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  • Religion und Toleranz. Moralphilosophische und skeptizistische Argumente gegen denpolitischen Rekurs auf religisen GlaubenAuthor(s): Julius SchlikeSource: Zeitschrift fr philosophische Forschung, Bd. 60, H. 2 (Apr. - Jun., 2006), pp. 213-240Published by: Vittorio Klostermann GmbHStable URL: http://www.jstor.org/stable/20484618 .Accessed: 04/06/2014 17:08

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  • Julius Schdlike, Konstanz

    Religion und Toleranz

    Moralphilosophische und skeptizistische Argumente gegen den politischen Rekurs auf religiosen Glauben'

    i. Einleitung

    ,,Wenn in einer historischen Darstellung irgendwo der Geist der Religion auftaucht, so konnen wir sicher sein, anschlieg3end eine Schilderung des Elends zu finden, das ihn begleitet. Und keine Zeitepoche kann gliick licher oder gesegneter sein als die, in der man diesen Geist weder be hauptet noch kennt."2 Dieses pessimistische Urteil des Philo in David Humes ,,Dialogen iuber die natuirliche Religion" kann sich auf eine Fiille von historischen Belegen stiitzen. Zahlreiche iiberaus grausame und verlustreiche Kriege wurden im Namen der Religion gefiihrt; aus religiosen Griinden wurden Menschen inhaftiert, gefoltert, gesteinigt und verbrannt, fromme Terrorregime wie der afghanische Talibanstaat bedrohten ihre Burger mit hartesten Sanktionen, wenn sie religiose Nor men nicht befolgten. Die gegenwartige relative Friedlichkeit des Neben einanders verschiedener Religionsgemeinschaften in einigen westlichen Lindern ist, wie Hartmut Kliemt bemerkt, ,,zweifellos wesentlich auf den trivialen Grund zuriickzufiihren, dass die modernen westlichen Glaubensgemeinschaften der friiheren Machtmittel entbehren."3 Und in der Tat zeigt sich, dass Glaubige sich auch in modernen, sakularen Staaten aug3erordentlich schwer tun, die Trennung von Staat und Kirche bzw. das weltanschauliche Neutralitatsgebot des Staates zu respektieren. So ist etwa der Protest gegen die Institutionalisierung homosexueller Lebensgemeinschaften (,,Homoehe") oder die Abtreibung haufig durch religiOs gepragte Interpretationen der strittigen Sachverhalte motiviert.

    Ganz offen fordert die Glaubenskongregation christliche Politiker ge genwartig beziiglich dieser Fragen dazu auf, im Sinne des Katholizismus

    1 Ich danke Miriam Gairing, Bernward Gesang, Florian Mayr, Neil Roughley und

    Stephan Schlothfeldt f?r kritischen Rat und hilfreiche und intensive Diskussionen. 2 Hume 1779,131. 3 Kliemt 1993,180.

    Zeitschrift fur philosophische Forschung, Band 6o (2oo6), 2

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  • 214 Julius Schdlike Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen.4 2003 wurde der ChiefJustice von Alabama suspendiert, weil er sich weigerte, der An ordnung eines Bundesrichters zu entsprechen, die tonnenschwere Skulp tur der Tafel mit den Zehn Geboten, die er im Gerichtsgebaude hatte aufstellen lassen, wieder zu entfernen; er betrachtete das Christentum als Fundament des Rechtssystems, und ihm fehlte jegliches Unrechts bewusstsein bei dieser eklatanten Verletzung staatlicher Neutralitat.5 Im Kopftuchstreit haben christliche Politiker von Amtstragern, die anderen Religionen angehoren, den Verzicht auf offentliche Glaubensbekennt nisse gefordert, das Zeigen christlicher Symbole aber fur unbedenklich gehalten (,,Kopftuch nein, Kutte und Kruzifix ja"), und von den von C-Parteien gefiihrten Landesregierungen wurden entsprechende Gesetze auf den parlamentarischen Weg gebracht.6

    Diese Beispiele machen deutlich, dass der moralische und politische Rekurs auf religi6se Traditionen, obgleich von vielen Moralphilosophen fur obsolet erklart, von vielen Glaubigen keinesfalls als obsolet betrach tet wird. Ich m6chte im Folgenden danach fragen, aufwelchen Griinden diese Praxis basiert, und mit welchen Argumenten sie kritisiert werden kann. Es geht mir dabei ausschlieg3lich um interne Kritik, um die Frage also, ob es aus der Perspektive der Glaubigen selbst gute Griinde gibt, darauf zu verzichten, partikulare religiose Interessen zum Fundament allgemein verbindlicher intersubjektiver Forderungen zu machen. Hier bei sollen nicht pragmatische Griinde im Vordergrund stehen, etwa das Fehlen von Machtmitteln; vielmehr soll gefragt werden, ob es Griinde gibt, einfach deshalb darauf zu verzichten, religios fundierten Zwang auszuiiben, weil es religiose Griinde waren, die die Intoleranz motivier ten.

    Zunachst werde ich die religiosen Griinde fiir Zwangsmag3nahmen darlegen. AnschlieB3end setze ich mich mit den moralphilosophischen Ar gumenten von Ernst Tugendhat und Rainer Forst auseinander, weshalb religiose Griinde keine geeignete Basis fur intersubjektive Forderungen darstellen, komme jedoch zu dem Ergebnis, dass diese Argumente nicht von allen Glaubigen akzeptiert werden miissen. Schliet3lich untersuche ich ein Argument, das auf den epistemischen Status von Glaubensiiber zeugungen abhebt. In der Form, in der Perry Schmidt-Leukel es entwi ckelt, halte ich es zwar fur falsch, doch es lIsst sich m. E. so prazisieren, 4 FAZ 30.7.2003, Nr. 174, S. 4. 5

    CNN.com, 23.8.2003. 6

    SPIEGEL-Online, 28.10.2003.

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  • Religion und Toleranz 215

    dass es einen Glaubigen tatsachlich davon zu iiberzeugen vermag, dass es irrational ware, andere dazu zu zwingen, gemai religiosen Normen zu leben, die sie nicht akzeptieren.

    2. Zum Toleranzbegriff

    Zunachst einige begriffliche Erlauterungen7: der Begriff ,,Toleranz" ge hort zu einer Gruppe von Begriffen, die die Einstellungen einer Person zu den Meinungen, Handlungen oder Praktiken von anderen betreffen. ,,Toleranz" steht zwischen ,,Bewunderung" und ,,strikte Ablehnung".

    Toleranz ist eine Haltung, die eine Ablehnungskomponente enthalt, und das unterscheidet sie von Bewunderung. Die Meinung, Handlung oder Praxis, die man toleriert, hLlt man fur falsch, lastig, schadlich, abscheu lich, unmoralisch und Ahnliches. Man ziigelt zwar seinen Impuls, sie zu bekampfen, aber eigentlich ware man froh, wenn es sie nicht gabe. Man schreibt dem, was man toleriert, keinen eigenen, inneren Wert zu. Und dennoch lIsst man es zu, schreitet nicht ein. Dies unterscheidet Toleranz von strikter Ablehnung. Der Tolerante ist nicht aufgrund von Macht losigkeit tatenlos, sondern er ware es auch dann, wenn er die Moglich keit hatte, zu bekampfen, was er kritisiert. Toleranz enthalt also, neben der Ablehnungskomponente, eine Komponente der Akzeptanz, die den Abwehrimpuls ziigelt.

    Diese Begriffsbestimmung wirft eine Reihe von Fragen auf: worauf bezieht sich die Akzeptanzkomponente? Aus welchem Grund sollte je mand, der eine klare und vermeintlich begriindete negative Einstellung gegenuiber bestimmten Tatsachen hat, nicht alles tun, um diese Tatsachen aus der Welt zu schaffen? Ist Toleranz eine Tugend, eine positive Charak tereigenschaft? Oder ist sie ein Zeichen von Feigheit, Prinzipienlosigkeit,

    Charakterschwache? Sollte man sich vielleicht entscheiden, das, was man toleriert, entweder zu akzeptieren und den Vorbehalt, der in der Ab lehnungskomponente von Toleranz zum Ausdruck kommt, aufzugeben, oder aber so konsequent sein, es entschieden zu bekampfen?

    Betrachten wir folgendes Beispiel: ein biirgerlich-konservativer Vater missbilligt das ziemlich ,,punkige" Erscheinungsbild seines Sohnes. Da der Sohn minderjahrig und von ihm abhangig ist, hatte der Vater durch aus die Macht, den Sohn zu zwingen, sich nach seinen Wiinschen zu

    7 Cf. hierzu Forst 2003, 30 ff.

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  • 216 Julius Schdlike

    kleiden und zu frisieren. Tate er dies, verhielte er sich intolerant. Er hatte dann zwar die Ursache seines Unbehagens beseitigt und insofern aus seiner Sicht die Dinge - ceteris paribus - zum Besseren verandert, aber es sprechen doch einige Oberlegungen dafiir, von Zwangsmagnahmen abzusehen und sich tolerant zu zeigen.

    Zum einen schadigt der Sohn niemanden durch sein Aussehen, jeden falls dann nicht, wenn man von dem Schaden absieht, der darin besteht, dass er seinem Vater und vielleicht auch anderen ein Dorn im Auge ist. Zum anderen wiirde er selbst massiv geschadigt, wenn er gezwungen wiirde, sich den Wiinschen seines Vaters zu beugen. In seinem Auf3eren driickt sich seine Personlichkeit aus, die Zwangsmag3nahme stellte des halb einen gravierenden Eingriff in seine Autonomie dar. Der Vater ware egoistisch, verhielte er sich hier intolerant. Weil fur seinen Sohn klarer

    weise gewichtigere Interessen auf dem Spiel stehen, ist aus der Perspektive der Moral der unparteiischen Interessenberiicksichtigung hier Toleranz geboten.

    Ein anderes Beispiel: homosexuelle Handlungen zwischen Erwach senen waren in der Bundesrepublik bis Ende der 6oer Jahre strafbar.

    Heutzutage klingt es hingegen merkwiirdig, ihre Tolerierung zu verlan gen. Was man toleriert, lehnt man ab, und deshalb halt man es grund satzlich auch fur bekampfenswert. Welche Griinde fur eine ablehnende

    Haltung oder gar Strafandrohung k6nnten jedoch angefiihrt werden, wenn - wie im Falle homosexueller Praktiken - niemand geschadigt wird? Ablehnende Einstellungen beziiglich Homosexualitat werden heu te als irrational, als bloB3e Vorurteile angesehen. Allenfalls lieB3e sich vor bringen, dass man sich - ahnlich dem Vater im ersten Beispiel - asthe tisch belastigt fiihlt. Die Betroffenen wiirden es sich allerdings verbitten, nur widerwillig geduldet zu werden, sie erwarten, dass ihre Lebensweise ohne Vorbehalte anerkannt wird. Und tatsachlich haben heutzutage viele

    Menschen keine Schwierigkeiten, Homosexualitat nicht nur zu tolerie ren, sondern zu akzeptieren.

