieden? Gibt es Studien über die Gefährlichkeit des Virus? Und wie viele Menschen sind mit, wie viele an Corona gestorben?

Das Video wird ein noch größerer Erfolg als das erste, es erreicht über 2,4 Millionen Klicks.

Nun wird Bhakdi in der verschwörungstheoretischen Szene gefeiert. Bodo Schiffmann, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus Sinsheim, ruft ihn an und bedankt sich bei ihm. Schiffmann ist gerade selbst zu einem YouTube-Star aufgestiegen, auch hat er eine Partei gegründet, Widerstand2020. Oliver Janich, 143.000 Abonnenten, lobt Bhakdi ebenfalls auf seinem Kanal. Und Ken Jebsen, der gefeuerte Radio-und Fernsehmoderator, der nun auf YouTube 475.000 Abonnenten hat, besucht den Professor und bringt ein Interview mit ihm.

Bhakdi, der angefangen hatte mit einem drögen Video voller Zahlen und Berechnungen, wird in diesen Tagen zur politischen Stimme, zum viel zitierten Kritiker der Bundesregierung. Im Interview mit Jebsen sagt er: »Ich finde es erschreckend. Die Menschen haben das Denken ausgeschaltet und den Gehorsam eingeschaltet.« Die Medien seien völlig verantwortungslos, die Demokratie existiere in Deutschland nicht mehr. Ken Jebsen nickt immer wieder aufmunternd und lächelt.

Die beiden sind sich einig. Am Ende haben sie allen Zweifel ausgeschaltet. Dies ist die eine Methode der Aufklärung, derer sie sich nicht bedienen: das Sich-selbst-infrage-Stellen.

Es ist der 2. Mai, als Manuela Pietza und Kristian Marklin zum ersten Mal in ihrem Leben gemeinsam auf eine politische Demonstration gehen: die sogenannte Hygiene-Demo vor der Berliner Volksbühne. Sie stehen auf dem Rosa-Luxemburg-Platz, er in grauer Daunenjacke, sie in gelbem Mantel und hohen Schuhen. Neben ihnen: biertrinkende Punks und tanzende Hippies, Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme. Ganz offensichtlich fremdeln sie mit dem Umfeld, aber Marklin sagt, sie hätten das Gefühl, »Präsenz zeigen zu müssen«, für die Einhaltung der Grundrechte.

Etwas schüchtern schauen sie vom Rand aus auf die Szenerie. Eine richtige Demo ist es gar nicht, eher ein Sit-in. Sie bleiben einige Stunden, aber dann beginnt es zu nieseln, und Manuela Pietza wird es zu kalt. Als sie sich auf den Weg nach Hause machen, haben die beiden mit niemandem gesprochen, und ein wirklich gutes Gefühl hatten sie unter diesen Menschen nicht. Außer vielleicht das Gefühl, ein Recht wahrgenommen zu haben? Ein Gefühl, das sie womöglich mit dem Staat versöhnen könnte. Wenn es gut läuft.

Einen Tag nach der Hygiene-Demo vor der Volksbühne telefoniert Hildmann mit der ZEIT. Hildmann hat ein älteres Foto auf Instagram gepostet, das ihn auf einem Schießstand zeigt: ein Tuch übers Gesicht gezogen, in der Hand ein Maschinengewehr. Darunter hat er geschrieben: »Ich warte friedlich auf die Zwangsimpfung und halte mich an deutsche Gesetze wie MASKENPFLICHT «.

Spätestens jetzt sind die klassischen Printmedien auf ihn aufmerksam geworden, der Tagesspiegel berichtet, Bild, die Frankfurter Rundschau.

Hildmann sitzt während des Telefonats in seinem Porsche und fährt durch Berlin. Aufgeregt spricht er über die NWO, die Neue Weltordnung, die Bill Gates einführen wolle. Über Jens Spahn, der bald der mächtigste Mann Deutschlands sein werde. Und über sich selbst. Er sei in Sorge um sein Land. »Dafür riskiere ich jetzt mein Leben.« Er habe das Gefühl, jederzeit einen Kopfschuss bekommen zu können. »Ich lebe ab jetzt im Auto, ich gehe in den Untergrund.«

Er taucht dann doch wieder auf, am Mittwoch vergangener Woche vor dem Reichstag. Im Internet hat er angekündigt, aus dem Grundgesetz zu lesen. Etwa 100 Menschen stehen um ihn herum, es wird eng, kaum jemand hält den Sicherheitsabstand ein, kaum jemand trägt Maske. Etwas abseits Hildmanns Freundin mit laufender Handy-Kamera und Akira, einem Husky.

Hildmann zeigt auf den Reichstag und ruft: »Diese Leute sind korrupt und kriminell!« Zwei Polizisten erteilen ihm einen Platzverweis, es ist zu voll, sagen sie. »Komm, Akira!«, ruft Hildmann. Auf dem Weg entlang der Spree zum Auto muss Hildmann immer wieder anhalten, weil ihm Dutzende Menschen gratulieren wollen, alternativ aussehende Typen mit Dreadlocks, eine Mutter mit Kind, ein Rentner. Ein Student hält auf seinem Rennrad an: »Du machst so wichtige Arbeit.« Jemand will ein Selfie mit Hildmann: »Digga, halte durch, für uns!«

Es sind Mitglieder seiner neu gegründeten Gruppe auf Telegram. Sie gehört zu den am schnellsten wachsenden digitalen Treffpunkten der Szene, 30.000 Menschen sind schon dabei. Viele von ihnen, das zeigen Datenanalysen des Politikwissenschaftlers Josef Holnburger, waren zuvor in keiner der bekannten verschwörungstheoretischen Gruppen – sie scheinen Neulinge zu sein.

Die Verwandlung des Kochs Attila Hildmann in einen Anführer der Verschwörungstheoretiker – als sie vor zwei Monaten begann, sah nichts danach aus, als würden seine Mitarbeiter einmal viel Zeit haben, sich um andere Dinge zu kümmern als um den Verkauf von Nuss-Nougat-Creme und Chili sin Carne. Inzwischen haben Kaufland, Edeka und andere Händler die Zusammenarbeit aufgekündigt. In einigen Fällen soll Hildmann die Ware sogar zurücknehmen. Die Verluste, sagt er, gingen in die Hunderttausende.

Hildmann hat jetzt einen neuen Plan. Er hat seine Grafiker damit beauftragt, die Geldströme der Gates Foundation zu visualisieren. Er ist dabei, sein veganes Ernährungsimperium umzurüsten in eine politische Organisation, eine Organisation für den Kampf gegen die dunklen Mächte.

Mitarbeit: Kai Biermann und Frank Werner