    Toleranz ist somit eine Haltung gegeniiber Phanomenen, die man intrinsisch zwar ablehnt und die man ceteris paribus auch beseitigen

    wiirde, deren Fortbestand man jedoch, beriicksichtigt man die Kon sequenzen der erforderlichen Zwangsmag3nahmen, summa summarum fur wiinschenswert halt. Wie stellt sich die Toleranzfrage nun dar, wenn religiose Fragen beriihrt sind?

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  • Religion und Toleranz 217

    3. Griinde fur religiose Intoleranz

    Wie Perry Schmidt-Leukel konstatiert, kann angesichts der erschre ckenden historischen Fakten ,,die Antwort, dass religi6se Intoleranz und religios motivierte Gewaltanwendung immer nur oder doch zumindest primar auf Missbrauch, Verirrung und Perversion zuriickzufiihren sind", nicht iiberzeugen.8 Und in der Tat gibt es gute religiose Griinde fur Intoleranz. Dies soll am Fall der Homosexualitat erlautert werden. Fur die katholische Kirche hat Sexualitat nur einen einzigen Zweck: Repro duktion im Rahmen der Ehe. Wahrend die Kirche mittlerweile einige Bereitschaft zeigt, Homosexuelle zu tolerieren, tut sie sich schwer mit der Toleranz homosexueller Handlungen. Da der Homosexuelle keine Schuld an seiner Veranlagung tragt, wird er als Person toleriert; da er jedoch fur sein Handeln moralisch verantwortlich ist, endet hier die Toleranz: die

    Kirche fordert Enthaltsamkeit.9 Ein Katholik wird, sofern er der offiziellen Lehre folgt, homosexuelle

    Praktiken nicht akzeptieren konnen; aber kann man von ihm erwarten, dass er sie toleriert? Aus welchem Grund sollte er darauf verzichten, mit allen geeigneten Mitteln zu versuchen, gegen eine Praxis vorzugehen, die er fur falsch, anst6gig und schadlich halt?

    Wiire Intoleranz unmoralisch? Wenn der Mag3stab fur Moral die un parteiische, gleichmal3ige Berucksichtigung der Interessen aller Beteilig ten ist, so scheint Toleranz geboten, sofern bloB asthetische Interessen des

    Katholiken gegen das Interesse von Homosexuellen stehen, autonom, ihren eigenen Vorstellungen und Wiinschen gemrin zu leben. Das Pro blem ist jedoch, dass ein Katholik die Moral anders interpretiert. Obers ter Mafcstab des moralisch Richtigen und Falschen ist fur ihn nicht die unparteiische Riicksicht auf die faktischen Interessen aller Beteiligten, sondern Gottes Wille, der sich in der Offenbarung und der religiosen Tradition artikuliert.

    Sind die religi6sen Uberzeugungen von der Existenz Gottes und der Verbindlichkeit eines offenbarten Normenkatalogs wahr? Hier herrscht die Auffassung vor, dass man dies nicht beweisen kann, sondern daran glauben muss. Das wirft folgendes Problem auf: Der Gliubige sieht 8 Schmidt-Leukel 1995,178. 9 So hei?t es im Katechismus der katholischen Kirche von 1992, dass homosexuelle

    Handlungen ?in keinem Fall zu billigen sind" (Nr. 2357; cf. 2358). Cf. die drastische

    Ablehnung homosexueller Praktiken im Alten Testament (?[...] ihr Blut soll auf sie

    kommen."), Lev. 20,13.

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  • 218 Julius Schdlike

    sich an Normen, die er fur gottliche Offenbarung halt, gebunden, und diese Bindung muss sich in seinen Handlungen widerspiegeln. Hier reicht es nicht aus, selbst sexuell korrekt zu leben, denn Gott will, dass niemand gegen seine Gebote verst6f3t, und dies impliziert fur den Glaubigen die Verpflichtung, auch gegeniiber anderen fur die Auf rechterhaltung der g6ttlichen Ordnung einzutreten. Greift er aber in das Leben anderer ein, so kann er aus der Sicht der Betroffenen, wenn sie seine religi6se Sichtweise nicht teilen, sein Handeln nicht legitimie ren. Sie werden sein Ansinnen als unverschamte, nicht gerechtfertigte

    Einmischung in ihr Leben betrachten. Umgekehrt werden aber auch sie den Katholiken nicht ohne Weiteres davon iuberzeugen konnen, dass er falsch liegt, dass sie ein Recht darauf haben, ungestort so zu leben, wie es ihnen beliebt, denn sie konnen nicht beweisen, dass Gott nicht existiert bzw. dass die katholische Kirche ein falsches Bild davon zeichnet, welchen Umgang mit Sexualitat Gott billigt. Wenn Homo sexuelle darauf hinwiesen, dass sie niemanden schadigten und ihr Ver halten folglich moralisch nicht zu beanstanden sei, so hatte dieses Ma nover keine Aussicht auf Erfolg, denn der Katholik wiurde erwidern, dass der iibergeordnete Mag3stab fur Moral der Wille Gottes sei, und dass der Schaden eben darin bestunde, dass gegen g6ttliche Gesetze verstof3en wurde.

    Hinzu kommt eine weitere Uberlegung: die intoleranten Zwangs maf3nahmen erfolgen haufig durchaus auch im Interesse der direkt oder indirekt Betroffenen. Denn wenn durch sie die gottliche Ordnung ge schiitzt wird, so dient das auch dem jenseitigen Wohl derer, die ohne diese MaBnahmen durch den VerstoB3 gegen religiose Normen ihr ewiges Seelenheil aufs Spiel setzen. Der Zwang ist somit auch im Rekurs auf die Moral der unparteiischen Interessenberucksichtigung gerechtfertigt, auch wenn die Betroffenen das (noch) nicht wahrhaben wollen. Ent sprechend haben Theologen wie Augustin10 und Thomas von Aquin

    Gewaltanwendung gegen Haretiker gerechtfertigt: ,,Die Kirche dehnt nach der Anordnung des Herrn ihre Liebe auf alle aus, nicht nur auf

    Freunde, sondern auch auf ihre Feinde und Verfolger. [...] Zur Liebe aber gehort es, dass einer das Gute des Nachsten will und bewirkt. Es gibt nun aber ein zweifaches Gutes. Eines ist geistiger Art, namlich das Heil der Seele, worauf es die Liebe hauptsachlich absieht; dies namlich muss jeglicher aus Liebe fur den Nachsten wollen. [...] Das andere aber ist das Gute, das die Liebe erst in zweiter Linie beriicksichtigt, namlich das irdi sche Wohl, z.B. leibliches Leben, weltlicher Besitz, guter Ruf, kirchliche oder weltliche

    10 Ep?stola ad Vincentium.

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  • Religion und Toleranz 219

    Wiirden. Solche namlich fur die anderen zu wollen, sind wir durch die Liebe nur gehal ten in Hinordnung auf ihr und anderer ewiges Heil. Wenn nun ein derartiges Gut, das ein einzelner besitzt, m6glicherweise dem ewigen Heile bei einer Vielheit im Wege ist, so diirfen wir fur ihn aus Liebe ein derartiges Gut nicht wollen, wir miissen vielmehr

    wollen, dass er es nicht habe, einerseits, weil das ewige Heil einem verganglichen Gute vorzuziehen ist, andererseits, weil das Wohl einer Vielzahl dem Wohl eines einzelnen vorgeht" (Thomas, STh. II/II II,4, S. 245).

    Diese Argumentation, in der Schmidt-Leukel den Kern einer genuin christlichen, ,,das heigt nicht missbrauchlich aus anderen Interessen abgeleiteten Legitimation der Intoleranz" erkennt", macht deutlich, wie untauglich eine pragmatisch allein auf den unmittelbaren Bekehrungs erfolg abstellende Toleranzargumentation ist, wie John Locke sie ent

    wickelt hat. Locke weist darauf hin, dass ,,kein Glaube Glaube ist ohne Fiirwahrhalten"; durch auBeren Zwang konne jedoch niemand dazu ge bracht werden, einen Glauben anzunehmen, da allein Argumente und Beweise jemanden dazu bewegten, etwas fur wahr zu halten. BloI3 vor getauschter Glaube sei aber nicht heilsrelevant, werde von Gott nicht akzeptiert.12 Dem kann Thomas entgegenhalten, dass es nicht allein um das Seelenheil des Haretikers gehe, sondern auch um das derer, die durch seinen Einfluss vom richtigen Weg abkommen. Glaubige miissten mit allen Mitteln geschiitzt werden, und das schliege auch Ketzertotung mit ein:

    ,,Faules Fleisch ist auszuschneiden und ein raudiges Schaf aus der Herde zu vertreiben, damit nicht das ganze Haus, der ganze Teig, der ganze Leib und alle Schafe brennen, angesteckt werden, in Faulnis geraten und untergehen. Arius war in Alexandria nur ein einziger Funke; weil er aber nicht auf der Stelle ausgetilgt wurde, hat die von ihm aus gehende Flamme den ganzen Erdball verwiustet" (Thomas, STh. II/II 11,3, S. 242).

    Wer das Ziel verfolgt, einen vermeintlich Heil bringenden Glauben zu verbreiten, der ist durchaus gut beraten, auch Gewalt einzusetzen.13 Thomas' Argumentation zufolge hat der Glaubige geradezu die Pflicht, in religi6sen Fragen unduldsam zu sein, wenn dies zur Verbreitung oder Sicherung des Glaubens beitragt. Diese Pflicht ergibt sich aus dem Gebot der Nachstenliebe, also aus einem Prinzip, das ahnlich den Prinzipien ei

    11 Schmidt-Leukel 1995,182; mutatis mutandis k?nnten sich Vertreter anderer Religio nen diese Argumentation zu eigen machen.

    12 Locke 1686,15. 13 Wie Kolakowski konstatiert, ist ?der christliche Glaube in verschiedenen Gebieten

    der Welt auf dem Wege der Gewalt ganz erfolgreich verbreitet worden", Kolakowski

    1980,13 f.

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  • 220 Julius Schdlike

    niger sakularen Moralen zur Beriicksichtigung auch der Interessen ande rer auffordert. Die Legitimation von Intoleranz ist die Folge der religiosen Interpretation der Interessen. Aber das Gebot der Nachstenliebe ist nicht das einzige Moralprinzip fur einen Christen: man hat es bei religiosen

    Moralen vielmehr mit Sets von Regeln zu tun, die durch den Willen Gottes in Kraft gesetzt werden. Es wiirde auch dann gelten, Verst6Lge gegen diese Regeln zu verhindern, wenn dies fur niemandes Seele heils relevant ware.

    3. Argumente gegen eine religios fundierte Moral

    Soziale Konflikte sind haufig dann besonders heftig und losungsresis tent, wenn auf die Beurteilung der strittigen Materien Unterschiede in der umfassenden Sicht des menschlichen Lebens und der Welt durch schlagen, die nicht durch rationale Diskussion aufzuheben sind. Bei spiele sind die Abtreibungs- und Embryonenforschungsdebatte und die

    Debatte um Sterbehilfe. Philosophen wie Ernst Tugendhat und Rainer Forst sind nun der Auffassung, dass intersubjektive Forderungen nicht auf Annahmen basieren diirfen, die rationale Adressaten dieser Forde rungen nicht teilen miussen.

    3.I. Ernst Tugendhat: die Relevanz ,, universeller Einsichtigkeit" normativer Forderungen

    ,,Auch der Glaubige kann," so Tugendhat, ,,zumindest wenn er Anders glaubige und Nichtglaubige ernst nimmt, seine moralischen Normen letztlich nicht mehr auf seinen Glauben griinden. Denn das Einhalten von moralischen Normen ist etwas, was wir (so scheint es zumindest) von allen verlangen, und um das tun zu konnen, miissen wir auch er warten, dass sie fur alle einsichtig zu machen sind."' 4 Tugendhat ver weist auf ,,den Anspruch der moralischen Normen scheinbar inharenten Allgemeingiiltigkeit,"'5 und fragt: ,,Inwiefern konnen die moralischen Urteile innerhalb einer solchen [religiosen] Tradition bzw. Gemeinschaft iiberhaupt den Allgemeingiiltigkeitsanspruch, den sie als Urteile haben, erfiullen, wenn das, was gut ist, nur im Rekurs auf die bestimmte Identitat

    14 Tugendhat 1993,13.

    15 Ebd., 18 f.

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  • Religion und Toleranz 221

    dieser Gemeinschaft begriindbar ist (,weil wir Kinder Gottes sind')?"'16 Fur Tugendhat besteht die Aufgabe darin, ,,eine von den religiosen Traditionen unabhangige Einsichtigkeit von moralischen Normen" auf zuzeigen.17 Dies sei nicht nur deshalb n6tig, ,,weil viele heute nicht mehr glaubig sind und [...] wir heute mehr denn je eine Weltgemeinschaft bilden", sondern auch deshalb, weil die ,,Begrenztheit des traditionalis tischen Begriindungspotentials [...] dem Sinn der in moralischen Aus driicken verwendeten Rede von ,gut' und ,schlecht' widerspricht."'18 Wir ,,k6nnten nicht mehr moralisch urteilen, wenn wir den in moralischen

    wie in allen Urteilen inharenten objektiven und d.h. personenirrelativen Anspruch nicht festhalten k6nnten."'9

    Bei Tugendhat scheinen mir zwei Oberlegungen ineinander gescho ben, die voneinander getrennt werden miissen. Seine Ausfiihrungen lassen sich als Argumente fur eine metaethische These beziiglich des Be griindungsanspruchs verstehen, den moralische Urteile qua Urteile er heben: einen Anspruch auf Objektivitat, Wahrheit, Allgemeingiultigkeit - als Argumente fur einen metaethischen Kognitivismus bzw. Realismus also. Sie lassen sich aber auch als Argumente fur eine normative These verstehen: es sei nur dann statthaft, etwas von jemandem zu fordern, wenn man ihm die Forderung,,einsichtig" machen kann.

    Zunachst mochte ich die metaethische These priifen. Wer seine mora lischen Forderungen auf seine religi6sen Oberzeugungen griindet, macht dieser These zufolge einen semantischen Fehler: moralischen Urteilen inhariert ein Allgemeingiiltigkeitsanspruch, den ein religibser Glaube nicht einlosen kann. Und tatsaichlich erheben theoretische Urteile einen Objektivitats- bzw. Allgemeingiiltigkeitsanspruch, der universelle Zu stimmung erheischt. Es gibt jedoch gute Griinde, zu bezweifeln, dass moralische Urteile ,,echte", wahrheitsfahige Urteile sind.20 Dies lIsst sich keinesfalls durch den Hinweis auf die ,,grammatisch absolute Verwen dung" von ,,gut/schlecht" und ,,mussen/konnen/sollen" in moralischen Kontexten zuriickweisen21, wie Tugendhat es tut, wenn er diesen sprach

    16 Ebd., 66.

    17 Ebd., 13.

    18 Ebd., 68.

    19 Ebd., 22.

    20 Cf. emotivistische bzw. expressivistische Interpretationen der moralischen Sprache,

    beispielsweise Gibbard 1990, Blackburn 1998, Roughley 2004, Sch?like 2002 und

    2005. 21

    Tugendhat 1993, 35 ff.

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  • 222 Julius Schalike

    lichen Befund als Indiz dafiir interpretiert, dass ,,moralische Urteile per sonenirrelativ und d.h. objektiv gemeint sind. In diesen Urteilen wird nicht auf den Urteilenden Bezug genommen, wie wenn gesagt wird, dass mir etwas missfillt."22 Metaethische Expressivisten behaupten, dass sich hinter der sprachlichen Form eines moralischen Urteils nichts anderes als der Ausdruck subjektiver Praferenzen verbirgt. Wenn jemand sagt ,,Es ist falsch, einen Menschen zu erniedrigen", driickt er ihrer Ansicht

    nach damit seine Wiinsche aus, wie wenn er sagte ,,Es moge der Fall sein, dass niemand erniedrigt wird". Die Frage, ob moralische Urteile einen Wahrheits- und Objektivitatsanspruch erheben, oder ob dies nicht der Fall ist, ist metaethisch umstritten. Klar jedoch ist, dass der Dis put zwischen Kognitivisten und Expressivisten nicht mit Verweis auf die sprachliche Gestalt moralischer Urteile entschieden werden kann. Dies ist auch nicht durch den Hinweis auf den ,,Allgemeingiiltigkeits anspruch" moglich, mit dem moralische Urteile haufig auftreten, denn dieser konnte vom Expressivisten als universeller Befolgungsanspruch verstanden werden (,,Es moge der Fall sein, dass kein Mensch einen anderen Menschen erniedrigt").23 Ein religibser Expressivist wird sich durch Tugendhats Argumente somit nicht beeindrucken lassen.

    Aber selbst dann, wenn der metaethische Disput zugunsten des Ko gnitivismus entschieden werden konnte, ware im Blick auf die Argu mentation gegen den moralischen Bezug auf religiosen Glauben nichts gewonnen. Denn auch wenn die metaethische These richtig ware und moralische Urteile einen Wahrheitsanspruch erhoben, ware offen, wa rum ein Gliubiger sich auR3erstande sehen sollte, diesem Anspruch Ge niuge tun zu konnen. Er konnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es moralische Tatsachen zwar gibt, diese jedoch nicht, wie offenkundige physikalische Tatsachen, jedermann epistemisch zuganglich sind, etwa weil der Zugang zu ihnen besondere mystische Begabungen voraus setzt.

    Vielleicht konnte er jedoch durch das normativeArgument dazu bewo gen werden, die exklusiv erlangten moralischen Erkenntnisse nicht inter subjektiv verpflichtend zu machen: moralische Forderungen miussten je dem Betroffenen gegeniuber einsichtiggemacht werden konnen. Zunachst stellt sich nun die Frage, was ,,einsichtig" hier bedeutet. Man konnte dies so verstehen, dass niemand gegen seinefaktische moralische Einsicht zum

    22 Ebd., 38.

    23 Cf. Blackburn 1998, 267; Sch?like 2006.

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  • Religion und Toleranz 223

    Handeln gezwungen werden darf Dieser These lIge ein substantielles normatives Prinzip zu Grunde, fur das eigens argumentiert werden bzw. beziiglich dessen auf eine substantielle moralische Erkenntnis verwiesen werden miisste, da es nicht im metaethischen Kognitivismus impliziert ist. Dann aber steht dieses Prinzip in Konkurrenz zu anderen substan ziellen normativen Prinzipien, etwa denen eines theonomen normativen Systems, und es ist vorerst kein Grund ersichtlich, weshalb ein Glaubi ger, der es nicht anerkennt, nicht von allen - auch von Andersglaubigen oder Atheisten - verlangen sollte, die religiosen Normen zu befolgen.

    Eine andere Lesart von ,,universelle Einsichtigkeit" lautet, dass die Normen nicht faktisch von allen eingesehen werden, sondern ihre Be folgung im aufgekldrten Interesse aller liegt. Ein solches Prinzip hat of fenbar Ahnlichkeit mit Prinzipien wie ,,Die Autonomie einer Person ist unantastbar" oder ,,Lnstrumentalisiere niemanden", wie sie in der kantischen Tradition tatsachlich vertreten werden. Die Akzeptanz eines solchen normativen Prinzips wiirde der Intoleranz eines Glaubigen al lerdings keine Ziigel anlegen - und zwar auch dann nicht, wenn er kein

    moralischer Kognitivist, sondern Expressivist ware. Es sind theoretische Tatsachenannahmen, die ausreichen, Intoleranz zu begriinden; mora lische Tatsachenannahmen konnen, miissen aber nicht hinzutreten. Der

    Glaubige halt fur wahr, dass Gott existiert, dass er wiinscht, dass dieses bestimmte Set von Regeln befolgt wird, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, dass es fur das Seelenheil wichtig ist, die Regeln zu befolgen etc. Zudem meint er u.a., dass jeder ein Interesse daran hat, nicht in die

    Holie zu kommen, falls es eine giibe, und dass jedem, der meint, dass er eine unsterbliche Seele hat, sein Seelenheil wichtiger ist als sein ir disches Wohl. Er kann durchaus anerkennen, dass die Existenz Gottes nicht unwiderlegbar bewiesen werden oder dass nicht jeder verniinftige

    Mensch erkennen kann, dass Gott die Befolgung dieser bestimmten Re geln wiinscht etc. Er kann also anerkennen, dass religiose Meinungen epistemisch nicht universell einsichtig sind (vielleicht weil er meint, dass diese Einsicht eine mystische Begabung und/oder eine nicht jedem zu teil werdende gottliche Gnade voraussetzt). Das muss ihn nicht daran hindern, diese Meinungen fur objektiv wahr zu halten; hat er sie erst einmal ausgebildet, dann kann er mit gutem Recht sagen, dass es im aufgeklirten Interesse eines jeden ist, die religiosen Normen - ggf. auch unter Zwang - zu befolgen, auch wenn faktisch nicht jeder dies ein sieht.

    Aber ist es rational, etwas fur wahr zu halten, was man nicht jedem

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  • 224 Julius Schdlike

    rationalen Menschen beweisen kann? Dies zu bestreiten wiirde bedeu ten, Religiositat generell fur irrational zu erklaren und von Glaubigen zu verlangen, eine agnostische Haltung anzunehmen. Diese Forderung erscheint iibermaBig stark. Sicherlich ist es irrational, eine Meinung aus zubilden, die jeder verniinftige Mensch als falsch erkennt - etwa eine

    Meinung, die einen Widerspruch enthalt oder die mit offenkundigen Tatsachen unvereinbar ist. So schlecht ist es jedoch nicht um alle reli gibsen Meinungen bestellt.24

    3.2. Rainer Forst: das Recht auf Rechtfertigung

    Rainer Forst ist der Auffassung, dass Normen nur dann legitim sind, wenn sie ,,mit Griinden gerechtfertigt werden konnen, die ein jeder Biir ger akzeptieren konnen muss - bzw., um es negativ zu formulieren, die kein Burger verniinftigerweise, d.h. mit reziprok-allgemeinen Griinden, zuriickweisen kann."25 Dies bedeutet, dass man, wenn man Forderungen erhebt, ,,nicht auf ,hhere' Autoritaten oder Wahrheiten zuriickgreift, deren Anerkennung von anderen, die eine andere ethisch-kulturelle Identitat haben, nicht erwartet werden kann. Niemand darf anderen ihr basales ,Recht auf Rechtfertigung', auf die Einforderung von Griinden, die wechselseitig akzeptabel und einsehbar sind, verweigern."26 Reziprok und allgemein nicht zuriickweisbare Griinde bezeichnet Forst als ,,mo ralische" oder ,,Vernunftgriinde" und unterscheidet sie von ,,ethischen" oder ,,(instrumentell-)rationalen" Griinden, deren Bezugspunkt die kon tingenten, individuell divergierenden Ziele der Subjekte sind.27 Die ,,Fa higkeit und Bereitschaft", die ,,Grenze von Reziprozitat und Allgemein heit anzuerkennen", ,,zeichnet praktisch-verniinftige Personen aus."28

    Seine These entwickelt Forst im Zuge einer ,,rekursiven Rekonstruk tion", die von den ,,Geltungsanspriichen zu den Bedingungen ihrer Ein l6sung zuriickfragt".29 Jeder, der sich in ,,moralischen Kontexten" befin

    24 In Bezug auf Meinungen wie die, Gott sei sowohl gut als auch allwissend und all

    m?chtig, hat man im Blick auf die ?bel in der Welt allerdings entsprechende Kritik

    vorgebracht. Auf diese sog. Theodizee-Problematik komme ich zur?ck. 25 Forst 2000a, 132; cf. auch 2003, 593 (die Verwandtschaft dieser Formel mit der

    Scanions, moralische Normen seien Normen ?which no one could reasonably reject" (Scanlon 1998, Kap. 5), ist offensichtlich.

    26 Forst 2000a, 132. 27 Forst 1999, ? 2. 28 Forst 2000a, 134; Forst 1999,173. 29 Cf. Forst 1999,175 (mit Fn.29); 2003, 592 f.

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  • Religion und Toleranz 225

    det - und d.h.: der meint, dass sein Handein Auswirkungen auf andere hat -, erhebt Forst zufolge den Anspruch, dass ,,seine Handlungsweise auf der Basis von Normen gerechtfertigt werden kann, die reziprok und allgemein begriindbar und verpflichtend sind."30 Eine klare Verletzung von Reziprozitat liegt Forst zufolge etwa dann vor, ,,wenn der Anhanger einer bestimmten Religion es fur wechselseitig zumutbar halt, anderen (in der Form bestimmter rechtlicher Regelungen) Werte aufzuzwingen, die er fur wahr halt, die anderen aber nicht."31 So gelangt Forst zu einer ahnlichen Diagnose wie Tugendhat: ,,Die Geltungskriterien von Rezi prozitat und Allgemeinheit sind moralischen Normen eingeschrieben."32 Forst versteht diese rekursive Rekonstruktion als eine ,,Begruindung des Rechtfertigungsprinzips ."33

    In welcher Weise ist der moralische Kontext mit Anspriichen verbun den? Anders als Tugendhat, hebt Forst nicht auf die Semantik der mo ralischen Sprache ab. Ebenso wenig behauptet er, dass in moralischen

    Kontexten regelmif3ig instrumentell-rationale Griinde existieren, die es angeraten sein lassen, die Reziprozitatsgrenze nicht zu verletzen. Letztere Begriindungsvariante lehnt Forst ab: es gehe bei der Frage ,,Warum mo ralisch sein?" nicht um instrumentelle Griinde, die geeignet waren, den

    Amoralisten von der Moral zu iiberzeugen.34 Forst erlautert dies, indem er auf die ,,Autonomie der Moral" verweist: es sei sinnwidrig, nach in strumentell-rationalen Griinden fur den moralischen Standpunkt zu fragen.5 Und in der Tat erscheint es unsinnig, sich durch Klugheits erwagungen in eine moralische Haltung hereinzureflektieren, da das

    moralische Handeln intrinsisch um des anderen willen erfolgt (und ihm in diesem Sinne ,,geschuldet" ist), nicht aber allein ein Mittel darstellt, um eigene moralisch indifferente Ziele zu realisieren.36

    Dass und in welcher Weise die rekursive Rekonstruktion Anspriiche aufweist, die in ,,moralischen Kontexten" erhoben werden, und auf diese

    Weise das Rechtfertigungsprinzip begriindet, erschliefBt sich, sofern man 30 Cf. Forst 2003, 592. 31 Forst 2000a, 133; cf. auch 2003, 595. 32 Forst 2003, 592. 33

    Ebd., im Original nicht kursiv. 34 Forst 1999,192. 35

    Ebd., 193; 195. 36 Dies schlie?t jedoch nicht aus, dass der moralische Standpunkt in empirischen In

    teressen gr?nden k?nnte - freilich nicht in moralisch indifferenten, egoistischen,

    sondern in altruistischen bzw. wohlwollenden Interessen, in denen es dem Subjekt intrinsisch um das Wohl anderer geht (cf. Sch?like 2006).

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  • 226 Julius Schalike sie als ,,Teil einer praktischen Einsicht zweiter Ordnung" begreift, einer Einsicht in die ,,Pflicht zur bzw. das Recht aufRechtfertigung" unter den Bedingungen von Reziprozitat und Allgemeinheit.7 Forst kniipft hier an Dieter Henrichs Interpretation von Kants Lehre vom ,,Faktum der Vernunft" an, derzufolge nur eine unmittelbare Einsicht in das Sitten gesetz dessen unbedingte und nicht weiter begriindbare Verbindlichkeit zeigen konne. Entsprechend sei das Prinzip reziprok-aligemeiner Recht fertigung einer Begriindung weder fahig noch bediirftig.38 Die ,,rekur sive Rekonstruktion" arbeitet nur den Gehalt der Einsicht heraus, die sich bei ,,Verniinftigen" in moralischen Kontexten einstellt - wobei ,,Ver niinftige" definiert sind als diejenigen, die in solchen Kontexten diese Einsichten haben. Ohne eine solche Einsicht erhobe niemand in mora lischen Kontexten die von Forst genannten Geltungsanspriiche. Wenn alle Handelnden in diesen Kontexten - also stets dann, wenn sie meinen, ihr Handeln habe Auswirkungen auf andere - diese Geltungsanspriiche anerkennen, dann deshalb, weil in diesen Kontexten faktisch allen die Einsicht zweiter Ordnung zuteil wird, dass eine ,,unbedingte Pflicht zur Rechtfertigung"39 besteht.

    Dieser Ansatz erscheint mir aus folgenden Griinden problematisch: Forst erklart das Rechtfertigungsprinzip zur nicht begriindungsbediirf tigen Einsicht. Deren Existenz ist jedoch ein blof3es Postulat. Nun ver fiugen einige womoglich tatsachlich iiber eine solche Einsicht. Zweifellos gibt es aber auch andere, denen sie fehlt und die den Vernunftbegriff, auf den die ,,Einsichtigen" sich berufen, als ein bloges Hirngespinst betrachten.40 Diese Menschen scheinen sogar recht zahlreich zu sein, denn schliel3lich ist religios motivierte Intoleranz ubiquitir.4' Dem ,,Un 37 Forst 1999, 199. Es ist wichtig zu sehen, dass sich dies nur auf diese Weise erschlie?t.

    Mit einem moralischen Kontext an sich ist der von Forst genannte Geltungsan

    spruch eines in ihm gef?llten praktischen Urteils keinesfalls verkn?pft. Dieser Kon

    text ist ja allein dadurch charakterisiert, dass der Handelnde gewahrt, dass seine

    Entscheidung Auswirkungen auf andere haben kann. Fragt der Handelnde in sol

    chen Kontexten nach praktischen Gr?nden, so muss er bei Strafe der Irrationalit?t

    die anderen ber?cksichtigen, insofern dies vor dem Hintergrund seiner kontingenten Pr?ferenzen relevant ist; dass er sich vor ihnen in Forsts Sinne verantworten muss

    (Forst 1999, 175), gilt jedoch nur, wenn zus?tzliche, kontingente Bedingungen gege ben sind (etwa ?h?here Einsicht" oder Altruismus).

    38 Ebd., 196.

    39 Ebd., 195.

    40 Cf. den entsprechenden, auf Kants Vernunftbegriff gem?nzten Einwand Tugend hats: ?Eine solche Vernunft [gibt es] nicht", Tugendhat 1993, 70.

    41 Das faktisch hohe Ma? an Intoleranz l?sst sich nicht dadurch erkl?ren, dass die

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  • Religion und Toleranz 227

    einsichtigen" kann nicht bewiesen werden, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung ist, wenn er keinen Grund sieht, die Reziprozitatsgrenze zu be achten. Dann aber konnte er den ,,Einsichtigen" Inkonsistenz vorwerfen, sollten sie ihn zur Beachtung der Reziprozitatsgrenze auffordern - unter den faktisch bestehenden Verhaltnissen setzt die Reziprozitatsforderung sich somit selbst aug3er Kraft. Die ,,Einsichtigen" wiirden namlich offen bar auf ,,hhere Wahrheiten" rekurrieren, obgleich dies nach ihren ei genen Maf3stiben illegitim ist.42 Wer die Reziprozitatsgrenze anerkennt, wird andere religiose Ansichten tolerieren; er darf jedoch niemanden, der diese Grenze nicht anerkennt und der meint, religios fundierte For derungen an andere richten und gewaltsam fur ihre Einhaltung sorgen zu diirfen, daran hindern. Der ,,Einsichtige" ist somit zur Toleranz auch derer verpflichtet, die diese Grenze nicht akzeptieren. Dies stellt ein emp findliches Manko dar, denn klarerweise gibt es Grenzen der Toleranz, und diese scheint Forst viel zu weit ziehen zu miissen.

    Hierauf konnte Forst reagieren, indem er Reziprozitat nicht an die faktische Zustimmung bindet, sondern an die Zustimmung der Betroffe nen, sofern sie verniinftig waren. ,Verniinftig" lIsst sich zunachst im ge wohnlichen Sinne instrumenteller Rationalitit verstehen. Ein Konsens beziiglich des Reziprozitatsprinzips ware dann jedoch nicht zu erwarten, da die Einsicht in dessen Giiltigkeit nur durch ein besonderes Erkennt nisvermogen erreichbar sein soll, das vielen offenbar fehlt. Forst k6nnte nun zweitens sagen, dass Forderungen dann legitim sind, wenn sie von denen, die im Sinne dieses speziellen Vernunftbegriffes verniinftig sind, reziprok akzeptiert wiirden.43 Als ,,vernuinftig" gelten dann diejenigen,

    Subjekte zwar ?einsichtsf?hig" sind, jedoch die Bedingung der Aktualisierung der Einsichtsdisposition nicht erf?llen: die Erkenntnis, sich in ?moralischen Kontexten" zu befinden. Intolerante gewahren typischerweise sehr genau, dass ihr Handeln

    Auswirkungen auf andere hat. Faktische Intoleranz scheint mir auch nicht dadurch

    erkl?rbar, dass die Subjekte zwar Einsicht in die Rechtfertigungspflicht haben, aber - die ?B?rden der Vernunft" (cf. Forst 2000a, IV, Rawls 1993, 128) verkennend -

    meinen, die Zwangsma?nahmen seien reziprok gerechtfertigt. Denn faktisch fehlt

    vielen diese Einsicht ganz offenbar, und oftmals haben Intolerante durchaus die

    ?B?rden der Vernunft" anerkannt, haben also einger?umt, dass der korrekte Ver

    nunftgebrauch unterschiedliche metaphysische und evaluative Konzepte hervor

    bringen kann (cf. Rawls' Begriff des ?vern?nftigen Pluralismus", Rawls 1993,132 ff.), ohne sich dadurch tolerant stimmen zu lassen.

    42 Eine klare Verletzung von Reziprozit?t liegt Forst zufolge vor, wenn ?eine Partei

    [...] auf die Autorit?t ,h?herer Wahrheiten [verweist], deren Anerkennung nicht all

    gemein erwartet werden kann" (Forst 2003, 595). 43 Ob dies Forsts Intentionen entspricht, ist nicht ganz klar, betont er doch, dass er

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  • 228 Julius Schdlike

    die die Reziprozitatsgrenze anerkennen und ihre Forderungen entspre chend filtern. Dann gilt analytisch, dass das Reziprozitatsprinzip eine

    Anerkennung der Verniinftigen ,,erwarten" kann, die anderen ,,hoheren Wahrheiten" verwehrt bleibt - verniinftig zu sein, bedeutet dann namlich nichts anderes als die Anerkennung dieses Prinzips. Forsts Argumenta tion wiirde dann in der Tat zeigen, dass ,,Einsichtige" gute Griinde ha ben, (i) religiose Toleranz zu iiben und (ii) religios Intoleranten auch ge waltsam entgegenzutreten; sie trafe jedoch bei den ,,Uneinsichtigen" auf taube Ohren. Da diese aber offenbar uiberaus zahlreich sind, erscheint es wiinschenswert, nach Argumenten zu suchen, die auch fur letztere

    Oberzeugungskraft besitzen.

    3.3. Zwei Wege zu einem toleranten Glauben

    Die einzig aussichtsreichen Wege, ,,uneinsichtige" Glaubige davon zu iiberzeugen, Anders- oder Unglaubigen gegeniiber tolerant zu sein und eine sakulare Staatsordnung intrinsisch zu billigen, scheinen mir im Rekurs einerseits auf Elemente der jeweiligen religiosen Traditionen zu bestehen, die eine tolerante Haltung nahe legen, andererseits jedoch auf den epistemischen Status von religiosen Meinungen. Argumente des ersten Typs waren solche, die den Zusammenhang zwischen dem richtigen Glauben und dem Befolgen gottlicher Gebote einerseits, und dem Seelenheil andererseits anzweifeln.44 Der christlichen Apokata stasis-Lehre zufolge etwa ist mit der bedingungslosen Erlosung aller be

    wussten Wesen zu rechnen.45 Diese Extremposition hat sich allerdings nicht durchsetzen konnen. Doch auch wenn man am grundsaitzlichen Zusammenhang zwischen Glaube und Heil festhalt, gibt es Argumente fur einen Heilsoptimismus, die fur die Toleranzfrage bedeutsam sind.46 So hat das II. Vatikanische Konzil eine allgemeine Heilsmoglichkeit aller

    Menschen bekraftigt, sogar jener, ,,die ohne Schuld noch nicht zur aus driicklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne

    ?Vern?nftigkeit" versteht im Rekurs auf die Bedingungen von Allgemeinheit und

    Reziprozit?t, ohne dies weiter zu qualifizieren (cf. Forst 2003, 593, Fn. 5). 44 Schmidt-Leukel stellt folgende Formel auf: ?Je mehr explizite Glaubensinhalte und

    spezifisch kultische Vollz?ge man f?r den heilsnotwendigen Glauben als unabding bar ansieht, als desto gef?hrlicher muss das Wirken von H?retikern und Andersgl?u

    bigen gelten, und dementsprechend st?rker wird der Druck zum Einsatz intoleranter Ma?nahmen" (Schmidt-Leukel 1995, 204).

    45 Cf. ebd., 201. 46 Cf. ebd., ? 4.4.

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  • Religion und Toleranz 229

    gottliche Gnade, ein rechtes Leben zu fiihren sich bemiihen."47 Die Schwelle fur den Einsatz von Zwangsmaf3nahmen wird auf diese Wei se tendenziell durch Kriterien definiert, die mit denen einer sakularen

    Moral iibereinstimmen, und damit wird der sakulare Staat tendenziell zustimmungsfahig. Einer solchen Argumentationsstrategie sind freilich durch die faktischen religiosen Traditionen Grenzen gesetzt: wenn die als Offenbarung anerkannten Quellen ganz eindeutig bestimmte Ge bote enthalten, die traditionsunabhangig nicht akzeptiert werden, so ist der Spielraum fur Toleranz gering.

    Der andere Argumentationsstrang bezieht sich auf Griinde, dem eigenen Glauben skeptisch gegeniiberzustehen. Er fokussiert auf den epistemischen Status religioser Meinungen, etwa der Meinung, dass

    Gott existiert, dass er diese bestimmten Regeln autorisiert hat, dass es eine unsterbliche Seele gibt, dass es fur das Heil dieser Seele relevant ist, die g6ttlichen Gebote zu befolgen etc. Sollte der Glaubige einraumen, dass seine diesbezuiglichen Meinungen unzureichend begriindet sind, so konnten ihm auch Zwangsmag3nahmen, sofern sie nur vor dem Hinter grund dieser Meinungen begruindet sind, problematisch erscheinen.

    Hier stellen sich nun zwei Fragen: Warum sollte jemand an seinem Glauben zweifeln? Und wie konnte jemand an seinem Glauben festhal ten, wenn er ihn doch fur epistemisch zu schwach begriindet halt, um praktische Konsequenzen aus ihm abzuleiten?

    3.3.i. Glaube und Vernunft Von zahlreichen Philosophen ist behauptet worden, religioser Glaube sei irrational, ihn auszubilden intellektuell unredlich, weil es keine aus reichenden Belege fur ihn gebe.48 Andere haben entgegengehalten, dass keineswegs klar sei, dass ein religi6ser Glaube nicht rational begriindbar sei.49

    Es wiirde den Rahmen dieser Arbeit nun bei weitem sprengen, die Frage nach den Bedingungen gerechtfertigten Meinens zu kliren. Dies ist jedoch kein Schaden, denn sie ist fuir meine Oberlegungen nicht ent scheidend und kann offen bleiben. Das skeptizistische Argument, das ich hier vorstellen mochte, kann nur bei Glaubigen etwas ausrichten,

    47 Lumen Gentium 16, zitiert nach Schmidt-Leukel 1995, 204. 48 Cf. Cliffords Verdikt: "It is wrong always, everywhere, and for anyone, to believe

    anything upon insufficient evidence" (Clifford 1879, 426). Cf. auch Blanshard 1974, 400 ff.

    49 Cf. Plantinga 1981, 325; kritisch hierzu Quinn 1985.

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  • 230 Julius Schdlike

    die zu einer entsprechenden Interpretation des epistemischen Status von Glaubensiiberzeugungen tendieren. Solche Glaubigen scheinen mir des halb keine blog3e Fiktion zu sein, weil folgende Annahmen wohl auch fur viele Theisten zustimmungsfahig sind:

    - es ist unmoglich (oder jedenfalls sehr problematisch), die Annahme, dass es einen Gott gibt, der die drei (fur den Gottesbegriffvieler Reli gionen konstitutiven) Eigenschaften ,,Allwissenheit", ,,Allmacht" und ,,Giite" besitzt, in Einklang damit zu bringen, dass es Ubel in der Welt gibt - und es gibt Obel in der Welt (Theodizee-Problem)50

    - alle Gottesbeweise scheitern - religi6se Erfahrungen konnen religiose Meinungen zwar stiitzen, sind

    aber selbst schon von ihnen gepragt - ob jemand einen Glauben annimmt und wenn ja, welchen, ist stati

    stisch gesehen sehr stark vom Zufall seiner Sozialisation und kontin genter lebensgeschichtlicher Ereignisse abhangig

    - viele Menschen - und sicher die allermeisten Glaubigen - haben ein starkes Bediirfnis nach einem religi6sen Weltbild, und dies macht sie anfallig fur Wunschdenken51

    Dass es Glaubige gibt, die diese Annahmen anerkennen, erscheint mir nicht unrealistisch. Nun miisste auf der Basis jeder plausiblen Episte mologie der Umstand, dass die Ausbildung religiaser Meinungen gra vierende Koharenzprobleme im doxastischen System einer Person ver ursacht, diese Meinungen rational suspekt erscheinen lassen. Und das Theodizee-Problem besteht genau darin, dass bestimmte religiose doxas tische Systeme - etwa christliche - inkonsistent zu sein scheinen.2 Die ses Problem vor allem ,,bricht" gewissermat3en die Glaubensgewissheit ,,auf" und bildet das Einfallstor fur skeptizistische Uberlegungen, die teilweise an die anderen oben angefiihrten Punkte ankniupfen: religiose

    Erfahrungen, die vermeintlich den Glauben stiitzen, sind tatsachlich stark von der religiosen Tradition abhangig, in der der Glaubige bereits steht.53 Macht man sich nun noch klar, wie offenkundig zufallig diese

    50 Cf. Mackie 1982, Kap. 9; J?ger 1998, Kap. IV 51 Cf. Freud 1927. 52

    ?Wie mir scheint, m?sste ein intellektuell differenzierter Erwachsener unserer Kultur

    epistemisch nachl?ssig sein, um nicht sehr substantielle Gr?nde f?r die Annahme zu

    haben, dass [der Satz ?Gott existiert nicht"] wahr ist", Quinn 1985, 347 (im Blick auf das Theodizee-Problem).

    53 Cf. Kutschera 1990, 211; 241 f.; cf. auch Mackie 1982, Kap. 10.

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  • Religion und Toleranz 231

    Traditionszugehorigkeit statistisch gesehen ist54, so wird deutlich, dass alles, was aus religii5ser Perspektive als Beleg oder als basale Uberzeugung gilt, durchaus auch als Element eines Tauschungsprozesses betrachtet werden kann, in dem die Selektivitat der Informationsrezeption eine realitatsbezogene Meinungsbildung verhindert hat. Nimmt man noch den Befund der Religionssehnsucht des Menschen und die damit ein hergehende Anfalligkeit fur Wunschdenken hinzu, konnte man zu dem Schluss gelangen, dass viel dafiir spricht, dass die doxastischen Systeme auch dann von ganz ahnlichen religiosen Meinungen durchsetzt waren,

    wenn Gott inexistent ware.55 Der Umstand, dass eine Tauschungstheorie bereit steht, bedeutet

    natiirlich nicht, dass sie wahr ist. Ob sie es ist, kann ich hier gliicklicher weise offen lassen; es ging mir lediglich darum, zu zeigen, welche Uber legungen einen Glaubigen fur skeptizistische Gedanken aufgeschlossen sein lassen koinnten. Verfehlen sie dieses Ziel, so richtet auch das skep tizistische Toleranz-Argument nichts aus. Um was fur ein Argument handelt es sich hierbei? Zunachst werde ich einen Vorschlag von Perry Schmidt-Leukel untersuchen, im Anschluss daran einen eigenen unter breiten.

    3.3.2. Perry Schmidt-Leukel: glaubensimmanente Skepsis Angenommen, ein Theist kommt zu der Uberzeugung, dass sein Glaube unzureichend begruindet sei. Perry Schmidt-Leukel meint, dies k6nnte ihn zu einer toleranten Haltung bewegen. Er konnte namlich folgendes Prinzip anerkennen: ,,Die Glaubensfreiheit einzelner ist einzuschranken, wenn durch sie das irdische Wohl vieler mit Sicherheit bedroht wird. Sie ist jedoch nicht einzuschranken, wenn durch sie das ewige Heil vieler mbglicherweise, aber nicht mit Sicherheit bedroht wird" (Schmidt Leukel 1995, 191).

    Schmidt-Leukel erlautert dies dadurch, dass ungesicherte Glaubensan nahmen es erlauben mogen, ,,dass jemand fuir sich das Wagnis eingeht, sein Leben darauf zu setzen. Aber aus einer ungesicherten Glaubensan nahme lasst sich nicht das Recht ableiten, gegen einen Andersglaubigen

    54 ?Reiner Zufall [hat] entschieden, welche dieser zahlreichen Welten den Grund f?r seinen Glauben hergibt; [...] dieselben Ursachen, die ihn in London zum Geistlichen

    [gemacht haben, h?tten ihn in] Peking zum Buddhisten oder zum Konfuzianer

    gemacht" (Mill 1895, 27). 55 Cf. Mackie 1982, 316 f.

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  • 232 Julius Schdlike

    gewaltsam vorzugehen."56 Damit scheint er mir einen wichtigen Punkt getroffen zu haben. Er stiitzt ihn argumentativ allerdings nicht auf die richtige Weise ab, wenn er ihn wie folgt begriindet: ,,Denn andernfalls hatten alle auf der Basis ihrer Glaubensannahmen das Recht, alle An dersglaubigen anzugreifen, was den Untergang des menschlichen Zu sammenlebens bedeuten wurde."57 Das Argument enthalt offenbar drei Pramissen: (i) Wenn ich das Recht habe, auf der Basis ungesicherter An nahmen Zwang auszuiiben, dann haben alle dieses Recht; (ii) wenn alle dieses Recht haben, wird das Zusammenleben unmoglich; (iii) notwen dige Bedingungen fur Rechte sind, dass sie das Zusammenleben nicht unmoglich machen. Alle drei Pramissen konnen angezweifelt werden, wobei mir die zweite das schwachste Glied zu sein scheint: Die Annahme, die generelle Uberzeugung, ein entsprechendes Recht zu besitzen, mach te menschliches Zusammenleben unmoglich, ist in dieser Allgemeinheit klarerweise falsch. Schmidt-Leukel iibersieht, dass zu meinen, ein Recht zu haben, einerseits, und Gewalt einzusetzen, um es durchzusetzen, an dererseits, verschiedene Dinge sind; wenn irgendetwas das Zusammen leben bedroht, dann sicherlich nicht ersteres, sondern letzteres. Wovon nun hangt es ab, ob der Schritt zum Einsatz von Gewalt vollzogen wird? Hier spielen pragmatische Erwagungen eine entscheidende Rolle, und fur einen Verzicht auf Gewalt sind Griinde wie das Fehlen von Macht

    mitteln, um einen ,,Angriff" erfolgreich durchzufiihren, hinreichend. Solche Griinde sind ganz unabhangig von skeptizistischen Bedenken - sie konnen auch fur jemanden existieren, der fest von der Wahrheit seines Glaubens uberzeugt ist. Eine entsprechende pragmatische Ein sicht ermoglicht das Zusammenleben auch von Menschen, die meinen, das Recht zur Gewaltanwendung gegen Andersglaubige zu haben.

    Ob die Pramissen (i) und (iii) plausibel sind, kann ich offen lassen, da wegen der Fehlerhaftigkeit von Pramisse (ii) Schmidt-Leukels Konklusion auch dann nicht folgte, hatten sie Giiltigkeit.58 56 Schmidt-Leukel 1995,196. 57 Ebd. 58 Hier nur zwei kurze Bemerkungen: anstelle von Pr?misse (i) k?nnte der Gl?ubige

    die ?hnliche Pr?misse (i*) vertreten: ?Wenn ich das Recht habe, auf der Basis zwar

    ungesicherter, aber wahrer Annahmen Zwang auszu?ben, dann haben alle dieses

    Recht". Da er allein seine eigenen Glaubensannahmen f?r wahr h?lt (darin liegt sein

    ?Wagnis"), m?sste er den anderen keine Rechte zubilligen. Pr?misse (iii) scheint kei ne begriffliche Wahrheit zu markieren, wie der (offenbar nicht widersinnige) Spruch

    fiat justitia, et per eat mundus indiziert. Dass bei der Begr?ndung von Rechten kon

    sequentialistische ?berlegungen eine Rolle spielen, ist sicher nicht abwegig, aber

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  • Religion und Toleranz 233

    Warum also sollten skeptizistische Oberlegungen zu religioser To leranz, ggf. zum Verzicht auf den Rekurs auf Glaubensannahmen im politischen und auch im privaten intersubjektiven Bereich fiihren? Dies ware natiirlich gut verstandlich, wenn die Einsicht in den prekaren epis temischen Status des Glaubens das Subjekt dazu bringt, seine religi6sen

    Meinungen fallen zu lassen. Schmidt-Leukel meint jedoch, dass dieser Schritt nicht rational zwingend sei, dass der Glaube aufrecht erhalten werden konne, jedoch gewissermag3en unter skeptizistischen Vorbehalt gestellt werden miisse; dies reiche aus, um eine Toleranz-Haltung zu be griinden. Um dem z.B. von Kolakowski vorgetragenen Einwand zu be gegnen, dass ,,ein Glaubiger, seiner Definition nach, dem eigenen Glau ben nicht als Skeptiker gegeniiber stehen kann"59, dass Glaube begrifflich an die Wahrheitsannahme gebunden ist, operiert Schmidt-Leukel mit einem durch den Kritischen Rationalismus inspirierten Glaubensbegriff; Schmidt-Leukel zufolge ist eine Meinung nur dann nicht rational ver tretbar, wenn sie widerlegt ist:

    ,,[Es ist] moglich, ja sogar notwendig, den epistemischen Status der Glaubensannah men als hypothetisch zu kennzeichnen. Und solange nicht schwere und unwiderlegli che Griinde gegen die Wahrheit dieser Glaubensannahmen sprechen, ist es eine mog liche verniinftige Option, auf ihre Wahrheit zu vertrauen, ohne dass damit das Risiko des Irrtums ausgeschlossen ware. Gegeniiber einem Glauben, der glaubt, dass er weifl, handelt es sich um einen Glauben, der weifi, dass erglaubt. Er tragt einen gewissen skep tischen Zug in sich" (Schmidt-Leukel 1995,195).

    Es scheint mir jedoch fraglich, ob Schmidt-Leukel auf der Basis dieser Rationalitatskonzeption60 sein Beweisziel erreicht. Denn wenn der Glau bige meint, es sei rational, seine Glaubensannahmen fur wahr zu halten, da sie ja nicht widerlegt seien, dann muss er sie in ein praktisches Kalkiil einbringen, dessen Resultat sein diirfte, dass er zu Zwangsmag3nahmen verpflichtet ist; es ware inkonsistent, die normativen Konsequenzen auf

    dass sie es in der von Schmidt-Leukel behaupteten Weise tun, liegt keinesfalls auf der Hand. Der Satz ?Ich habe zwar das Recht, x zu tun, aber ich verzichte darauf, es

    wahrzunehmen, da dies das menschliche Zusammenleben beeintr?chtigen w?rde", scheint weder semantisch noch moraltheoretisch anst??ig.

    59 Kolakowski 1980, 8; cf. Schmidt-Leukel 1995,193, Fn. 25. - Kolakowski lehnt es des

    halb ausdr?cklich ab, religi?se Toleranz auf skeptische Motive zu st?tzen. 60 Ob diese sich zu Recht auf den Kritischen Rationalismus berufen kann, sei dahin

    gestellt. Es erscheint allerdings unplausibel, dass eine Annahme auch dann noch

    als rational vertretbar gelten kann, wenn sie zwar nicht widerlegt ist, jedoch ?ber

    w?ltigende Indizien daf?r sprechen, dass sie falsch ist (bei einer fairen Lotterie etwa die Annahme, mein Los aus 100 Millionen gewinne den Hauptpreis).

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  • 234 Julius Schdlike den privaten Bereich zu beschranken. Und auch wenn er seine religiosen

    Meinungen mit einem probabilistischen Koeffizienten versieht, da er sie fur unsicher halt, iiberwiegt doch das auf dem Spiel stehende Gut (ewiges Seelenheil, Aufrechterhaltung der gottlichen Ordnung) die durch Tole ranz zu sichernden irdischen Giiter so sehr, dass die ggf. niedrige sub jektive Wahrscheinlichkeit beziiglich der Existenz dieses Gutes und der geeigneten Mittel iiberkompensiert wird. Kurzum: wer sein Leben auf ungesicherte Glaubensannahmen setzt, der geht ein Wagnis ein, und ein

    Aspekt dieses Wagnisses ist es, durch unbegriindete Zwangsmat3nahmen, zu denen man sich qua Glaube verpflichtet, unnotiges Leid zu erzeugen. Das Wagnis liegt in der Summe aller praktischen Folgen des Glaubens.

    3.3.3. Wunschdenken und Ethik des Meinens Ich schlage vor, eine Differenzierung einzufiihren, die bei Schmidt Leukel fehlt: eine Meinung kann vor dem Hintergrund des doxastischen Systems einer Person theoretisch irrational sein, ohne dass es fur sie praktisch irrational sein muss, die Meinung auszubilden oder sie aufrecht zu erhalten. Wenn etwas nicht zu andern, zu meinen aber unertraglich ist, kann es durchaus wiinschenswert erscheinen, im Glauben zu sein, es sei gar nicht der Fall - besonders dann, wenn die Aussicht besteht, dass die falsche Meinung keine negativen Folgen haben und ihre Korrektur nicht eines Tages unausweichlich sein wird. Wenn jemand sich beispielsweise nicht mit der Tatsache abfinden konnte, dass der verstorbene Lebenspartner ein grof3er Schurke und Betriuger war, so konnte es fur ihn praktisch rational sein, durch gezielte Steuerung seiner Erinnerungstatigkeit die Indizien fur das Fehlverhalten des Partners moglichst in Vergessenheit geraten zu lassen. Das Bild des Partners ist dann zwar inadaquat, aber es ist das Bild, mit dem das Subjekt alles in allem am besten leben kann.6'

    In ahnlicher Weise k6nnte es fur einen Glaubigen, der es fur intel lektuell unredlich hilt, seinen Glauben aufrecht zu erhalten, praktisch rational sein, im Modus von Wunschdenken etwa die Theodizee-Proble

    matik zu verdrangen, den Kontakt mit anderen im Glauben gefestigten Menschen zu suchen und die Aufmerksamkeit auf religiose Erfahrungen und anderes zu lenken, das ihn in seinem Glauben bestirkt.62 Dies ware 61 Zum Ph?nomen der Selbstt?uschung cf. M?le 2001; Sch?like 2004. 62 Cf. Pascals Aufforderung, sich durch das Lesenlassen von Messen und den Gebrauch

    von Weihwasser zum Glauben zu bringen -

    ein Prozess, den er als praktisch rationa

    le ?Selbst-Verdummung" betrachtet (cf. Pascal 1670, Frg. 233; cf. Mackie 1982, 318).

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  • Religion und Toleranz 235

    unter Umstanden dann praktisch rational, wenn ihm viel an einem reli gibsen Weltbild liegt. Freilich ist hierbei zu beachten, mit welchen Kos ten die Obernahme des Weltbildes einhergeht, weil der Glaube Pflichten auferlegt. So konnte es sein, dass er etwa das Sexualleben restringiert. Fur die Frage der praktischen Rationalitat des Versuchs, in sich einen Glauben auszubilden, muss eine Kosten-Nutzen-Betrachtung durch gefiihrt werden, etwa indem danach gefragt wird, ob es fur die Person starkere praktische Griinde gibt, glaubig und in seinem Sexualleben eingeschrankt zu sein, als den Glauben zu entbehren, dafiir aber sexuell nicht an die Ehe und das Ziel der Reproduktion gebunden zu sein.

    In solchen Giiterabwaigungen spielt nun fur einen Menschen, der in trinsische Griinde zu haben meint, auch das Wohl anderer zu fordern (der in einem sakular-moralischen Sinne ein ,,moralisches Subjekt" ist), auch eine Rolle, welche Auswirkungen es aufandere hat, wenn er einen Glauben ausbildet. Ein Glaube verpflichtet ja nicht nur seinen Trager dazu, selbst bestimmte Regeln einzuhalten, sondern diese Regeln gelten ihm als universellverpflichtend, sie fordern ihn somit dazu auf, auf ihre allgemeine Befolgung mit den geeigneten Mitteln hinzuwirken - und geeignet erscheinen oftmals eben auch Zwangsmittel. Der Einsatz von Zwang aber erzeugt Leid, und dieses muss der potentiell Glaubige gegen das ihm in Aussicht stehende Gut, einen Glauben zu besitzen, abwa gen. Steht er auf dem Standpunkt der unparteiischen Interessenberiick sichtigung, so werden schon gravierende negative Auswirkungen auf nur einen einzigen anderen Menschen fur ihn die Ausbildung des Glaubens praktisch irrational erscheinen lassen.63

    Fur den nach Glauben Strebenden bedeutet dies, dass ethisch, d.h. im Lichte der praktischen Griinde betrachtet, um so mehr fur einen

    63 Freilich k?nnte er auch der Ansicht sein, dass es auch f?r die anderen besser w?re, einen ggf. illusion?ren Glauben auszubilden, und dies k?nnte ihn zu einer intole ranten Haltung bestimmen. Zwangsma?nahmen sind jedoch aus den von Locke genannten Gr?nden untaugliche Mittel der Einflussnahme auf die Meinungsbil

    dung. Allerdings gilt dies nur f?r die ?ersten Generationen" -

    mit der Zeit k?nnte

    die gewaltsame Mission durchaus Fr?chte tragen. Dennoch erscheint der Einsatz von Zwangsmitteln nicht angebracht: zum einen erfahren viele ihren Agnostizismus durchaus nicht als Gl?ckshindernis; zum anderen kann das religi?se Bed?rfnis, das viele haben, auf verschiedene Weise befriedigt werden

    - es besteht kein Anlass,

    Andersgl?ubige ?abzuwerben". Und schlie?lich werden diejenigen, die religi?se Be d?rfnisse haben, ohnehin die sie befriedigenden illusion?ren doxastischen Systeme ausbilden, Zwang ist angesichts der menschlichen Begabung zur Selbstt?uschung

    ?berfl?ssig.

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  • 236 Julius Schdlike

    Glauben spricht, desto weniger allgemeine Vorschriften er macht. Ein Glaube, der etwa die Erlosung nicht an Sakramente und Gebotstreue kniipft, ist ethisch unbedenklich.64 Fur einen solchen Glauben diirfte man die gr6f3te Inbrunst entwickeln. Einen Glauben hingegen, der sehr genaue Vorschriften macht und ihre Befolgung universell einfordert, diirfte nur derjenige ausbilden, der bereit und fahig ist, sich stets dann, wenn er ihn zu Zwangsmagnahmen auffordert, daran zu erinnern, dass die Glaubensiiberzeugungen theoretisch irrational sind. Dies verlangte jedoch einen psychischen Spagat, den kaum jemand wird leisten konnen oder wollen. Eine durchgangige, offene Einsicht in die fehlende epistemische Begriindung des Glaubens lIsst letzteren kollabieren, denn Glauben ist begrifflich an Fiirwahrhalten gekniipft. Meinungen lassen sich nicht durch ethische Erwagungen direkt maf3schneidern, sondern diese konnen nur Manipulationsversuche am doxastischen System motivieren, die wiederum nur dann funktionieren konnen, wenn - durch Verdrangen und Aufmerksamkeitsverlagerung - der Anschein entsteht, dass die Meinungen tatsachlich wahr sind.65

    Faktisch wird man freilich nur sehr selten Glaubige finden, die zu ir gendeinem Zeitpunkt offen ihrem eigenen Glauben skeptisch gegeniiber stehen und sich daraufhin intentional zum Gegenstand von Strategien der Selbsttauschung machen. Es scheint daher, dass das skeptizistische

    Argument ohne praktische Relevanz ist. Tatsachlich entfaltet es jedoch durchaus seine Wirkung, allerdings auf eine eher versteckte Weise. Realistisch ist der Fall eines Glaubigen, der seinen Glauben nicht fur irrational halt, aber doch den mehr oder weniger vagen Verdacht hegt, dessen epistemischer Status sei problematisch. Da die Erhartung dieses Verdachts unwillkommen ware, ist er nicht motiviert, mit besonderem Eifer auf intellektuelle Redlichkeit zu achten. Aufgrund dieser Motivlage wird er es womoglich einfach versdumen, zu eruieren, ob sein doxasti sches System tatsachlich inkonsistent ist. Da es sich hier nicht einfach um mangelnde intellektuelle Redlichkeit, sondern um eine motivierte Form dieses Rationalitatsdefizits handelt, liegt Selbsttduschung vor: das Interesse des Subjekts an der Aufrechterhaltung der epistemisch suspek ten Meinung spielt eine kausale Rolle in der Meinungsbildung, die deren

    Realitatsbezug abtraglich ist.66 Dieser Selbsttauschungsprozess ist nicht 64 Cf. etwa die oben erw?hnte Apokatastasis-Lehre. 65

    ?Indirekt willentlicher Glaube ist m?glich, obwohl direkt willentlicher Glaube un

    m?glich ist", Mackie 1982, 320. Cf. auch Mele 2001; Sch?like 2004. 66 Cf. hierzu Mele 2001, Kap. 3; Sch?like 2004, Kap. 6.

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  • Religion und Toleranz 237

    intentional gesteuert; die blog3e Ahnung des Glaubigen, wohin ihn der Versuch, Konsistenz in seine Meinungen zu bringen, fiihren wiirde, gemeinsam mit seinem Interesse, an seinem Glauben festzuhalten, ver anlasst ihn auf eine ihm selbst nicht durchsichtige Weise dazu, dieser

    Ahnung nicht auf den Grund zu gehen. Dariiber hinaus lassen sie die (ihm in ihren Ursachen nicht transparente) Tendenz entstehen, seinen

    Glauben inhaltlich in einer Weise zu interpretieren, dass er von ihm ein Verhalten verlangt, das in Einklang mit jener sdkularen Moral steht, die er akzeptieren wiirde, wenn er nicht glaubig ware. Auf diese Weise realisiert der Glaubige vier Ziele: er kann sicher sein, an anderen nicht schuldig zu werden, sollte sich sein Glaube doch als falsch erweisen; es entsteht kein meinensethischer Druck, die irrationalen religiosen Mei nungen aufzugeben; der Glaube kann beibehalten werden; zu keinem Zeitpunkt ist das offene Eingestandnis der Irrationalitat erforderlich.

    So gesehen, verbindet sich das skeptizistische Argument mit dem an deren oben skizzierten Weg zu einer Haltung der Toleranz, der auf das den jeweiligen Religionen immanente Potential zur Integration liberaler Grundsatze abhebt. Wie John Rawls bemerkt, sind die religibsen do xastischen Systeme flexibel. Viele Glaubensgrundsatze stehen in einem Spielraum der Interpretation. Glaubige, die die Vorziige einer liberalen politischen Ordnung anerkennen, konnten, ,,sollten sie [...] erkennen, dass eine Unvereinbarkeit zwischen den Gerechtigkeitsgrundsatzen und ihren umfassenden Lehren vorliegt, [...] statt diese Grundsatze zu ver

    werfen, sehr wohl diese Lehren anpassen oder verindern".67 Ein Gliu biger, der, wenn er von seinem Glauben abstrahierte, eine bestimmte sakulare Moral praferierte, wird die Tendenz haben, den Interpretations spielraum fur die weitestgehende Anpassung der Glaubens- an die saku laren Gerechtigkeitsgrundsatze zu nutzen. Diese Tendenz entsteht also nicht erst dann, wenn der Verdacht aufkommt, der Glaube verursache doxastische Koharenzprobleme. Sie wird jedoch um so gr6f3er sein, je starker eine mehr oder weniger unbestimmte Ahnung von der Berechti gung skeptizistischer Reflexionen in einem Winkel des Bewusstsein des Glaubigen lauert. In den zentralen gesellschaftlichen Konfliktfallen, zu denen etwa medizinethische Fragen zahlen, die mit dem Entstehen und Vergehen von Leben zu tun haben, scheint jedoch vielfach eine Grenze der Flexibilitat erreicht. Als begrenzt erweist sich dabei weniger die Flexi bilitat der Religionen selbst, wohl aber der Interpretationsspielraum, der

    67 Rawls 1993, 251 f.

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  • 238 Julius Schdlike Gliubigen im Rahmen derjeweiligen Orthodoxie offen steht. So wurde in der Geschichte des Christentums etwa die Lehre der Sukzessivbeseelung vertreten, vor deren Hintergrund Abtreibung und ,,verbrauchende" Em bryonenexperimente nicht schlechthin inakzeptabel erscheinen.68 Doch ein Katholik sieht sich heute an die papstlich autorisierte Interpretation gebunden, der zufolge menschlichem Leben in alien seinen Stadien der gleiche, absolute Wert zukommt; er wird deshalb kaum umhin konnen, solche Praktiken fur Verbrechen zu halten. Fur ihn verursacht eine tole rante Haltung in diesen Fragen unannehmbar hohe, da in der Wahrung der religiosen Lehre zu berechnende ,,Kosten". Wie ein Konsens in die sen Fragen, in denen er aufgrund der Scharfe der Konflikte so besonders

    wiinschenswert ist, angesichts der geringen Bereitschaft der ,,einfachen" Gliubigen zur Haresie sowie der geringen Aufgeschlossenheit der Hiiter der Orthodoxie fur skeptische Gedanken und liberale Ideale zustande kommen konnte, vermag ich nicht zu sehen. Rawls' Annahme, dass auf grund der Flexibilitat umfassender metaphysischer Systeme die Aussicht besteht, dass annahrend alle Glaubigen die Prinzipien einer sakularen, liberalen politischen Moral tatsachlich akzeptieren, so dass diese die Ba sis eines ,,ibergreifenden Konsenses" bilden konnen, scheint mir deshalb allzu optimistisch zu sein.69

    Literatur

    Augustinus, Aurelius, Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus aus

    gew?hlte Briefe, hg. v. A. Hoffmann, Bd. i, M?nchen 1917 (Bibliothek der Kirchenv?ter 29).

    Blackburn, Simon 1998: Ruling Passions. A Theory of Practical Reasoning, Ox ford.

    Blanshard, Brand 1974: Reason and Belief, London. Clifford, William K. 1879: The Ethics of Belief, in: L.P. Pojman (Hg.), Philoso

    phy of Religion. An Anthology, Belmont 2i994, 422-426. Forst, Rainer 1999: Praktische Vernunft und rechtfertigende Gr?nde. Zur

    Begr?ndung der Moral, in: S. Gosepath (Hg.), Motive, Gr?nde, Zwecke.

    68 Gem?? dieser von Augustin und Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles

    entwickelten Lehre unterschied das katholische Kirchenrecht vom Mittelalter bis

    1869 zwischen dem unbeseelten und dem (nach 80 Tagen) beseelten Fetus. Nur die Abtreibung eines beseelten Fetus wurde als Mord betrachtet und mit Exkom

    munikation belegt (cf. das Corpus Juris Canonici). 69 Cf. Rawls 1993, 4. Vorl.; cf. auch die Kritik Kymlickas in Kymlicka 1995, 158 ff.

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  • Religion und Toleranz 239

    Theorien praktischer Rationalit?t, Frankfurt/M., 168-205.

    Forst, Rainer (Hg.) 2000: Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesell schaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt/M.

    - 2000a: Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, in: ders. 2000,119-143 - 2003: Toleranz im Konflikt, Frankfurt/M. Freud, Sigmund 1927: Die Zukunft einer Illusion, Leipzig. Gibbard, Allan 1990: Wise Choices, Apt Feelings. A Theory of Normative

    Judgment, Oxford. Hume, David 1779 (1981): Dialoge ?ber die nat?rliche Religion, Stuttgart. Katechismus der katholischen Kirche, M?nchen 1992. J?ger, Christoph (Hg.) 1998: Analytische Religionsphilosophie, Paderborn. Kliemt, Hartmut 1993: Der Glaube als Feind der Aufkl?rung: in: E. Dahl

    (Hg.), Die Lehre des Unheils, Hamburg, 170-181. Kolakowski, Leszek 1980: Toleranz und Absolutheitsanspr?che, in: Christlicher

    Glaube in moderner Gesellschaft, Freiburg, Bd. 26, 5-38. Kutschera, Franz v. 1990: Vernunft und Glaube, Berlin.

    Kymlicka, Will 1995: Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford.

    Locke, John 1686 (1996): Ein Brief ?ber Toleranz, hg. v. J. Ebbinghaus, Ham burg.

    Mackie, John L. 1982 (1985): Das Wunder des Theismus. Argumente f?r und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart.

    Mele, Alfred R. 2001: Self-Deception Unmasked, Oxford. Mill, John Stuart 1859 (1974): ?ber die Freiheit, Stuttgart. Pascal, Blaise 1670 ^1963): ?ber die Religion (Pens?es), ?bers, v. Wasmuth,

    Heidelberg. Plantinga, Alvin 1981: Ist der Glaube an Gott berechtigterweise basal?, in: J?ger

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    Quinn, Philip L. 1985: Auf der Suche nach den Fundamenten des Theismus, in: J?ger 1998, 331-353

    Rawls, John 1993 (1998): Politischer Liberalismus, Frankfurt/M.. Roughley, Neil 2004: Naturalism and Expressivism, in: P. Schaber (Hg.), Nor

    mativity and Naturalism, Frankfurt/M. 2004, 47-85.

    Scanion, Thomas 1998: What We Owe To Each Other, Cambridge. Sch?like, Julius 2002: W?nsche, Werte und Moral. Entwurf eines handlungs

    theoretischen und ethischen Internalismus, W?rzburg. - 2004: Willensschw?che und Selbstt?uschung. ?ber die Rationalit?t des Ir

    rationalen und das Verh?ltnis von Evaluation und Motivation, in: Deutsche Zeitschrift f?r Philosophie 52, 361-379.

    - 2006: Moral und Interesse. Vom metaethischen Instrumentalismus zum

    normativen Universalismus, MS, 26 S.

    Schmidt-Leukel, Perry 1995: Ist das Christentum notwendig intolerant?, in: Forst 2000,177-213.

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  • 240 Julius Schdlike

    Thomas von Aquin (STh.): Die Deutsche Thomas-Ausgabe der Summa Theo logica, Bd. 15,. 1950.

    Tugendhat, Ernst 1993, Vorlesungen ?ber Ethik, Frankfurt/M.

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    Article Contentsp. [213]p. 214p. 215p. 216p. 217p. 218p. 219p. 220p. 221p. 222p. 223p. 224p. 225p. 226p. 227p. 228p. 229p. 230p. 231p. 232p. 233p. 234p. 235p. 236p. 237p. 238p. 239p. 240

    Issue Table of ContentsZeitschrift fr philosophische Forschung, Bd. 60, H. 2 (Apr. - Jun., 2006), pp. 169-336Front MatterWerte bei Carnap [pp. 169-189]Quine zum Problem des Realismus [pp. 190-212]Religion und Toleranz. Moralphilosophische und skeptizistische Argumente gegen den politischen Rekurs auf religisen Glauben [pp. 213-240]Die Propensity-Theorie der Wahrscheinlichkeit [pp. 241-268]Diskussionen und BerichteVerstehen und Urteilen. Hannah Arendts Interpretation der Kantischen "Urteilskraft" als politisch-ethische Hermeneutik [pp. 269-289]Theorie der Wissenschaften und Weltanschauung. Aspekte der Aristoteles-Rezeption im 19. Jahrhundert [pp. 290-309]

    BuchbesprechungenReview: untitled [pp. 310-315]Review: untitled [pp. 315-319]Review: untitled [pp. 319-323]Review: untitled [pp. 323-325]Review: untitled [pp. 325-329]

    BuchnotizenReview: untitled [pp. 330-331]Review: untitled [p. 331-331]Review: untitled [pp. 331-333]

    Back Matter